Außerplanmäßige Unterbrechung

„Wenn ich die Uhr nur zurückdrehen könnte!“, rufst du. „Du klingst wie ein Schlagertext.“, sage ich. „Nur diesen Bruchteil einer Sekunde!“, rufst du. „Jetzt wie ein Actionfilm.“, sage ich. „Aber ich fühle mich wie ein Drama.“, schimpfst du und weinst. „Unsere einzige Chance ist, dass gar nichts passiert ist, weil wir nur träumen.“, sage ich. Aber selbst dann müssen wir etwas tun, denke ich weiter, denn ich kann deinen Knochen sehen und das ist nicht richtig.

„Tatsächlich! Blut ist dicker als Wein.“, schluchzt du, während es dir aus dem Finger aufs Bett spritzt. Nein, es heißt dicker als Wasser, denke ich, aber ich sage „Lass die Sprüche!“, denn ich muss nachdenken. Du läufst zurück zum Fenster, um zu verstehen, was passiert ist, mir genügt der Anblick deines Fingers, um das zu kapieren; ich laufe raus auf den Gang und rufe um Hilfe.

Wir treffen uns im Bad; du lässt Wasser über deine Wunde laufen und als ich das aus Blut und Wasser gemischte Rosa im Waschbecken strudeln sehe, denke ich, da fließt sie also dahin, unsere Reiseplanung. Ich reiße deine Hand aus dem Wasserstrahl, damit du nicht noch mehr Keime in die Wunde spülst und raunze dich an „Streck die Hand über deinen Kopf, dann lässt die Blutung nach!“. Du taumelst, ich gebe dir einen Schups, der Toilettendeckel stößt in deine Kniekehlen, deine Knie beugen sich, du sitzt. Gut, denke ich, wie weiter? Das Blut lenkt mich ab, wie es aus deinem Finger läuft und die Haut auf deinem Unterarm in einzelne Felder zerteilt, so wie Flüsse Länder in Schollen zerteilen. Vorgestern haben wir das aus dem Flugzeug gesehen, aber in Rot sehen die Flüsse viel dramatischer aus.

Du schreist unentwegt Flüche und endlich platzt Linda in den Raum um zu fragen, was zur Hölle passiert ist. „Das Fenster!“, stotterst du und ich gehe hin und zeige es ihr. Linda stürzt zum Telefon um einen Arzt zu rufen, ich lasse mich in den Sessel fallen und atme ein bisschen, du musterst noch einige Sekunden lang schimpfend die roten Klekse auf dem Fliesenboden. An der Rezeption sagt man Linda, sie soll das Management anrufen, beim Management sagt man ihr, sie soll das mit der Rezeption klären und an der Rezeption verweist man sie ans Management. „Two – oh – nine, two – oh – nine!“, ruft Linda. Du kommst aus dem Bad und kannst dir nicht verkneifen, sie mit „Tu! Oh, nein!“ nachzuäffen. Dann wird Linda ganz laut und wir werden ganz leise. „Urgent heißt dringend.“, flüstere ich noch, aber Linda macht das schon.

Du lässt dich neben mich in den Sessel fallen. Deine Augen treiben haltlos in ihren Höhlen umher, du sagst: „Mir ist schwindlig.“ Ich sage: „Reiß dich zusammen!“ Du sagst: „Es geht nicht.“ Ich sage: „Diese umherschwimmenden Augen sehen gruselig aus! Außerdem musst du noch ins Krankenhaus heute und ich nicht weiß, wie ich dich dort hinbekommen soll, wenn du ohnmächtig bist.“ Ich sage: „Du musst dich zusammenreißen!“ Du sagst: „Ich versuch’s ja.“

Ein junger Mann stürmt herein. Er trägt ein hübsches kariertes Sakko und auf dem Schild an seinem Revers steht Carl. Carl wirft sein Aluköfferchen aufs Bett. Gut, denkst du, so sieht er die Blutspritzer auf der Bettwäsche nicht und wir müssen die Reinigung nicht bezahlen. Wir bezahlen hier gar nichts, denke ich und bitte denke du jetzt nicht an Geld. Carl fragt, was passiert ist und während ich es ihm erkläre, unterbrichst du mich und entschuldigst dich: „Ich wollte nur kurz lüften.“ Aber Carl hört sowieso nicht zu; lieber legt er deine Hand in seine und reißt erschrocken die Augen auf. Und obwohl er sonst nichts weiter tut, entspannt sich die Falte über deiner Nase, als hätte er dir schon geholfen. Linda sieht mich fragend an, ich nicke ihr zu, sie nickt zurück. Sie schnappt sich Carls Köfferchen, öffnet es und schüttet seinen Inhalt aufs Bett. Dann zerrt sie ihre Reiseapotheke aus dem Rucksack und schüttet sie daneben. Ausrüstungsvergleich, Carl gewinnt. „Wir brauchen ein Desinfektionsmittel.“, sage ich. „Das in meinem Koffer ist leer.“, sagt Carl. „In meinem Beutel war gar keins.“, sagt Linda. Sie greift wieder zum Telefon.

Ein weiterer junger Mann springt herein. Er hat kein Sakko an, aber eine schmucke gestreifte Weste, auf seinem Namensschild steht Morten. Wie der süße Sänger von a-ha, denkst du. Nein, wie morden mit t, denke ich. Morten ruft „Wo ist der Finger? Wo ist der Finger?“ und klappert aufgeregt mit den Eiswürfeln in dem großen Glas in seiner Hand. Ich überlege kurz „Keine Ahnung. Im Garten?“ zu antworten, weil mich die Vorstellung, Morten auf Knien durch den Garten robben zu sehen sehr fröhlich macht. Aber du sagst schon: „Hier, an meiner Hand!“ und schiebst ein paar Sekunden später „Noch.“ nach und dann ist es schon vorbei mit meiner Fröhlichkeit. Morten wischt sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn, geht zum Waschbecken, füllt das Eis mit Wasser auf und serviert es als Drink. Wir trinken.

Du sagst: „Mir ist nicht mehr schwindelig. Dafür ist mir jetzt schwarz vor Augen.“ Ich sage: „Das ist von der Panik, du musst dich beruhigen!“ Dann muss ich an diese Komödie denken, neulich; die, in der diese blasse Frau zum ersten Mal in eine große Stadt kommt und immerzu in eine Chipstüte atmen muss, um nicht bei jedem vorbeifahrenden LKW zu hyperventilieren. „Du musst in eine Tüte atmen.“, sage ich, aber die einzige Tüte, die wir griffbereit haben ist die von Lindas Reiseapotheke. Sie ist aus fester Folie, hat einen Zipper und könnte nicht ungeeigneter sein. Zum Glück bemerkst du das nicht; vielleicht denkst auch an diese Komödie, dort hat es ja geholfen.

Morten zeigt uns seinen rechten Zeigefinger und ruft: „Ich hatte das auch, seht nur, es ist alles gut geworden, es wir alles gut werden!“ Ich frage ihn, ob es auch an diesem Fenster passiert sei. „Nein“, sagt er, „bei mir war es eine Tür und mit einer Tür geht das genauso gut.“ Anerkennend sagst du: „Schöner Finger.“ Morton lacht, ich mache das schmatzende Geräusch, das du so hasst.

Die Frau von der Rezeption kommt ins Zimmer gerannt. Sie trägt ein geblümtes Tuch und auf dem Schild, das sie daran festgemacht hat, steht Diane. Diane ist die Göttin der Jagd, denkst du. Ja und der Name eines hässlichen Silberbestecks, das mir meine Oma einst löffelchenweise schenkte, denke ich, aber da schlägt sich Diane schon theatralisch eine Hand vor die Augen und erklärt, sie könne kein Blut sehen. In der anderen Hand hält sie eine Sprühflasche, die sie nun wortlos in den Raum streckt. „Desinfektionsmittel?“, fragte Morton. „Gute Idee.“, sage ich, „Na endlich!“, ruft Carl. Linda greift zu.

Du hast inzwischen bemerkt, dass es nichts bringt, in diese Tüte zu atmen, lässt sie fallen und verkündest: „Jetzt sehe ich Sterne.“ Wir müssen dich ablenken, denke ich, das hilft bestimmt, aber ich weiß nicht, womit. „Schöne Turnschuhe!“, sagst du plötzlich, und ich ärgere mich, dass dir das zuerst aufgefallen ist, denn Carls blau-weiß gestreifte Schuhe mit den roten Sohlen sind wirklich der Knaller. „Wo hast du die gekauft?“, frage ich, damit Carl nicht sofort wieder die Klappe hält, nachdem er sich brav für das Kompliment bedankt hat. „Was sollen die Schuhe bedeuten?“, fragst du und weil Carl noch weniger als ich versteht, was du durch diese Frage zu erfahren hoffst, erklärt er uns den Weg zu diesem kleinen Laden in Hexham, in dem es die ausgefallensten Sneaker des Landes zu kaufen gibt.

Als Linda sieht, dass Carl nichts anderes tut, als deinen Finger wieder und wieder mit Desinfektionsmittel einzureiben und uns die Schuhmoden Englands zu erläutern, schlägt sie vor, doch lieber einen Arzt zu rufen. „Heute ist Bankfeiertag“, sagt Morten, „da haben die Ambulanzen viel zu tun. Man wartet besser nicht auf einen Krankenwagen, sondern fährt selber zum Krankenhaus.“ „Aber ihr fahrt alle auf der falschen Seite! Wir haben keine Chance, das Krankenhaus lebend zu erreichen.“, maulst du. „Hat jemand von Ihnen einen Wagen und kann uns fahren?“, frage ich. „Ich habe Ihnen ein Taxi gerufen.“, gibt Diane bekannt, „Mehr kann ich nicht tun.“ Weil ihr räumliches Sehen durch die Hand vor ihren Augen eingeschränkt ist, muss sie dreimal nach der Türklinke greifen.

„Warum brauchen Ambulanzen so lange an Bankfeiertagen?“, fragst du. „Weil viele Unfälle passieren.“, antwortet Carl und fängt an, eine Binde um deinen Finger zu wickeln. „Und warum?“, fragst du. „Weil viele betrunken sind.“ „Aber warum?“ „Weil Bankfeiertag ist.“ „Und was bedeutet Bankfeiertag?“, frage ich, damit du nicht „Warum?“ fragen kannst. „Dass alle Büros geschlossen bleiben und die Leute frei haben.“ „Und was wird gefeiert?“, fragst du. „Dass Mai ist.“ Carl zuckt mit den Schultern und macht endlich einen Knoten in die Binde. Wir nicken.

Das Taxi hupt und ich springe auf. „Jemand muss dir deine Schuhe anziehen!“ „Bitte nicht die Wanderschuhe, die sind voller Kuhmist!“, rufst du. „Füße her.“, sagt Linda und bevor du dich für deine Schweißfüße entschuldigen kannst, sage ich „Danke!“ und Linda bindet deine Schnürsenkel.

Die Taxifahrerin trägt kein Schild, aber sie stellt sich vor; sie heißt Amanda. So hieß eine Schildkröte, die dir als Kind gehört hat, denkst du. Ja, denke ich, auch das Auto passt dazu; es sieht aus, als hätte es den Kopf eingezogen. Linda steigt vorn ein, damit wir hinten nebeneinander sitzen können. Im Radio läuft klassische Musik. Uns regt das auf, aber Linda mag es. Amanda gibt zu, dass sie immer klassische Musik laufen lässt, wenn sie Touren ins Krankenhaus fährt. „Man weiß nie, wie schlimm es ist.“

Entweder ist es Amandas Ausstrahlung oder die auf 14 Grad eingestellte Klimaanlage, jedenfalls beruhigst du dich, hörst aber nicht auf, komische Fragen zu stellen. Zum Beispiel danach, was denn „eco“ sei an ihrem Eco-Taxi oder was dieser Aufkleber bedeutet, da vorn in der Scheibe. Der Sticker zeigt einen Stern, in dessen Zacken die Symbole aller großen Religionen gestopft sind. Das ist Bahai, sagt Amanda. „Aha.“, sagst du zufrieden und ich denke, was aha, du bist kein bisschen schlauer als vorher. „Ist Bahai auch eine Religion?“, fragt Linda. „Genau. Ich bin eine Bahai.“, sagt Amanda und erklärt, dass ihrer Meinung nach jeder Glaube den gleichen wahren Kern hat, der nur immer wieder anders verpackt ist, damit ihn die Leute am Ort und zum Zeitpunkt seiner Entstehung mögen können. „Also remixt sich jeder selber, was er glaubt?“, fragst du. „Es gibt Grundsätze, die in allen Religionen gelten.“, sagt Amanda. „Zum Beispiel?“, frage ich. „Zum Beispiel den, dass man sich lieber dem hingibt, was ist, anstatt Plänen nachzutrauern, die vom Schicksal durchkreuzt sind.“ Amanda fährt zwei Runden im Kreisverkehr, Linda runzelt die Stirn, ich rolle mit den Augen und du zeigst uns leise grinsend deinen weiß bandagierten Mittelfinger.

Regenlied

Es hat geregnet in diesen Nächten. In jeder. Und ich habe geträumt. Vom Regen. Auf der Haut. Wie er in jede Pore dringt. Und nichts mehr übrig lässt, außer den Träumen.

Ich habe zugelassen, dass ich überspült wurde vom Regen, der die Tränen verbirgt. Und nasse Strähnen hingen mir ins Gesicht. Und kalte Spuren liefen darüber. Ich sage dir nicht, dass es Tränen waren. Ich hebe die Finger in das fahle Licht der Straßenlaterne. Es ist schon sehr dunkel in dieser Gegend. Und du fährst vorbei, als hättest du mich nie gesehen. Du lügst, ich weiß das. Du kennst mich, bestimmt. Träume ich. Wenn du mich siehst, was siehst du? Was willst du sehen? Ich will dich sehen. In meinen Träumen. Und im Licht der Straßenlampen. Und dein nass strähniges Haar spüren, auf deinem Gesicht klebend. Und die kalten Spuren fühlen. Weil es bei dir nur Regen sein wird.

Du sollst meine Schultern halten. Fester, auch wenn sie nass sind vom Regen. Denn der Regen wird uns verbinden. Das grau und schwarz der Nächte auswischen. Ich möchte, dass es genau so wird. Ich will dich ganz fest halten. Und es wird mir nichts ausmachen, dass du nass sein wirst. Denn der Regen ist unser Zeichen. Für uns beide.

Wir werden uns erinnern. An Tropfen, die auf der Haut zu mehr werden als bloß Wasser. Tropfen, in denen deine Fingerspitzen vorsichtig gezeichnet haben. Auf meiner Haut. Zuerst nur Linien, dann Muster und später auch Buchstaben. Mir war das immer fremd. Ich habe gleich mit ganzen Wörtern angefangen. Und du hast es nie gemerkt. Die Zeit, in der du beginnen wirst mich zu verstehen, wird erst viel später sein. Wir haben diese Zeit. Genug für uns beide. Und Regen. Wir haben auch Regen. Genug für eine lange Zeit. Und beim Frühstück wirst du mich jedes Mal anlächeln und fragen, ob der Regen heute reicht, für uns beide. Und ich werde zurück lächeln. Irgendwann auch nicht mehr so vorsichtig, weil ich dann weiß, dass du auch auf Regen warten kannst, wenn der Himmel blau ist. Aber bis dahin wird es noch dauern.

Ich wende mich in die Richtung, in die du verschwunden bist. Ich erwarte nicht wirklich, dass du dich noch einmal umdrehst. Bei diesem Regen solltest du deinen Blick fest auf der Straße lassen. Nicht, dass dir etwas passiert und meinen Träumen auch nicht.
Es ist gut, dass du vorsichtig fährst. So wirst du gut auf mich achten können. Bald. Ich weiß das. Ich werde in Sicherheit sein, bei dir.
Wenn du nur endlich begreifst. Dass der Regen unser Zeichen ist. Dass deine Regenlinien auf meiner Haut schon längst verwischt sind zu ganzen Sätzen.

Du bist vorbeigefahren. Warum? Ich habe doch auf dich gewartet. Und der Regen hat „sieh mich“ geschrien. Für dich. Und auf dem durchnässten Plakat der Bushaltestelle habe ich dann Regenlinien zu Mustern gemacht. Buchstaben habe ich mich noch nicht getraut, weil die Straßenlampe so direkt darauf geschienen hat. Aber vielleicht nächste Woche. Ich habe Zeit. Ich werde warten. Denke ich. Noch eine Weile. Und der Regen hört auch nicht auf.

 

AnnA-Katharina Kürschner – Vita

Auf die „Warum-schreibst-du?“-Frage antwortet sie:

Buchstaben setzen Zeichen.
Wörter geben den Dingen einen Namen.
Was will ich mehr, als Zeichen setzen und die Dinge beim Namen nennen?
Und sonst kann man vielleicht noch sagen…
Ich bin zum Glück nur noch ein Jahr Schülerin.
Dann geht es in die wilde Welt hinein.
Das Schreiben ist dabei – schon seit den ersten Versuchen – Hut, Stock und Zuhause zugleich.

Lieber Kai,

was passiert ist, siehst Du. Wenn es Dich überrascht, war es richtig. Wenn nicht, erst recht. Kai: Ich verlasse Dich.

Auf der Heimfahrt von Svenjas Taufe habe ich Dich gefragt. Ob mein Gefühl mich täuscht, dass Du mich nicht mehr willst. Ob es wahr ist, dass ich Dir auf die Nerven gehe, sobald ich spreche. Ob es stimmt, dass Du meine Nähe suchst, aber doch nur deine Ruhe willst. Alles Blödsinn, hast du geantwortet. Wie ich darauf komme und was das soll! Dann bist du eingeschlafen. Ich spüre es, Kai. Ich spüre, dass Du zuhause sein willst bei mir. Dass du zu mir gehören willst. Dass Du Dich führen lassen willst, wann immer Du meine Hand greifst. Ich will Dich aber nicht führen. Ich kenne Deinen Weg nicht. Und unser Weg ist lange zu Ende.

Du machst mich nicht mehr glücklich. Und Du bist es nicht mehr. Dein wacher Blick ist ganz schmal geworden, deine Haare kommen mir wie Stroh vor und deine Hände sind kalt. Wann hast Du das letzte Mal mit mir geschlafen? Zählen die fünf Minuten nach meiner Geburtstagsparty? Wann hast Du mich das letzte Mal geliebt? Auf dem Zimmer nach Martins Hochzeit? Du warst betrunken! Wann hast Du mich zum letzten Mal angesehen? Mir einen Kuss gegeben, kein Küsschen?

Wenn Du sprichst, wünsche ich mir, dass Du Dich räusperst, um das Fisteln von deinen Bändern zu wischen. Ich wünsche mir, dass Du etwas sagst. Du sprichst über bedingungsloses Grundeinkommen, über strukturellen Sexismus, über grüne Energie. Je weiter ein Thema von Dir weg ist, umso leidenschaftlicher sprichst Du. Über Dich sprichst Du nicht. Über mich immer nur gut. Wenn ich frage, streiten wir. Das heißt: Ich streite. Du schweigst.

Was hat Dich so grau gemacht? So schwach? So müde? Wir mieten kein Wohnmobil. Wir gehen nicht tanzen. Wir kochen nicht. Wir gehen nicht paddeln, weil dir übel wird. Du grölst nicht mehr mit, wenn sie im Radio einen Ärzte-Song spielen. Du magst Die Ärzte nicht mehr. Funktioniert Dein Lachen noch? Ich erinnere mich kaum.

Ich habe mich verliebt in das, was Du könntest. In Deine Träume, in Deine Ideale und in Deine Klarheit. Du willst einen Roman schreiben, aber du bist seit zwei Jahren auf Seite 34. Du hast eine flache Windenergie-Turbine erfunden, aber der Prototyp verstaubt halbfertig im Keller. Das alte Segelboot hat dein Vater inzwischen verschrotten lassen. Du bewachst dein Potential wie einen Schatz. Du überhöhst Dich mit Deiner Intelligenz. Du behauptest, jeden übertrumpfen zu können, aber du trumpfst nicht auf. Wenn andere scheitern, sagst Du, Dir wäre das nicht passiert. Dir kann nichts passieren, wenn du nichts tust. Du pokerst im Internet. Du guckst Filme. Du verplemperst Dich.

Du verachtest Deine Chefin, aber Du dienst ihr treu. Du verabscheust die Dunkelheit dieser Wohnung, aber wir ziehen nicht um. Nachts drehst Du Dich weg von mir aber Du bleibst in meinem Bett. Warum, Kai? Jede Spinne rettest Du aus dem Bad in die Freiheit. Aber Dich befreist du nicht. Ich auch nicht. Ich habe es lange versucht. Ich glaube, du willst, dass ich dich gefangen halte, weil du dich vorm Freisein fürchtest. Ich bin Deine Ausrede für alles, was Du nicht tust.

Du fürchtest Dich, Kai. Vor dem Kämpfen, vor dem Scheitern und vor dem Gewinnen auch. Mir aber graut vor dem Stillhalten. Erinnerst Du Dich an den furchtbaren Abend beim Italiener? Unser Jahrestag? Die Bilanz und die Diskussion über eine Paartherapie? Du leugnest. Du wiegelst ab. Du spielst Zufriedenheit. Du bittest um Geduld. Alles wird sich fügen. Nichts fügt sich! Warum sollte sich jemals etwas fügen? Du bist unglücklich, ich bin unglücklich!

Ich bin eine tolle Frau, hast Du mir an die Akademie geschrieben. Eine starke, wache, kluge! Ich sei makellos, sinnlich, warm. Warum schreibst Du das in E-Mails, Kai? Warum sagst Du, wir können alles schaffen? Wir schaffen nichts!

Wir sind jung! Wir sind schön! Das hier sind unsere besten Jahre. Wir dürfen die verschwenden, ja! Aber wir müssen glücklich dabei sein. Wir dürfen sie nicht an uns vorbeiziehen lassen, während wir auf richtige Momente warten. Wenn Du wirklich Kinder willst, dann ist jetzt die Zeit dafür. Ich will Kinder. Ich werde Kinder haben. Aber Du bist selbst ein Kind und ich werde keine Zeit mehr verlieren. Du wirst nicht ihr Vater sein.

Siehst Du nicht, wie uns alle überholen? Wie Sven und Caro eine Familie werden? Wie Toni und Anja das Haus ihrer Oma umbauen? Wie Luise Karriere macht? Und Katja? Liest Du die Karten, die uns Enzo aus Indien schreibt? Wie nennt man dieses Vakuum, das wir leben? Wir lügen uns an. Wir spielen diese Rollen, weil wir wissen, dass sie sicher sind. Weil nichts passieren kann. Es muss aber was passieren.
Wer bist Du, Kai? Was willst Du? Leben mit mir? Warum hast Du es dann nie fest gemacht? Mich nie geheiratet? Nie einen neuen Bus mit mir finanziert? Kein Haus mit mir gekauft? Das ist spießig, wir brauchen das nicht. Ich höre, wie Du das sagst! Kai: Warum haben wir kein Kind?

Du bist dir nicht sicher. Du weißt nicht, ob Du das willst. Ich weiß, dass du es nicht willst. Du hast es mir gesagt. Deine Augenbrauen. Wie sie zusammengerutscht sind, als ich Dich auf dem Flohmarkt gefragt habe, ob wir diesen Stubenwagen kaufen wollen. Du warst so irritiert. So erschrocken. Der Gedanke war Dir so fremd. Ich weiß nicht, was du willst. Du weißt es auch nicht. Ein Kind jedenfalls nicht. Du bist feige. Ich auch.

Schon in diesem Moment, da ich diese Zeilen an Dich schreibe, weiß ich dass ich feige bin. Es wäre aufrichtiger gewesen, Dir das alles zu sagen, während Du mir an diesem Tisch gegenüber sitzt und die Nachbarn zum Fenster rein glotzen, weil wir immer noch keine Gardinen haben. Aber das ging nicht. Ich habe mir dieses Gespräch in den letzten Tagen oft vorgestellt. Ich bin Argument und Gegenargument, Rede und Widerrede durchgegangen und immer endete es in der gleichen Katastrophe. Einige Sätze, die ich Dir hier schreibe, habe ich vor dem Badspiegel einstudiert. Ich wollte sicher sein, dass an ihren Rändern nicht doch das eine Gefühl zu Dir herüberblitzt, das ich Dir so gern ersparen möchte. Mitleid.

Du hättest versucht mich zu halten, Kai. Das weiß ich. Warum, weiß ich nicht. Du hättest Zugeständnisse gemacht, Einsicht gezeigt und Besserung versprochen. Du hättest Pläne geschmiedet, Termine vereinbart und Farben zum Renovieren gekauft. Du hättest geweint und gefleht und gebettelt, dass ich bleibe. Du hättest vor mir auf den Fliesen gekniet und deine Würde verloren. Ich will Deine Würde nicht, Kai. Du brauchst sie, das Bisschen, das Du hast.

Es gibt nichts, das Du hättest tun können, um mich umzustimmen. Es gibt nichts, dass Du hättest sagen können, um mich zu überzeugen. Es gibt überhaupt nichts mehr zu sagen, Kai. Meine Entscheidung steht. Ich will sie Dir mitteilen, auch ihre Hintergründe. Aber ich will sie nicht diskutieren. Du findest das arrogant und egozentrisch. Du findest, ich sollte mir auch Deinen Teil der Geschichte anhören. Ich sollte wissen, was meine Worte in Dir auslösen. Womit ich vielleicht recht habe, vor allem aber, womit ich falsch liege. Aber ich bin fertig, Kai. Jede Diskussion wäre Schauspiel meinerseits.

Bitte suche mich nicht. Du würdest mich nicht wiederfinden auch wenn Du mich fändest. Ich möchte nicht länger die sein, die ich in deiner Gegenwart bin. Und ich will, dass Du frei bist. Wozu auch immer. Bitte rufe mich nicht an. Bitte hole mich nicht von der Arbeit ab. Ich will, dass Du kämpfst, ja. Aber nicht um mich.

Lebe wohl, Kai.
Und ich meine das: Lebe wohl!

Mira

Durch eine mit einer rot-weiß-gestreiften Plastikhülle überzogene Büroklammer ist ein weiterer Bogen Papier an dem Brief befestigt. Darauf:

Dinge, die ich Dir lasse, obwohl sie uns beiden gehören:
– Vorräte
– Polstergarnitur
– Messerblock und Induktionstöpfe

Dinge, die ich mitgenommen habe, obwohl sie uns beiden gehören:
– Stehlampe im Wohnzimmer
– iPad
– das gute Geschirr
Das Besteck habe ich geteilt.

Dinge, die ich die hier lasse, obwohl sie mir gehören
– Lavalampe
– Schaukelstuhl
– Orchideen

Dinge, die ich mitnehme, obwohl sie Dir gehören
– Nudelmaschine
– Schmale graue Kunstlederkrawatte
– Heizdecke

Dinge, die ich verkauft habe, obwohl sie Dir gehören:
– Mikrowelle
– Playstation
– Model-Lokomotvien
Das Geld ist im Umschlag. Kauf Dir was Schönes.

M.

die halme des letzten jahres stehen
noch quer, der rost des winters
geblättert im gras, während
der flieder seinen duft im april schon verstäubt,
der löwenzahn verpustet,
die ersten gansblumen gemäht und die rapsfelder
neonbeleuchtet der sonne entgegen strahlend,
versickert das streugut im erdloch und ebnet
den weg für den sommer.

17. Juni

 Tag: 18. Juni

Zeit: Neun Uhr

Ort1: halb geöffneter Türeingang eines Reihenhauses.

Ort 2: geschlossenes Wohnzimmer, darin: stark abgenutzte Sitzgarnitur der 30siger Jahre; schwarzer Tisch mit gehämmerter Messingplatte und passendem Raucherset und Siegel; schwarze Uhr mit gehämmertem Ziffernblatt; brauner Bücherschrank mit Kunstzeitschriften in verschiedenen Sprachen; hellblauer, rechteckiger Hifi-Glastisch mit Fernseher; achtarmiger Holzleuchter mit Messingbeschlag an dem eine Fliegenrolle hängt; eine passende Stehlampe aber mit modernem Lampenschirmbezug; verblasste halblange Gardinen und grau-gelbe Stores dazu grüne Auslegware; diverse Bilder, keine Fotos; auf Putz gelegte Stromleitungen; vergilbte Tapete mit Blütendekor, teilweise löchrig; Berliner Ofen mit weißer Sitzbank davor.

Gesprächs-Person 1: Frau Charlotte Martha Banner, eine 72jährige Frau, leicht ergraute und zu einem Dutt gebundene Haare, lebt seit der Verhaftung ihres Mannes (August 1945) und der späteren Flucht ihrer Tochter (27.6.1961) mit deren einzigen Sohn in dem stark reparaturbedürftigen Haus. Kleidung: cremefarbene Spitzenbluse/bunte Schürze/schwarze geputzte Schuhe/ leicht beschädigte Strumpfhose/kein sichtbarer Schmuck/ungeschminkt. Stimme: tief, wenn sie sich ärgert, fast männlich.

Sie wird anfangs die Arme in die Hüften stemmen. Später wird sie auf der Dielentreppe sitzen und die Hände vor die Augen pressen.

Gesprächs-Person 2: Herr Torsten Banner, ein 26 jähriger Mann, schlank, groß, lange, gelockte rote Haare, ungekämmter Mittelscheitel, Sommersprossen, Ausbildung im VEB Bauhandwerk, Abteilung Reko, tätig als Tischler, erfolglose Studienbewerbungen für Architektur in Berlin-Weißensee und Rostock, Malerei in Dresden, Formgestaltung in Halle. Kleidung: Feinrippunterhose/ kaputte Jesuslatschen/ ansonsten unbekleidet/ silberner Ohrring/ Halslederband mit silbernem Kreuz/ Holzring an linker Hand/ Stimme: kindlich, manchmal, wenn er sich aufregt, fast stimmbruchhaft.

Er wird anfangs die Arme über den Kopf kreuzen und breitbeinig auf seiner Lieblingsstelle auf dem Sofa sitzen. Später wird er unentwegt an Nase, Hals, Brust und die Knie kratzen.

Gesprächs-Person 3: Herr Rolf Lang (Name laut Ausweis), ein ca. 45jähriger Mann, klein, schlank, dennoch kräftig, nordischer Hauttyp, blond, akkurat gekämmte Haare, Seitenscheitel, Beruf unbekannt, Kleidung: helles gestreiftes Hemd/ offene cremefarbene Lederjacke/ beigefarbene Kordhose/ dunkelbraune glatte Lederschuhe/ dunkelbraune Handgelenktasche/ schmaler Ehering. Stimme: klar, manchmal, wenn er sich aufregt, dröhnend bis einschneidend.

Er wird anfangs die Arme über der Brust kreuzen. Später wird er aufstehen, im Zimmer umherlaufen, wahllos Bücher und Gegenstände in die Hand nehmen und wieder hinstellen.

Gesprächs-Person 4: Herr Ronny Kurz (Name laut Ausweis), ein ca. 22jähriger Mann, groß, schlaksig, südländische Hauttyp, schwarze, glatte, lange Haare, Beruf unbekannt, Kleidung: dunkelblaues T-Shirt/ halb geschlossene Jeansjacke/ sehr enge Schneejeans/weiße Mokassins/ Aktenmappe aus Kunstleder/ silberne Halskette mit Kreuz. Stimme: unbekannt, da er während des gesamten Besuches kein einziges Wort sprechen wird.

Er wird die gesamte Zeit wortlos auf das Papier starren und in krakeliger Handschrift das Protokoll schreiben.

 

Meine Herren, Sie wünschen…

Frau Banner, wir möchten uns mit ihren Enkel unterhalten!

Sie sind,… meine Herren?

Frau Banner, wir sind Freunde Ihres Enkels.

Freunde? Aha, soso!

Frau Banner, bitte zweifeln Sie nicht an unserer Freundschaft?

Wundert Sie das, meine Herren?

Frau Banner, warum misstrauen Sie uns?

Meine Herren, die Freunde meines Enkels haben nie geputzte Schuhe. Nur wenn ich sie putze, sehen so blitzblank aus, wie bei Ihnen. Und sind es geputzte Schuhe, dann sind es meist nicht seine Freunde. So einfach ist das! Reicht Ihnen das als Antwort, meine Herren?

Frau Banner, wir kommen sozusagen als gute Freunde!

Außerdem, meine Herren, sind seine Freunde nicht so akkurat gekleidet. Die haben weder gebügelten Hemden, noch gekämmte Haare. Und diese albernen Handgelenktaschen… die kenne ich auch von keinem seiner Freunde. Nur kaputte Rucksäcke, meine Herren! Nur kaputte Rucksäcke…

Frau Banner, können wir trotzdem mit ihren Enkel reden?

Meine Herren, das ist im Moment nicht möglich!

Warum?

Weil mein Enkel im Moment ein Standbad nimmt!

Ein Standbad, Frau Banner?

Mein Gott… er wäscht sich, meine Herren!

Ah, Standbad?

Meine Herren, falls es Ihnen entgangen sein sollte, wir haben heute Sonntag! Und da gehen ich und mein Enkel zum Gottesdienst. Ich dachte, das wäre Ihnen hinlänglich bekannt? Wenn die Herren sich einen Moment gedulden wollen, ich kann meinen Enkel fragen, ob er fertig angekleidet ist. Torsten, Torsten, kommst du mal? Hier stehen zwei Herren mit Armgelenktasche, die sagen, Sie seien Freunde von dir. Hast du neuerdings neue Freunde?

Schick die Schnurchelheinis weg! Meine Freunde wissen, dass ich sonntags zuerst in die Kirche und danach in die Jugend gehe! Nur rote Socken und Ladendiebe belästigen brave Leute zum Sonntagvormittag! – Warte, Oma, ich schau selber nach den Schnurchelnasen! – Wer seid ihr? Ihr könnt´ gleich wieder abdampfen!

Herr Banner, wir wären an einem freundschaftlichen Gespräch interessiert.

Um diese Zeit? Nur Schnurchelnasen und Ladendie…

… und Ladendiebe, Herr Banner, wir wissen, das haben Sie eben gesagt. Hier unsere Ausweise! Wir wollen Ihnen ein paar Fragen stellen. Je eher Sie mit uns kooperieren, umso schneller können Sie in ihre Kirche gehen. Falls Sie nicht mit uns kooperieren, müssten wir Sie bitten mitzukommen!

Na, das ist ja ein Ding! Kommen Sie… Kommen Sie rein! – Muss ich Sie überhaupt reinlassen?

Her Banner, Sie sollten! Wir danken Ihnen für Ihre Mithilfe!

Wollen Sie sich setzen? Was habe ich denn nun wieder Schlimmes gemacht? Habe ich etwa während des Schlafes eine Bank mit wertvollem DDR-Geld ausgeraubt? Ich kann Ihnen versichern, dass ich garantiert Besseres zu tun hatte…

Wir denken, dass Sie sehr genau wissen warum wir hier sind! Wir interessieren uns für Aussagen, die Sie uns zu dem Vorfall geben werden!

Hallo? Ich versteh´ nur Bahnhof! Welche Antworten? Welcher Vorfall?

Wir glauben einen konterrevolutionären Spruch von Ihnen gelesen zu haben!

Was? Von mir? Ne Konterrevolution! Na Super. Da wüsst´ ich aber ´was von! Wann soll denn die stattfinden? Ach, da wär´ ich doch gern dabei!

Herr Banner, bleiben Sie sachlich! Dafür ist ihre Situation zu ernst! Wir wissen sehr genau, wer im Einzelnen alles hinter der staatsfeindlichen Aktion steckt. Wir denken aber, dass Sie uns das sicherlich jetzt freiwillig erzählen werden. Nur so können Sie ihre missliche Lage verbessern! Herr Banner, wir geben Ihnen jetzt die Chance das wiedergutzumachen! Nutzen Sie diese! Wir bieten sie Ihnen nur ein einziges Mal!

Was wollen Sie mir wieder anhängen? Ich weiß von keinem Text! Ihre Konterevolution, die findet doch nur in Ihren Köpfen statt. Alles nur Erfindung, alles nur Schikane!

Wir sind zu einer anderen Meinung gekommen! Wir sind uns sicher, dass Sie mit der kriminellen Aktion, etwas zu tun haben. Geben Sie den Widerstand auf. Nur wir helfen Ihnen mit heiler Haut davonzukommen. Sicherlich sind Sie da einfach nur reingerutscht. Und in so einem besonderen Fall würden wir Ihnen gern aushelfen. Wir sind wie gesagt keine Unmenschen.

Mit welcher Sache? Womit? Ich bin… ich bin nirgendwo… ich weiß gar nicht… nichts! Lassen Sie mich in Ruhe!

Sie verstehen uns sehr gut! Sagen Sie uns etwas über den Text und die Anstifter… Leugnen bringt doch nichts, Herr Banner. Sie wissen sehr wohl, was wir meinen! Außerdem wollen Sie doch heute noch in Ihre Kirche. Da sollten Sie keine Zeit verlieren. Wir hören Ihnen aufmerksam zu! Beginnen Sie, Herr Banner! Beginnen Sie!

Verdammt nochmal, welcher Text? Ich, ich…ich besitze nicht einmal eine Schreibmaschine! Da müssen Sie sich irren. Ich habe überhaupt nichts gemacht, das müssen Sie mir glauben. Das können Sie alles nachprüfen, alles. Ich habe nichts gemacht!

Glauben ist wohl eher Ihre Sache, Herr Banner! Uns interessiert vielmehr: Besitzen Sie Wandfarben? Haben Sie Pinsel?

Was soll die Frage? – Ja !

Sie geben also zu, schon einmal Wandfarben und Pinsel gekauft zu haben?

Ja, natürlich… andere auch. –Sie wohl nicht?

Wir interessieren uns für Ihre Farben und Ihre Pinsel. Wo haben Sie die Farben gekauft? Wann? Allein oder mit anderen? Wieviel?

Das weiß ich doch nicht mehr. Manchmal brauche ich Farben für´s Haus.

Sehen sie, Somit sind Sie zu Recht unser Hauptverdächtiger. Und die Farben und Pinsel mit denen Sie die Schmiererei gemacht haben, die werden wir auch noch finden. Oder wollen Sie behaupten, dass Sie keine Farben und Pinsel hier im Haus deponiert haben?

Ja, aber… das, das ist doch gar nicht mein Haus!

Aber Sie wohnen hier! Oder irren wir uns? Sie sind doch Herr Torsten Banner! Weisen Sie sich aus!

Was? Sie wollen zum Sonntagmorgen… jetzt meinen Ausweis hier im Wohnzimmer sehen? Schikane, Ich habe aber doch gar nichts gemacht! Überhaupt nichts! Wirklich nichts! Lassen Sie mich endlich in Ruhe. Bitte! Bitte!

Haben wir uns undeutlich ausgedrückt oder wollen Sie sich einer staatlichen Ausweiskontrolle widersetzen? Dann müssen wir Sie sofort mitnehmen.

Nein, natürlich nicht, aber ich bin doch in der Unterhose…

Aber was, Herr Torsten Banner? Was? Wir möchten sofort Ihren Ausweis sehen, Herr Banner! Jetzt holen Sie ihn! Sofort! Den haben Sie stets bei sich zu tragen!

Den muss ich holen. – Bitte, bitte, hier ist der Lappen!

Geht doch Herr Banner! Geht doch! Warum dieser zwecklose Widerstand, der führt doch zu nichts! Wir behalten ihren Ausweis. Reine Vorsichtsmaßnahme! Wir sind bemüht, Ihnen den Ausweis nach unserem Gespräch zurückzugeben. Das liegt ganz allein bei Ihnen! Sie helfen uns bei unseren Fragen und wir geben Ihnen danach den Ausweis zurück. Sie wissen, ohne den Ausweis dürfen Sie nicht weggehen. Also, lassen Sie uns jetzt rasch unsere Fragen abarbeiten. Und denken Sie daran, Sie wollen heute noch in Ihre Kirche gehen, wir nicht! Also, halten wir fest: wir wissen, Sie haben jede Menge Farben und Pinsel in dem Haus, in dem Sie amtlich gemeldet sind. Wir halten weiterhin fest: die Schmiererei wurde in Ihrer Straße unweit Ihres Hauses an einer Mauer gemalt. Und wir halten fest: die Schrift an der Wand ähnelt doch sehr Ihrer Schrift. Wir haben Fotos. Die Beweise zusammenzuführen ist für uns eine Kleinigkeit. Was haben Sie uns dazu zu sagen, Herr Torsten Banner?

Spinn´ ich! Was ist denn das für´n Scheiß´?

Antworten Sie einfach nur auf unsere Fragen. So schwer sind die doch gar nicht! Wir meinen die Schmierereien am Spezialhandel der sowjetischen Streitkräfte. Das ist kein Zufall, Herr Banner! Herr Banner, Sie haben sich das sehr genau überlegt!

Sie meinen den Spruch an der vergammelten, halb eingefallenen Wand?

Sehen Sie, Herr Banner, wir wussten, dass Sie ganz genau wissen, warum wir hier sind. Sie leugnen also nicht mehr. Prima, sehr gut, dass Sie sich für uns entschieden haben! Vertrauen sie uns weiterhin! Nur wir wissen wie Sie aus dem Schlamassel rauskommen!

Welchem Schlamassel? Den Spruch, den blöden Spruch, den, den hat doch jeder gesehen! Der ist doch harmlos, völlig harmlos, den, den, den, den kennt doch jeder!

Na, dann fragen wir mal anders: Was haben Sie denn gelesen? Was hat dort gestanden?

Das, was alle Anderen an dem Morgen auch gelesen haben!

Und was haben die anderen Leute gelesen?

„Nieder mit dem antiimperialistischen Schutzwall! – Brücken bauen statt Mauern“

Aha? Das haben Sie gelesen, Herr Banner? Und warum haben sie das geschrieben? Wollten Sie uns damit provozieren? Wer hat Ihnen geholfen? Wurden Sie vom Westen gesteuert? Was haben die Ihnen gezahlt? Wir wissen, dass ihre Mutter im Westen lebt.

Ich habe überhaupt nichts geschrieben… überhaupt nichts! Wirklich, ich… ich war das nicht! Das können Sie mir nicht so einfach an die Backe nageln!

Herr Banner, so einfach nageln wir Niemanden etwas an die Backe. Sie selbst haben uns doch eben gestanden, dass Sie das gelesen haben!

Ja, wie alle anderen auch!

Was die Anderen gelesen haben, können Sie doch gar nicht wissen. Wann haben Sie denn das gelesen?

Als ich auf Arbeit gehen wollte.

Uns interessiert: an welchen Tag und zu welcher Uhrzeit? So genau wie möglich, Herr Banner!

Am 17. Juni , so gegen halb fünf?

Halb fünf? Oder etwas früher? Oder doch etwas später?

Nein, nein halb fünf!

Halb fünf, das wollen wir mal so aufschreiben. Was uns weiterhin interessiert Torsten: Hast du jemanden gesehen?

Ich habe niemanden gesehen!

Ich denke, das haben alle anderen gelesen? Du willst jemanden decken? Wer waren die Anderen?

Weiß nicht, eine Frau und…

Wie sah die Frau aus? Wir interessieren uns sehr dafür. Beschreib´ sie so genau wie möglich!

Weiß nicht!

Erinnere dich! Du willst doch heute noch in deine Kirche!

… jung… blond… Locken… gelbe Strickjacke… weißer Rock, kurz, sehr kurz… mehr, mehr weiß ich nicht!

Gut, dein Geständnis wollen wir mal so notieren! Und der Mann, wie sah der aus?

Älterer Herr… schlank, kariertes Hemd… Aktentasche, ja eine Aktentasche!

Was für eine Aktentasche, Wie alt war der Mann? Wo wohnt er? Passen Farben zum Beschmieren der Wände in die Tasche?

Lederaktentasche… braun… eine dunkle…. ja, eine dunkle Hose. Ich habe da nicht darauf geachtet. Ich glaube, er wohnt in der Wilhelm–Pieck-Alle, in der eins. Manchmal sehe ich ihn auch mit seiner Frau im Konsum.

Gut, das Geständnis wollen wir mal so notieren. Was uns besonders interessiert: Waren noch andere Bürger zu dieser Zeit auf der Straße? Haben weitere Bürger diese Schmierereien gelesen? Das waren doch Schmierereien? Nicht wahr, Herr Banner? Torsten? Torsten?

Weiß ich nicht. Ja, ja natürlich waren das… ich weiß nicht, ich glaube, ich denke, das ist, das war doch nur ein harmloser Spruch von, von Wolf, Wolf Bier…mann…

Herr Banner, Sie und wir wollen diesen Asozialen Elementen, die nur die Zerstörung unserer sozialistischen Heimat wollen, keine handbreit Land geben. Der Meinung sind Sie doch auch! Oder?

Ich, ich… ich, wissen Sie, ich… ich…

Oder? Herr Banner!

Ja!

Na also! Dein spätes aber vernünftiges Geständnis wollen wir so notieren. Was uns aber noch dringend interessiert ist: Hat außer dir, der Frau und dem Mann noch jemand die antisozialistische Schmiererei am Spezialhandel der sowjetischen Streitkräfte gelesen? Torsten, du weißt, du bist zur Mithilfe bei der Aufklärung eines staatsfeindlichen Verbrechens verpflichtet. Sonst machst du dich strafbar. Und dann können wir dir nicht mehr helfen. Da endet unsere Freundschaft!

Ich… ich weiß. Ich habe niemanden außer die beiden gesehen. Wirklich. Ich habe Sie Ihnen doch so genau wie möglich beschrieben. Und wo der Mann wohnt, das habe ich Ihnen doch auch gesagt.

Gut. Sie haben also keine weiteren Bürger gesehen, Herr Banner? Sehr gut. Hier haben Sie Ihren Ausweis wieder. Und wenn Sie sich beeilen, schaffen Sie es noch in Ihre Kirche.

Danke, ich bringe, ich… ich bringe Sie, wenn Sie wollen… bringe ich Sie noch zur Tür!

Lieb von dir, Torsten. – Ach, zum Schluss unseres freundschaftlichen Besuches haben wir noch eine kleine Frage. Sagen Sie mal, wenn Sie die Schmiererei gelesen haben – und das haben Sie ja eben gestanden – warum haben Sie diese staatsfeindliche Hetze nicht umgehend angezeigt? Herr Banner, das ist Mithilfe zu konterrevolutionären Aktionen. Sie wissen, darauf steht mehrjährige Haftstrafe!

Ich hatte das nicht so als… verstanden… eher… verstanden… so wie Völker… verständigung unter Bruder… ländern. Ich weiß doch auch nicht… na so wie… wir das in der Schule gelernt haben, dass wir alle Gesellschaftsschranken… ab… also niederreißen. Tut mir leid. Das tut mir alles wirklich…

Da wir aber als deine neuen Freunde gekommen sind, bieten wir dir, lieber Torsten, eine Chance. Deswegen werden wir in den nächsten Tagen nochmal auf dich zukommen. Und was den kleinen Freundschaftsbesuch heute anbelangt: Das hat niemanden zu interessieren!

Frau Banner, bleiben Sie auf der Treppe sitzen, wir wollen Sie auf den Weg in ihre Kirche nicht länger aufhalten. Wir finden allein heraus. Vielen Dank.

Waltraud

+ Barbarusia möchte jetzt mit Ihnen reden +

Wer ist in der Leitung?

+ Auf alle Fragen eine klare Antwort +

Ich bin´s wieder, die Waltraud!

Hallo Waltraud, wie kann ich mit meinen universellen Tiefenkräften behilflich sein?

Ich wollte nach meinem Ältesten fragen… er ist seit über acht Monaten spurlos verschwunden und die Polizei kann ihn immer noch nicht finden. Und da dachte ich… da wollte ich… da möchte ich Sie nochmal bitten, Frau Barbarusia, ob Sie in der Zwischenzeit erfahren haben, ob er lebt, was er macht, ob es ihm gutgeht? Ich meine… ich weiß nicht weiter?

Ja, und was ist jetzt deine Frage, Waltraud? Wohin soll ich meinen engelsenergetischen Strahl schicken?

+ Sie können der Nächste sein. Rufen Sie sofort an +

Frau Barbarusia, richten Sie ihren Strahl zu meinem guten Jungen, ich… ich. Wissen Sie nicht mehr? Frau Barbarusia? Ich bin´s, die Waltraud! Ich habe Sie doch in den letzten Monaten immer wieder angerufen. Ich habe gespart, ich habe alle Sachen, die Sie mir empfohlen haben, gekauft. Alle! Ich habe wieder etwas Geld. Ich mache alles so, wie Sie es gesagt haben.

Ach, du bist´s, meine liebe Waltraud. Ich habe deinen Anruf vorhergesehen, ich wusste, dass du mich heute wieder anrufen würdest. Und deswegen habe ich einen Teil meiner kostbaren Energien für dich zurückgehalten, um sie dir jetzt zu schenken…

+ Barbarusia hilft Ihnen aus ihrer Lebenskrise. Rufen Sie an +

Meine liebe Waltraud, ich habe in den letzten Tagen mehrfach versucht mit deinem Jungen Kontakt aufzunehmen, aber die uritanischen Wolken verschleiern durch einen monofensorischen Einfluss meine Sicht… ich habe wirklich alles versucht, aber die uritanischen Wolken von links, die trisurdischen Gegenschwingungen von rechts, von oben die intergalaktische Fehlwolkenbildung und dazu noch der sehr, sehr kräftige monofensorische Einfluss… naja, Waltraud, da weißt du ja selber…Waltraud, gell, ich schaue jetzt trotzdem nochmal in die hochenergetische Kugel…

+ Rufen Sie an und Barbarusia gewährt Ihnen ein Telefonat ins Jenseits +

Lebt er noch, Frau Barbarusia? Wo ist er? Hat er genug zu Essen? Mir ist ganz schlecht… ich habe wieder die Nacht nicht geschlafen!

Also, Waltraud, soweit ich´s sehe, im Jenseits, im Jenseits ist er jedenfalls n-o-c-h nicht gelandet.

Das können Sie erkennen, Frau Barbarusia? Können Sie mir das versprechen? Stimmt das wirklich?

Ja, Waltraud, seit meinem fünften Lebensjahr sehe ich Verstorbene. Ich bin mit ihnen in reger Verbindung, unterhalte mich mit ihnen, so wie ich mich mit Dir unterhalte. Du hörst mich doch auch Waltraud, oder e-t-w-a nicht…?

Ja, ja, ich höre Sie sehr gut, Frau Barbarusia, sehr gut…

Das ist für mich mit meinen angeborenen transnistischen Engelsenergieströmen ü-berhaupt kein Problem, da mach´ dir mal keine Sorgen, gell´, den Transnismus, den habe ich schon während meiner Geburt in mich eingesogen. Meine Mutter war eine Engelsfrau, also bin ich eine Engelsgeborene, da kann ich auch nix für…also, deswegen kenne ich mich mit dem Jenseits aller-bestens aus, da bin ich sozusagen zu Hause. Im Jenseits, meine liebe Waltraud, ist dein Junge jedenfalls nicht eingegangen, das sagen mir soeben meine befreundeten Engel vom goldenen Tor.

+ Wählen Sie sich in eine der noch wenigen freien Leitungen ein, Barbarusia ist gleich für Sie da +

Wissen Sie, mein Frank ist ein guter Junge, der hat mir in all den Jahren nie Kummer gemacht… über 50 Jahren wohnt er nun schon bei mir. Und seit mein geliebter Mann einfach nicht mehr wieder gekommen ist… und die beiden anderen Jungs…auch sozusagen raus sind… den einen, den darf ich jeden Monat einmal von Amtswegen besuchen und der andere, naja, die Frau hat ihn gegen mich aufgehetzt… seit, seit die beiden anderen Jungs also auch raus sind, da hat doch mein Frank das Zimmer für sich ganz allein und kann sich Nacht für Nacht alle Sendungen von Ihnen angesehen und anrufen. Erst habe ich geschimpft, wissen Sie, ich… wir sind ja eigentlich katholisch… da habe ich geschimpft, weil er sein ganzes, sein sauer verdientes Geld… also das schöne Geld dafür ausgegeben hat. Wissen Sie und jetzt bin ich heilfroh, dass ich Sie über die Lieblingssendung von meinem Frank kennen gelernt habe. Ich wüsste gar nicht… was ich ohne Sie, Frau Barbarusia…

… Waltraud, als deine treue Helferin aus dem Jenseits werde ich jetzt nur für dich nochmal die Erdoberfläche mit meinen hochenergetischen Kristallschwingungen absuchen, vielleicht finde ich ihn dieses Mal. Wenn nicht, musst du wohl noch ein Weilchen Geduld haben und noch eins… zwei… vielleicht auch ein drittes Mal bei mir anrufen. Wie war das den nun am letzten Tag mit euch beiden, Waltraud, erzähl mir mal schnell? Erzähl´ es mir, lass es raus, ich sauge es in mich auf, ich neutralisiere es für dich, meine liebe Waltraud, ich neutralisiere alles was du mir jetzt sagst, al-les!

+ Sichern Sie sich heute die Reichtumsenergie +

Ich habe ihm gesagt, er soll das Radio nicht so laut machen und die Klospülung nicht bei jedem Bisschen benutzen und er soll pünktlich nach Hause kommen. Jedes Mal warte ich an der Tür… Er hat wie immer geschimpft und ist ohne sich zu verabschieden auf Arbeit gegangen, …aber dort ist er nicht angekommen. Und wiedergekommen ist er auch nicht. Frau Barbarusia, ich brate seit acht Monaten jeden Tag sein Lieblingsessen, Bratkartoffeln mit Kümmel und Buletten mit viel Estragon, um mich… wenn er wieder nach Hause kommt, zu entschuldigen. Ich… ich stelle jeden Tag das Essen in den Kühlschrank, und wenn das Kühlfach voll ist, räume ich es…. Ich weiß doch auch nicht, was ich sonst noch machen soll? Frau Barbarusia, er ist doch ein so guter Junge. Wissen Sie, ich bin so froh, dass ich ihn durch die Schulzeit bekommen habe… er hat mir nie, nie Kummer gemacht. Ich bin so froh, dass ich ihn damals aus der Mopedclique bekommen habe, er ist ein guter, ein guter Junge, das mit dem blauen Moped hatte er auch wieder schnell vergessen, Sie wissen doch, die Jungs und ihre Flausen …

Lass die schlechten Energien raus, Waltraud, immer raus damit, ich atme das alles in mich hinein! Lass sie raus, ich neutralisiere das alles für dich, ich neutralisiere die schwarzen Energien aus deinem Körper, ich sauge sie in mich auf, ich mache sie weiß, mache sie schneeweiß, hochweiß, ultraweiß, Waltraud…

Auch die Kleidung lege ich jeden Tag für ihn hin, Frau Barbarusia… und seine fünf Euro spare ich für ihn in seinem Sparschwein. Das Geld kann er nachzählen, das ist alles da. Die zwei Glücksschweine stehen auf seinem Nachttisch, 880 Euro sind zusammengekommen, 880 in Ein-Euro-Münzen. Ich gestatte ihm auch ein Moped, wenn er will… ein Moped wollte er immer… wenn er doch nur wiederkäme, ein Moped, ich habe schon nachgefragt, ein blaues… blau mochte er…

Genau, das meine ich, Waltraud! Da musst du wohl unbedingt g-a-n-z tief in dir nachsehen, da musst du in dich w-e-i-t reingucken, da musst du in dir kom-plett aufräumen, da ist etwas mit euch beiden in eurem schönen Glückshaus passiert, mit eurem Karma, etwas, das so nie-mals mit euch hätte passieren dürfen, verstehst du Waltraud! Da sind Strahlen gebrochen worden. Strahlen… das geht nicht ohne Bruch von Lebenskarma. Kein Wunder, dass es dir schlecht geht. Kein Wunder, dass du nicht schlafen kannst. Das ist alles ü-berhaupt kein Wunder. Wundert mich ü-berhaupt nicht. Aber wir beiden, du, meine liebe Waltraud und ich, wir beiden bekommen das schon wieder in den Griff. I-c-h bringe den Frank zurück und d-u erneuerst in der Zwischenzeit dein zerbrochenes Karma, gell´, meine liebe Waltraud!

Frau Barbarusia, dann bin ich wohl doch an allem Schuld?

Waltraud? Wenn du g-a-n-z tief in dich hineinschaust, dann kennst du die Antwort genau! Das muss ich dir doch nicht sagen, Waltraud. D-u und nur D-u kennst die Antwort! Stimmt´s, Waltraud! Ich empfehle dir dringend eine spirituelle Selbstreinigung mit Kristallquarzpaste, dann siehst du alles unverstellter, klarer, mit gereinigtem Blick. Mit der wertvollen Paste kann ich dir auch zwischendurch aushelfen, wenn du… ich meine… wenn sie dir im Moment fehlt. Ich weiß, du brauchst sie drin-gend. Waltraud, alles kein Problem, wenn du willst, Waltraud, kannst du sie gleich bei mir bestellen, kostet für dich… ich meine wegen der Sache mit dem Frank, fast nichts, für dich so gut wie gar nix. Waltraud, ich bin doch kein Unmensch! Als Engelsgleiche hat Geld für mich sowieso keinerlei Bedeutung, kei-ner-lei Bedeutung!

+ Ihr Schicksal in Barbarusias Händen +

Frau Barbarusia, ich habe mich immer um ihn gekümmert. Ich habe ihm das Essen gemacht, ich habe seine Wäsche gewaschen, sein Zimmer aufgeräumt, jeden Tag ein frisch gebügeltes Hemd über den Stuhl gehängt, täglich eine Schachtel Zigaretten und Kaugummi in die Tasche gesteckt, jeden Tag fünf Euro Taschengeld in geputzten Ein-Euro-Stücken auf seinen Platz gelegt und habe die Brote dick mit Wurst beschmiert und meinen Jungen danach geweckt. Nicht einen einzigen Tag ist er zu spät auf Arbeit gegangen, egal wie lang er sich ihre Sendungen ansah. Dafür habe ich gesorgt. Frau Barbarusia, was habe ich denn verkehrt gemacht? Was? Ich verstehe das alles nicht? Nacht für Nacht stelle ich mir die Fragen, die Sie mir in den letzten acht Monaten gestellt haben. Irgendwann hätte er ein tüchtiges Mädchen mit heimgebracht und wir hätten viele Kinder gehabt. Irgendwann. Manchmal habe ich ihn auch gefragt, warum er keine mitbringt… da hat er dann immer laut reagiert. Ich hätte gewiss gegen ein ordentliches Mädchen überhaupt nichts gehabt, Frau Barbarusia.

Waltraud, du musst g-a-n-z dringend ein spirituelles Sitzbad nehmen, nur dann, und nur dann wird´s besser mit dir und deinem… Wenn ich mich nicht täusche, empfange ich jetzt ganz schwache Signale von deinem, vom…

…von meinem Frank?

Ja, von deinem gu-ten Frank, Waltraud!

+ Hier erfahren Sie die ganze Wahrheit über ihre Sterne +

Was sagt er, Frau Barbarusia? Geht´s ihm gut? Was macht er? Hat er genug zu essen?

Das kann ich nicht sagen, dafür ist das Signal auch dieses Mal zu schwach, Waltraud, was du aber auf jeden Fall drin-gend machen musst, ist eine energetische Vollwaschung, am besten mit Amethrincreme, Bergkristallwasser und doppeltem Alttitansalz. Und nimm dazu meine spezielle Sondermischung Gravitationsstaub! Dann kann nix mehr schiefgehen, überhaupt nix! Meine Mischung wird dir auf dem Weg ins Licht die notwendigen Kräfte bringen. Ich kann dir die kostbaren Sachen besorgen, ü-berhaupt kein Problem. Musst du nur bei mir bestellen. Ich würde dir einfach die doppelte Menge reinpacken, die doppelte, weil ich weiß, dass du im Moment die doppelte Menge brauchst, gell´, Waltraud, einfach das Doppelte reinpacken, das Doppelte, für dich, meine liebe Waltraud, natürlich wie immer für dich zum halben Preis…

+ Keine ungeklärten Fragen – auf alles eine klare Antwort +

….und nachdem, was ich in der Kugel außerdem se-he… meine liebe Waltraud…

Ja, Frau Barbarusia?

… besitzt du bis zum Jahresende den Selbstheilungsmodus. Danach ist der Modus für den Rest des Lebens restlos aufgebraucht. Da brauchst du g-a-n-z dringend das neue Selbstheilungsstarterset, Waltraud, ohne das geht bei dir gar nichts mehr, ü-berhaupt nichts mehr, hörst du ü-berhaupt nichts! Gell´, meine liebe Waltraud. Dann schläfst du auch wieder besser. Das ist alles, alles kein Problem, da würde ich dir etwas abgeben von meinen privaten Reserven, einfach abgeben. Natürlich, nur wenn d-u willst… d-u wirst auch heute wieder bestellen. Ich weiß, d-u machst das! Etwas von meinem Privaten abgeben, Waltraud, gell´, von meinem wenigen Engelskontingent! Gebe ich gern, Waltraud… für dich… wegen Frank!

Frau Barbarusia, wann kommt mein guter Junge den nun zurück?

Die hochfrequenten supraleitenden Schwingungen aus der Kristallkugel lassen nach, aber Frank will, sagt er, dass du weiter für ihn sein Lieblingsessen machen sollst und dass du auf ihn warten sollst. Er sagt, er wird sich bei dir melden, das hat er mir soeben noch gesagt… nicht heute. Wann? Das weiß er noch nicht, aber an eurem Lieblingsplatz wird er sein, an dem ihr so gern gesessen habt, du weißt schon, du sollst in der Zwischenzeit in dich gehen… du weißt warum, sagt er… die Signale werden schwach… er sagt, er ist schon im Licht, er badet im Licht, seine Seele glänzt, er ist in einer glücklichen Situation, er erneuert sich ganzkörperlich… die transnistrischen Schwingungen in meiner Kugel lassen nach, Waltraud, ich kann unseren Energiestrom nicht mehr, nicht mehr aufrechterhalten, tut mir leid… tut mir, tut mir leid… die Verbindung ist abgebrochen… ich hö-re, blau, irgendetwas von einem blauen Fahrzeug…

Ein Moped? Bestimmt ein Moped, Frau Barbarusia, ein Moped, das wollte er schon immer, aber wegen der Prophezeiung, die Sie ihm gegeben haben… da habe ich´s versucht, zu verhindern. Können Sie das verstehen, Frau Barbarusia?

 

… blau, ein blau-es mit viel Chrom, Waltraud, das hat er eben gesagt!

Was sagt er noch! Was sagt mein Frank… an unserem Lieblingsplatz, der Gartenbank? Wann soll ich nochmal bei Ihnen anrufen, Frau Barbarusia? Was brauche ich alles für meine Selbstreinigung?

+ Bitten Sie Barbarusia um ihre kostbare Engelsenergie +

Waltraud, das Selbstreinigungsstarterset schicke ich Dir natürlich so schnell wie möglich zu, ich merke doch, dass du es dringend, g-a-n-z dringend brauchst. Eine kluge Entscheidung! Du spürst genau was du brauchst. Bleib´, bleib´ in der Leitung, wir nehmen nur schnell deine Daten auf. Setz Dich auf die Gartenbank, hat er mir eben noch gesagt, denke an ihn, hat er gesagt, brate Buletten mit ganz viel Estragon, hat er eben gesagt, denke über euch beide nach, du weißt warum. Warte auf der schönen, gemütlichen Gartenbank und kaufe das blaue Moped, kaufe es von seinem Geld, hat er noch zu mir gesagt. Stell´ das Moped neben die Gartenbank und warte, warte auf ihn, warte…dann wird alles gut!

+ Mit Barbarusia zur Reichtumsenergie +

Frau Barbarusia, wann können Sie wieder eine Verbindung herstellen? Geht es gleich jetzt nochmal? Bitte noch einmal!

Die Zeit ist schon wieder vorbei, Waltraud. Tschüssi, meine liebe. Dir alles Gute. Ich hoffe, ich konnte Dir auch heute wieder helfen. Tschüssi. Dir alles, alles Liebe, Waltraud!

+Barbarusia bringt auch Ihnen die Stimmen aus dem Jenseits direkt nach Hause+

Frau Barbarusia… ich bin´s… die Waltraud… Hallo…Hallo, ihre Waltraud, ihre Wal… Wal…?

Bei Kaffee und Kuchen

Eines Sonntagnachmittages im April trug es sich zu, dass ich Besuch empfing. Es läutete und mit einem großen Strauß gelber Tulpen tratet ihr auf den Flur. Wir fielen uns in die Arme, küssten uns auf die Wangen und freuten uns, was für wunderbar sonniges Frühlingswetter ihr doch mitbrachtet und alsbald ein erstes Picknick anstünde. Und wie bei jedem Sonntagsbesuch hattet ihr auch euren geliebten Perserkater im Weidenkorb mit. Schläfrig hob er kurz die Augenlider, ehe er uns wieder unserer Wiedersehensfreude überließ. Der Kaffee wurde gekocht, die Blümchenteller wurden bestaunt und die Tulpen mit Wasser versorgt. Ein geselliges Geschnatter begann, den Kuchen im Mund lachten wir und übertrafen einander im Loben unserer beiden selbstgebackenen Kuchen. Natürlich nach Omas Rezept und nur sie könne ihn perfekt. Die zweite Kaffeekanne wurde gekocht und es blieb nicht aus, einen Gang auf die Toilette zu unternehmen. Bereits vorbereitet, konnte sogleich noch die Kochwäsche angestellt werden. Das Stubenfenster weit geöffnet, genossen wir die warmen Sonnenstrahlen. Der Familie ginge es wunderbar, die Kinder würden studieren und der Job wäre anstrengend, aber bald hättet ihr Urlaub, darauf würdet ihr euch freuen. Ja und den Kater den würdet ihr mitnehmen im Wohnwagen, aber im Herbst auf die Malediven, da wäre das nichts für ihn und ihr würdet überlegen ihn in eine Katzenpension zu bringen für die fünf Tage, denn die Nachbarin wäre ja verstorben, die sich immer gekümmert hätte. Nun würde dort eine WG leben, die jeden Montag Partys feiere und ihr wäret ja froh, dass eure Kinder so nicht wären. Der Kuchen wäre ja so lecker gewesen, aber ihr wäret nun so satt, sodass ihr gleich nach Hause spazieren und das Abendbrot heute wohl entfallen würde. Unglaublich lecker wäre es gewesen und toll sich endlich einmal wiedergesehen zu haben. Das müssten wir bald wiederholen und ja, dass Picknick, das sollten wird bei dem schönen Wetter im Auge behalten. Es wurde noch einmal in den Badezimmerspiegel geblickt, ehe die Jacken vom Haken genommen und lässig über die Schulter gelegt wurden. Und wo denn eigentlich der Kater wäre, der hätte sich wohl mal wieder ein ruhiges Plätzchen gesucht und wäre eingeschlafen, der dicke Liebe. Die Waschmaschine piept und während ihr eure Schuhe anzieht, könne die Wäsche auch schnell aus der Maschine genommen werden, schließlich sind es nur drei große Bettlaken. Das Wiedersehen auf den Lippen, steht ihr in der Tür und schreit laut auf, als ich einen Perserteppich aus der Maschine ziehe.
Zu dem Picknick ist es nie gekommen.

Umklammert

Klammeraffe, Affentanz, Tanzschritte, Schritte des Unterrichts, Wie mache ich guten Unterricht? Unterrichtsheft, Heft dreizeilig A5 für Schulausgangsschrift, Schriftbild, Bilderrätsel, rätselnder Blick, blickdichte Strumpfhose, Hosenstall, Stall mit doppeltem Mitlaut, Lautstärke, starke Arme, eine Armlänge zu schnell, Schnelldenker, Denkzettel, Zettelwirtschaft, Wirtschaft mit „t“ am Wortende, Wortspiel, Spielregeln, Regelverstoß, Verstoß gegen die Hausordnung, Ordnung muss sein, Sein oder Haben, Habenicht, nicht schlafen, Schlaftablette, Tablette mit „b“, Buchstaben, Stabrechnen, Rechenbuch, Buchumschlag, Umschlagverschmutzung, Schmutznase, Naseweiß, Weißabgleich, 2×3 gleich sechs, Sechser im Lotto, Lottozahlen, Zahltag Erdbeermilch, Milchbubis, Bubenstreiche, Streichwurst auf Pausenbrot, Brotbüchse mit Abziehbildchen, Bilder zum Einstieg, Einstiegsdroge Ritalin, Ritalin statt Förderung, Fördermaßnahme, Maßnahmenkatalog Störungen im Unterricht, Unterrichtsfächer, Fächer und Fenster auf, Aufnahmeverfahren, verfahrene Situation, Situation nicht gewachsen, Wachsbuchstaben auf Kindertorte, Tortenschlacht, Schlachtplan, planlos, Lostrommel, Trommelwirbel, Wirbeltiere, Tiernamen, Namenwörter, wortlos.

Mein Hase

Du bist wach. Du bist allein. Du streckst dich. Du öffnest Facebook. Drei deiner Freunde haben ihr Profilbild geändert. Zwei tragen jetzt Mützen. Einer fährt Ski. Ansonsten keine Neuigkeiten. Keine neuen Likes. Keine neuen Nachrichten. Du rollst durch die alten. Alle gelesen. Alle beantwortet. Du checkst deine E-Mails. Zwei Newsletter. Viermal Spam. Du drückst sechs Mal Entfernen. Du öffnest den Chat. Keiner deiner Favoriten ist online. Du hast große warme braune Augen.

Ich reibe den Schlaf aus meinen und krümle die Körner auf den Teppich. Meine Augen brennen. Das ist einfach nicht mein Biorhythmus. Ich greife zu meiner Kaffeetasse. Sie ist leer. Ich müsste aufstehen und neuen Kaffee aufsetzen. Das geht jetzt nicht. Ich will nichts verpassen. Ich schlage mir die Hände ins Gesicht. Ich ohrfeige mich. Adrenalin macht wach. Ich will jetzt wach sein. Du bist wach. Was machst du?

Du greifst zu deinem Telefon. Keine neuen SMS. Keine Benachrichtigungen. Du rollst durch dein Adressbuch. Du könntest jemanden anrufen. Aber wen? Die Hälfte der Leute hat in den letzten acht Wochen keine Rolle in deinem Leben gespielt. Du löschst ein paar von denen. Du blätterst durch deinen SMS-Eingang. Du liest alte Nachrichten. Du löschst ein paar von denen. Du könntest jemandem schreiben. Aber wem? Oder was? Du kaust auf deinen Lippen. Lass das! Du gehst zum Fenster und legst deine Stirn an die Glasscheibe. Was siehst du?

Ich öffne eine neues Nachrichtenfenster und schreibe dir: „Guten Morgen.“ Wen soll ich als Absender nehmen? Ich lasse es. Stattdessen angle ich die letzte Zigarette aus dem Päckchen. Ich muss neue holen. Ich suche mein Feuerzeug. Ich suche den Aschenbecher. Ich habe keinen Kaffee. Ich raste aus. Ich klemme die Zigarette ohne Feuer zwischen meine Lippen. Ich schmecke trotzdem Rauch. Ich sollte lüften. Ich brauche frische Luft. Du brauchst frische Luft.

Du solltest rausgehen. Nimm dein Handy mit. Dann bin ich beruhigt. Es dämmert schon. Du warst noch nicht draußen. Aber es regnet und du willst nicht raus. Du kriegst eine neue E-Mail. Dein Foto-Netzwerk. So gelingen tolle Schnappschüsse bei tristem Frühlingswetter. Du klickst die Benachrichtigung weg. Du steckst dir eine Zigarette an. Du hast noch massig Zigaretten. Feuerzeug und Aschenbecher liegen griffbereit. Typisch für dich. Du atmest weißliche Schwaden aus. Du bist blass wie ein Geist. So gelingen tolle Schnappschüsse vor Ihrem Rechner. Ich möchte auch eine Zigarette rauchen.

Ich lasse meinen Kopf zwischen meine Knie fallen. Mein Rücken schmerzt. Ich finde mein Feuerzeug hinter einem meiner Monitore. Ich finde meinen Aschenbecher unter dem Tisch. Ich muss tagsüber ein paar Minuten eigenickt sein. Ich kann mich nicht erinnern ihn runtergeschmissen zu haben. Ich strecke meine Beine unter den Tisch. Mit den nackten Füßen schiebe ich die Asche zu einem Haufen zusammen. Ich stecke mir die Zigarette an. Der Filter ist schon ganz aufgeweicht. Ich inhaliere. Wir rauchen eine Zigarette zusammen. Ich muss aufräumen. Morgen früh. Wenn du wieder schläfst.

Du gehst zum Kühlschrank. Du kniest Dich davor. Du hast einen schönen Hintern. Du nimmst das Saure-Gurken-Glas heraus. Viel mehr Auswahl ist nicht. Seit einer Woche warst du nicht einkaufen. Mit den Fingern angelst du in der Brühe. Du nimmst eine Gabel aus dem benutzten Geschirr. Du spießt die Gurke auf und isst sie. Du hast Appetit auf Erdnussbutter. Du hast die Erdnussbutter gestern alle gemacht. Du hast keine Vorräte. Nicht mal Nudossi. Null Überblick hast du. Du läufst zur Süßigkeiten-Schublade. Du findest Gummibärchen. Du magst keine Gummibärchen. Du magst jetzt was Richtiges.

Dein Telefon vibriert. Whopper-Menü heute im Angebot. Milchshake für einen Euro. Du hebst die Augenbrauen. Du lächelst. Du drehst dich und kratzt dich am Hals. Du überlegst. Du entscheidest. Du willst ein Whopper-Menü. Du schlüpfst aus deinem Schlafshirt und lässt es auf den Boden fallen.

Ich halte die Luft an. Deine weiße Haut! Deine Schulterblätter! Deine Hüften! Du verschwindest zum Kleiderschrank. Ich raufe mir Haare. Ich muss daran ziehen. Ich brauche einen Reiz. Bitte nimm das rote T-Shirt! Deine Brust in dem Roten T-Shirt! Du kommst mit dem roten T-Shirt zurück. Ja! Es ist soweit. Heute! Du ziehst Dich an. Deine Schenkel! Deine Waden! Ich muss mich anziehen! Deine Hosen sind eng geworden. Dir steht das. Meine Hosen haben Gummibund. Du wirst mich sowieso nicht bemerken.

Du suchst Deine Schuhe. Du findest Deine Schuhe nicht. Ohne Schuhe kannst du nicht raus. Das passt dir gut. Du willst nicht nach draußen. Willst du nie. Aber du bist hungrig. Dann fällt es dir ein. Deine Schuhe stehen vor der Tür. Du hast sie dort stehen lassen. Sie waren nass und schmutzig geworden. Neulich. Meine Schuhe stehen vor dem Bett. Aber ich brauche eine Jacke. Ich kann nicht im Unterhemd vor die Tür. Ich rase durch meine Wohnung und suche meine Jacke. Ich finde sie auf dem Kochfeld. Ich kam hungrig nach Hause neulich und hatte die nasse und schmutzige Jacke vor dem Kühlschrank ausgezogen. Ich schlüpfe hinein. Ich hole meine Schuhe. Ich gehe an meinen Platz um sie anzuziehen. Wo bist du?

Du kommst aus dem Bad zurück und gehst zur Wohnungstür deines Apartments. Du legst dein Auge an den Spion. Du trittst einen Schritt zurück. Du zögerst. Du trittst wieder zur Tür. Du wartest. Du lehnst dich mit dem Rücken an deine Tür und knallst deinen Hinterkopf dagegen. Du ziehst deine Jacke aus. Du kaust an deinen Nägeln. Als wärest du nicht in Sicherheit! Du lässt dich aufs Sofa fallen. Was ist los?

Du schaltest den Fernseher ein. Dein Fernseher hat Zugriff auf dein Netzwerk. Wie ich. Eine dicke Frau legt Karten. Du nimmst dein Telefon aus der Tasche. Du wählst die eingeblendete Nummer. Du willst nach deiner Zukunft fragen? Wie albern! Du hörst sowieso nicht zu! Die Nummer ist besetzt. Du legst auf und stützt den Kopf auf deine Hände.

Du hast Sehnsucht. Ich habe Sehnsucht. Aber du hast einen Vorteil: Dich gibt es. Ich habe auch einen Vorteil: Du bist naiv. Du hättest die Bilder nicht herunterladen sollen. Nicht auf deinen Rechner und nicht auf dein Handy. Man öffnet keine Dateien von fremden Männern. Du wolltest den Mann kennen lernen. Aber so einen Mann gibt es nicht. Jetzt habe ich dich kennen gelernt. Und ich werde Dich treffen. Heute. Ich schalte deinen Fernseher aus. Du staunst. Du nimmst die Fernbedienung in die Hand. Du kratzt dir irritiert dich irritiert hinter dem Ohr. Du siehst niedlich aus. Die liest die schwarze Mattscheibe als Zeichen. Du erinnerst dich an deinen Hunger.

Du kommst zurück zum Schreibtisch und greifst nach deinem Portmonee. Du zählst dein Geld. Es müsste reichen. Findest du auch. Du gehst wieder zur Tür. Du lauschst ins Treppenhaus. Du fährst dir durch deine braunen Locken. Der Hase traut sich nicht aus seinem Bau! Mein Hase! Du schnappst dir den Schlüssel von der Kommode und traust dich doch. Mit einem Ruck öffnest du die Tür. Zügig fällt sie hinter dir ins Schloss. Bravo! Ich brauche noch ein paar Sekunden. Die Stille in deinem Apartment fesselt mich. Ich sehe es so selten leer. Dein Bau.

Ich stürze ins Treppenhaus und haste die Treppen hinunter. Du wirst den Lift nehmen. Dein Weg ist viel kürzer. Du wirst vor mir da sein. Vor der Haustür atme ich kurz durch. Haltung! Am besten die eines Niemand. Ich höre meinen Puls nicht mehr. Ich betrete die Straße. Der Wind kitzelt hinter den Ohren. Ich schüttele mich. Ich reiße mich zusammen. Der Regen platscht mir auf die Kopfhaut. Das ist erniedrigend. Draußen läufst du ganz anders. Deine Schritte sind größer und fester. Dein Gang ist eine Pose. Deine Pose amüsiert mich. Bald bin ich dicht hinter dir. Ich würdige dich keines Blickes. Du öffnest die Tür zum Restaurant. Du hältst sie mir nicht auf. Du würdigst mich keines Blickes. Ich bin dir zu alt und zu dick. Das hast du klipp und klar geschrieben. Warum solltest du mich treffen? Das hast du geraderaus gefragt. Ich hätte keine Chance. Du bist hungrig. Ich bin hungriger. Ich bin cleverer. Du hattest keine Chance.

Du stehst vor mir in der Schlange. Du bist größer als ich dachte. Kräftiger. In der Kapuze deiner Jacke liegen ausgefallen Haare. Ich reiße mich zusammen. Ich trete näher an dich heran. Du suchst nach dem Sonderangebot auf den Angebotstafeln. Der Erfinder des Sonderangebots steht hinter dir. Ich versuche dich zu riechen. Ich rieche Bratfett. Ich trete noch näher. Der Gedanke dich zu riechen erregt mich. Du hast dich heute noch nicht deodoriert. Aber ich muss mich zusammenreißen. Du bist dran. Deine Stimme ist leise und belegt. Ich mag deine Telefonstimme lieber. Du traust dich nicht nach dem Sonderangebot zu fragen. Du kramst umständlich Münzen aus deinem Kleingeldfach. Ein 2-Euro-Stück rutscht dir aus den Händen und fällt auf den gefliesten Boden. Ich könnte mich Bücken und es dir aufheben. Du würdest mich ansehen. Du würdest Danke zu mir sagen. Vielleicht würdest du lächeln. Ich kann nicht.

Du bückst dich und hebst das 2-Euro-Stück selbst auf. Du siehst dich nervös um. Ich richte meinen Blick auf den Boden. Ich atme tief aus. Ich ärgere mich. So habe ich mir das nicht vorgestellt. Die Verkäuferin fragt „Zum Mitnehmen?“. Du nickst. Sie wirft den Burger und die Pommes in eine Papiertüte. Den Milchshake stellt sie daneben. Sie faltet die Papiertüte zu und schiebt sie über den Tresen. Du greifst danach. Ich sammle mich. Ich atme tief ein. Du drehst dich um und läufst auf mich zu Richtung Ausgang. Ich nehme meinen Mut zusammen. Ich mache einen Schritt in deinen Weg. Deine Schulter stößt gegen meine. Du rempelst mich an. Deine Schulter ist fest. Du riechst salzig. Ich höre meinen Puls wieder. Du bleibst stehen. Du siehst mich an. Du hast verboten große warme braune Augen. Du hebst deine Augenbrauen. Ich reiße mich zusammen. Ich sage Entschuldigung. Du legst die Hand an meinen Oberarm. Ich zucke. Du sagst: „Kein Problem.“ Mir dreht. Die Verkäuferin fragt: „Bitte?“. Ich kann deinen Blick nicht halten und sehe zur Verkäuferin. Du kannst meinen Blickt nicht halten und siehst zur Tür. Ich sage: „Das gleiche nochmal.“ Du läufst los. Zurück in deinen Bau. Ich sehe dir nicht nach. Du gehst. Ich bleibe.

kiew, 22. februar 2014

sag es nur niemandem, aber gestern kam ein pegasus
auf den maidan. der zarkowitsch flüchtete darauf,
hisste die flügel ´gen krim, doch die dichter
& demonstranten bemerkten es nicht, staunten beschäftigt
auf das schlaraffenbankrott.
die kinder beworfen mit schokolade, während frauen auf blauer flamme kochen &
die männer die eisenfaust beim schopfe packen.
der schokoladenkönig, gas-snegurotschka und dr. faust beanspruchen den thron.
nur mephisto ja, den freut´s,
reitet hinaus aus der hölle, reißt flügel aus und feixt.
dort vorne läuft die korruption.

Gut, gut; danke, danke

Ich brauche Chilis, ich brauche Erdnusstofu, ich brauche Kokosmilch; im Kopf gehe ich meine Einkaufsliste durch. Die Glastüren des Supermarktes öffnen sich, ich sehe auf und entdecke eine schöne Jacke. Ich brauche auch eine neue Jacke, denke ich, eine schöne; vielleicht eine wie die da, in einem so hellen, freundlichen Blau, kräftiger als der Himmel. Meine Jacke ist zehn Jahre alt, ihre lackierten Druckknöpfe sind abgewetzt und in der rechten Tasche ist ein Loch, durch das immer wieder Münzen ins Futter rutschen. Ich sehe den Mann in der Jacke und denke, ja, die Jacke steht ihm, gute Wahl; und dann sehe ich, dass sogar die Schuhe des Mannes zu seiner Jacke passen. Erst jetzt begreife ich, es ist deine Jacke, es sind deine Schuhe, es sind deine Augen: du bist es.

Sofort spüre ich den Impuls, mich abzuwenden; mich plötzlich sehr zu interessieren für das Vogelfutter, dass auf der Saisonfläche im Eingangsbereich aufgestapelt ist; den Impuls, dir den Rücken zuzuwenden, mich hinunter zum Vogelfutter zu bücken und aufmerksam die Zutatenliste zu studieren, damit du mich übersiehst oder ohne Peinlichkeit übersehen kannst oder mir wenigstens glaubst, dass ich dich übersehen habe. Dann aber – noch in der Hocke – rufe ich: Hey! Ich brauche kein Vogelfutter und ich möchte nicht daran erinnern müssen, mich einmal im Vogelfutter vor dir versteckt zu haben.

Du bleibst stehen, siehst zu mir herunter, machst ein überraschtes Gesicht und sagst: Hey. Du erkennst mich sofort; schade, denke ich, einmal möchte ich mich so sehr verändern, dass die Leute überlegen müssen, wenn sie mich treffen; dass sie staunend Fragen müssen: Korbinian, bist du es; fast hätte ich dich nicht erkannt. Ich habe ein paar Kilo zugelegt, seit unserem letzten Treffen, darüber hinaus hat es keine wesentlichen äußerlichen Veränderungen gegeben, wahrscheinlich sehe ich ein bisschen älter aus; ich bin ein bisschen älter. Du erkennst mich also, kein Wunder, aber in deinem Lächeln steckt etwas Vorsicht, immerhin.

Ich überlege, ob ich dich drücken soll. Wir haben uns immer gedrückt, wir waren ja Freunde, enge Freunde. Für eine Weile waren wir vielleicht mehr als das, also du für mich. Was ich für dich war weiß ich nicht, das müsste ich dich fragen; aber welchen Sinn hätte das, alles ist so lange her. Du überlegst kein bisschen und drückst mich, wie immer. Ich drücke zurück, fest. Schön, dich zu treffen; du bist dünn geworden.

Ich frage, wie es dir geht; doch, doch, es interessiert mich wirklich, aber es ist eine heikle Frage bei dir. Du warst krank, sehr krank, vielleicht bist du es noch, ich weiß es nicht, auf Facebook hast du nichts davon geschrieben, aber so etwas schreibt man auch nicht auf Facebook. Du verstehst die Frage als Floskel und antwortest nett, gut, gut, danke, danke; ich hake nicht nach.

Weil du nichts fragst, frage ich, wie es in Wien war. Du hast dich eingecheckt in einer Konzerthalle; ich habe sofort gegoogelt, wer dort spielt, aber nur um zu prüfen, ob meine Vermutung stimmte; sie stimmte. Um diese Band live zu sehen, bist du auch vor zehn Jahren schon 500 Kilometer gefahren, und zwar nur für diese Band; manchmal saß ich auf dem Beifahrersitz im Gegensatz zu dir aber nicht, weil ich deren Musik so mochte, sondern weil ich gern neben dir im Zelt schlief. Du staunst, dass ich von Wien weiß; ich behaupte, ich habe es zufällig auf Facebook gelesen, aber ich werde rot und komme mir wie ein Stalker vor. Dass ich davon las war alles außer zufällig: ich lasse mich benachrichtigen wann immer du etwas postest.

Du erzählst von der Hinfahrt und von den Leuten, die dich begleitet haben, von der Band und vom Stadtrundgang. Ich höre dir zu, aber die Leute, die dich begleitet haben, interessieren mich nicht; viel mehr interessiert mich das Label deiner Jacke, das in schnittigen Lettern auf die Brust gestickt ist. Wie machst du das, frage ich mich, wieso hast du so ein Händchen für Mode; du bist immer so beiläufig schick, als würdest du gar nicht darüber nachdenken, während ich viel nachdenke, auch über Mode, und trotzdem immer das gleiche anhabe.

Weil du nichts fragst, frage ich, wie es mit der Arbeit läuft; gut und schlecht sagst du und erzählst von sechsstelligen Einnahmen und sechsstelligen Ausgaben und hohen fünfstelligen Bilanzierungsfehlern, die euch vielleicht in den Ruin treiben könnten, aber du lächelst dabei. Du nimmst es nicht so schwer, wie du nichts schwer nimmst, sogar wirklich Schweres nicht. Wenn du lächelst, ziehen sich neuerdings strahlenförmig Fältchen von deinen Augenwinkeln aus über dein Gesicht bis hinunter zu deinen Wangen. Das sind Lachfältchen, denke ich, aber kann das sein; kann jemand, der so krank war wie du, Lachfältchen kriegen, die so lang sind, wie deine? Und wieso kriegt jemand, der gesund ist wie ich, statt Lachfältchen eine Furche über der Nase, die so tief ist, wie bei mir? Du hast aufgehört zu sprechen und starrst in meinen leeren Einkaufskorb. Tja, also, gut, sage ich, und denke, dass es gut ist, dass du arbeitest, weil es bedeutet, dass du gesund bist. Ich atme durch, aber nicht zu tief, denn deine Wangenknochen sind hervorgetreten und obwohl ich finde, dass dir das steht, ist es kein gutes Zeichen.

Du erzählst von deinen Katzen, wahrscheinlich, weil du meinen Blick in deinen Einkaufskorb als Frage verstanden hast; darin liegt außer zwei Packungen Katzenstreu nur ein großer Smoothie mit Stachelbeeren. Deine Katzen waren jetzt zwei Tage allein, du warst ja in Wien; deswegen musst du dann auch los, denn seit du aus Wien zurück bist, warst du noch nicht zu Hause. Du hast zuerst Malin besucht, sagst du; Malin, du weißt schon, mit der wir in der Schule waren.

Ich weiß, wer Malin ist, wir haben neulich ein paar Nachrichten hin und her geschrieben, es geht ihr gut, also frage ich nach deiner Freundin – die heißt Sophie. Sophie ist in Afrika zum Forschen, ihr Projekt sollte ein Jahr laufen, aber jetzt sind schon zwei Jahre rum und sie ist immer noch nicht zurück. Jedenfalls nehme ich das an, denn du hast nichts über ihre Rückkehr geschrieben und ich habe keine Einladung, zu einer Wiedersehensparty bekommen; obwohl, wer weiß, ob ihr mich einladen würdet. Du hörst auf zu lächeln und erzählst, dass Sophie im Sommer zurückkäme; vielleicht, wie du anfügst. Bis dahin wirst du aber umgezogen sein, in das Viertel, in dem wir aufgewachsen sind, in einen dieser Wohnblöcke, in denen ein Schulfreund von uns gewohnt hätte; von dort wäre es nicht so weit zu deiner Arbeitsstelle und außerdem wäre es auch nicht so weit zu Malin. Weil du nichts fragst, frage ich, ob das für Sophie okay sei und du fragst zurück, was Sophie denn schon dagegen tun sollte.
Ich weiß, dass du Malin liebst, ob immer noch oder schon wieder, das weiß ich nicht, und auch nicht, ob dir klar ist, dass es so ist. Ich aber kann es eindeutig in deinen Augen sehen, die strahlen unverschämt glücklich, wenn Du sie erwähnst und ich kenne Dich, zumindest kannte ich dich Mal und auch, wenn das alles lange her ist, weiß ich genau, was dieses Strahlen bedeutet. Dass ich angesichts dieses Strahlens nicht mehr klar denken konnte, wurde einst zu einem Teil unseres Problems, also meines Problems, ich weiß nicht, ob du je eines hattest mit mir; du hast eigentlich keine Probleme, du löst sie.

Ich richte meinen Blick an deinem Kopf vorbei in die Obst- und Gemüseabteilung; Mandarinen sind heute im Angebot, eine Kiste für nur fünf Euro; wer soll denn eine Kiste Mandarinen essen, frage ich mich, aber dich brauche ich das nicht zu fragen. Du magst keine Mandarinen; das feine weiße Netz in das die Spalten gehüllt sind, findest du bitter und die Pulerei nervt dich. Du schaust an meinem Kopf vorbei auf den Parkplatz, dann holst Du dein Telefon aus der Tasche und zeigst mir die schöne neue Hülle, die du dafür gekauft hast; eine Hülle mit einer modernen Leipzig-Illustration, ich mag sie. Ich hole daraufhin mein Telefon aus der Tasche, es hat die Farbe deiner Jacke, also die Farbe deiner Augen, also deine Lieblingsfarbe, also deine Farbe, aber leider ein inkompatibles Betriebssystem, wie du feststellst, was ich so passend finde, dass ich durch die Nase lachen muss; du bist irritiert.

Als du eine Weile von der unglaublichen Geschwindigkeit dieses neuen Mobilfunkstandards erzählst, fasse ich mir ein Herz, sehe dir in die Augen und frage dich, wie es dir geht, also gesundheitlich jetzt. Du siehst mich an und schweigst eine Sekunde; bis vor kurzem ging es dir gut, sagst du, jetzt aber haben sie wieder was entdeckt, einen Knubbel in deinem Rücken, nicht sehr groß, wie eine Kirsche ungefähr, den haben sie rausgeschnitten, tatsächlich war er nicht gut. Gut aber, dass er weg ist sagst du, und dann zuckst du mit den Schultern und ergänzt, dass es auf die eine Narbe mehr auch nicht mehr ankommt. Das finde ich auch, denn es geht nicht um deine Narben; deine Schönheit hat nichts mit deiner Haut zu tun. Das sage ich nicht, stattdessen sage ich, dass ich finde, dass du das richtig gut machst, also wie du mit deiner Krankheit umgehst. Du siehst an mir vorbei hinaus auf den Parkplatz und sagst, dass es eben vorbei ist, wenn es vorbei ist. Und dass es, wenn es vorbei ist, egal ist, ob du dich vorher verrückt gemacht hast oder nicht. Manche glauben dir diesen Pragmatismus nicht, aber ich glaube ihn dir; Du magst es eindeutig und unkompliziert, das hat es schwierig zwischen uns gemacht, als bestimmte Sätze ausgesprochen waren, denn manchmal bin ich ambivalent und komplex; und du hasst schon die beiden Worte. Du denkst nach, um mit dem Denken fertig zu werden; ich werde mit manchem nicht fertig, weil ich zu viel darüber nachdenke. Ich finde es wirklich toll, wie du das machst, sage ich nochmal und du siehst mich an, ernst, und fragst, wie du es denn sonst machen sollst.

Ich muss los, ich bekomme Gäste zum Abendessen, sage ich und dein Blinzeln verrät mir, du hältst es für eine Ausrede, dabei ist es wahr. Natürlich, natürlich, sagst du und erinnerst an die Katzen. Ich denke noch, dass ich das nicht sagen sollte, aber dann sage ich es schon: Wir sollten uns mal wieder treffen, also richtig. Tja, von mir aus, sagst du und legst die Stirn in Falten, als sei das Loch in unserer Freundschaft nicht deine Schuld. Es stimmt, du hast mich in der Silvesternacht angerufen und ich bin nicht rangegangen, weil ich mich nicht fühle, als wäre ich der, den du nach 20 Minuten im neuen Jahr anrufen würdest. Ich habe auch nicht zurückgerufen; ich hätte das dann mit dir besprechen müssen und du besprichst sowas nicht gerne. Immer wenn ich dir sowas sage, sagst du, na dann sag doch was. Ich muss nachdenklich aussehen, aber da drückst du mich schon zum Abschied und ich hätte sowieso keine Diskussion angefangen. Bevor du gehst, klopfst du mir noch zweimal kurz auf die Schulter. Ich ärgere mich, denn ich habe mir erst kürzlich vorgenommen, dich nicht mehr zu sehen. Es gelingt mir ja doch nicht, nicht mehr in dir zu sehen als du bereit bist, zu sein.

Deutschlandhalle

Sie öffnete den Mund, streckte ihre Zunge heraus, legte die Tablette auf die Zungenspitze und spülte sie mit einem Glas Wein herunter. Sie atmete tief ein, nahm die zweite, der in Reihe gelegten Tabletten vom Tisch und schluckte auch diese. Sie mochte weder den Weißwein, den sie im letzten Jahr zu ihrem Geburtstag vom Zivi geschenkt bekommen hatte und den sie anfangs vereinzelt vor dem Zubettgehen, später beim Mittagessen und seit einigen Wochen regelmäßig auch zum Frühstück trank, noch die Tabletten die sie unter dem Bett ihres Sohnes im Jugendzimmer gefunden hatte und die sie seit seiner Flucht fast täglich probierte. Sie öffnete wieder den Mund, schluckte eine weitere Tablette herunter und hoffte, das die Wirkung des Weines und die beruhigende Wirkung der Tabletten heute besonders schnell einsetzten. Sie nahm die Geburtstagskarte vom Küchentisch, drehte sie auf den Kopf und flüsterte: “Jetzt bin ich einundachtzig Jahre und einen Tag alt!“. Sie legte die Karte zurück auf den Tisch, griff die schwere Armbanduhr ihres Schwiegervaters und hob sie vor ihre Augen. Sie küsste auf das beschädigte Glas und lächelte. Sie streichelte mit beiden Daumen über die zerkratzte Oberfläche, roch an ihr und glaubte die wohlriechende Haut ihres Schwiegervaters zu spüren. „Elf Jahre“, flüsterte sie auf das Glas,“ Elf Jahre hast Du jeden Handgriff, den ich hier in der Küche gemacht habe, von dem hohen Sofa unter dem Fenster mit vielen Komplimenten beobachtet. Elf Jahre habe ich Dich dafür bekocht und gepflegt!“ Sie verglich die Zeit auf der goldenen Uhr, auf dem bunten Küchenwecker und dem weißen Zifferblatt des Kirchturmes: es war viertel Zwölf. Sie knöpfte die gemusterten Dederonschürze auf, zog sie aus und faltete sie über die Stuhllehne. Sie streifte ihre beiden dünnen Eheringe vom Finger, hielt sie vor ihre Augen, überflog die kaum lesbaren Gravuren und legte sie auf das Kopfkissen des Sofas. Seit der Schwiegervater auf diesem Sofa verstorben war, vermied sie, sich darauf zu setzen oder wenn sie von ihren Hausarbeiten müde wurde, darauf zu legen. Sie saß viel lieber auf der hellblauen Sitzfläche des Küchenstuhles, an dessen Griffen lederne Handtaschen und Plastikbeutel klemmten und über dessen Lehne sich in den Jahren Schürzen aufgetürmt hatten. Sie konnte auf diesem Stuhl stundenlang zu den drei Kinderbildern im Buffet schauen. Sie konnte, wenn es dabei dunkel geworden war, ohne ein einziges Wort an dem Tag gesprochen zu haben aufstehen und ins Bett gehen. Sie öffnete wieder die Augen und sah sich prüfend in der Küche um: der Mülleimer war geleert, der Fußboden gewischt und gebohnert, die Gardine gewaschen und gestärt, die Gläser poliert und zu exakten Reihen in den Schränken verstaut, das Gas abgestellt, die Wohnungstür verschlossen. Sie stand auf, ging zum Buffet und schob den Stecker des Radios in die Steckdose. Seit Jahren schaltete sie mit diesem Trick den Kasten mit den vielen Knöpfen an und aus. Sie hörte Applaus aus dem Lautsprecher. Sie stellte das Radio leise. Seit sie in einer Dokumentation sich als HJ-Mädchen in der Deutschlandhalle wild applaudierend wiedererkannt hatte, mochte sie weder politische Reden noch das widerliche Geräusch des Applauses zu Partei-oder Brigadeveranstaltungen. Sie fühlte sich seit diesem Tag um ihre wunderbaren Erinnerungen von Damals betrogen und konnte bis heute nicht verstehen, dass er das, was die über ihn behaupteten, zugelassen hatte. „Wir haben viel erreicht, meine sehr verehrten Damen und Herren“ klang die Frauenstimme zur Festtagsrede zum 65. Jahrestag der Republik. „Angela“, sprach sie zur Skala des Radios schauend, “Angela“, so hätte meine Tochter ursprünglich heißen sollen. Sie strich sich die nicht vorhandenen Falten aus ihrem Kleid und ging zurück zum Tisch. Sie sah auf das vergilbte Weiß der Tapete und hörte für Sekunden wieder die schrille Stimme ihres verstorbenen Ehemannes, der beim Einzug in diese Wohnung auf dem Weiß aller Decken und Wände bestanden hatte. Sie zuckte zusammen, beugte sich für einen Moment nach vorn und sah aus dem Fenster zu jener Stelle am Haus, an der er über die Jahre ihre Dinge zerschlagen hatte. Sie stand auf und ging ins Schlafzimmer. Sie stellte sich an das Fußende der Betten, streckte die Händen auf die frisch bezogene Wäsche und streichelte über das Lieblingsmuster ihres Ehemannes, das sie am Morgen aufgezogen hatte: weißer Stoff mit blauen Wolken. Sie ging an sein Kopfkissen, betrachtete das Wolkenmuster und verließ, wie er es von ihr stets gefordert hatte und wie sie es seit jeher gewohnt war, auf Zehenspitzen das Schlafzimmer. Sie schloss mit einem Zeigefinger, den sie zwischen Türblatt und Rahmen schob, die Tür und ging zurück in die Küche. „Unsere Republik hat sehr viel erreicht, meine sehr verehrten Damen und Herren“, klang die freundliche Frauenstimme aus dem Lautsprecher. „Wir leben in einem Land, das jedem Wohlstand und Sicherheit garantiert!“ Applaus! Sie schlich noch einmal zur Schlafzimmertür, öffnete sie leise und warf sie mit einem Krachen zu. Sie ging zurück in die Küche und hörte wie der Applaus verstummte. „Im Namen der Bundesrepublik gratuliere ich Ihnen allen, meine sehr verehrten Damen und Herren“ Sie stellte das Radio, aus der die freundliche Frauenstimme klang, laut und sah in die Kindergesichter, die aufgereiht im Küchenbuffet abgelichtet standen. Sie zog die Schublade auf und holte die rote Wäscheleine mit dem Seemannsknoten heraus. Sie tastete über den Knoten den sie von ihrem Großen gelernt hatte und den sie seit Monaten vor dem Buffet stehend fast täglich übte. Sie hatte dabei sehr oft an die denen schönen Abende denken müssen, an denen der Große Seemannsgeschichten erzählte, die damals alle bezweifelten und die sie gegen jeden Zweifler heftig verteidigte. Sie erzählte noch Jahre danach ihrem Mann, der wenige Wochen nach seiner Pensionierung eines Morgens im Bett liegen geblieben war, diese wunderschönen Geschichten. Sie erzählte diesem Ehemann, der keine dunklen Farben ertrug, der stets eine Schaufel, eine Flasche Wasser, etwas Essen und eine Taschenlampe unter dem Bett liegen hatte, an jeden Morgen und an jeden Abend diese Geschichten, um ihn endlich wieder zum Aufstehen zu bewegen. Selbst mit dem Tag, an dem sie allein in dem Bett  lag, erzählte sie sich diese Geschichten und ertappte sich, wie sie diese oder jene Begebenheit durch neue Inhalte variierte. Sie erzählte die Geschichten ihres ältesten Sohnes, wenn sie im Bett liegend an diesen denken musste, manchmal so oft und so laut, dass sie glaubte, dieses lachende Gesicht im Küchenbuffet aus dem Schiff herausholen zu können. Sie legte die rote Wäscheleine in die Schublade zurück und schob die Lade zu. Sie ging zum Tisch, setzte sich auf den Stuhl, seufzte und wischte mit der flachen Hand über die giftgrüne Wachsdecke mit den pinkfarbenen Pusteblumen. Sie mochte weder die Farben noch die neumodischen Formen. Sie hatte anfangs kleine, später große Einrichtungsgegenstände in den Farben und Formen, die ihre Tochter liebte, gekauft, um, wenn sie endlich einmal käme, sie damit beeindrucken zu können. Sie schob eine weitere Tablette, die das letzte Kinderbild tütenweise unter der Matratze zurückgelassen hatte auf die Zungenspitze,  goss mit einen kräftigen Schwung Weißwein in ihr Glas, spülte die Tablette herunter und hoffte wieder, dass die wohltuende Wirkung der letzten Wochen und Monate heute besonders schnell einsetze. Sie lachte. „Wie beim Arzt“, sprach sie belustigt zu den Kinderbildern! Sie sah zu dem dritten Kinderbild und war sich immer noch nicht sicher, ob sich der Jüngste noch auf der Flucht vor den schlechten Freunden befand, ob er eine Offizierskarriere wie der Große begonnen hatte, oder ob er…. Sie lallte: „Ein guter Junge bist du, ein Guter, du bist der Beste von allen. Bestimmt bist du auch Offizier geworden, wie der Große!“ Sie öffnete das Kuvert mit den vielen Geldscheinen die sie über die Jahre von ihrem ältesten Sohn geschickt bekommen hatte und war sich für einen Moment nicht sicher, ob es für ein ordentliches Begräbnis reichen würde. Sie spürte wie die Tabletten des Jüngsten endlich zu wirken begannen. Sie griff nach den verbliebenen zwei Tabletten, drehte die Zunge heraus und warf belustigt eine der beiden in den Mund. Sie hob die zweite in die Luft, küsste sie laut, schob sie zwischen ihre Zähne und biss darauf. Sie schlürfte mit offenem Mund Weißwein. Sie würgte und brach die beiden Tabletten wieder heraus. Sie beugte sich nach vorn und tastete nach den Tabletten. Sie nahm sie in die Hand, wischte sie trocken, schob sie wieder in den Mund und schluckte sie mit dem Rest Wein herunter. Sie hörte wie die Kinderbilder im Buffet zu sprechen begannen: Das erste Bild rief: Mama, wo ist mein Lexikon; Das zweite weinte: Mama, meine Farben sind alle; Das dritte rief: Mama, ich habe wieder eine Fünf und einen Eintrag bekommen. Sie hielt sich die Ohren zu und sah wie die lachenden Kinderbilder sich übereinander schoben. Sie hörte wie die Bilder durch ihre verschlossenen Ohren im Kinderchor sangen: „Mama, wir haben Hunger, Hunger, Hunger; wir haben Hunger, Hunger, Hunger; wir haben Hunger, Hunger, Hunger; wir haben Durst!“ Sie riss die Hände von den Ohren und drückte sie vor ihre Augen. „Wir haben aus unserer Vergangenheit gelernt und sind jetzt ein in aller Welt geachteter Staat, meine sehr verehrten Damen und Herren“, hörte sie die freundlich klingende Frauenstimme aus dem Lautsprecher sagen. Applaus! Sie hob ihren Arm. Sie schüttelte den Kopf. Sie presste beide Hände wieder auf ihre Ohren. Sie starrte auf den grauen Fliesenboden und sah ihren Ehemann aus einer der Fliesen mit einer Schaufel herausklettern. Sie drehte den Kopf ruckartig zur Seite, blickte hinüber zum hohen Sofa unter dem Fenster und sah den Schwiegervater in seiner hochdekoriert Uniform. Sie ging zum Fenster, setzte sich auf das Sofa und fühlte wie er seine weiche, wohlriechende Hand mit der schweren, goldenen Armbanduhr, die er aus dem Krieg mitgebracht hatte unter ihr Sommerkleid schob. Applaus! Sie stand auf und ging zurück zum Tisch. Sie hörte aus dem Applaus eine kräftige Stimme rufen “Mein Sohn, mein Sohn ist ein jämmerlicher Versager. Applaus. Wir Deutschen lassen uns vom Iwan nicht unterkriegen. Applaus. Wollt ihr den totalen Krieg? Stürmischer Applaus. Du hättest mich, mich und nicht diesen elenden Volksverräter heiraten sollen!“ Sie hörte den Applaus verstummen und die Hymne in der Deutschlandhalle erklingen. Sie stand auf, hob noch einmal die Hand nach oben und winkte. Sie öffnete die Augen und verglich die Zeiger auf der Kirchturmuhr, auf dem Küchenwecker und der Armbanduhr. Sie spürte zwei kräftige Glockenschläge auf ihrer Stirn; sie spürte den Sekundentakt in ihren Ohren; sie spürte das Armband um ihrer Brust. Sie nahm die Hand herunter und ließ sich auf die hellblaue Sitzfläche des Stuhles zurückfallen. Sie beugte sich über die grüne Wachsdecke, griff die Armbanduhr und presste sie wie den Orden, den sie damals von ihm bekommen hatte, zwischen ihre Handinnenflächen. Sie formte ihre Lippen zu einem Kuss. Sie holte tief Luft und atmete zufrieden aus.

Einsvierzig mal zwei Meter

Deine Fingerspitzen zucken, deine Nägel kratzen über meine Haut. Du machst eine Faust: ich bin wach. Deine Faust liegt auf meiner Brust, sie ist schwerer als deine Hand war. Ich spüre meinen Puls und höre deinen Atem. Ich drehe meinen Kopf, aber um den Wecker zu sehen, müsste ich meinen Körper drehen. Das wage ich nicht: du schläfst. Erfahrungsgemäß ist es kurz nach drei und es wird kurz vor vier sein, bevor ich wieder einschlafe. Dem Beben deines Körpers zufolge dauern deine Träume sieben bis neun Minuten. Einmal hat ein Traum vierzig Minuten gedauert; darin ging es um einen Einbrecher, der alles in deiner Wohnung fotografierte, während du dich im Schrank versteckt hieltest. Genau konntest du dich nicht erinnern; woran hättest du dich erinnern sollen, im Schrank war es dunkel. Trotzdem darf ich dich nicht mehr fotografieren, seitdem.

Ich drehe den Kopf in die andere Richtung, ich wende mich dir zu. Ich beobachte das Zucken deiner Mundwinkel und wie sich deine Kiefer gegeneinander verschieben. Ich hoffe, dass sich deine Lippen öffnen, damit ich von ihnen lesen kann. Ein einziges Mal hast du im Schlaf gesprochen; du hast „Nein. Mein.“, gesagt. Ich bin mir sicher, denn damals lag meine Hand auf deiner Brust und ich spüre noch, wie sie bei den N´s vibrierte. Ich habe dich zugedeckt, weil ich dachte, du frierst. Du bist aufgewacht, hast „Weg, weg!“ gerufen, dir die Decke über den Kopf gezogen und mir den Rücken zugewandt. Am nächsten Morgen konntest du dich nicht erinnern; ich glaube, du wolltest nicht. Sich nicht erinnern können ist deine Art, ohne eine Diskussion Nein zu sagen.

Ich studiere das Zucken deiner Wimpern. Ich verfolge deinen Blick, dessen Richtung sich unter deinen Lidern erahnen lässt. Deine Lider sind nur dünne Häutchen, aber sie trennen uns. Ich will wissen, was du siehst; ich will von dir wissen. Ein einziges Mal ist mir das bisher gelungen, da habe ich Furcht in deinem Gesicht gelesen; Furcht, vor etwas, das sich langsam nähert und dann Verzweiflung, weil du nicht wusstest, wohin. Ich wollte ein Ausweg sein und habe dir meine Hand auf die Wange gelegt; da hast du nach mir gebissen, schließlich hättest du mir angedroht, mich zu beißen, nächstes Mal. Als ich dich fragte, wann du das gesagt haben willst, hast du die Brauen zusammen geschoben, dir die Decke über den Kopf gezogen und mir den Rücken zugewandt. Am nächsten Morgen zeigte ich dir die Bissmale; du warst erschrocken, dann hast du mit den Schultern gezuckt und mich daran erinnert, dass man schlafende Hunde besser nicht weckt. Ich habe dir nicht widersprochen, denn du hast keine Ahnung von Hunden. Wenn es aber einen Hund gibt in unserer Beziehung, dann bin das ich.

Im Winter haben wir deine Mutter im Gebirge besucht. Sie sagte, sie mag keinen Besuch über Nacht, dabei hat sie drei leer stehende Schlafzimmer, die sie als Gästezimmer bezeichnet. Ich glaube, sie mag nur mich nicht über Nacht; ich glaube, sie mag mich nicht, und dass es damit zu tun hat, dass du jetzt bei mir wohnst. Manchmal schüttelte sie sich kaum merklich, bevor sie mir antwortete; als ich wissen will, wer ihr Gesellschaft leistet, antwortete sie mir gar nicht; niemals fragt sie mich zurück.

Wir schliefen also nicht in einem der Gästezimmer, sondern in einer kleinen Hütte, die dir dein Vater zum 13. Geburtstag gezimmert hatte, auf der äußersten Ecke des Grundstückes, fast schon im Wald. In jener Nacht hast du zum ersten Mal geträumt und als du aufwachtest, war die Nacht zu Ende, obwohl es lange noch nicht dämmerte. Du warst dir sicher, es sei jemand in deiner Hütte gewesen; ich war mir sicher, dass du nur geträumt hattest. Das sei unmöglich, du erinnertest dich sehr klar an jemanden und an deine Träume würdest du dich nie erinnern. Diesmal erinnerst du dich eben, hielt ich dagegen, denn ich war vor dir wach und außer uns beiden war niemand hier. Die Fußspuren im Schnee fielen dir erst auf, nachdem ich zu deiner Beruhigung eine Runde um die Hütte gedreht hatte; es waren meine Spuren, aber das entspannte dich nicht. Die kleine Pfütze auf der Türschwelle entdecktest du erst, nachdem ich meinen Mantel zurück in den Schrank gehängt hatte; es war meine Pfütze, vom Schnee, der aus meinen Sohlen geschmolzen war; aber das war keine Erleichterung für dich. Du hast dich unter unseren Decken verkrochen und ich habe auf dein Geheiß die Hütte durchsucht, auch, wenn du mir nicht verraten wolltest, nach wem. In der Schublade fand ich einen Handspiegel, der weder dir, noch mir, noch deiner Mutter gehörte. Er hatte blinde Flecken, wahrscheinlich wollte ihn deshalb niemand mehr; mein Gesicht war voller dunkler Male, als ich hineinsah. Der Spiegel war kein Indiz für mich, für dich aber war er ein Beweis, auch, wenn du nicht sagen konntest, wofür.

Seit dieser Nacht träumst du und ich schlafe nicht mehr neben dir; ich döse nur, wie ein Hund, dessen Augen nie ganz geschlossen sind, dessen Augen sich unwillkürlich öffnen, sobald sich etwas tut in seinem Revier. Mein Revier bist du, auch wenn du das bestreitest; du bist eine Katze und willst niemandes Revier sein, dabei brauchst du es warm und sicher und dabei brauchst du seit dieser Nacht jemanden, der die Wohnungstür zwei Mal abschließt vor dem Schlafengehen. Du brauchst jemanden, der neben dir wacht, wenn du träumst, auch wenn du das nicht zugeben würdest.

Du wirfst den Kopf hin und her, auf deiner Stirn hat sich ein glänzender Schweißfilm gebildet. Du ächzt, aber du sagst nichts. Ich darf dich nicht wecken, dabei wäre dich zu wecken das Einzige, was ich für dich tun könnte. Dann aber wärest du den ganzen Tag wütend auf mich. Du würdest mich darüber belehren, dass du deinen Schlaf bräuchtest und dass dein Schlaf dir gehöre und einem geheimen Rhythmus folge, den ich nicht zu stören habe. Du würdest so weit gehen, zu erklären, dass es ein Privileg für mich sei, meinen Schlaf an deiner Seite verbringen zu dürfen, dass ich die Grenzen dieses Privilegs jedoch überschritt, wenn ich deinen Schlaf mit meinem Wachen störte. Das alles hast du schon einmal gesagt, und ich glaube, du hast es gesagt, um dich zu rächen für die Sekunde deines Erwachens; die Sekunde, in der ich deine Irritation und deinen Unmut gesehen habe, in der ich dein Wesen frei von Höflichkeit gesehen habe; in der ich gesehen habe, dass dein Wesen, dem eines Tieres gleicht, dem einer Katze, die sich den Rest des Tages auf dem Schrank verkriecht, nachdem man mit Blitzlicht ein Foto von ihr aufgenommen hat.

Ich möchte geweckt werden, wenn ich schlecht träume; ich träume immer das Gleiche und das quält mich. Ich habe dich gebeten, auf mich zu achten, wenn ich schlafe – es würde mich nicht stören, wenn du mich dabei in meinem Wesen erkennen würdest – aber du hast das Kinn nach vorn geschoben. gefragt, wie du auf mich achten sollst: du schläfst. Das Kinn nach vorn schieben und eine Frage stellen, ist deine Art ohne eine Diskussion Nein zu sagen. Damit war bewiesen, dass du die Katze bist und ich der Hund, denn ich kann auf dich achten, selbst wenn ich schlafe.

Wenn ich schlecht träume, träume ich, dass mein Telefon klingelt. Ich befinde mich in wechselnden alltäglichen Situationen, plötzlich klingelt mein Telefon. Ich nehme es aus der Tasche; auf dem Bildschirm wird eine Nummer angezeigt, die ich nicht kenne. Das ist alles. Ich wache schweißgebadet auf; manchmal wache ich schreiend auf, dann bist du auch wach. Du fragst nicht, was ich geträumt habe, sondern wer dran war; du kennst meinen Traum. Du küsst mich auf die Stirn, wenn ich zugeben muss, wieder nicht rangegangen zu sein. Routiniert analysierst du, dass ich zu sehr an dir hinge, und dass das nicht gut für mich wäre. Noch nie war etwas so gut für mich wie du, an was soll ich mich sonst hängen? Du willst mich lieben, weil du mich lieben willst, und nicht, weil dich zu verlieren die größte Katastrophe wäre, die mir zustoßen könnte. Ich nicke, du wendest mir den Rücken zu. Während du schon wieder eingeschlafen bist, liege ich noch wach und grüble, wie ich die Katastrophe verhindern kann: Eines Tages wird dir etwas zustoßen und dann wird man mich anrufen, um mir zu sagen, was. Sobald ich meine Augen schließe, sehe ich den Handybildschirm vor mir. Aus der Erinnerung versuche ich, die Nummer zu rekonstruieren; ich möchte die Nummer anrufen und fragen, was passieren wird, damit ich es verhindern kann. So kann ich nur vermuten: ich habe dich gebeten, nicht mehr mit dem Rad ins Büro zu fahren, sondern mit dem Bus, das ist sicherer. Du hast mir übers Haar gestrichen und gelacht. Mir übers Haar streichen und lachen, ist deine Art, ohne eine Diskussion Nein zu sagen.

Deine Lippen öffnen sich trocken und langsam, jetzt atmest du durch den Mund. Wenn deine Lippen so klebrig aufspringen, dauert es meistens nicht mehr lange, bis du ruckartig einatmest und dann nicht mehr. Ich bin mir nicht sicher, ob das der Höhepunkt deines Albtraumes ist. Ich weiß nicht, ob du gleich anfangen würdest zu schreien, ob du in einer Minute selbst wachwerden würdest oder in zwei Minuten zurück in einen tiefen Schlaf fielest. Ich weiß es nicht, weil ich es weiter noch nie geschafft habe. Wenn du so ruckartig einatmest, dass deine Stimmbänder schwingen und wenn du danach ganz und gar verstummst, muss ich dich wecken, weil ich überzeugt bin, dass du in Gefahr bist; im Traum vielleicht, bestimmt aber in Wirklichkeit: Du musst atmen, ich will es so.

Ich hoffe, dass du vorher aufwachst, dass du von selbst aufwachst, aufschreckst, dich aufsetzt, vielleicht aufschreist. Ich will dann da sein. Ich stelle mir vor, dass du brüllst und um dich schlägst, damit ich einen Grund habe, dich an den Handgelenken zu packen und sanft zurück in die Kissen zu drücken. Ich stelle mir vor, wie ich dir in die Augen sehe, fest und ruhig, und „Alles ist gut.“ sage. Tonlos forme ich die Worte, sie fühlen sich gut an auf meinen Lippen, ich will sie zu dir sagen dürfen; ich will sie sagen dürfen, in einer Situation wie dieser, in der „Alles ist gut“ so sehr stimmt, wie niemals sonst. Ich will, dass du keinen Grund hast, mir zu widersprechen.

Und dann will ich mit meinen Händen fühlen, wie die Spannung aus deinen Händen weicht und ich will mit meinen Augen sehen, wie die Furcht aus deinen Augen verschwindet. Ich werde nicht blinzeln, ich werde nicht riskieren, die Sekunde zu verpassen, in der du mich erkennst; du erkennst mich manchmal und das sind die schönsten Sekunden. Ich werde meinen Griff lockern, damit du deine Arme um mein Genick legen und deinen Körper an meinen ziehen kannst. Und wenn meine Lippen deinem Ohr am nächsten sind, werde ich dich fragen, wer in der Hütte war und was passiert ist und „Ach, du!“ werde ich nicht als Antwort akzeptieren. Ich glaube dir nicht, dass du dich nie an deine Träume erinnern kannst; aber so kurz nachdem du aus einem Albtraum aufgewacht bist, könnte ich es dir so wenig glauben, dass ich mit dir streiten müsste.

Deine Lippen schließen sich wieder und du machst „Mm“. Dein Kopf fällt zur Seite und deine Lippen schürzen sich kurz. Ich atme ruckartig ein und halte die Luft an. Das ist der Moment, an dem ich in deinem Traum vorkomme. Mein Name beginnt mit M und du hast deine Lippen geschürzt. Ich stelle mir vor, wie ich dich im Traum küsse und dann küsse ich dich. Ich muss es ganz sanft machen, um dich nicht zu wecken, diesmal.

Du streckst dich und lässt alle Luft aus deinen Lungen entweichen. Dann öffnest du kurz deine Augen und steckst deinen Kopf unter mein Kinn.
Wir schlafen.

Soweit mein Auge reicht

In dieser Nacht hatte ich kaum geschlafen und stand müde und unruhig vor der gewohnten Weckzeit auf. Ich fuhr in die Kühlanlage der Schlachterei, in der ich seit über 45 Jahren fehlerfrei arbeitete, schaltete die Lichtanlage an und nahm das Fleisch für den Tag heraus. Vorsichtig begann ich das erste Schwein zu filetieren. Ich legte die Rippenbögen frei, trennte die Schulterteile ab und schnitt Lunge und Magen aus dem Bauchraum. An der Blase machte ich eine Pause. Für gewöhnlich machte ich an dieser Stelle immer eine Pause, bevor ich die weiteren Innereien behutsam herauslöste. An diesem Morgen genoss ich das Herauslösen der Innereien besonders, speziell der Blase. Ich hielt die blutverschmierte Blase in das Neonlicht, spülte sie lauwarm aus und tupfte die Wasserreste sorgfältig auf. Dabei schwitzte ich. Manchmal schwitzte ich so sehr, dass einzelne Tropfen von meiner Stirn auf die Blase oder gar in sie hineintropften. Das fand ich jedes Mal eklig, wahnsinnig eklig. Wenn das passierte, säuberte ich sie nochmals; eine schweißverdorbene Blase durfte ich auf gar keinen Fall in mein Haus bringen. Deswegen achtete ich an diesem Morgen besonders auf meinen Schweiß und tupfte, sobald ich ihn bemerkte gründlich mit meinen Fingern über die Stirn. Ich faltete die Blase und legte sie in meinem Taschentuch nach einem jahrelang erprobten Prinzip zusammen. Vorsichtig steckte ich das Taschentuch in die linke Hosentasche. Ich steckte die Blasen immer in die linke Tasche. Links und nur links; etwas anderes kam für mich nicht in Frage. Warum ich das tat, wusste ich nicht, fühlte mich aber dabei wohl. In letzter Zeit tat ich immer häufiger das, was die Psychotante seit meiner Kindheit vorbetete: immer nur das zu tun, was mir Spaß macht.

Nachdem ich die Blase in die Hosentasche verstaut hatte, konnte ich das Arbeitsende kaum erwarten. Die Mittagspause verbrachte ich Zigaretten rauchend auf dem Werkhof. Ich zählte fingerhebend immer wieder die einzelnen Gehwegsteine, die ich vorher grübelnd nach einem bestimmten Ritual auf- und ablief. Wie an solchen Tagen üblich, konnte ich nur wenig essen und musste öfter als sonst die Toilette benutzen. Als mein Chef „Feierabend“ rief, fuhr ich nicht meinen täglichen Weg zur Kirche, sondern gleich nach Hause. Ich warf die Autotür zu ohne sie zu verschließen, öffnete hastig die Haustür, schielte mit einem flüchtigen Blick in den fast immer leeren Postkasten und rannte schnaufend in die obere Etage meines geerbten Elternhauses. Durch die Gardine sah ich hinüber auf das penibel gepflegte Grundstück meiner neugierigen Nachbarin. Diese Frau beobachtete mich seit meiner Kindheit mit halb zusammen gekniffenen Augen durch ihre immer gleiche ovale orangefarbene Hornbrille hinter einer Hecke stehend, beim Straßefegen oder beim Blumen verschneiden; zuerst mit ihrem meckernden Mann und, seit der endlich tot ist, allein. Neugierige Menschen konnte ich noch nie leiden, weder die Neugierde meiner Eltern, die ständig in meiner Abwesenheit mein Zimmer durchschnüffelten, noch die Neugierde meines neuen Chefs, der heimlich meinen Spind in meinen freien Tagen durchwühlt. Gegenüber der Neugierde der Nachbarin fühlte ich mich genauso machtlos, wie damals gegenüber den Schnüffeleien meiner – endlich verstorbenen – Eltern oder meines – immer noch lebenden – Chefs. Mit einem Ruck zog ich die Jalousie herunter und blickte noch einmal kurz durch die Lamellen. Da mir die Erinnerung an die Vergeltungsaktionen gegen die Neugierigen unangenehm war, legte ich mich auf den Fußboden. Ich streckte die Arme und Beine erst in die Luft und danach auf dem Fußboden auseinander und hauchte, wie von meiner Psychotante empfohlen „Mir geht`s gut!“, in den Raum. Langsam schob ich meine Hand in die linke Tasche und holte vorsichtig das Taschentuch heraus. Ich spürte wie die Wärme von meinen Beinen in den Kopf strömte. Ich hielt das Taschentuch in die Luft, drückte dem Stoff einen lang gezogenen Kuss auf, legte ihn auf meinen Körper und atmete tief ein und aus, dass mein Bauch sich wölbte und zusammenzog. Mit einem Schwung stand ich auf und legte das Taschentuch exakt in die Mitte des Tisches. Ich zog die kleine silberne Spülschale unter dem Tisch hervor, nahm die Konservierungsmittel aus dem Wandschrank, holte das dazugehörige Sezierbesteck aus dem Kunstlederköfferchen, stellte die OP-Lampe auf den Tisch, setzte meine beleuchtete Lupenbrille auf und richtete den Lichtstrahl auf das Taschentuch. Als wollte ich mein tägliches Nachtgebet sprechen, legte ich meine Hände ineinander und kniff danach die Finger so fest zusammen, dass sie zu schmerzen begannen. Ich faltete das Taschentuch auseinander und tupfte meine verschwitzte Stirn sauber. Ich nahm das Besteck und begann die Blase lehrbuchmäßig zu konservieren. Prüfend hielt ich sie immer wieder zwischen den einzelnen Handgriffen in das starke Licht der OP-Lampe und begutachtete aufmerksam die Äderchen, die die Haut überzogen. Eine schadhafte Blase durfte ich auf keinen Fall in meinem Haus haben. Auf gar keinen Fall. Meine Blase musste perfekt sein.
Nachdem ich mit der Konservierung fertig war, umwickelte ich die Blase mit einer Angelsehne. Ich nahm die Leiter aus dem Schrank und stieg fünf Stufen hinauf ich hob die Blase feierlich nach oben und hängte sie an die Decke. Dabei rief ich „Wunderschön! Einfach Wunderschön!“. Es war der letzte freie Platz in meinem Kinderzimmer. Der allerletzte. Endlich! Ich sprang von der Leiter, knipste die farbige Lichtanlage an und stellte mich mit geschlossenen Augen in die Mitte des Raumes. Ich genoss den Gedanken an den Moment in dem ich alle alabasterfarbenen Blasen beleuchtet sehen konnte. Ich blinzelte und öffnete, weil ich es einfach nicht mehr aushielt, die Augen. Ich hielt die Hände wie mein geliebtes Vorbild, Johannes Paul, nach oben und freute mich über den wunderbaren Anblick. Es war wie in der Tropfsteinhöhle, als ich meine Eingebung hatte. Ich bin mir nicht sicher, aber manchmal habe ich das Gefühl, ich bin nur deswegen Metzger geworden, ich bin nur Metzger geworden, weil ich mich damals in einer Tropfsteinhöhle verlief. Heute war mir diese Frage völlig egal. Heute waren mir alle schlechten Träume der letzten Jahre, die mir Nacht für Nacht Sorge bereiteten, unwichtig. Ich glaube, ich war glücklich. Vielleicht war ich so glücklich wie nie in meinem Leben. Obwohl ich wusste, wie viele Blasen an der Zimmerdecke hingen, begann ich sie laut und in die Länge gezogen zu zählen. Feierlich sprach ich die einzelnen Zahlen. Erst als ich bei der letzten Blase angelangt war und leise die Zahl „Sechshundert“ zählte, beruhigte ich mich etwas. Ich legte mich wieder auf den Fußboden und spreizte Arme und Beine. „Sechshundert“, flüsterte ich schläfrig, dabei streckte ich die Finger zur Zimmerdecke. „Sechshundert“, flüsterte ich kaum hörbar und drehte mich auf die Seite. „Fünfhundertsiebenundneunzig Schweineblasen soweit das Auge reicht!“
Ich spürte, an diesem Abend musste ich irgendetwas Besonderes anstellen, etwas völlig Außergewöhnliches, irgendetwas, zum Beispiel endlich wieder einmal ins Kino gehen und danach Pizza essen oder ein kleines Bier trinken. Ich schloss die Augen und stellte mir vor, wie es aussehen würde, wenn Schweineblasen von der getäfelten Zimmerdecke hingen, wenn Schweineblasen im teppichausgelegten Flur, in der marmorgefliesten Küche, wenn meine Schweineblasen überall im gesamten Haus an durchsichtigen Angelsehnen herunterhingen. Zum ersten Mal empfand ich kein unangenehmes Gefühl bei dem Gedanken das Haus in eine große, dunkle, kalte Tropfsteinhöhle zu verwandeln.

Wieder stellte ich mir die Frage, warum die zwei Nächte in der Tropfsteinhöhle eine Strafe Gottes auf mein sündenbehaftetes Leben gewesen sein soll und ob meine Eltern und auch der Nachbar aus der Kirchgemeinde wirklich damit recht hatten.

Ich stieg noch einmal die Leiter hinauf und schlug auf die ersten drei Blasen und fluchte: „Von Dir, von Dir und von Dir lasse ich mich nicht mehr einsperren!“

als Ziel

 

obwohl ich die eigene Spur verfolge,
laufen die Spuren höchst selten parallel.
Ich will mir immer ein kleines Zeichen setzen,
an dem ich mich selbst aufschütteln kann
und am nächsten Tag, eigentlich,
wenn ich schon gar nicht mehr reden möchte,
sinkt gleichviel steigt die Wehmut zur Frage,
ob ich überhaupt noch einmal nach Hause komme,
weil doch sowieso schon alles beredet sei.

 

Julia Dathe – Vita

Julia Dathe, geboren 1981 in Berlin, lebt heute in Leipzig, die
alleinerziehende Mutter zweier Töchter arbeitet tags im Einzelhandel
und schreibt nachts am ersten Roman. Sie schreibt zudem Lyrik, ihr
vielbeachtetes Lyrikdebüt erschien schon …

Julia Dathe, Jahrgang 80, lebt in Dresden, arbeitet in Leipzig und was
sie dort tut, bleibt dem Rest der Welt eher im Verborgenen, manchmal
sagt sie, sie arbeitet in einem Restaurant, aber so richtig will ihr
das niemand glauben, demnächst wird sie zur Leitplankenmonteurin
umschulen, sie veröffentlicht in Zeitschriften und …

Juliane Dathe * Leipzig, lebt im Spessart, schreibt Lyrik, Prosa und
Drama und leitet diverse Kinder- und Jugendschreibwerkstätten. Die
junge Dame schreibt nach eigener Auskunft seit frühester Kindheit, sie
hat sich Lesen und Schreiben selbst beigebracht, und

Juliane Dathe, Leipzig, 1979, Theaterautorin und

Juliane Darte, Leipzig, 1979, Dramatik

Juliane Dathe, Dramatikerin, schreibt auch Lyrik, die 1980 in Leipzig
geborene ist Dozentin für Deutsch, Kommunikation und sprachliches

Julia Martina Dathe, 1986, die gelernte Porzellanmalerin lebt mit
einem Hund und zwei Katzen auf einem alten Gehöft nahe Duisburg. Sie
hat bereits eine beachtliche Anzahl an …

Von wegen Arbeit

Ich sitze in meinem Arbeitszimmer an meinem Arbeitsplatz und will arbeiten. Du sitzt mir mit baumelnden Beinen auf der Schulter und grinst. Du hast recht: Ich arbeite nicht und ich werde heute nicht arbeiten, denn ich bin müde, ich bin fahrig und ich will es zu sehr.

Als ich mich letzten Sonntag nach dem Mittagessen zum Arbeiten zurückziehen wollte, sagtest du – die Spülbürste in der einen und den schmutzigen Teller in der anderen Hand: „Das ist Arbeit. Abwaschen ist Arbeit. Kartoffeln schälen. Einkäufe übers Band ziehen. Aber wenn du Arbeiten sagst, meinst du Schreiben. Schreiben ist doch keine Arbeit.“

Wie heute saß ich daraufhin eine Stunde an meinem Arbeitsplatz in meinem Arbeitszimmer und schrieb nicht. Ich war beleidigt, ich war wütend und ich fand, dass du unrecht hattest: In einem einzigen Jahr schreibe ich einundsechzig Artikel und vierzehn Kurzgeschichten. Für einige davon, brauche ich mehrere Wochen, auch wenn du ihnen das nicht anmerkst. Ich lektoriere einen fremden Roman und fange einen eigenen an. Ich versichere dir, dass das sehr wohl Arbeit ist. Nur jemand, dessen Schreiben sich im Verfassen von Eingaben und im Anlegen von Einkaufslisten erschöpft, kann finden, Schreiben sei keine Arbeit.

Dies sagte ich dir, als ich mein Arbeitszimmer aufschloss, mitten in dein freundliches Gesicht. Aber statt dich zu empören, hast du dich auf den Esstisch gesetzt, die Pantoffeln einige Zentimeter über dem Parkett baumeln lassen und erklärt: „Wenn man arbeitet, arbeitet man für ein Resultat: saubere Teller, Kartoffelklöße, Geld für die Miete. Aber wenn du schreibst? Du schreibst doch nicht, damit du fertig wirst. Das würde auch gar keinen Sinn machen, denn überhaupt mit dem Schreiben anzufangen ist ja dein freier Wille. “
Nachdem ich dich an meinem Fingern abzählend darüber belehrt hatte, dass es 1.) „Sinn ergeben“ und nicht „Sinn machen“ heißt und dass Sinn 2.) eine Erfindung der Menschheit ist und der freie Wille – das war 3.) – nach dem Stand der Forschung auch, ging ich eine Stunde mit der Hündin spazieren oder sie mit mir, denn ich war es, der ihr hinterher trottete. Ich ärgerte mich, ich fror und mir gefiel nicht, dass du Recht hattest: Wenn ein Text am Sonntag fertig ist, dauert die Freude darüber bis ungefähr Mittwoch. Sie verblasst wie das Erholtsein nach einem Urlaub. Sie geht auf oder über in: Aufstehen, Hunderunde, Erwerbsarbeit, Hunderunde, Abendessen, Fernsehen, Hunderunde, Schlafen. Dagegen hilft: Schreiben. „Ich schreibe fürs Schreiben!“, zeterte ich, „Denn der Weg ist das Ziel!“ Meine Hündin blieb ratlos stehen und drehte sich langsam nach mir um. Das Stöckchen flog weiter als sonst.

„Du verstehst nicht, was ich tue.“, sagte ich beim Schuhe ausziehen statt Hallo.
„Aber du verstehst es? Hast du Kuchen mitgebracht?“
„Und ob. Gilt für beide Fragen.“

„Darf ich?“ wolltest du wissen, als wir saßen. Ich dachte, du meintest den Kuchen und nickte irritiert, aber nein, du meintest das Wort; auch gut, bitte. Ich ertrug, wie du das Schreiben als mein Hobby bezeichnetest und es mit anderen Hobbies, zum Beispiel dem Modelleisenbahnbau verglichst, für den man eben Muse und Konzentration brauche. Ich schwieg, als du Worte wie „Fantasiereisen“, „Rollenwechsel“ und „Erlebnisbewältigung“ aussprachst, aber ich stöhnte, als du mir die banale Suche nach Applaus unterstelltest, was mitnichten damit zu tun hatte, dass ich mich ertappt fühlte, sondern lediglich damit, dass ich hart auf einen Kirschkern biss.

Freilich, das zu hören gefiele mir nicht, fuhrst du fort, aber wenn ich diese Wahrheit endlich annehmen könnte, wäre ich bestimmt entspannter und müsste mich nicht länger mit täglichen Schreibzeitfenstern quälen, sondern schriebe nur noch dann, wenn mir danach wäre. Das würde meinen Texten sicher nicht schaden; nichts gegen meine Texte, die würden dir gefallen, aber vielleicht gelte in Fachkreisen auch hier Qualität vor Quantität.

Allerdings, aber das wisse ich hoffentlich, würden mich bessere Texte auch nicht zu einem besseren Menschen machen; ich sei ein guter Mensch, auch ein wertvoller, dass müsse ich niemandem beweisen. Du beispielsweise liebtest mich ja nicht wegen meiner Texte, vielmehr – ich dürfe dir das nicht übel nehmen – würde dir die ewige Schreiberei zuweilen einiges an Toleranz abverlangen.

Ich spuckte den Kirschkern auf den Teller damit es klirrte und danach endlich Ruhe war. Erschrocken sahst du mich an. Ich hielt deinen Blick; wer zuerst zwinkert hat verloren; du zwinkertest, ich gewann, ich gewinne immer.

Heute gewinnst du: Ich streiche dich von meiner Schulter, klappe den Rechner zu, schließe mein Arbeitszimmer ab und lasse mir ein Bad ein.

„Und was ist mit den Geschichten?“, fragte ich dich am letzten Sonntag, nachdem auch ich die Augen nicht mehr offen und die Lippen nicht mehr geschlossen halten konnte.
„Welche Geschichten?“, wolltest du wissen.
„Na, die von dem Vögelchen, das in meiner Jackentasche lebt, zum Beispiel.“
„In deiner Jackentasche? Ein Vogel? Erzähl!“

Frohe Weihnachten!

Wir wollten gern eine Weihnachtsgeschichte für euch schreiben. Aber wir hatten leider keine Zeit. Jeder von uns hat nur einen Absatz geschafft: Vor der Bescherung, während der Bescherung, nach der Bescherung. Dabei geht es ja gar nicht um Geschenke. Sondern um Familie. Und Harmonie. Und so. Ein Weihnachtspuzzle.

Da war sehr wohl Knoblauch in der Wurst, Horst schmeckte das genau, aber weil er nicht schon wieder einen Streit anfangen wollte und schließlich nicht mehr er derjenige war, unter dessen Tisch alle Anwesenden die Beine steckten, wälzte er den Fleischbrei geduldig von einer Backe in die andere, bis der richtige Moment gekommen war, auch diesen letzten Bissen ohne sichtbare Anzeichen von Ekel herunter zu würgen. Denn Luzie lächelte zwar, aber sie bestand auf bewährte Zeremonien: “Beschert wird erst nach dem Essen; wir haben noch nie während des Abendessens beschert!“ „Ja doch“, stöhnte Johannis und spannte ein Zelt aus Messer und Gabel über seinem Teller, das scheppernd im Majonäserest zusammenbrach, als Opa Horst endlich „Und los!“ sagte.

Der Weihnachtsmann stürmt mit hochrotem Kopf in die Wohnstube, wirft schwungvoll den Mantel zurück, sodass sein dicker Bauch hervorblitzt und feuert ein lautes „Fröhliche Weihnachten“ in den Raum. Mutter Luzie bringt vor Aufregung kein Wort mehr hervor und verstummt eingeschüchtert in ihrem Sessel, während Opa Horst trunkend von den Schnapspralinen „Scher dich bloß wieder zu deinem Nordpol“ wettert. Johannis ist dagegen artig, füttert die Rentiere im Hof und klaut dem Nachbarjungen Tom das Nitendo und die Zuckerstangen.

Nachdem Johannis auch in diesem Jahr ein sehr tiefes Loch in den vereisten Boden ausgehoben hatte, ging er in die warme Wohnstube zurück, rieb mit klammen Fingern über die dicken Gläser seiner beschlagenen Harry-Potter-Brille und griff wortlos die Gaben, die unter dem liebevoll geschmückten Weihnachtsbaum aufgestapelt standen. Umständlich packte er ein Geschenk nach dem anderen aus und betrachtete sie reglos durch die verschmierten Brillengläser. Ohne sich seine Verärgerung anmerken zu lassen, legte Johannis auch in diesem Jahr die Gaben behutsam in die Verpackungen zurück, faltete, während er sich wortreich bedankte, die Papierreste akkurat zusammen, schob dabei unbemerkt mit den immer noch schneebehafteten Stiefeln die Gaben unter den Baum und überlegte, wann er das Zeug schnellstmöglich und ohne viel Aufsehens noch in dieser Nacht in die eisige Erde verschwinden lassen könnte.

Die Sprachspielerin

Noch in der Hängematte sitzend, überlegt die Sprachspielerin, welche ferne Kultur sie sich für den Sonntag ausdenken möchte. Wahllos plappert sie Lautgebilde in verschiedenen Tonlagen ineinander und übt die dazugehörige Gestik und Mimik. Ist sie damit fertig, klettert die Sprachspielerin aus der selbst geflochtenen Schlafschaukel zwischen den deckenhohen Papppalmen herab und denkt sich die dazu gehörige Speise aus. In ihren großen Töpfen rührt sie die Zutaten zusammen und übt nebenbei ihre frisch erfundene Wochenendsprache.

Wird es Abend, holt sie die passende Verkleidung aus dem Schrank, schminkt sich ausgiebig, zieht eine ihrer unzähligen Perücken über den Kopf und steckt farbige Ringe und Armbänder an. Als fremdländische Besucherin stolziert sie für alle geschwätzigen Nachbarn gut sichtbar langsam auf der Treppenanlage des ererbten Elternhauses auf und ab. Wie in ihren Kindertagen stolpert sie scheinbar hilflos die dunkel werdenden Straßen entlang. Kommt sie außer Puste an die Haltestelle, greift sie sich ans gepuderte Doppelkinn oder kratzt ihr grau meliertes kurzes Haar unter der Perücke. Geräuschvoll reibt sie mit den vielberingten Fingern an der Glasfläche des Fahrplanes. Spricht sie einer der Wartenden an, verneigt sie sich verlegen und beginnt im gekünstelten Tone hastig zu stottern. Im grammatikalisch falschem Deutsch fragt sie nach dem Weg zum Krankenhaus in dem sie arbeitet, erkundigt sich nach der Stadt in der sie seit ihrer Geburt wohnt oder nach dem Flugplatz, den sie noch nie benutzt hat und auch niemals zu betreten beabsichtigt. Generös öffnet sie ihre große Handtasche und holt selbst gestaltete Geldscheine heraus, die stets bei sich trägt. Für jede Antwort verschenkt sie einen bunten Schein. Wortlos steigt sie in die Bahn, winkt den Wartenden mit einem Lächeln zu und fährt davon.

Gelangt die Sprachspielerin am Sonntagabend zur Tatortzeit ins Krankenhausgelände, klopft sie ans Fensterchen des Pförtners und begrüßt ihn mit ihrer eigens entwickelten Wochenendsprache. Sie übergibt ihm Zettel mit Vokabeln oder Grammatikübungen und erklärt ihm geduldig die von ihr neu entwickelten orthografischen Finessen. Es gibt Mitarbeiter die immer wieder behaupten, dass die fremdländische Besucherin nur dann nachts in Erscheinung treten soll, wenn der Pförtner einen seiner seltenen Wochenenddienste leistet. Hat die Sprachspielerin dem Pförtner ihr frisch erfundenes Land und ihre Verkleidung für den Abend ausführlich erklärt, wartet sie bei einem Pott schwarzem Tee und liebevoll verziertem Gebäck der Pförtnersfrau bis es im Turm des Mutterhauses endlich Zehn schlägt. Verlässt der Spätdienst die Stationen und klettert der Belieber am herabgelassenen Betttuch einer ungeduldig wartenden Schülerin ins Schwesternwohnheim hinauf, nimmt die Sprachspielerin den Schlüssel von der Wand und schließt die nach Reinigungsmittel riechende Wäscherei auf. Unbemerkt schleicht sie an der Besungenen vorbei, die Liebeslieder vor sich hinträllert und unentwegt in den meterhohen Haufen der verschmutzten Patientenwäsche nach Nachrichten wühlt, die an sie gerichtet sein könnten. Mitleidig schüttelt die Sprachspielerin den Kopf, stellt sich in den Fahrstuhl und fährt ins Dachgeschoss. Dort beginnt sie ihre Route, die sie immer nur zur Sonntagnacht absolviert. Sie schlüpft in dunkle Zimmer und unterhält sich mit Patienten über ihr fernes Land. Meist reicht sie ihnen eine angeblich landestypische Speise oder Wunder wirkende Essenzen seltener Kräuter in alkoholischen Auszügen. Dabei führt sie ihnen die mitunter sehr merkwürdigen Sitten und Gebräuche ihrer unbekannten Kultur vor oder massiert sie nach jahrtausendealten und absolut bewährten Heilmethoden. Immer wieder wird auch von unglaublichen Begebenheiten in den dunklen Patientenzimmern berichtet. Regelmäßig kommt es am darauf folgenden Morgen vor, dass sich Patienten für die schmackhafte Speise wortreich beim ungläubigen Koch bedanken. Einige der Patienten humpeln noch vor dem Frühstück in die Krankenhausbibliothek um in dicken Bildbänden nach dem unbekannten Land zu blättern. Und berichten Patienten zur Visite voller Freude von wilden Nächten und betteln sie im Anschluss nur noch von der unbekannten Nachtschwester gepflegt zu werden, verordnet der Stationsarzt umgehend Psychopharmaka und weist sie in die geschlossene Abteilung ein.

Seilt sich bei Sonnenaufgang der Belieber am Betttuch einer frisch abgeliebten Schülerin hinab und zieht die von ihm Beliebte seufzend das zerknitterte Laken wieder herein, beendet die Sprachspielerin abrupt ihren Rundgang. Sie schleicht durch den dunklen Keller zurück zur Wäscherei an der nun eingeschlafenen Besungen vorbei. Wieder erinnert sie sich, dass sie eine eigens verfasste Nachricht für die Besungene mitbringen und in den schmutzigen Wäschehaufen verstecken wollte. Mit dem ehrlichen Wunsche, diesen Vorsatz am kommenden Sonntag auf keinen Fall zu vergessen, schließt sie leise die Tür ab und eilt zum Pförtner. Sie hängt den Schlüssel an das Wandbrett und gibt ihm einen dicken Kuss für seine treue Verschwiegenheit. Sie nimmt die von ihm frisch ausgefüllten Übungsblätter entgegen und rennt zur Straßenbahnhaltestelle. Findet sie auf der Heimfahrt einen der Fahrgäste unsympathisch oder will sie dessen Platz in der überfüllen Bahn ergattern, rempelt sie ihn an und beschwert sich in ihrer Wochenendsprache laut über ihn. Aufgeregt verlangt sie den Ausländerbeauftragten oder gar die Polizei. Und nur wenn der Betreffende sich entschuldigt, setzt sie sich an dessen nun leeren Platz und knabbert geräuschvoll die von der Pförtnersfrau aufwendig verzierten Plätzchen. Danach schläft sie erschöpft ein. Kommt der schüchterne Kontrolleur vorbei und fleht er sie an, ihm doch endlich einen gültigen Fahrschein vorzuzeigen, plappert sie wieder so lange auf ihn ein, bis er auch an diesem Morgen heulend von ihr Abstand nimmt und beschämt die Bahn verlässt. Gähnend schaut sie dem Flüchtenden aus dem werbebeklebten Fenster hinterher.

Kommt sie zuhause an, setzt sie sich an den Frühstückstisch und isst die Reste der zubereiteten Patientenspeise. Mit fettigen Fingern blättert sie neugierig in den dicken Reisekatalogen, ohne jedoch den Wunsch zu verspüren jemals selbst eine der dort angebotenen Reisen antreten zu wollen.
Pünktlich zum Montagmittag fährt sie mit ihrem kaputten Fahrrad und in studentisch wirkender Verkleidung in die nahe gelegene Universität. Mit einem gut gefälschten Semesterausweis geht sie zu verschiedenen Vorlesungen. In der Mensa erklärt sie ausschweifend und unter Tränen dumm fragenden Studenten ihre frisch erfundene Heimat, die leider vom Rest der Welt immer noch nicht diplomatisch anerkannt wurde. Bei Seminaren, in denen sie eifrig mitdiskutiert, ist es mehr als einmal vorgekommen, dass Professoren resigniert die Kreide nach ihr warfen. Das hält sie aber überhaupt nicht davon ab, weiterhin zu ihren Sprachspielen ausführliche Hausarbeiten zu verfassen und namenlos in die überfüllten Postfächer der Professoren zu legen. Und sie ist mehr als zufrieden, wenn es eine ihrer unzähligen Arbeiten schafft, Gegenstand von Diskussionsrunden zu werden.

Kommt die Sprachspielerin am Abend ins leere Elternhaus zurück, holt sie eine Flasche Wein aus dem gut sortierten Weinkeller. Sie bürstet die unscheinbare Robe für den langweiligen Rezeptionsdienst aus, den sie seit Jahren in der Aufnahme des Krankenhauses unauffällig absolviert. Lustlos bügelt sie über das weiße Hemd, putzt die schwarzen Schuhe und steckt das messingfarbene Namensschild verkehrt herum an das Revers.
Angetrunken erklimmt sie mühsam die Papppalme und lässt ihren kräftigen Körper mit einem Tarzanschrei in die Hängematte fallen. Sie rollt sich zusammen und denkt an die schönen Stunden die sie mit dem Belieber in ihrem selbst gebauten Urwald erlebt hat. Sie schließt die Augen und bastelt weiter an der betörenden Liebessprache, die es dem Angesprochenen unmöglich machen soll, der Erzählenden zu widersprechen. Und sie weiß sehr genau, wem sie mit diese Sprache zuerst wehrlos machen wird. Damit es auch weiterhin ihr Geheimnis bleibt, tastet die Sprachspielerin in einen der vielen Beutel, holt ein breites Pflaster heraus und drückt es auf die plappernden Lippen.

Würde man den Pförtner nach ihr befragen, würde er die Hände ineinanderschlagen und antworten, dass es ihm bei aller Mühe immer noch nicht gelungen sei, herauszufinden, warum sie zu DDR-Zeiten keine Abiturprüfungen ablegen durfte. Nachdenklich würde er sich am Hals kratzen und flüstern, dass ihr Spiel spätestens nach seiner Pensionierung auffliegen wird.

Quad Blanche

Ich bin ein vernünftiger Mensch. Ich habe mein Auto verkauft, weil ich es als Luxus empfand und mich mit sehr offensichtlichem Luxus immer ein bisschen unwohl fühle. Ich lebe in Städten und zwar in solchen, in denen Busse, Bahnen und sogar U-Bahnen fahren. Außerdem verbindet mich eine innige Liebesbeziehung mit meinem Fahrrad. Und seit dem Sommer auch mit meinen Füßen.

Eine Kollegin erzählte mir neulich mit leuchtenden Augen, dass ihr Mann vorhabe, sich ein Quad zu kaufen. Eine tolle Zeit würde das: sie und er auf dem Quad und den Wind im offenen Haar. Während ich überlegte, was genau das eigentlich sei, ein Quad, sprudelten Sätze aus ihr heraus, die Verben wie „heizen“, „brettern“ oder „düsen“ enthielten und auf „herrlich“ endeten.

“Aber warum?”, fragte ich. “Warum was?”, fragte sie. “Warum ein Quad?”, entgegnete ich. “Warum nicht?”, entgegnete sie. “Ich denke, ihr wollt Kinder?”, sagte ich. “Ja, und?”, sagte sie. “Wäre ein Combi da nicht sinnvoller?”, schlug ich vor. “Doch”, gab sie zu, “aber es geht nicht um Sinn bei einem Quad. Es geht um Spaß.“ Als ich die Stirn runzelte, ergänzte sie: „Weißt du, Spaß ist, was man hat, wenn man nicht nachdenkt.” Daraufhin ging sie und ich schwieg.

Wenige Tage später entdeckte ich ein Quad auf meiner abendlichen Hunderunde. Das Gefährt stand im Hinterhof einer benachbarten Wohnanlage. Es sah traurig aus. Es wollte gefahren werden. Weil es dunkel war und ich mich unbeobachtet fühlte, stieg ich kurz auf. Mir gefiel, was die Sitzhaltung mit meiner Laune machte: Ich wollte heizen, brettern und düsen. Herrlich. Auf dem Heimweg stellte ich mir vor, wie Heiko hinter mir sitzend die Arme um meinen Bauch schlingt und kichert.

Heute morgen kam ich wieder an dem Gefährt vorbei.

Quad Blanche
Quad Blanche

abgebrüht

k1

krautkopf und rübe geraten quer beet,

schalottenbeschuss:

du sagst, du hättest die mütze auf,

der ofen, der spräche zu dir, schon wieder,

du könntest nicht anders, das wäre der hammel in dir,

also bleibe ich dünnhäutig sitzen und als reiche das nicht,

steh ich spalier auf meinem eigenen schlips,

denn es mundet mir sehr,

bin ich mir selbst der suppenhuntzelmann,

der vorher spuckt und nachher schlürft,

morgen dürftest du wieder ran,

sage ich als wäre es das salz der brühe.

k2

© Illustrationen Küche (I. und II.) von Elena Seubert