Alles, außer AfD

Siebzehn Uhr vierzig. Ich habe noch Zwanzig Minuten Zeit. Diese Wahlliste ist heute wieder besonders lang. Der Tisch reicht gar nicht aus. Namen über Namen über Namen und kein Schwein kennt sie. Am liebsten möchte ich den Schein zerreißen. Bloß, wohin mit den Papierschnipseln? Ich muss doch mit irgendetwas aus der Kabine rauskommen. Und was sage ich dann den anderen? Dass ich Wahlscheine… durchstreiche… das weiß doch keiner. Schließlich ist es eine geheime Wahl. Früher, da habe ich beim Wählen vorsichtig an die Decke gesehen, unter den Tisch gegriffen, ob da nicht doch irgendwo eine Kamera heimlich versteckt ist, bevor ich alles aus Frust durchgestrichen habe. Einmal, als ich wieder in eine dieser sinnlosen Endlos-Umschulungsmaßnamen gesteckt wurde und die junge Göre mit der Strähnchenfrisur mir wochenlang erst kein und dann ein viel zu geringes Übergangsgeld berechnete, habe ich auf dem Zettel alles durchgekrakelt und JAQUELINE NAGLER IST EINE DOOFE, UMSCHULUNGSWÜTIGE UND DAZU NOCH RECHENSCHWACHE ZIEGE draufgeschrieben. Das muss sehr geräuschvoll gewesen sein, denn einer aus der Nachbarkabine fragte mich lauthals, warum ich überhaupt wählen gehe, wenn ich doch sowieso die Kandidaten allesamt nur durchstreiche. Mann!, war mir das peinlich. Zu Honeckers Zeiten wäre ich dafür bestimmt abgeholt worden. Jetzt weiß ich noch nicht, wen ich dieses Mal von den verlogenen Politikern wählen soll. Wie lange bin ich hier? Siebzehn Uhr vierundvierzig. Vier Minuten? Alles i.O. Die Uhr ist ein Hochzeitsgeschenk von Babette und das Einzige, was mir von ihr geblieben ist. Kandidaten über Kandidaten, eine endlose Reihe von Politikernamen. Was haben wir hier? SPD? Da weiß ich schon lange nicht mehr, wofür diese Partei überhaupt noch steht mit ihrem ständig wechselnden Partei-Vorsitzenden. Mit dem Harz IV war meine Babette weg. Erst hatte meine Frau NPD gewählt, da habe ich getobt und gefragt, ob sie vom Antifaschismus noch nie etwas gehört hätte und das mein Opa bei den Nazis gesessen hat. Kurze Zeit später hat sie durch meinen Cousin Ronny, der mit so einer aufgetakelten älteren, völlig zugeschminkten Abteilungsleiterin vom Arbeitsamt rumachte und dadurch stets in Ruhe gelassen wurde, eine Anstellung in Probe im Grundbuchamt bekommen. Urplötzlich hat sie nicht mehr NPD, sondern abwechselnd PDS und SPD gewählt. Da hätte sie auch gleich wieder die SED wählen können… Als sie stellvertretende Abteilungsleiterin wurde, wählte sie über Nacht die CDU. Und jetzt, wo sie zur Abteilungsleiterin aufgestiegen ist und sich so ´ne teure Elektrokarre leisten kann und mit dem Regionalleiter aus dem Westen zusammen ist, kauft sie nur noch Biogelumpe bei REWE und wählt Grün. Grün muss man sich erst einmal leisten können, sage ich immer zu meinen Kumpels. Grün kostet Geld. Grün gibt’s nicht umsonst. Babette kann froh sein, dass das damals geheime Wahlen waren, sonst wäre sie ihren Abteilungsleiterposten wegen ihrer NPD-Stimme ganz schnell wieder losgeworden. Apropos CDU? Die ist doch eher etwas für ältere Abteilungsleiter, die aus dem golden Westen kommen. Zudem ist die Merkel doch fast so lange dran wie zu unserer Zeit der Honecker. Und die FDP? Der Lindner in seinen schweineteuren Anzügen, seiner Haarverpflanzungsmacke, den Strähnchen und dem Privatisierungsfimmel nützt mir nichts. Mit meiner Glatze würde ich in dieser Partei der Vollhaaridioten auffallen. Dann doch eher Die Linke? Die sind für mehr Grundsicherung, mehr Rente, mehr Arbeitslosengeld, mehr, was- weiß-ich-was. Aber davon ist bei mir noch nichts angekommen, außer, dass sie die Wagenknecht rausgeschmissen haben. Was haben wir hier noch auf dem Zettel? AfD? Naja, ne, die AfD kommt für mich eigentlich nicht wirklich in Frage. Die habe ich schon beim letzten Mal nicht wirklich gewollt. Durchgelesen habe ich mir ihr Programm… ein… zweimal vor dem Schlafengehen. Interessehalber. Man hört ja so einiges, und da dachte ich mir… du liest dir das mal genau durch. Schaden kann´s nicht. Schlechter kann dir danach nicht gehen… Mutig sind sie, das muss man ihnen lassen. Obwohl sie niedergeschrien werden, ihnen das Wort in jeder Fernsehsendung abgeschnitten wird, schaffen sie es immer wieder doch ihre Meinung zu sagen. Naja, also, der Höcke ist ´ne Zumutung, das gebe ich als antifaschistischer Enkel zu, das… das geht dann wirklich zu weit. Und die Weidel mit ihrer AfD-typischen Perlenkette, ihrem Zopf und ihren überlangen Hemdkragen, ist auch völlig daneben. Ich habe wirklich nichts, nichts  gegen Lesben… aber früher gab´s so etwas noch nicht… Die Storch, die immer so verprügelt in die Kamera schielt, mit der Forderung zur Not die Flüchtlingskinder an der Grenze niederzuknallen, als ich das gehört habe… Das will doch kein vernünftiger Mensch. Trotzdem, ich könnte jetzt hier… reineweg ausversehen…  mein Kreuz… auf ihren Kreis… setzten, so wie damals meine Babett bei der NPD… und keine Sau wird´s jemals merken. Ist doch alles geheim. Kamera..?, ne, sehe ich nicht. Das ist der unbestreitbare Vorteil einer geheimen Wahl. Nicht wie bei Erich. Was sagt die Uhr? Wie lange bin ich hier? Siebzehn Uhr achtundvierzig. Schon acht Minuten vergangen? Ach Gott. Babettes Uhr funktioniert immer noch tadellos. Das muss man ihr lassen, gekauft hat sie immer nur die guten Dinge. Ein Händchen hatte die und war stets modisch gekleidet. Nun gut, dafür habe ich ja auch `ne Menge Überstunden gemacht. Nein, nein, meine Stimme bekommen die von der AfD nicht. Etwas wirklich zu bieten haben die nicht. Und Arbeitslosengeld zu privatisieren, das bekommt nicht mal die FDP hin. Hm, wem gebe ich sie denn nun? Ich kann doch nicht schon wieder aus der Kabine rausgehen ohne gewählt zu haben. Das geht doch nicht! Das habe ich früher mal gemacht. Davon ging mein Mindestlohn auch nicht weg. Den Zettel durchkrakeln, Gesichter draufmalen, wieder einen fetten, ekeligen Popel aus der Nase ziehen und ihn quer über die Zeilen schmieren, allen Kandidaten ein Kreuz verpassen, ein eigenes Parteiprogramm dranklippen… das hat mir nur in diesen Sekunden unendlichen Spaß gemacht. Geholfen hat es mir überhaupt nicht. Mein Gott, früher da war das irgendwie alles einfacher. Bei Honecker sowieso. Und nach der Wende da haben sich die Parteien wenigstens unterschieden, da hatte ich Hoffnung. Die überschlugen sich förmlich mit Visionen. Da machte es Riesenspaß, mal den einen, mal den anderen zu wählen, um eine Veränderung zu erreichen. Nach der Wende, da war ich so glücklich, dass meine Stimme endlich richtig gezählt wurde, da habe ich die Nacht vorher nicht richtig schlafen können, mich im Bett rumgewälzt, mit Babette rumdiskutiert, mit ihr Pläne geschmiedet, dass wir erst eine kleine Firma für mich und dann eine Firma für sie aufmachen werden, in eine schöne, schicke neue Wohnung ziehen, dann vielleicht ein Haus kaufen und um die Welt reisen und uns dann im Alter in Mallorca oder Frankreich niederlassen. Darüber hatten wir uns so heftig gestritten, dass wir tagelang nicht miteinander sprachen, bis ich dann wie immer nachgab und mit ihr nach Mallorca ziehen wollte. Zur ersten Wahl bin ich allen Ernstes im Jugendweihanzug gestolpert. Man musste ja dem Tag gemäß gekleidet sein, hieß es bei Honecker. Früher, ja früher, da war ich so aufgeregt, dass die im Wahllokal dachten, ich habe etwas getrunken. Die haben einfach nicht kapiert, dass ich unendlich glücklich war. Wir dachten ja alle, dass der Honecker und das Politbüro und die Mauer bis in alle Ewigkeit bleiben. Am Wahlabend bin ich mit dem Radio wie ein durchgeknallter Jugendlicher in der Altbauwohnung rumgerannt und habe Nachrichten auf allen Kanälen gesehen, sogar die Aktuelle Kamera verfolgt. Der Fernseher lief und lief und meine Babette fragte, ob sie die Stromrechnung gleich vom Kneipengeld abziehen soll. Wen ich damals gewählt habe… natürlich die Grünen. Unser Land war damals ökologisch tot. Später hing meine Wahl von den jeweiligen Arbeitsstellen, den Befristungen und den Löhnen ab. Schluss damit. Ich fasele hier vor mich hin. Früher, das war gestern. Basta! Wie lange bin ich hier? Oh Gott, siebzehn Uhr dreiundfünfzig. Dreizehn Minuten! Wem gebe ich denn nun mein verflixtes Kreuz? Das sich noch keiner beschwert hat, dass ich hier so lange sitze. Bei Erich wärs das mit der Karriere gewesen. Also, die AfD, mit ihren Ansichten zu Klimaschutz, zu völlig übertriebener Homosexuellen- und Lesbenwerbung an Schulen und zu straffällig gewordenen Ausländern sind für mich irgendwie… zumindest teilweise nachvollziehbar, obwohl ich selber noch nie Probleme mit solchen Leuten hatte, da ich keinen persönlich kenne. Im Gegensatz zu den Grünen kann man sich die AfD aber leisten. Die Kinder, die am Freitag auf die Straße gehen, haben noch nie auf etwas verzichten müssen. Ich schon. Jahrelang. Und den nächsten Urlaub verbringen die sicherlich mit Mama und Papa in der Karibik und knipsen tausende Fotos mit ihren gigantisch großen Handys, die sie dann sinnlos in die Welt schicken. Namen, Namen, Namen. Ist denn nicht irgendeiner für mich dabei? Gar nichts? Irgendetwas auf dem Wahlzettel muss doch mein Leben betreffen. Ich habe doch alles gemacht, was man von mir verlangt hat. Erst Schule, Junge Pioniere, FDJ, dann Armee, Tischler, dann Industriemeister, danach Fach-Ingenieursstudium. Nebenbei Altbauwohnung ausbebaut und Familie großgezogen. Ich bin mehrfach ausgezeichnet worden. Ich war immer ein Vorbild der Gesellschaft. Und schwuppdiwupp wurden nach Artikel soundso des Einigungsvertrages meine beiden Abschlüsse, alles, was ich geleistet habe, im goldenen Westen plötzlich nicht mehr anerkannt. Der verdammte Einigungsvertrag hat solche wie mich verraten. Klammheimlich. Einfach so. Und ich habe zu all dem Scheiß noch gejubelt, die Deutschlandfahne in Leipzig geschwungen und mich über die 6.000 DM gefreut, die ich 1 zu 1 umtauschen durfte. Fix einen Artikel geschrieben und schon gibt’s mich und meine Berufe nicht mehr. „Darf man das?“, habe ich die vom Amt gefragt. „Jawohl!“ So eine Sauerei kann man mit mir, mit uns doch nicht machen. Erst meine Arbeitsstelle weg, dann Babettes Laden zu. Das Arbeitsamt meinte, vom Prinzip sei ich ein Ungelernter und hätte mich still zu verhalten, denn ich sei ja schließlich Gewinner des wiedervereinigten Landes. Ich kenne eine Menge Leute im Osten, denen es auch so geht. Das sind die Fachschul-Ingenieure, die jetzt mit dem Herrn Gauland sympathisieren, oder ihm zumindest heimlich Erfolg wünschen, damit die Großparteien endlich eine saftige Abreibung bekommen. Ich kenne aber auch ´ne Menge, die die AfD nur wählen, weil sie damit endlich erreichen wollen, dass die Parteien sich endlich um uns kleine Leute kümmern. Nicht, dass diese Leute rechts sind, dass ich rechts wäre. Nein, nein, ich bin nicht rechts. Überhaupt nicht. Das bin ich nicht! Ich bin nur… nur nicht zufrieden. Ich merke, dass es überhaupt nicht weitergeht. Ich bin den Parteien scheißegal. Dass das keiner verstehen will. Ich denke… ich meine… würden nur ausreichend Leute die wählen, dann würden sich vielleicht die anderen Parteien, die ich alle mal gewählt habe… anstrengen und ich würde endlich aus dem verkackten Mindestlohn rauskommen, vielleicht meinen DDR -Abschluss wiederbekommen. Ich will ja gar nicht mehr als Ingenieur arbeiten, das würde ich sowieso nicht mehr packen… aber zumindest anerkannt werden, wieder anerkannt durch die Straßen gehen, „Guten Tag!“, sagen können, „Ich habe ein Fachschulstudium hinter mir, ich bin nicht ungelernt, Frau Nagler!“ Das, das wäre doch toll. Aus der ofenbeheizten Wohnung im vierten Stock, die ich vor über dreißig Jahren ausgebaut habe, würde ich auch gern endlich rauswollen. Mit 55 findet man die 86 Stufen auch nicht mehr prickelnd. Nur einen neuen Mietvertrag, kann ich mir doch im Moment gar nicht leisten. Und dass Babette wiederkommt, glaube ich schon lange nicht mehr, die bleibt bei ihrem reichen Wessi. Ich muss eher aufpassen, dass unsere Carola nicht Drüben bleibt. Dann bin ich ganz allein. Vom Prinzip her würde ich die AfD niemals wählen. Niemals. Aber vielleicht tut es ein anderer… Es gibt doch noch mehr Unzufriedene. Wie lange bin ich hier? Siebzehn Uhr achtundfünfzig. Achtzehn Minuten. Oh Gott. Wo verdammt noch mal setzte ich jetzt das verflixte Kreuz hin? Ich habe ja nur die eine Stimme. Dafür bin ich doch 89´ auf die Straße gegangen. Dafür wurde ich vorgeladen… Klärung eines Sachverhaltes. Dafür habe ich mich mit meinen linientreuen Eltern, meinem Bruder und der knallroten Tante verstritten. Was soll ich jetzt ankreuzen? Linke? In der PDS war ich ´ne Zeit lang und auch in der… DSU. Hat alles nicht mein Leben verändert. Ich war bereit! Ich bin immer noch bereit! Wie lange bin ich hier? Siebzehn Uhr neunundfünfzig. Neunzehn Minuten. Ach, herrjeh. Neunzehn Minuten! Ich muss mich entscheiden.

Bitte kommen Sie zum Ende, das Wahlbüro schließt um Achtzehn Uhr.

Soll ich, oder soll ich nicht? Wäre ich nur heute nicht hergekommen. Ich hatte von Anfang an ein ungutes Gefühl in meinem Jugendweihanzug hier noch einmal anzutanzen. Ich gehöre einfach nicht in diese Future-und-noch-was-Zeit, wo alles möglich sein soll und ich nicht begreife, was das bitteschön sein soll und wie man das macht, wo mich doch keiner will. Mich hier. Ich sitze hier seit Neunzehn Minuten, seit neunzehn… seit… Jahren und warte, warte, tagein-tagaus. Wenn es mir nicht zu blöd wäre, würde ich zugeben, dass… dass… dass irgendwer Fremdes jetzt meine Hand nehmen soll, um das verflixte Kreuz zu machen. Das, das kann ich nur keinem sagen. Wem denn? Ich hoffe, dass wenigstens die anderen die richtige Entscheidung treffen.

Veröffentlicht von

Michael Elias

So wie er sich in politischen Dingen nicht festlegt - er hat zwei Systeme mit ihren Vor- und Hinterteilen kennengelernt - so ist auch seine Sprachform unentschieden. Er bleibt vielmehr auf der Suche nach den jeweiligen zusammengehörigen Sätzen. Er lebt über den Dächern von Leipzig; zwischen den Zeilen stürzt er sich mit offenen Augen ins Nachtleben.

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