Ich stand an der Gedenkstätte am Mauerstreifen der ehemaligen Grenzsicherungsanlagen der DDR in Berlin in der Bernauer Straße. Ich beobachtete die Kinder, die auf dem in die Erde eingelassenem Metallstreifen wie auf einem Holzbarren spielend balancierten. Ich sah wie sie die Fußspitzen mal auf die eine Seite, mal auf die andere Seite der Sperranlage schoben, als tanzten sie darauf. Sie drehten sich auf dem Metallband um die eigene Achse, reckten die Hände in die Luft und kicherten. Die Sonne schien ihnen dabei ins Gesicht. Als sie genug von ihrem Spiel hatten, taten sie so, als hopsten sie im hohen Bogen von einer Mauerkuppe. Sie gingen in die Knie, hoben die Arme nach oben, sprangen in die Luft und auf die Pflastersteine. Die einen in den Osten, die anderen in den Westen, so wie ihnen zumute war, geradewegs in die offenen Arme ihrer Eltern. Das gefiel mir. Ich sah den Kindern mit der mir unbekannten Sprache zu und sagte zu alledem kein Wort. Ich schwieg.
Von den Kindern ermutigt, ging ich langsam auf den Mauerstreifen zu. Ich beugte meinen Kopf nach unten und sah auf das Metall, das in der Sonne gleiste und meine Augen wie einen Flutlichtstrahler, der mir ins Gesicht gerichtet wurde, blendete. Ich stellte erst den einen Fuß auf das Metall, auf dem die Kinder eben noch ausgelassen gespielt hatten und danach den anderen darauf. Ich drückte beide Füße fest auf den Streifen, um zu prüfen, ob das Metall nicht doch nachgab. Ich wippte. Mir wurde schwindlig. Für einige Sekunden blieb ich starr auf dem Metallstreifen, der die ehemalige Staatsgrenze der Deutschen Demokratischen Republik symbolisiert, stehen. Ich bekam Rückenschmerzen. Ich umgriff meinen rechten Rippenbogen. Die Rückenschmerzen nahmen zu. Ich griff nach dem Spray in der Jackentasche, das ich nach der Wende vom Arzt verordnet bekam, zog es heraus und nahm zwei Hübe. Erleichtert sah ich in die Sonne, schloss die Augen und drehte den Kopf in die Strahlen. Ich drehte den Kopf hin und her, wie ich es zwei Jahre lang wöchentlich tat, wenn ich mein gefordertes Limit erfüllt und dafür extra Zeit zur Verfügung gestellt bekommen hatte. Ich setzte mich auf das Metallband und versuchte in meine mitgenommene Tüte zu atmen. Die Kinder kamen von vorn und hinten auf den Metallstreifen angestürmt und winkten mir zu, weil sie dachten, ich mache irgendwelche Kunststücke. Ich blies in die Tüte und verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Die Kinder lachten und zeigten auf mich. Ich beugte mich auf, setzte einen Fuß vor den anderen und tat so, als ob ich von einer Kante stürze. Die Kinder gaben keine Ruhe, umringten mich und sprachen in verschiedenen Sprachen auf mich ein. Der anschwellende Lärm ängstigte mich. Ich senkte den Kopf nach unten und setzte mich wieder hin. Die Kinder tollten um mich herum, hoben und senkten ihre Hände im Licht der Sonne, das ihre Schatten auf mich niederprasselten. Mit einem sanften Stoß befreite ich mich aus dem Kreis ihrer Beine. Ich bewegte mich zu der rostigen Eisenwand und blieb vor der Galerie stehen. Meine Luftnot wurde nicht wirklich besser. Ich ging die metallene Galerie entlang, bis ich mich einigermaßen beruhigt hatte. Ich drehte mich zu der Wand, schaute ohne wirklich hinzusehen auf die Fotos der Männer, Frauen und Kinder und verharrte vor dem Foto eines lächelnden, schwarzhaarigen jungen Mannes im Rollkragenpullover. Das Gesicht mit den braunen Augen, den Grübchen und dem Leberfleck am Kinn war mir vertraut. Ich kannte es. Ich kannte das Lächeln und ich liebte es. Ich kannte auch den Rollkragenpullover. Dieser Pullover war diesem Mann wenigstens zwei Nummern zu groß gewesen und er meinte, dass das elende Ding sowieso nur kratzte. Dieser Pullover, den er auf dem Foto trug, war von meiner Mutter frisch gewaschen und auf die Leine gehängt, was uns damals nicht daran hinderte ihn beim Weggehen in ein anderes Land von der Leine zu nehmen und an den Rucksack zu binden, um ihn in der Nacht zu verwenden, wenn es kalt werden würde. Kalt vom Warten auf den richtgien Moment. Kalt vom Kauern im Gras. Kalt auch vor dem Unbekannten. Angst hatten wir anfangs nicht. Ich betrachtete das Foto und suchte die Stelle an der Schulter, an der der Pullover von meiner Großmutter ausgebessert wurde. An dem Tag, an dem ich ihn von der Wäscheleine nahm, wurde er vier Mal beschädigt. Nie wieder war ich diesem Mann in dem gestreiften Pullover, diesem Gesicht, dem schönen, schlanken Körper, der sich darin verbarg, so nah, wie in dieser warmen Sommernacht. Zusammengekauert, Knie an Knie, Herz an Herz, Gesicht an Gesicht. Ich weiß nicht, ob er es in dieser Nacht, in diesem Moment geahnt hatte. Diese Frage kann ich bis heute nicht beantworten. Ich weiß nicht, ob er überhaupt begriff, dass ich ohne ihn nicht weg wollte, weg konnte, das ich aber unbedingt weg musste, ich mich unter den Anderen nicht wohlfühlte, die dummen Sprüche nicht mehr ertrug und endlich frei sein wollte. Frei. Ich habe mich Abend für Abend in meiner Zelle gefragt, was passiert wäre, wenn ich ihn nicht überredet hätte. Und ich habe in den Nächten, in denen ich mich auf Zelleninsassen einlassen musste, gefragt, warum er mitging, wo er doch hätte bleiben können, er, der bei allen im Ort beliebt war, den jeder mochte, die Lehrer, die Schüler und die gut aussehenden Mädels im Besonderen. Nur in diesen Minuten, in denen die anderen in der Zelle mir ihren Rücken zudrehten und taten, als ob sie schliefen und nichts mitbekommen wollten, war ich mir absolut sicher, die Wahrheit über uns beide zu kennen. Schon als Kind spürte ich, dass er der Stärkere von uns beiden war. Ich liebte seinen Mut, seine Sportlichkeit, seine Fähigkeiten mit den Größeren aus der Schule zu wetteifern. Ich beneidete ihn dafür, dass er jeden mitreisen konnte, dass er uns zu allen Dummheiten überredete, die wir, egal, wie sie endeten, nie bereuten. Ein letztes Mal habe ich seinen Mut gespürt, als er sich im Scheinwerferlicht vor mich warf, mein Gesicht mit seinen Händen berührte, mein Kopf fest an sein Gesicht drückte und im Lichtkegel mehrerer Scheinwerfer küsste und danach wie in einem amerikanischen Schwarz-Weiß-Film die Augen schloss und die Arme seitwärts auf meine Beine fallen ließ. Den zusammengeknüllten Zettel, den er in meine Hand schob, verscharrte ich mit den Fuß und versuchte mir die Stelle mit einem in die Erde aufgemalten X einzuprägen, während die Grenzposten auf uns einprügelten, auf seinen leblosen Körper ebenso wie auf meinen zusammengekauerten. Was auf dem karierten Zettel stand, werde ich nie erfahren. Deswegen bin ich wohl jetzt auch wieder hier bei Ihnen? Ich weiß, seit Jahren sagen Sie mir immer wieder, dass ich mich vom Mauerstreifen fernhalten soll, dass ich aus dieser imaginären Rolle heraustreten muss, dass ich stattdessen einen eigenen Zettel beschreiben soll. Sie sagen das so, als wäre es ein Kinderspiel, Verantwortung für sich, für diese Nacht und für ihn zu übernehmen, wo es doch die DDR gab.
Was ich Ihnen noch nicht erzählt habe. Die Kinder kamen zurück und umringten mich. Sie lächelten und sahen auf das Foto des jungen Mannes mit dem weiß-orange-blau gestreiften Rollkragenpullover. Sie tapsten mit ihren schmutzigen Fingern auf das Foto und kicherten, dass ich für einen Moment wütend wurde. Ungeduldig zogen sie mich an der Hand und führten mich an genau jene Stelle, an der ich in die Tüte geblasen hatte und an der ich so tat, als ob ich von der Mauerkuppe in die Tiefe stürzte. Sie streckten ihre Köpfe ungeduldig zu mir hoch und sahen mich fragend an. Ich wusste nicht, was ich ihnen sagen sollte und schwieg. Ich nahm meine Tüte, die ich stets bei mir trage und machte das, was ich immer mache: Grimassen. Das habe ich Ihnen beim letzten Besuch auch schon erzählt? Entschuldigen Sie bitte.