Lolita


12.November.2017

Wir wohnten damals schon eine Weile, fast ein Jahr, im Bezirk W..

Aus der alten Wohnung nehme ich die Hitze mit. Denn im Sommer fiel das Atmen schwer. Das Zimmer war zu klein gewesen für zwei Leben und doch teilten wir es durch zwei, scheiterten, wurden zu einem Körper: im Bett, sitzend auf der Couch – des Trostes bedürftig.

Wir schieden Tag und Nacht. Das blaue Laken wirkte heimisch. Die gepunkteten Bezüge galten als Zeichen des Bleibens. Der Tisch im Flur wurde von einer Kerze geschlagen. Frühstück ist Liebe.

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In W. fehlte mir auch das Fenster der alten Wohnung. Sitzend, oftmals rauchend, dachte ich nach. Zu Hause richtete ich mir ein, zu Hause, richtete sich in mir ein. Mit nackter Selbstverständlichkeit, bekleidet dahinter bloße Träume, schaute ich nach unten in den Hof. Einen Sommer lang. Einen Herbst. Einen Winter. Einen Frühling. Einen halben Sommer lang. Der trostlose, graue Hinterhof behielt Platz für Wahnsinnige, für spielende Kinder, für Kinder von Wahnsinnigen, die spielten.

Wir standen spät auf. An Erinnern werde ich damals noch nicht gedacht haben.

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Zwölf Uhr dreißig Frühstück beim Bäcker, der Kaffee und Süßspeisen beheimatete. Das erste Mal saßen wir damals im Hinterzimmer des Geschäftes. Keine geteilten Aufgaben: des Eierkochens, Einkaufens, wieder Vereinens zum Frühstück, um die Mittagszeit. Noch saßen wir da. Plauderten. Flanierten durch die Stadt, gehetzt.

Morgens wachte man auf, suchte im Anderen einen Halt. Des Ertrinkens ungewiss. Das kam später.

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Vierzehn Uhr Ankunft. Der Stuhl im Raum verhieß Buch. Die Buddenbrooks rochen modrig. Schimmelig hatte die Ausgabe den Besitzer verlassen, um nun hier gehalten zu werden. Braun-golden. Schwer gebettet, ich, in eine Decke gehüllt. Das Buch haltend, das stank.

Der Kaffee steht auf dem Tisch, im fast leeren Raum des Cafés im Bezirk P. Jetzt setze ich ihn an.

Mein Mann von damals trug die Augen offen, das Haar kraus und meistens schwarz. Um sich vom Abend zu schützen, windet sich eine schwarze Stoffjacke um den Körper. Die Kälte…

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Ein paar Stunden später. Es wird siebzehn Uhr gewesen sein. Wir fallen in ein Antiquariat, kommen drei Euro weniger, mit Lolita wieder heraus. Das Buch liegt gut in der Hand. Anderthalb Stunden später sehen wir uns die Sterne an. Mitten in der Stadt. Unter einer Kuppel.

Noch einmal blicke ich auf uns. Wir gehen quer über die Gleise. Und weil wir Teil der Galaxie sind, werden wir traurig. Keiner nimmt die Hand des anderen beim Wort.

In der Nacht wird Liebe gewesen sein.

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Lolita hat mich gelesen.

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Ich schlage das Buch zu.

Schreibe: “Ich habe dich wirklich geliebt.

Ich habe dich wirklich geliebt.

Ich habe dich wirklich.

Ich habe dich.

Ich habe.

Ich

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Damals war November.

Veröffentlicht von

Eileen Mätzold

Seit Eileen Mätzold von ihrer Schwippschwägerschaft mit Rainer Maria Rilke, Heiner Müller und Ingeborg Bachmann erfuhr, hat sie eine große Verantwortung zu tragen. Die Jahre zogen rauschend ins Land. Doch unverändert ist seit dem: sie schreibt des Tags und des Nachts, schreibt und schreibt...

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