„Wenn ich die Uhr nur zurückdrehen könnte!“, rufst du. „Du klingst wie ein Schlagertext.“, sage ich. „Nur diesen Bruchteil einer Sekunde!“, rufst du. „Jetzt wie ein Actionfilm.“, sage ich. „Aber ich fühle mich wie ein Drama.“, schimpfst du und weinst. „Unsere einzige Chance ist, dass gar nichts passiert ist, weil wir nur träumen.“, sage ich. Aber selbst dann müssen wir etwas tun, denke ich weiter, denn ich kann deinen Knochen sehen und das ist nicht richtig.
„Tatsächlich! Blut ist dicker als Wein.“, schluchzt du, während es dir aus dem Finger aufs Bett spritzt. Nein, es heißt dicker als Wasser, denke ich, aber ich sage „Lass die Sprüche!“, denn ich muss nachdenken. Du läufst zurück zum Fenster, um zu verstehen, was passiert ist, mir genügt der Anblick deines Fingers, um das zu kapieren; ich laufe raus auf den Gang und rufe um Hilfe.
Wir treffen uns im Bad; du lässt Wasser über deine Wunde laufen und als ich das aus Blut und Wasser gemischte Rosa im Waschbecken strudeln sehe, denke ich, da fließt sie also dahin, unsere Reiseplanung. Ich reiße deine Hand aus dem Wasserstrahl, damit du nicht noch mehr Keime in die Wunde spülst und raunze dich an „Streck die Hand über deinen Kopf, dann lässt die Blutung nach!“. Du taumelst, ich gebe dir einen Schups, der Toilettendeckel stößt in deine Kniekehlen, deine Knie beugen sich, du sitzt. Gut, denke ich, wie weiter? Das Blut lenkt mich ab, wie es aus deinem Finger läuft und die Haut auf deinem Unterarm in einzelne Felder zerteilt, so wie Flüsse Länder in Schollen zerteilen. Vorgestern haben wir das aus dem Flugzeug gesehen, aber in Rot sehen die Flüsse viel dramatischer aus.
Du schreist unentwegt Flüche und endlich platzt Linda in den Raum um zu fragen, was zur Hölle passiert ist. „Das Fenster!“, stotterst du und ich gehe hin und zeige es ihr. Linda stürzt zum Telefon um einen Arzt zu rufen, ich lasse mich in den Sessel fallen und atme ein bisschen, du musterst noch einige Sekunden lang schimpfend die roten Klekse auf dem Fliesenboden. An der Rezeption sagt man Linda, sie soll das Management anrufen, beim Management sagt man ihr, sie soll das mit der Rezeption klären und an der Rezeption verweist man sie ans Management. „Two – oh – nine, two – oh – nine!“, ruft Linda. Du kommst aus dem Bad und kannst dir nicht verkneifen, sie mit „Tu! Oh, nein!“ nachzuäffen. Dann wird Linda ganz laut und wir werden ganz leise. „Urgent heißt dringend.“, flüstere ich noch, aber Linda macht das schon.
Du lässt dich neben mich in den Sessel fallen. Deine Augen treiben haltlos in ihren Höhlen umher, du sagst: „Mir ist schwindlig.“ Ich sage: „Reiß dich zusammen!“ Du sagst: „Es geht nicht.“ Ich sage: „Diese umherschwimmenden Augen sehen gruselig aus! Außerdem musst du noch ins Krankenhaus heute und ich nicht weiß, wie ich dich dort hinbekommen soll, wenn du ohnmächtig bist.“ Ich sage: „Du musst dich zusammenreißen!“ Du sagst: „Ich versuch’s ja.“
Ein junger Mann stürmt herein. Er trägt ein hübsches kariertes Sakko und auf dem Schild an seinem Revers steht Carl. Carl wirft sein Aluköfferchen aufs Bett. Gut, denkst du, so sieht er die Blutspritzer auf der Bettwäsche nicht und wir müssen die Reinigung nicht bezahlen. Wir bezahlen hier gar nichts, denke ich und bitte denke du jetzt nicht an Geld. Carl fragt, was passiert ist und während ich es ihm erkläre, unterbrichst du mich und entschuldigst dich: „Ich wollte nur kurz lüften.“ Aber Carl hört sowieso nicht zu; lieber legt er deine Hand in seine und reißt erschrocken die Augen auf. Und obwohl er sonst nichts weiter tut, entspannt sich die Falte über deiner Nase, als hätte er dir schon geholfen. Linda sieht mich fragend an, ich nicke ihr zu, sie nickt zurück. Sie schnappt sich Carls Köfferchen, öffnet es und schüttet seinen Inhalt aufs Bett. Dann zerrt sie ihre Reiseapotheke aus dem Rucksack und schüttet sie daneben. Ausrüstungsvergleich, Carl gewinnt. „Wir brauchen ein Desinfektionsmittel.“, sage ich. „Das in meinem Koffer ist leer.“, sagt Carl. „In meinem Beutel war gar keins.“, sagt Linda. Sie greift wieder zum Telefon.
Ein weiterer junger Mann springt herein. Er hat kein Sakko an, aber eine schmucke gestreifte Weste, auf seinem Namensschild steht Morten. Wie der süße Sänger von a-ha, denkst du. Nein, wie morden mit t, denke ich. Morten ruft „Wo ist der Finger? Wo ist der Finger?“ und klappert aufgeregt mit den Eiswürfeln in dem großen Glas in seiner Hand. Ich überlege kurz „Keine Ahnung. Im Garten?“ zu antworten, weil mich die Vorstellung, Morten auf Knien durch den Garten robben zu sehen sehr fröhlich macht. Aber du sagst schon: „Hier, an meiner Hand!“ und schiebst ein paar Sekunden später „Noch.“ nach und dann ist es schon vorbei mit meiner Fröhlichkeit. Morten wischt sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn, geht zum Waschbecken, füllt das Eis mit Wasser auf und serviert es als Drink. Wir trinken.
Du sagst: „Mir ist nicht mehr schwindelig. Dafür ist mir jetzt schwarz vor Augen.“ Ich sage: „Das ist von der Panik, du musst dich beruhigen!“ Dann muss ich an diese Komödie denken, neulich; die, in der diese blasse Frau zum ersten Mal in eine große Stadt kommt und immerzu in eine Chipstüte atmen muss, um nicht bei jedem vorbeifahrenden LKW zu hyperventilieren. „Du musst in eine Tüte atmen.“, sage ich, aber die einzige Tüte, die wir griffbereit haben ist die von Lindas Reiseapotheke. Sie ist aus fester Folie, hat einen Zipper und könnte nicht ungeeigneter sein. Zum Glück bemerkst du das nicht; vielleicht denkst auch an diese Komödie, dort hat es ja geholfen.
Morten zeigt uns seinen rechten Zeigefinger und ruft: „Ich hatte das auch, seht nur, es ist alles gut geworden, es wir alles gut werden!“ Ich frage ihn, ob es auch an diesem Fenster passiert sei. „Nein“, sagt er, „bei mir war es eine Tür und mit einer Tür geht das genauso gut.“ Anerkennend sagst du: „Schöner Finger.“ Morton lacht, ich mache das schmatzende Geräusch, das du so hasst.
Die Frau von der Rezeption kommt ins Zimmer gerannt. Sie trägt ein geblümtes Tuch und auf dem Schild, das sie daran festgemacht hat, steht Diane. Diane ist die Göttin der Jagd, denkst du. Ja und der Name eines hässlichen Silberbestecks, das mir meine Oma einst löffelchenweise schenkte, denke ich, aber da schlägt sich Diane schon theatralisch eine Hand vor die Augen und erklärt, sie könne kein Blut sehen. In der anderen Hand hält sie eine Sprühflasche, die sie nun wortlos in den Raum streckt. „Desinfektionsmittel?“, fragte Morton. „Gute Idee.“, sage ich, „Na endlich!“, ruft Carl. Linda greift zu.
Du hast inzwischen bemerkt, dass es nichts bringt, in diese Tüte zu atmen, lässt sie fallen und verkündest: „Jetzt sehe ich Sterne.“ Wir müssen dich ablenken, denke ich, das hilft bestimmt, aber ich weiß nicht, womit. „Schöne Turnschuhe!“, sagst du plötzlich, und ich ärgere mich, dass dir das zuerst aufgefallen ist, denn Carls blau-weiß gestreifte Schuhe mit den roten Sohlen sind wirklich der Knaller. „Wo hast du die gekauft?“, frage ich, damit Carl nicht sofort wieder die Klappe hält, nachdem er sich brav für das Kompliment bedankt hat. „Was sollen die Schuhe bedeuten?“, fragst du und weil Carl noch weniger als ich versteht, was du durch diese Frage zu erfahren hoffst, erklärt er uns den Weg zu diesem kleinen Laden in Hexham, in dem es die ausgefallensten Sneaker des Landes zu kaufen gibt.
Als Linda sieht, dass Carl nichts anderes tut, als deinen Finger wieder und wieder mit Desinfektionsmittel einzureiben und uns die Schuhmoden Englands zu erläutern, schlägt sie vor, doch lieber einen Arzt zu rufen. „Heute ist Bankfeiertag“, sagt Morten, „da haben die Ambulanzen viel zu tun. Man wartet besser nicht auf einen Krankenwagen, sondern fährt selber zum Krankenhaus.“ „Aber ihr fahrt alle auf der falschen Seite! Wir haben keine Chance, das Krankenhaus lebend zu erreichen.“, maulst du. „Hat jemand von Ihnen einen Wagen und kann uns fahren?“, frage ich. „Ich habe Ihnen ein Taxi gerufen.“, gibt Diane bekannt, „Mehr kann ich nicht tun.“ Weil ihr räumliches Sehen durch die Hand vor ihren Augen eingeschränkt ist, muss sie dreimal nach der Türklinke greifen.
„Warum brauchen Ambulanzen so lange an Bankfeiertagen?“, fragst du. „Weil viele Unfälle passieren.“, antwortet Carl und fängt an, eine Binde um deinen Finger zu wickeln. „Und warum?“, fragst du. „Weil viele betrunken sind.“ „Aber warum?“ „Weil Bankfeiertag ist.“ „Und was bedeutet Bankfeiertag?“, frage ich, damit du nicht „Warum?“ fragen kannst. „Dass alle Büros geschlossen bleiben und die Leute frei haben.“ „Und was wird gefeiert?“, fragst du. „Dass Mai ist.“ Carl zuckt mit den Schultern und macht endlich einen Knoten in die Binde. Wir nicken.
Das Taxi hupt und ich springe auf. „Jemand muss dir deine Schuhe anziehen!“ „Bitte nicht die Wanderschuhe, die sind voller Kuhmist!“, rufst du. „Füße her.“, sagt Linda und bevor du dich für deine Schweißfüße entschuldigen kannst, sage ich „Danke!“ und Linda bindet deine Schnürsenkel.
Die Taxifahrerin trägt kein Schild, aber sie stellt sich vor; sie heißt Amanda. So hieß eine Schildkröte, die dir als Kind gehört hat, denkst du. Ja, denke ich, auch das Auto passt dazu; es sieht aus, als hätte es den Kopf eingezogen. Linda steigt vorn ein, damit wir hinten nebeneinander sitzen können. Im Radio läuft klassische Musik. Uns regt das auf, aber Linda mag es. Amanda gibt zu, dass sie immer klassische Musik laufen lässt, wenn sie Touren ins Krankenhaus fährt. „Man weiß nie, wie schlimm es ist.“
Entweder ist es Amandas Ausstrahlung oder die auf 14 Grad eingestellte Klimaanlage, jedenfalls beruhigst du dich, hörst aber nicht auf, komische Fragen zu stellen. Zum Beispiel danach, was denn „eco“ sei an ihrem Eco-Taxi oder was dieser Aufkleber bedeutet, da vorn in der Scheibe. Der Sticker zeigt einen Stern, in dessen Zacken die Symbole aller großen Religionen gestopft sind. Das ist Bahai, sagt Amanda. „Aha.“, sagst du zufrieden und ich denke, was aha, du bist kein bisschen schlauer als vorher. „Ist Bahai auch eine Religion?“, fragt Linda. „Genau. Ich bin eine Bahai.“, sagt Amanda und erklärt, dass ihrer Meinung nach jeder Glaube den gleichen wahren Kern hat, der nur immer wieder anders verpackt ist, damit ihn die Leute am Ort und zum Zeitpunkt seiner Entstehung mögen können. „Also remixt sich jeder selber, was er glaubt?“, fragst du. „Es gibt Grundsätze, die in allen Religionen gelten.“, sagt Amanda. „Zum Beispiel?“, frage ich. „Zum Beispiel den, dass man sich lieber dem hingibt, was ist, anstatt Plänen nachzutrauern, die vom Schicksal durchkreuzt sind.“ Amanda fährt zwei Runden im Kreisverkehr, Linda runzelt die Stirn, ich rolle mit den Augen und du zeigst uns leise grinsend deinen weiß bandagierten Mittelfinger.