An wem

Für Ferdinand von Schirach, nach einem Erzählband des Autors

Schuldig ist nur das Wort geworden.

Schuldig nach dem Wort die Tat.

Die Tat ist schuldig durch den Menschen.

Der Mensch sprach Schuld.

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Schuld brach den Menschen auf.

Setzte ihn, geteilt das Selbst,

Auf einen Berg und ließ ihn

Gut Ding und Weile haben.

Reichte Keile, um den Zwiespalt

Zu verstärken mit Achtung

Und mit Gewalt und gab der Schuld

Im zweigeteilten Menschen schließlich

Gestalt, die da rang um letzte Worte:

– Die da rang     um letzten Gipfel,

– Die da rang     um letzte Segnung,

– Die da rang.    Die da sang.

Sangklar  getroffene Schuld.

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Sing noch einmal das Lied der Unschuld.

Sing noch einmal den Traum der Zügellosen.

Spiel noch einmal das Lied vom Leben.

Spiel die Liebe nicht mit bloßen,

Nackten Händen nach. Inszeniere

Die Maske nur und lass Arme sinken,

Beide. In der Schuld soll der Mensch ertrinken,

Darum schreibe.

Damit er Acht gebe

Um all der Gedanken und all der Träume.

Bäume dich entgegen. Bäume das Leben.

Bäume die Tat auf: am Tag bloß

Sieht man selten klar.

Darum musst du schreibend geben.

Sonderbar, so sonderbar. Da reihst du

Fremde und bekannte Worte

Neben immer andere Worte auf.

Stehst neben dir und dem.

Andere fallen auf dich zu.

Du aber fragst: schuldig,

an wem?

Der Achtinfame – Der Mutmacher

Der Achtinfame

Infam können die Menschen sein, doch sind sie es stets einmalig, nicht aber achtmalig. So entschied sich der Achtinfame achtfaltig, und nicht einfältig dazu, die Zahl ACHT zu seiner liebsten Zahl zu machen. Um ein Marmeladenbrot zu bestreichen, benötigte er stets acht Striche. Reiste er weit, so packte er seinen Koffer achtmal um. Auch unterschrieb er stets achtmal, das sah dann so aus als hätte er nur einen besonders dicken Stift gewählt, um Dokumente zu beglaubigen. Denn glauben konnte er sich stets, soweit er alles achtmal tat.
Auch bemühte er sich seit jeher acht Freundinnen zu seinem Freundeskreis zu zählen, und wenn eine ging, so kam eine andere dazu, denn es mussten schon acht sein. Vor einer Woche hatte er acht vollzählig, da kam eine andere Freundin hinzu. Doch der Achtinfame wusste was zu tun war. Immer. Und so weiß er es auch jetzt und tötet sie achtmal.

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Der Mutmacher

Der Mutmacher hat sein Gewerbe noch nicht eintragen können. Heutzutage sind die Behörden sehr streng.
Am Mut seiner Mitbürger feilt, schraubt und sägt er. Ist der Mut einmal fertiggestellt, so liegt es an ihm, ihn an den Mann oder an die Frau zu tragen. Denn Mut trägt nicht jeder. Mut steht nicht jedem.
Doch es ist mühsam Menschen zu finden, die bereit sind Geld für Mut auszugeben. Dabei fehlt es doch gerade an ihm, um den Mut zu erwerben. Die Menschen sind so dumm.
So stellt er sich an die dunklen Ecken, die hellen Gassen, die verstaubten Straßen und die vollen Märkte… all das für ein bisschen Einkommen mit dem ältesten Gewerbe der Welt.
Mut verkaufen.

Reginas Reisen

Ja, Sie müssen entschuldigen. Das dauert ein bisschen. Die Rechner sind langsam. Obwohl, vielleicht sind sie gar nicht langsam. Vielleicht stehen sie einfach nur zu weit auseinander. Stellen Sie sich das mal vor! Die Anfrage muss durch tausende Kilometer Kabel zum anderen Ende der Welt! Vielleicht fliegt sie auch durchs All über Satellit, wer weiß. Kann sich kein Mensch vorstellen, diese Technik.

Aber die Menschen haben keine Geduld! Als wären die Tage heute kürzer als vor 20 Jahren. Was meinen Sie, wie oft Leute regelrecht ausflippen, da drüben an den Kassen, wenn die Kassiererin mal ein Storno hat. Oder wenn die Bonrolle alle ist. Ist doch verrückt, oder? Die Leute schieben stundenlang einen riesigen Einkaufswagen durch einen zwei-etagigen Supermarkt, aber wenn es dann an der Kasse eine Minute länger dauert, drehen sie durch. Und die Mädels müssen immer freundlich bleiben. Immer nett.

Das wäre kein Job für mich. Den ganzen Tag Waren übers Band ziehen, geht auf die Schultern. Ich hab‘s so schon mit dem Kreuz. Obwohl ich jeden Tag mit Romeo rausgehe. Und dann eben diese schlechtgelaunten Kunden an den Kassen. Nancy – Sehen Sie sie, die Dunkelhaarige in der 4? – die kommt manchmal zu mir rüber in ihrer Pause, dann essen wir eine Bockwurst zusammen. Oder Nudeln, drüben beim Fidschi. Ich weiß, darf man nicht mehr sagen. Beim Asiaten. Obwohl, ich meine das gar nicht – ich habe gar nichts gegen die. Jedenfalls, die Nancy hat Geschichten auf Lager, da geht Ihnen das Messer in der Tasche auf.

Da habe ich es ganz gut in meinem Kabuff. Also, es ist nicht mein Kabuff, lassen Sie das ja nicht den Chef hören. Na gut, wenn die Leute hier rein kommen, hängen denen die Mundwinkel auch sonst wo. Aber wenn sie rausgehen sind sie zufrieden. Alle. Das ist meine Arbeit. Leuten dabei helfen, ihre Träume zu erfüllen.

Bei Ihnen eben Accapulco. Ach, ich habe mich vertippt. Deswegen findet der auch nichts. Acapulco, heißt es richtig, mit nur einem C. Jetzt sucht der hier noch mal. Acapulco. Klingt schön, oder? Wie ein Cocktail – mit viel Rum. Oder ein Tanz – der heiße Acapulco! Wie der Lambada, früher, den habe ich im Bikini getanzt! Aber was wollen Sie in Acapulco?
Wissen Sie, die Leute stolpern ja immer hier rein, mit den abenteuerlichsten Vorstellungen. Wenn ich die frage, wohin es gehen soll, dann gucken die ganz verträumt an mir vorbei, auf die Prospekte oder auf die Kassen und dann sagen sie in als würden sie einen Schokodrops lutschen: Namibia. Oder: Hawaii. Oder: Menorca. Unter uns: Manchen kann ich da nicht ins Gesicht gucken, ich müsste feixen. Verstehen Sie das? Als wäre Namibia das Paradies! Fragen Sie mal die Namibianer! Für die ist das hier das Paradies. Obwohl die bestimmt besseres Wetter haben.

Können Sie sich erklären, warum immer alle denken, anderswo wäre es schöner als hier? Schön ist es doch überall! Anderswo ist es nur anders. Ich sag’s Ihnen im Vertrauen: Mein Paradies ist meine Terrasse. Nicht weit zum Kühlschrank, Blick ins Grüne und in den Geschäften reden sie meine Sprache. Ich glaube, das ist eine Berufskrankheit. Wie bei Carola von der Frischetheke. Seitdem die den ganzen Tag Fleisch und Wurst verkauft, kriegt sie das Zeug nicht mehr runter.
Nee, also hier finde ich nichts. Wir müssen das direkt bei der Fluglinie versuchen. Ist aber auch ein außergewöhnliches Ziel. Was wollen Sie nur in Acapulco? Das ist in Mexiko, oder? Einen Moment. Ich wähle uns mal ein. Ich meine, mir ist das natürlich recht, wenn die Leute viel verreisen. Je weiter, desto lieber. Sagt mein Chef auch, wenn er ultimo die Abrechnung macht. Obwohl, soviel Abrechnung ist hier gar nicht. Ist ja auch kein Wunder. Wer soll denn hier reinkommen? Leipzig Arcaden – klingt erstmal exquisit. Aber gucken Sie sich die Leute doch mal an, die da drüben einkaufen. Diese versteinerten Gesichter. Und wie die rumlaufen. Die können sich keinen Urlaub leisten. Oder die buchen den im Internet. Ist ja billiger, denken immer alle. Stimmt gar nicht. Naja, wenn mein Chef mal ein bisschen Pepp in den Laden bringen würde und ein paar Plakate raushängen würde, könnte das hier auch besser laufen. Aber mich fragt ja keiner.

Ach Mensch, sehen Sie den? In dem hellbraunen Mantel? Mit dem langen weißen Schal? Oder heißt das creme? Wir haben früher Eierschale dazu gesagt. Jedenfalls: den kenn ich. Das ist, also das war mal, naja – verrückt, den kenne ich. Dass der hier einkaufen geht! Oje, guckt der? Der guckt doch hier rüber! Wie sehe ich aus? Geht das so mit meinen Haaren? Wenn der jetzt – Was habe ich denn hier für einen Fleck? – wenn der jetzt hier rüber kommt um Hallo zu sagen, falle ich um. Der sieht aber gut aus! Klar hat er sich verändert, die grauen Schläfen und so. Aber für sein Alter? Reif, sieht er aus. Männlich. Toll! Ein gutaussehender Mann, das müssen Sie zugeben. War der aber schon in seiner Jugend!

Nein, nein, machen Sie sich keine Gedanken. Die Warteschleife von diesem Airline-Service ist immer gut gefüllt. Das wird schon noch ein paar Minuten dauern. Aber die Musik ist doch ganz schön, oder? Ist das aus Dirty Dancing?

Jetzt muss er gleich hier lang. So elegant! Früher war der mehr sportlich, wissen Sie? Sehen Sie die Schuhe? Und diese Uhr! Der hat bestimmt einen tollen Job. Der macht das große Geld. Schon in der Ausbildung hatte der echt was drauf. Aber der hatte immer Freundinnen, ich kam nie an den ran. Da habe ich dann eben jemand anderen geheiratet. Er bestimmt genauso. Trägt er einen Ring? Erkennen Sie das? Ich habe meinen ja für meinen Zahn einschmelzen lassen, als mein Mann dann – ach schade, der guckt nicht. Obwohl, wäre mir auch peinlich. Wer weiß, ob der mich überhaupt erkennen würde. Ich hier in meinem Pulli und der mit seinem Kaschmirschal. Wir haben ja auch wer weiß wie lange nicht mehr gesprochen. Nee, der ist auf dem Sprung. Sehen Sie nur, wie schnell der läuft! Der hat keine Zeit. Der hat bestimmt nie Zeit.

Jetzt sagen Sie gleich: Kein Wunder, Zeit ist Geld. Sagen alle. Aber ganz ehrlich: Ich glaube, das stimmt nicht. Ich glaube, Zeit ist Zeit und Geld ist Geld! Denken Sie da mal drüber nach. Machen Sie das mal. Muss nämlich jeder selber entscheiden, was ihm wichtiger ist.

Also, tut mir Leid, aber hier kommen wir heute nicht weiter. Die Vermittlung von der Airline macht gleich Feierabend und ich auch. Nein, bis um Acht haben wir nicht mehr auf. Das lohnt sich nicht. Können Sie vielleicht morgen nochmal kommen? Oder ich probiere es gleich früh und rufe Sie dann an? Normalerweise bin ich nicht so, aber heute muss ich echt pünktlich weg. Ich muss meinen Schein noch abgeben. Lotto, Sie etwa nicht? Mittwoch und Samstag. Nur noch sieben Minuten bis Annahmeschluss.

Nö, also ich gewinne öfter mal was. Neulich erst den zweiten Preis bei so einem Kreuzworträtsel. Drei Tage Allgäu. Habe ich mal Mädelswochenende mit meiner Tochter gemacht. Wellness-Hotel, super.
Ach, es gibt so viele Preisausschreiben! Reich werden Sie in so einem Reisebüro nämlich nicht, das sage ich Ihnen. Also ich könnte nicht nach Acapulco fliegen, von meinen paar Quieksern. Wieso eigentlich ausgerechnet Acapulco?
Doch, doch man kann gewinnen, man muss aber eben auch mitspielen. Und eines Tages – wer weiß? Wenn man dem Glück keine Chance gibt, kann es einen ja nicht finden.

Überposis

Halt, Stopp! Ey, Schaffnerin! Gut, dass ich sie gleich erwische! Ich muss erstmal durchatmen. Ich bin den ganzen Weg vom Flughafen-Shuttle – puh! Ich komme gerade aus New York! Ich war die ganze Nacht im Flieger. Bin total drüber. Ich weiß nicht, ob das das Jetlag ist oder die Medikamente. Ich hatte gestern eine Zahn-OP. Mit Zahn ziehen, Eiter ausspülen und nähen und so. Fies. Jedenfalls musste ich bar bezahlen. Ich hab‘s vorm Start nicht mehr zum Automaten geschafft. Und nach der Landung auch nicht. Kann ich trotzdem mitfahren? Geht das? Ich meine, ohne Geld?

Wir machen das so: Ich fahre mit bis Leipzig. Dort steige ich aus und flitze zur Western Union. Da hebe ich das Geld aus New York ab. Dann komm ich zurück und bezahle das Ticket. Okay? Ich lasse ihnen bis dahin meinen Pass da. Als Pfand. Sie geben ihn mir zurück, wenn wir quitt sind. Keine Tricks. Und keine Sorge: Ich brauche meinen Pass. Ohne Pass bin ich erledigt.

Machen Sie doch mal eine Ausnahme! Kommen Sie schon! Bitte! Das wäre super, wenn wir das so machen könnten. Echt? Sie sind richtig cool. Ich setze mich da vorn hin, dann habe ich es nachher nicht so weit zur Tür. Ist doch frei bei dir, oder? Super! Kann ich die Tasche unter deinen Sitz stopfen? Hilfst du mir? Dann packe ich die andere hier hoch! Wehe du illerst mir unters Shirt! Jetzt guck nicht so erschrocken. Spaß!

Du, ich hoffe, ich stinke nicht. Ich bin total durchgeschwitzt. Eigentlich müsste ich mein T-Shirt wechseln. Guck mal, das sind Schweißflecken und das hier sind Schampusränder. Sehen genauso aus. Einen Fächer könnte ich jetzt gut gebrauchen. Wie der Lagerfeld. Naja, der OP-Bericht hier wird es auch tun. Ist der auch mal zu was gut. Alter Schwede: 2.500 Dollar für das bisschen Zahn ziehen. Hat das jetzt wieder zu bluten angefangen? Es schmeckt so süßlich, irgendwie. Die haben das zwar genäht, aber das ist ja nicht blutdicht. Blutdicht – gibt es das Wort? Kannst du mal gucken, ob du da was siehst? Hinten rechts unten. Da wo der Zahn fehlt. Siehst du die Naht? Blutet das? Jetzt guck mich mal an. Nee, frontal. Ist das noch geschwollen? Fass mal an, das ist total heiß! Alter, mit so einer Beule im Gesicht kriege ich nie wieder einen Job! Keine Ahnung, was passiert ist. Gestern früh bin ich mit Zahnschmerzen aufgewacht und gestern Abend sah ich aus, als hätte ich eine aufs Maul gekriegt. In der Klinik haben die den Zahn sofort rausgemacht. Das hat übelst geknirscht! Die haben gesagt: No sports! I mean it: No sports! Aber wenn ich jetzt nicht geflitzt wäre, hätte ich den Zug verpasst. Klar, ich hätte auch den ICE nehmen können, aber im ICE kommt man mit so einer Nummer nicht durch.

Ist dir auch so heiß? Boah, guck mal, in meinem Bauchnabel kocht das Wasser! Hier! Ein Schweißtropfen-Rennen! Schluss jetzt, ich zieh mir was Frisches an. Halt das mal. Fuchsia oder Pistazie? Fuchsia, oder? Weißt du, alle denken immer, ich trainiere wahnsinnig hart. Aber das stimmt null. Ich habe fünf Jahre Fußball gespielt. Ewig her. Mein Körper hat sich das irgendwie gemerkt. Also, dass ich Sportler bin. Der sieht einfach weiterhin so aus. Du hast da bisschen Pech, aber mach dir nichts draus. Dafür ist dein Gesicht gut. Das sind die Gene. Ich mache überhaupt keinen Sport. Ich darf nicht trainieren, die haben mir das regelrecht verboten. Ich habe mal ein paar Wochen gepumpt, aber ich kann ja zugucken, wie bei mir die Muckis wachsen. Die von der Agentur haben dann gesagt, ich soll aufhören, sonst passe ich nicht mehr in die Slim-Fit-Hemden. Ist ja alles Slim Fit. Wenn du zu fett bist, bist du zu fett. 65 Kilo ist das Limit. Ich könnte höchstens Joggen gehen. Aber da habe ich gar keine Zeit für. Ich würde mich ja auch nur verlaufen.

Na gut, ich esse nicht so viel. Aber das ist auch nur wegen dem Stress. Denn wenn ich was esse, Alter, esse ich echt nur Fastfood. Am Liebsten die Schinken-Ananas mit der Mozarellakruste von Pizza Hut. Ey, Pizza Hut gibt es überall: in Mailand, London, Kopenhagen, New York, Moskau, überall. Die Pizza heißt natürlich immer anders. Ananas prosciutto in Mailand, zum Beispiel. Aber das hast du schnell raus. Schmecken tut sie überall gleich. Ich fühl mich immer zuhause, wenn ich die esse.

Dabei war ich jetzt wochenlang nicht zuhause. Voll fies, dass die Modewochen so kurz hintereinander sind. Manchmal weiß ich gar nicht, in welcher Stadt ich bin. Ist auch egal. Von den Städten kriege ich sowieso nichts mit. Früher haben meine Freunde gefragt Wo ist es denn am Schönsten? Keine Ahnung, Mann. Ich bin da nicht zum Sightseeing! Jetzt komme ich aus NYC. Fashion Week. Bin drei Shows gelaufen. Donna Karan, Issey Miyake und Hermès, das wird wie Hermes geschrieben, ist aber Französisch, deswegen spricht man das H nicht. Hermès.

Drei Shows in einer Woche. Klingt nicht viel, ne? Ich weiß nicht, was du arbeitest, aber nur an drei Tagen die Woche ins Büro, klingt bestimmt wie Urlaub für dich. Stimmt ja auch. Also ich habe abends jedenfalls keinen Muskelkater von der Schufterei, oder so. In Wirklichkeit ist das Business ja nur Warten, ne? Manchmal sitzt du vier Stunden rum und es passiert gar nichts. Dann kommt jemand und schminkt dich drei Stunden. Dann guckst du in den Spiegel und denkst: Krass, wer ist das? Oder vier Design-Studentinnen ziehen dich den ganzen Tag an und aus und zuppeln an dir rum. Manchmal musst du sechs Stunden vor so einer Show da sein. Und wenn du dann raus gehst und läufst, dauert das 30 Sekunden. Echt ey, sechs Stunden wegen 30 Sekunden. Hammer. Aber Arbeit ist das eigentlich nicht. Obwohl, letztes Jahr in Mailand hatte ich mal vier Shows an einem Tag. Da geisterst du bei 40 Grad 12 Stunden durch Mailand, das schlaucht wie Sau. Und trotzdem ist das Gewarte natürlich langweilig. Deswegen wird auch viel gekokst. Ey, wenn du nichts von der Stadt weißt, ne, wo die Dealer stehen, weißt du. Dann geht einer los, kauft bisschen Puder und dann wird Party gemacht. Die Partys sind geil, aber du musst immer aufpassen, dass kein Typ anfängt, dich zu befummeln oder sich mit dir rumzubeißen. Gibt halt viele Homos in dem Business, weißt du ja.

Klar kannst du auch ohne Puder Party machen, aber du kennst ja niemanden, dort. Das sind nicht deine Freunde. Ich dachte immer: Models, Fotografen, Designer, das ist doch eine Familie. Aber Models sind für die der letzte Dreck, wie Putzfrauen für dich. Jeder will modeln, und wer rumzickt, fliegt eben raus, draußen warten schon drei Neue. Du kannst dich nicht darauf verlassen, jemals jemanden wiederzutreffen. Also feierst du einmal schön mit denen und dann verschwindest du.

Krass ist, wenn die Party vorbei ist. Dann sitzt du in einem Raum mit zwei Dutzend Leuten und bist trotzdem allein. Du kannst dich ja auch nicht unterhalten mit denen, weil die alle kein Deutsch können. Und mein Englisch ist echt panne, besonders, wenn ich drauf bin. Hat mich nie interessiert, Englisch. Naja, ewig kannst du das nicht machen. Aber ich bin froh, dass ich es überhaupt machen kann.

Ich habe ja keine Ausbildung oder so. Bin mit der 8. Klasse von der Schule, weil ich keinen Bock mehr hatte. Gab nur Beef mit den Lehrern. Und war halt öde. Naja, mein Elternhaus war nicht das Beste, da gab es nicht so viel Support. Ich habe dann bisschen Fight Club gemacht, um Kohle zu verdienen und gedealt. Eigentlich war ich immer blank.

Und dann war ich eines Tages bei einem Kumpel in Berlin. Wir waren fett feiern und am nächsten Morgen, also eigentlich schon Nachmittag, gehe ich zum Bäcker und da werde ich von so einem Typen angesprochen. Das war ein Scout. Der hat krudes Zeug gefragt. Was ich so mache und ob ich Bock hätte, dass er mal eine Sedcard mit mir fotografiert. Ich hatte keinen Plan, was das ist, aber es klang nach Kohle und ich brauchte Kohle. War goldrichtig, ey.

Kennst du Heidi Klum? Ich bin jetzt bei der gleichen Agentur. Mal kucken, wie lange. Ich bin schon 25. Aber ich sage immer, ich bin 21. Kann ich doch machen, oder? Ich sehe halt jünger aus. Naja, ein paar Jahre wird das schon noch laufen. Die Opis in der Branche sind so 35. Danach kommt nur noch der Otto-Katalog oder die Apotheken-Umschau. Da musst du vorher den Absprung schaffen. Ich will zum Film. Wie Mark Wahlberg. Schaffen nicht viele. Die meisten stürzen total ab. Deswegen: Jetzt schön Kohle scheffeln. Noch geht‘s.

Sagt meine Freundin auch immer. Die macht irgendetwas mit Marketing für eine Pharmabude, aber kriegt nur Dreizehnhundert im Monat. Raus. Das mache ich in einer Show! Da hab ich zu ihr gesagt, zieh‘ doch bei mir ein und spar die die 500 Tacken Miete. Kauf dir lieber was Schönes. Keine Ahnung, schickes Auto oder so. Hat sie gemacht. Jetzt wohnt sie bei mir in Delitzsch. Ja, ich weiß, Delitzsch, krass. Aber ich bin dort geboren und ich will nicht weg. Da sind ja auch meine ganzen Leute. Theoretisch.

Boah, ich freu mich so, die heute Abend zu sehen. Ich habe ihr bisschen Bling-Bling gekauft. Die wird sich freuen. Wobei ich aufpassen muss, dass ich die nicht so verwöhne. Ich will keine verwöhnte Zicke. Ich brauche eine echte Frau. Weißt du, wenn ich meiner Süßen auf den Arsch haue, dann wackelt der noch in drei Monaten. Darauf stehe ich. Und das weiß die auch. Deswegen ist die auch nicht eifersüchtig. Die verhungerten Kokshühner interessieren mich nicht. Ich brauche was zum Anfassen, weißt du. Aber die Hühner dürfen ja nichts essen und trösten sich dann mit Nasen voller Puder. Was willst du mit so einer? Aber klar, es ist hart eine Beziehung zu führen, wenn deine Süße dich nie sieht. Das letzte Mal war ich vor neun Wochen zuhause. Deswegen bringe ich ihr immer was Schönes mit, wenn ich komme. Dann hat sie was an mich zu denken hat, wenn ich weg bin. Kohle ist ja da.

Wenn ich zwanzig Shows mache in einer Woche, sind das 25 Scheine. Im Moment muss ich die Hälfte an die Agentur abgeben. Aber das ist okay. Der Trick ist ja, eine Kampagne zu bekommen. Also Plakate, Anzeigen, Spots und so. Dafür kriegt man 180.000 Tacken im ersten Jahr und für jedes weitere Jahr der Kampagne nochmal 70 Scheine. Also 70 Tausend. Das wäre natürlich der Knaller. Aber ich bin schon zufrieden, wie es jetzt läuft.

Am Anfang war es heftig. Ständig musste ich zu Castings oder Previews und hab dafür keinen Cent gesehen. Jedes Mal habe ich mir fast in die Hosen geschissen. Ich wusste ja nicht, was die von mir wollen. Aber die wollen immer das gleiche: Den Rowdy. Bisschen böse gucken, bisschen Fresse ziehen, bloß nicht lachen. Das war’s. Hatte ich schnell drauf. Andauernd haben die Tussis von der Agentur angerufen, damit ich irgendwo hin fahre. Oder fliege. Ich so zu denen: Ey Leute, ich buttere hier nur rein. Und die so: Ey, chill mal, die große Kohle kommt schon noch! War dann auch so. Läuft.

Ich bin halt der Exotentyp für die. So viele Tattoos wie ich habe. Guck mal hier, sogar meine Geheimratsecken sind tätowiert, da gehen die total drauf ab. Und hier, meine Arme. Das ist meine Mama, hier ein Piratenschiff, da kommen aber noch Wellen hin und so. Der Knaller ist natürlich das Kreuz mit den Engelsflügeln auf meiner Brust. Soll ich das Shirt nochmal ausziehen? Hast du den Drachen auf meinem Rücken gesehen? Ist voll der Kontrast zu den feinen Klamotten. Das zieht den Fotografen total den Stecker.

Manche Klamotten darf ich behalten, wenn sie mir gefallen. Besonders, wenn die voller Schminke sind. Aber dann wäscht man die, und dann sind die wieder cool. Die Hose hier zum Beispiel. Sag mal, findest du auch, dass die am Arsch zu locker sitzt? Meine Agentin in New York sagt das. Und du?

Die meisten Kollegen sind total glatt. Manchmal machen die sich dann so Abziehbildchen-Tattoos drauf. Voll arm. Aber die sind eben derbe jung und haben null Lebenserfahrung. Die finanzieren sich ihr Studium mit dem Modeln, mehr ist das für die nicht. Für mich ist es mein Job. Mein einziger.

Echt, du steigst hier aus? Schade. Tja, dann: Hat mich echt gefreut, dich kennenzulernen. Weißt du, ich texte ja nicht jeden so zu. Aber bei Leuten, bei denen ich Interesse spüre, erzähle ich halt gern mal. Achso, ich heiße übrigens Norman.

Kollegen sind tabu, aber Alkohol ist schlecht für die Deckung

Kollegen sind natürlich tabu. Privates und Dienstliches ist voneinander zu trennen, das hat schon mein Vater gewusst und er konnte das auch erklären: Wenn das Dienstliche privat wird, wird es meistens kompliziert. Meine Mutter und die Sekretärin meines Vaters bestätigen das. Aber diesen einen Kollegen ein klitzekleines bisschen anzuhimmeln, macht mir Spaß und hat mich schon in einigen Sitzungen davor bewahrt, alberne Blümchen in mein Notizbuch zu kritzeln, so wie es meine Chefin macht, der ihrem Notizbuch nach zu urteilen sehr offensichtlich jemand zum Anhimmeln fehlt. So ein bisschen Schwärmerei kann niemandem schaden finde ich, insbesondere dann nicht, wenn schwärmen bedeutet, dem Schwarm gegenüber dermaßen lässig aufzutreten, dass dieser zurecht daran zweifeln darf, ob man seine Existenz überhaupt bemerkt. Aber Alkohol ist schlecht für die Deckung.

Er ist betrunken und ich bin betrunken und schon während er zur Bar torkelt, an der ich auf meinen Mojito warte, denke ich: Meine Fresse, eine Betriebsfeier, wie in den „So bewahren Sie auf einer Betriebsfeier ihr Gesicht“- Ratgeber-Artikeln auf Welt Online. Jetzt reiß dich also zusammen, denke ich, und verliere nicht dein Gesicht, nur weil seines so niedlich ist. Und als er die Bar erreicht sage ich: „Hey Mattis!“ und verkneife mir gerade so das „Wie geht’s altes Haus?“, worauf ich sehr stolz bin, weil es beweist, dass ich noch nüchtern genug bin um zu merken, dass ich nicht lässig klinge, sondern wie ein erkälteter Azubi im Team von Cobra 11. Mattis bestellt das Gleiche wie ich, ohne zu wissen, was ich bestellt habe. Er mag mich vielleicht doch, denke ich, und im nächsten Moment denke ich, ach was, der ist einfach betrunken. Ihm ist egal, was ihn gleich noch betrunkener macht und mir kann egal sein, ob er mich mag oder nicht.

Er klettert auf den Barhocker neben mich und brummt: „Weißt du, Korbi, eins muss ich dir mal sagen.“, und ich denke, reiß dich ja zusammen verliere bloß nicht dein Gesicht und vor allem: nenne mich nie wieder Korbi. Er zündet sich eine an und lässt seinen Blick in die Ferne schweifen und ich muss lachen, weil niemand so schön gender performt wie Mattis Hansen. Aber als der Rauch des ersten Zuges langsam aus seiner Mundhöhle entlang seiner vollen Oberlippe an seinen Bartstoppeln nach oben steigen will und er ihn plötzlich wieder einzieht, wobei er ein rückwärts gesprochenes S macht, fällt mir das Lachen aus dem Gesicht und mir wird ein bisschen heiß. Klischee hin oder her.

„Ich habe ja schon ein Jahr bei euch gearbeitet, bevor ich kapiert habe, dass du schwul bist.“, sagt er und lässt denn Rauch durch leicht geschürzte Lippen entweichen und ich sage „Oh.“ und ziehe die Augenbrauen hoch. „Also eigentlich habe ich es gar nicht kapiert“, sagt er, bevor er den nächsten Zug nimmt, „Jenny hat’s mir erzählt und ich dachte erst, die verarscht mich. Aber dann hast du gesagt, dass du Marco Schreyl heiß findest und da war es dann klar.“ Das einzige, was mir klar wird ist, dass ich mein Gesicht längst verloren habe und zwar irgendwann in einem neonröhrenbeleuchteten Großraumbüro, stocknüchtern aber viel zu redselig. Glücklicherweise muss ich nicht mehr als „Naja.“ antworten, weil Mattis schon weitererzählt.

„Weißt du, ich kenne ja keine Schwulen. Der einzige Schwule, den ich jemals kannte, war beim Bund mit mir auf der Stube und das war voll die Tucke. Der war total anstrengend und hatte es nicht leicht.“ Ich sage „Aha.“, und bete dafür, dass mir dieser Zeitlupenkünstler von einem Barkeeper endlich meinen Mojito serviert, damit ich mir einen Eiswürfel in den Mund stecken kann, und gar nicht mehr antworten muss. Es dauert bis zu Mattis‘ „Aber du bist ja nicht so.“, bis meine Gebete endlich erhört werden und ich mir den Strohhalm zwischen die Zähne klemmen kann, damit meine Zunge ja kein dummes Zeug mit meinen Zähnen formuliert. „Du bist ein gestandener attraktiver Mann.“, sagt Mattis als nächstes und es ist sein Glück, dass ich ihn ein bisschen anhimmle, andernfalls hätte ich ihn jetzt in eine Diskussion darüber verwickeln müssen, was er ungewöhnlich daran findet, dass homosexuelle Männer gestanden und attraktiv sein können, und diese Diskussion verliert man gegen mich. So aber fasse ich das als Kompliment auf und spüre, wie ich puterrot werde.

Als mich Mattis dann fragt, ob ich schon immer schwul war, zerstäube ich mit dem feinen Alkoholnebel, den ich unkontrolliert in die Luft pruste, auch jegliche Hoffnung auf die Existenz Gottes. Mattis guckt mich ernst an, obwohl, ernst ist das falsche Wort. Er guckt so, wie jemand guckt, der mit ehrlichem Interesse das Verhalten eines ihm unbekannten Tieres studiert. Und weil ich ihn nicht bloßstellen will, verschleiere ich meinen Lachanfall zu einem Hustenfanfall. Ich konnte ja nicht ahnen, dass er mir erst fest auf den Rücken klopfen und als nächstes sanft über die Schulter streichen würde. Als ich mich wieder gefangen habe, einige Sekunden nachdem er seine Hand wieder bei sich hat, sage ich: „Ich bin ungefähr so lange schwul, wie du hetero bist.“ und finde, dass ich jetzt gelassener klinge, als ich mich fühle. Mattis zeigt mir sein schönes Lächeln und ich zeige Mattis mein verlegenes Grinsen und wie gut mein Herz mein Gesicht durchblutet, und weil das ja nicht für immer so weiter gehen kann, sage ich: „Aber ich habe schon mal mit einer Frau geknutscht, falls du das meinst.“

Der Barkeeper serviert Mattis seinen Mojito und ich begreife, dass das Gleiche wie ich zu bestellen kein Ausdruck besonderer Sympathie, sondern Zeugnis besonderer Rationalität war. Mattis musste auf seinen Mojito viel kürzer warten, als ich auf meinen und das lag daran, dass der Barkeeper nur einmal zu mixen anfangen musste. „Prost!“, sage ich und Mattis sagt: „Nur einmal?“, und ich denke, wieso soll ich „Prost! Prost!“ sagen, wenn du nicht wenigstens „Prost!“ sagst, aber ich schweige lieber, weil ich befürchte, dass es peinlich werden könnte und das ist klug. Ein paar Sekunden später begreife ich nämlich, dass er das Knutschen meint und nicht das Trinken. „Ja, nur einmal“, antworte ich schließlich, „und das war interessant, weil sich die Frau viel weicher und viel weniger stachlig anfühlte als alle Männer, die ich jemals küsste.“ Mattis nickt langsam und fängt an, mit seinem Strohhalm den Saft aus den Limettenachteln am Boden seines Glases zu drücken, und ich würde einen Zehner dafür geben, zu erfahren, was er denkt. Dann presst er die Lippen zusammen und ich schmunzele darüber, dass er sich für das bisschen Saft so konzentrieren muss. Der denkt gar nichts mehr, denke ich.

„Na klar“, sagt Mathis dann unvermittelt und ohne seinen Blick vom Glas abzuwenden, „man muss alles mal ausprobieren, eigentlich.“, woraufhin mir unwillkürlich der Mund aufgeht. Aber anstatt etwas zu sagen, zum Beispiel „Falls du mal Knutschen mit einem Mann ausprobieren willst, ich schmecke gerade nach Minze, Zucker und Limetten.“, trinke ich lieber einen großen Schluck und starre auch ein bisschen in mein Glas.

Als ich das betretene Schweigen nicht mehr aushalte sage ich: „Lass uns wieder rüber zu den anderen gehen.“ und Mattis sagt:
„Jo.“, aber er sieht mich nicht an. Während ich vom Barhocker klettere, lege ich meine Hand zur Stütze auf seine Schulter und als ich merke, wie hart und warm die ist, ärgere ich mich schon. Hätte ich nur mal mein Gesicht riskiert, um sein niedliches zu küssen. Bis zur nächsten Betriebsfeier muss es erst Herbst, Winter, Frühling und wieder Sommer werden.

Umklammert

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Soweit mein Auge reicht

In dieser Nacht hatte ich kaum geschlafen und stand müde und unruhig vor der gewohnten Weckzeit auf. Ich fuhr in die Kühlanlage der Schlachterei, in der ich seit über 45 Jahren fehlerfrei arbeitete, schaltete die Lichtanlage an und nahm das Fleisch für den Tag heraus. Vorsichtig begann ich das erste Schwein zu filetieren. Ich legte die Rippenbögen frei, trennte die Schulterteile ab und schnitt Lunge und Magen aus dem Bauchraum. An der Blase machte ich eine Pause. Für gewöhnlich machte ich an dieser Stelle immer eine Pause, bevor ich die weiteren Innereien behutsam herauslöste. An diesem Morgen genoss ich das Herauslösen der Innereien besonders, speziell der Blase. Ich hielt die blutverschmierte Blase in das Neonlicht, spülte sie lauwarm aus und tupfte die Wasserreste sorgfältig auf. Dabei schwitzte ich. Manchmal schwitzte ich so sehr, dass einzelne Tropfen von meiner Stirn auf die Blase oder gar in sie hineintropften. Das fand ich jedes Mal eklig, wahnsinnig eklig. Wenn das passierte, säuberte ich sie nochmals; eine schweißverdorbene Blase durfte ich auf gar keinen Fall in mein Haus bringen. Deswegen achtete ich an diesem Morgen besonders auf meinen Schweiß und tupfte, sobald ich ihn bemerkte gründlich mit meinen Fingern über die Stirn. Ich faltete die Blase und legte sie in meinem Taschentuch nach einem jahrelang erprobten Prinzip zusammen. Vorsichtig steckte ich das Taschentuch in die linke Hosentasche. Ich steckte die Blasen immer in die linke Tasche. Links und nur links; etwas anderes kam für mich nicht in Frage. Warum ich das tat, wusste ich nicht, fühlte mich aber dabei wohl. In letzter Zeit tat ich immer häufiger das, was die Psychotante seit meiner Kindheit vorbetete: immer nur das zu tun, was mir Spaß macht.

Nachdem ich die Blase in die Hosentasche verstaut hatte, konnte ich das Arbeitsende kaum erwarten. Die Mittagspause verbrachte ich Zigaretten rauchend auf dem Werkhof. Ich zählte fingerhebend immer wieder die einzelnen Gehwegsteine, die ich vorher grübelnd nach einem bestimmten Ritual auf- und ablief. Wie an solchen Tagen üblich, konnte ich nur wenig essen und musste öfter als sonst die Toilette benutzen. Als mein Chef „Feierabend“ rief, fuhr ich nicht meinen täglichen Weg zur Kirche, sondern gleich nach Hause. Ich warf die Autotür zu ohne sie zu verschließen, öffnete hastig die Haustür, schielte mit einem flüchtigen Blick in den fast immer leeren Postkasten und rannte schnaufend in die obere Etage meines geerbten Elternhauses. Durch die Gardine sah ich hinüber auf das penibel gepflegte Grundstück meiner neugierigen Nachbarin. Diese Frau beobachtete mich seit meiner Kindheit mit halb zusammen gekniffenen Augen durch ihre immer gleiche ovale orangefarbene Hornbrille hinter einer Hecke stehend, beim Straßefegen oder beim Blumen verschneiden; zuerst mit ihrem meckernden Mann und, seit der endlich tot ist, allein. Neugierige Menschen konnte ich noch nie leiden, weder die Neugierde meiner Eltern, die ständig in meiner Abwesenheit mein Zimmer durchschnüffelten, noch die Neugierde meines neuen Chefs, der heimlich meinen Spind in meinen freien Tagen durchwühlt. Gegenüber der Neugierde der Nachbarin fühlte ich mich genauso machtlos, wie damals gegenüber den Schnüffeleien meiner – endlich verstorbenen – Eltern oder meines – immer noch lebenden – Chefs. Mit einem Ruck zog ich die Jalousie herunter und blickte noch einmal kurz durch die Lamellen. Da mir die Erinnerung an die Vergeltungsaktionen gegen die Neugierigen unangenehm war, legte ich mich auf den Fußboden. Ich streckte die Arme und Beine erst in die Luft und danach auf dem Fußboden auseinander und hauchte, wie von meiner Psychotante empfohlen „Mir geht`s gut!“, in den Raum. Langsam schob ich meine Hand in die linke Tasche und holte vorsichtig das Taschentuch heraus. Ich spürte wie die Wärme von meinen Beinen in den Kopf strömte. Ich hielt das Taschentuch in die Luft, drückte dem Stoff einen lang gezogenen Kuss auf, legte ihn auf meinen Körper und atmete tief ein und aus, dass mein Bauch sich wölbte und zusammenzog. Mit einem Schwung stand ich auf und legte das Taschentuch exakt in die Mitte des Tisches. Ich zog die kleine silberne Spülschale unter dem Tisch hervor, nahm die Konservierungsmittel aus dem Wandschrank, holte das dazugehörige Sezierbesteck aus dem Kunstlederköfferchen, stellte die OP-Lampe auf den Tisch, setzte meine beleuchtete Lupenbrille auf und richtete den Lichtstrahl auf das Taschentuch. Als wollte ich mein tägliches Nachtgebet sprechen, legte ich meine Hände ineinander und kniff danach die Finger so fest zusammen, dass sie zu schmerzen begannen. Ich faltete das Taschentuch auseinander und tupfte meine verschwitzte Stirn sauber. Ich nahm das Besteck und begann die Blase lehrbuchmäßig zu konservieren. Prüfend hielt ich sie immer wieder zwischen den einzelnen Handgriffen in das starke Licht der OP-Lampe und begutachtete aufmerksam die Äderchen, die die Haut überzogen. Eine schadhafte Blase durfte ich auf keinen Fall in meinem Haus haben. Auf gar keinen Fall. Meine Blase musste perfekt sein.
Nachdem ich mit der Konservierung fertig war, umwickelte ich die Blase mit einer Angelsehne. Ich nahm die Leiter aus dem Schrank und stieg fünf Stufen hinauf ich hob die Blase feierlich nach oben und hängte sie an die Decke. Dabei rief ich „Wunderschön! Einfach Wunderschön!“. Es war der letzte freie Platz in meinem Kinderzimmer. Der allerletzte. Endlich! Ich sprang von der Leiter, knipste die farbige Lichtanlage an und stellte mich mit geschlossenen Augen in die Mitte des Raumes. Ich genoss den Gedanken an den Moment in dem ich alle alabasterfarbenen Blasen beleuchtet sehen konnte. Ich blinzelte und öffnete, weil ich es einfach nicht mehr aushielt, die Augen. Ich hielt die Hände wie mein geliebtes Vorbild, Johannes Paul, nach oben und freute mich über den wunderbaren Anblick. Es war wie in der Tropfsteinhöhle, als ich meine Eingebung hatte. Ich bin mir nicht sicher, aber manchmal habe ich das Gefühl, ich bin nur deswegen Metzger geworden, ich bin nur Metzger geworden, weil ich mich damals in einer Tropfsteinhöhle verlief. Heute war mir diese Frage völlig egal. Heute waren mir alle schlechten Träume der letzten Jahre, die mir Nacht für Nacht Sorge bereiteten, unwichtig. Ich glaube, ich war glücklich. Vielleicht war ich so glücklich wie nie in meinem Leben. Obwohl ich wusste, wie viele Blasen an der Zimmerdecke hingen, begann ich sie laut und in die Länge gezogen zu zählen. Feierlich sprach ich die einzelnen Zahlen. Erst als ich bei der letzten Blase angelangt war und leise die Zahl „Sechshundert“ zählte, beruhigte ich mich etwas. Ich legte mich wieder auf den Fußboden und spreizte Arme und Beine. „Sechshundert“, flüsterte ich schläfrig, dabei streckte ich die Finger zur Zimmerdecke. „Sechshundert“, flüsterte ich kaum hörbar und drehte mich auf die Seite. „Fünfhundertsiebenundneunzig Schweineblasen soweit das Auge reicht!“
Ich spürte, an diesem Abend musste ich irgendetwas Besonderes anstellen, etwas völlig Außergewöhnliches, irgendetwas, zum Beispiel endlich wieder einmal ins Kino gehen und danach Pizza essen oder ein kleines Bier trinken. Ich schloss die Augen und stellte mir vor, wie es aussehen würde, wenn Schweineblasen von der getäfelten Zimmerdecke hingen, wenn Schweineblasen im teppichausgelegten Flur, in der marmorgefliesten Küche, wenn meine Schweineblasen überall im gesamten Haus an durchsichtigen Angelsehnen herunterhingen. Zum ersten Mal empfand ich kein unangenehmes Gefühl bei dem Gedanken das Haus in eine große, dunkle, kalte Tropfsteinhöhle zu verwandeln.

Wieder stellte ich mir die Frage, warum die zwei Nächte in der Tropfsteinhöhle eine Strafe Gottes auf mein sündenbehaftetes Leben gewesen sein soll und ob meine Eltern und auch der Nachbar aus der Kirchgemeinde wirklich damit recht hatten.

Ich stieg noch einmal die Leiter hinauf und schlug auf die ersten drei Blasen und fluchte: „Von Dir, von Dir und von Dir lasse ich mich nicht mehr einsperren!“

Von wegen Arbeit

Ich sitze in meinem Arbeitszimmer an meinem Arbeitsplatz und will arbeiten. Du sitzt mir mit baumelnden Beinen auf der Schulter und grinst. Du hast recht: Ich arbeite nicht und ich werde heute nicht arbeiten, denn ich bin müde, ich bin fahrig und ich will es zu sehr.

Als ich mich letzten Sonntag nach dem Mittagessen zum Arbeiten zurückziehen wollte, sagtest du – die Spülbürste in der einen und den schmutzigen Teller in der anderen Hand: „Das ist Arbeit. Abwaschen ist Arbeit. Kartoffeln schälen. Einkäufe übers Band ziehen. Aber wenn du Arbeiten sagst, meinst du Schreiben. Schreiben ist doch keine Arbeit.“

Wie heute saß ich daraufhin eine Stunde an meinem Arbeitsplatz in meinem Arbeitszimmer und schrieb nicht. Ich war beleidigt, ich war wütend und ich fand, dass du unrecht hattest: In einem einzigen Jahr schreibe ich einundsechzig Artikel und vierzehn Kurzgeschichten. Für einige davon, brauche ich mehrere Wochen, auch wenn du ihnen das nicht anmerkst. Ich lektoriere einen fremden Roman und fange einen eigenen an. Ich versichere dir, dass das sehr wohl Arbeit ist. Nur jemand, dessen Schreiben sich im Verfassen von Eingaben und im Anlegen von Einkaufslisten erschöpft, kann finden, Schreiben sei keine Arbeit.

Dies sagte ich dir, als ich mein Arbeitszimmer aufschloss, mitten in dein freundliches Gesicht. Aber statt dich zu empören, hast du dich auf den Esstisch gesetzt, die Pantoffeln einige Zentimeter über dem Parkett baumeln lassen und erklärt: „Wenn man arbeitet, arbeitet man für ein Resultat: saubere Teller, Kartoffelklöße, Geld für die Miete. Aber wenn du schreibst? Du schreibst doch nicht, damit du fertig wirst. Das würde auch gar keinen Sinn machen, denn überhaupt mit dem Schreiben anzufangen ist ja dein freier Wille. “
Nachdem ich dich an meinem Fingern abzählend darüber belehrt hatte, dass es 1.) „Sinn ergeben“ und nicht „Sinn machen“ heißt und dass Sinn 2.) eine Erfindung der Menschheit ist und der freie Wille – das war 3.) – nach dem Stand der Forschung auch, ging ich eine Stunde mit der Hündin spazieren oder sie mit mir, denn ich war es, der ihr hinterher trottete. Ich ärgerte mich, ich fror und mir gefiel nicht, dass du Recht hattest: Wenn ein Text am Sonntag fertig ist, dauert die Freude darüber bis ungefähr Mittwoch. Sie verblasst wie das Erholtsein nach einem Urlaub. Sie geht auf oder über in: Aufstehen, Hunderunde, Erwerbsarbeit, Hunderunde, Abendessen, Fernsehen, Hunderunde, Schlafen. Dagegen hilft: Schreiben. „Ich schreibe fürs Schreiben!“, zeterte ich, „Denn der Weg ist das Ziel!“ Meine Hündin blieb ratlos stehen und drehte sich langsam nach mir um. Das Stöckchen flog weiter als sonst.

„Du verstehst nicht, was ich tue.“, sagte ich beim Schuhe ausziehen statt Hallo.
„Aber du verstehst es? Hast du Kuchen mitgebracht?“
„Und ob. Gilt für beide Fragen.“

„Darf ich?“ wolltest du wissen, als wir saßen. Ich dachte, du meintest den Kuchen und nickte irritiert, aber nein, du meintest das Wort; auch gut, bitte. Ich ertrug, wie du das Schreiben als mein Hobby bezeichnetest und es mit anderen Hobbies, zum Beispiel dem Modelleisenbahnbau verglichst, für den man eben Muse und Konzentration brauche. Ich schwieg, als du Worte wie „Fantasiereisen“, „Rollenwechsel“ und „Erlebnisbewältigung“ aussprachst, aber ich stöhnte, als du mir die banale Suche nach Applaus unterstelltest, was mitnichten damit zu tun hatte, dass ich mich ertappt fühlte, sondern lediglich damit, dass ich hart auf einen Kirschkern biss.

Freilich, das zu hören gefiele mir nicht, fuhrst du fort, aber wenn ich diese Wahrheit endlich annehmen könnte, wäre ich bestimmt entspannter und müsste mich nicht länger mit täglichen Schreibzeitfenstern quälen, sondern schriebe nur noch dann, wenn mir danach wäre. Das würde meinen Texten sicher nicht schaden; nichts gegen meine Texte, die würden dir gefallen, aber vielleicht gelte in Fachkreisen auch hier Qualität vor Quantität.

Allerdings, aber das wisse ich hoffentlich, würden mich bessere Texte auch nicht zu einem besseren Menschen machen; ich sei ein guter Mensch, auch ein wertvoller, dass müsse ich niemandem beweisen. Du beispielsweise liebtest mich ja nicht wegen meiner Texte, vielmehr – ich dürfe dir das nicht übel nehmen – würde dir die ewige Schreiberei zuweilen einiges an Toleranz abverlangen.

Ich spuckte den Kirschkern auf den Teller damit es klirrte und danach endlich Ruhe war. Erschrocken sahst du mich an. Ich hielt deinen Blick; wer zuerst zwinkert hat verloren; du zwinkertest, ich gewann, ich gewinne immer.

Heute gewinnst du: Ich streiche dich von meiner Schulter, klappe den Rechner zu, schließe mein Arbeitszimmer ab und lasse mir ein Bad ein.

„Und was ist mit den Geschichten?“, fragte ich dich am letzten Sonntag, nachdem auch ich die Augen nicht mehr offen und die Lippen nicht mehr geschlossen halten konnte.
„Welche Geschichten?“, wolltest du wissen.
„Na, die von dem Vögelchen, das in meiner Jackentasche lebt, zum Beispiel.“
„In deiner Jackentasche? Ein Vogel? Erzähl!“

Die Sprachspielerin

Noch in der Hängematte sitzend, überlegt die Sprachspielerin, welche ferne Kultur sie sich für den Sonntag ausdenken möchte. Wahllos plappert sie Lautgebilde in verschiedenen Tonlagen ineinander und übt die dazugehörige Gestik und Mimik. Ist sie damit fertig, klettert die Sprachspielerin aus der selbst geflochtenen Schlafschaukel zwischen den deckenhohen Papppalmen herab und denkt sich die dazu gehörige Speise aus. In ihren großen Töpfen rührt sie die Zutaten zusammen und übt nebenbei ihre frisch erfundene Wochenendsprache.

Wird es Abend, holt sie die passende Verkleidung aus dem Schrank, schminkt sich ausgiebig, zieht eine ihrer unzähligen Perücken über den Kopf und steckt farbige Ringe und Armbänder an. Als fremdländische Besucherin stolziert sie für alle geschwätzigen Nachbarn gut sichtbar langsam auf der Treppenanlage des ererbten Elternhauses auf und ab. Wie in ihren Kindertagen stolpert sie scheinbar hilflos die dunkel werdenden Straßen entlang. Kommt sie außer Puste an die Haltestelle, greift sie sich ans gepuderte Doppelkinn oder kratzt ihr grau meliertes kurzes Haar unter der Perücke. Geräuschvoll reibt sie mit den vielberingten Fingern an der Glasfläche des Fahrplanes. Spricht sie einer der Wartenden an, verneigt sie sich verlegen und beginnt im gekünstelten Tone hastig zu stottern. Im grammatikalisch falschem Deutsch fragt sie nach dem Weg zum Krankenhaus in dem sie arbeitet, erkundigt sich nach der Stadt in der sie seit ihrer Geburt wohnt oder nach dem Flugplatz, den sie noch nie benutzt hat und auch niemals zu betreten beabsichtigt. Generös öffnet sie ihre große Handtasche und holt selbst gestaltete Geldscheine heraus, die stets bei sich trägt. Für jede Antwort verschenkt sie einen bunten Schein. Wortlos steigt sie in die Bahn, winkt den Wartenden mit einem Lächeln zu und fährt davon.

Gelangt die Sprachspielerin am Sonntagabend zur Tatortzeit ins Krankenhausgelände, klopft sie ans Fensterchen des Pförtners und begrüßt ihn mit ihrer eigens entwickelten Wochenendsprache. Sie übergibt ihm Zettel mit Vokabeln oder Grammatikübungen und erklärt ihm geduldig die von ihr neu entwickelten orthografischen Finessen. Es gibt Mitarbeiter die immer wieder behaupten, dass die fremdländische Besucherin nur dann nachts in Erscheinung treten soll, wenn der Pförtner einen seiner seltenen Wochenenddienste leistet. Hat die Sprachspielerin dem Pförtner ihr frisch erfundenes Land und ihre Verkleidung für den Abend ausführlich erklärt, wartet sie bei einem Pott schwarzem Tee und liebevoll verziertem Gebäck der Pförtnersfrau bis es im Turm des Mutterhauses endlich Zehn schlägt. Verlässt der Spätdienst die Stationen und klettert der Belieber am herabgelassenen Betttuch einer ungeduldig wartenden Schülerin ins Schwesternwohnheim hinauf, nimmt die Sprachspielerin den Schlüssel von der Wand und schließt die nach Reinigungsmittel riechende Wäscherei auf. Unbemerkt schleicht sie an der Besungenen vorbei, die Liebeslieder vor sich hinträllert und unentwegt in den meterhohen Haufen der verschmutzten Patientenwäsche nach Nachrichten wühlt, die an sie gerichtet sein könnten. Mitleidig schüttelt die Sprachspielerin den Kopf, stellt sich in den Fahrstuhl und fährt ins Dachgeschoss. Dort beginnt sie ihre Route, die sie immer nur zur Sonntagnacht absolviert. Sie schlüpft in dunkle Zimmer und unterhält sich mit Patienten über ihr fernes Land. Meist reicht sie ihnen eine angeblich landestypische Speise oder Wunder wirkende Essenzen seltener Kräuter in alkoholischen Auszügen. Dabei führt sie ihnen die mitunter sehr merkwürdigen Sitten und Gebräuche ihrer unbekannten Kultur vor oder massiert sie nach jahrtausendealten und absolut bewährten Heilmethoden. Immer wieder wird auch von unglaublichen Begebenheiten in den dunklen Patientenzimmern berichtet. Regelmäßig kommt es am darauf folgenden Morgen vor, dass sich Patienten für die schmackhafte Speise wortreich beim ungläubigen Koch bedanken. Einige der Patienten humpeln noch vor dem Frühstück in die Krankenhausbibliothek um in dicken Bildbänden nach dem unbekannten Land zu blättern. Und berichten Patienten zur Visite voller Freude von wilden Nächten und betteln sie im Anschluss nur noch von der unbekannten Nachtschwester gepflegt zu werden, verordnet der Stationsarzt umgehend Psychopharmaka und weist sie in die geschlossene Abteilung ein.

Seilt sich bei Sonnenaufgang der Belieber am Betttuch einer frisch abgeliebten Schülerin hinab und zieht die von ihm Beliebte seufzend das zerknitterte Laken wieder herein, beendet die Sprachspielerin abrupt ihren Rundgang. Sie schleicht durch den dunklen Keller zurück zur Wäscherei an der nun eingeschlafenen Besungen vorbei. Wieder erinnert sie sich, dass sie eine eigens verfasste Nachricht für die Besungene mitbringen und in den schmutzigen Wäschehaufen verstecken wollte. Mit dem ehrlichen Wunsche, diesen Vorsatz am kommenden Sonntag auf keinen Fall zu vergessen, schließt sie leise die Tür ab und eilt zum Pförtner. Sie hängt den Schlüssel an das Wandbrett und gibt ihm einen dicken Kuss für seine treue Verschwiegenheit. Sie nimmt die von ihm frisch ausgefüllten Übungsblätter entgegen und rennt zur Straßenbahnhaltestelle. Findet sie auf der Heimfahrt einen der Fahrgäste unsympathisch oder will sie dessen Platz in der überfüllen Bahn ergattern, rempelt sie ihn an und beschwert sich in ihrer Wochenendsprache laut über ihn. Aufgeregt verlangt sie den Ausländerbeauftragten oder gar die Polizei. Und nur wenn der Betreffende sich entschuldigt, setzt sie sich an dessen nun leeren Platz und knabbert geräuschvoll die von der Pförtnersfrau aufwendig verzierten Plätzchen. Danach schläft sie erschöpft ein. Kommt der schüchterne Kontrolleur vorbei und fleht er sie an, ihm doch endlich einen gültigen Fahrschein vorzuzeigen, plappert sie wieder so lange auf ihn ein, bis er auch an diesem Morgen heulend von ihr Abstand nimmt und beschämt die Bahn verlässt. Gähnend schaut sie dem Flüchtenden aus dem werbebeklebten Fenster hinterher.

Kommt sie zuhause an, setzt sie sich an den Frühstückstisch und isst die Reste der zubereiteten Patientenspeise. Mit fettigen Fingern blättert sie neugierig in den dicken Reisekatalogen, ohne jedoch den Wunsch zu verspüren jemals selbst eine der dort angebotenen Reisen antreten zu wollen.
Pünktlich zum Montagmittag fährt sie mit ihrem kaputten Fahrrad und in studentisch wirkender Verkleidung in die nahe gelegene Universität. Mit einem gut gefälschten Semesterausweis geht sie zu verschiedenen Vorlesungen. In der Mensa erklärt sie ausschweifend und unter Tränen dumm fragenden Studenten ihre frisch erfundene Heimat, die leider vom Rest der Welt immer noch nicht diplomatisch anerkannt wurde. Bei Seminaren, in denen sie eifrig mitdiskutiert, ist es mehr als einmal vorgekommen, dass Professoren resigniert die Kreide nach ihr warfen. Das hält sie aber überhaupt nicht davon ab, weiterhin zu ihren Sprachspielen ausführliche Hausarbeiten zu verfassen und namenlos in die überfüllten Postfächer der Professoren zu legen. Und sie ist mehr als zufrieden, wenn es eine ihrer unzähligen Arbeiten schafft, Gegenstand von Diskussionsrunden zu werden.

Kommt die Sprachspielerin am Abend ins leere Elternhaus zurück, holt sie eine Flasche Wein aus dem gut sortierten Weinkeller. Sie bürstet die unscheinbare Robe für den langweiligen Rezeptionsdienst aus, den sie seit Jahren in der Aufnahme des Krankenhauses unauffällig absolviert. Lustlos bügelt sie über das weiße Hemd, putzt die schwarzen Schuhe und steckt das messingfarbene Namensschild verkehrt herum an das Revers.
Angetrunken erklimmt sie mühsam die Papppalme und lässt ihren kräftigen Körper mit einem Tarzanschrei in die Hängematte fallen. Sie rollt sich zusammen und denkt an die schönen Stunden die sie mit dem Belieber in ihrem selbst gebauten Urwald erlebt hat. Sie schließt die Augen und bastelt weiter an der betörenden Liebessprache, die es dem Angesprochenen unmöglich machen soll, der Erzählenden zu widersprechen. Und sie weiß sehr genau, wem sie mit diese Sprache zuerst wehrlos machen wird. Damit es auch weiterhin ihr Geheimnis bleibt, tastet die Sprachspielerin in einen der vielen Beutel, holt ein breites Pflaster heraus und drückt es auf die plappernden Lippen.

Würde man den Pförtner nach ihr befragen, würde er die Hände ineinanderschlagen und antworten, dass es ihm bei aller Mühe immer noch nicht gelungen sei, herauszufinden, warum sie zu DDR-Zeiten keine Abiturprüfungen ablegen durfte. Nachdenklich würde er sich am Hals kratzen und flüstern, dass ihr Spiel spätestens nach seiner Pensionierung auffliegen wird.

Quad Blanche

Ich bin ein vernünftiger Mensch. Ich habe mein Auto verkauft, weil ich es als Luxus empfand und mich mit sehr offensichtlichem Luxus immer ein bisschen unwohl fühle. Ich lebe in Städten und zwar in solchen, in denen Busse, Bahnen und sogar U-Bahnen fahren. Außerdem verbindet mich eine innige Liebesbeziehung mit meinem Fahrrad. Und seit dem Sommer auch mit meinen Füßen.

Eine Kollegin erzählte mir neulich mit leuchtenden Augen, dass ihr Mann vorhabe, sich ein Quad zu kaufen. Eine tolle Zeit würde das: sie und er auf dem Quad und den Wind im offenen Haar. Während ich überlegte, was genau das eigentlich sei, ein Quad, sprudelten Sätze aus ihr heraus, die Verben wie „heizen“, „brettern“ oder „düsen“ enthielten und auf „herrlich“ endeten.

“Aber warum?”, fragte ich. “Warum was?”, fragte sie. “Warum ein Quad?”, entgegnete ich. “Warum nicht?”, entgegnete sie. “Ich denke, ihr wollt Kinder?”, sagte ich. “Ja, und?”, sagte sie. “Wäre ein Combi da nicht sinnvoller?”, schlug ich vor. “Doch”, gab sie zu, “aber es geht nicht um Sinn bei einem Quad. Es geht um Spaß.“ Als ich die Stirn runzelte, ergänzte sie: „Weißt du, Spaß ist, was man hat, wenn man nicht nachdenkt.” Daraufhin ging sie und ich schwieg.

Wenige Tage später entdeckte ich ein Quad auf meiner abendlichen Hunderunde. Das Gefährt stand im Hinterhof einer benachbarten Wohnanlage. Es sah traurig aus. Es wollte gefahren werden. Weil es dunkel war und ich mich unbeobachtet fühlte, stieg ich kurz auf. Mir gefiel, was die Sitzhaltung mit meiner Laune machte: Ich wollte heizen, brettern und düsen. Herrlich. Auf dem Heimweg stellte ich mir vor, wie Heiko hinter mir sitzend die Arme um meinen Bauch schlingt und kichert.

Heute morgen kam ich wieder an dem Gefährt vorbei.

Quad Blanche
Quad Blanche

Herr Auskunft

Schon in der Aufwachphase überlegt Herr Auskunft noch in seinem flauschigen Bette liegend, welche Informationen er für den beginnenden Tag abgeben möchte. Er gähnt in die dicken Kissen und murmelt zusammenhangslose Worte in den Raum. Verschlafen dreht sich Herr Auskunft auf die Seite und spielt mit den Fingerkuppen sanft über die Lippen. Blubbern weitere Worte heraus, formt er sie zu Sätzen zusammen. Er legt sich auf den Rücken, öffnet die Augen und schiebt die Hände unter den Kopf. Seelenruhig durchdenkt er das Geblubber und vermengt es mit den verbliebenen Erinnerungsfetzen seiner nebulösen Nachtträume. Und nur, wenn wenigstens zwei reißerische Nachrichten für den Tag entstehen, verlässt er sein kuschliges körperwarmes Bett. Anderenfalls bleibt Herr Auskunft trotzig zwischen den vielen aufgestapelten Kissen liegen, greift zum Telefon, das in auf dem Nachttisch steht, verstellt die Stimme und meldet sich mit starkem Halsweh oder einem Fieberschub krank.

Auf dem Weg zur Arbeit streut Herr Auskunft erste Informationen in den Fahrgastraum der Straßenbahn. Will er deren Wirksamkeit prüfen, spricht er den genervten Fahrer, rumklapsende Schulkinder oder prahlende Jugendliche an. Haben sie ihm die Information abgenommen, unterfüttert er diese mit weiteren Details. Dabei studiert er aufmerksam die Reaktion der Zuhörer. Konnte er sich einen ersten Eindruck über die Wirkung seiner Nachrichten verschaffen, verlässt er hastig den Wagon und eilt in den zweiten und dritten, um auch dort seine Nachrichten unter die müden oder morgenschwatzenden Fahrgäste zu bringen.

Gelangt Herr Auskunft nach der vielen Rumfahrerei endlich an die Krankenhauspforte, versucht er auch dem sprachfaulen Pförtner eine seiner vermeintlich heißen Nachrichten zuzuflüstern. Dieser schüttelt meist ungläubig den ergrauten Schopf, kratzt sich demonstrativ an der faltigen Stirn oder puhlt mit beiden Händen gleichzeitig in den abstehenden Ohren. Misswillig winkt er den säuselnden Herrn Auskunft unter der geschlossenen Schranke hindurch. Erscheinen ihm jedoch die Informationen absolut abstrus, öffnet er mit einem breiten Lächeln den Schrankenbaum und verbeugt sich. Und während Herr Auskunft versucht darunter hindurch zu schlüpfen, schließt der Pförtner die Schranke.

Mit einer Beule am Kopf schleicht er in den Umkleideraum der Kantine. Dort erzählt er, seinen Hinterkopf reibend, beiläufig Neuigkeiten über eine bevorstehende Scheidung oder das Verschwinden von Kindern beliebter Mitarbeiter, den Ruin eines vermögenden Chefs und dessen logischen Freitod. Sind die Kollegen davon gesättigt, eilt Herr Auskunft zufrieden in die Küche, schneidet den bereit liegenden Berg Brötchen auf und schmiert sie schnell mit Butter, Wurst und Käse. Hastig sortiert er das Frühstückbuffet in die Auslage und wartet auf den Zehen wippend ungeduldig an der Kasse auf die ersten hungrigen Mitarbeiter. Kommen diese mit knurrendem Magen an sein Buffet, rechnet er deren Einkauf langsam und in aller Ruhe ab. Meist muss er die angeblich abgelaufene Abrechnungsrolle wechseln, wegen vermeintlicher Rückenschmerzen seinen Stuhl anders ausrichten oder seine schwitzende Stirn unter Stöhnen abtupfen. Die Zeit nutzt er vor den Wartenden selbstredend um von einer Kündigungswelle, einer Totalpleite des Unternehmens und unausweichlichen Lohnabschlägen leidenschaftlich zu berichten. Stets bereitet es Herrn Auskunft größte Freude dackelhaft in die erstaunten Gesichter zu sehen und sie dabei mit freundlicher Stimme nach weiteren Essenswünschen zu fragen. Vergessen die Mitarbeiter vor Entsetzen das Tablett mit dem Becher Kaffee und den frisch belegten Brötchen, ruft er ihnen hilfsbereit hinterher. Unter konspirativem Geflüster, rückt er näher an die Mitarbeiter heran und reicht das eben Vergessene. Zittern sie und schwappt infolge dessen der Kaffee auf das Tablett oder purzeln die Brötchen auf den Fußboden, umgreift er sorgenvoll deren Hände, drückt diese an seine Brust und versichert im geheimnisvollen Tone, dass es schon nicht all zu arg kommen werde. Fast unhörbar flüstert Herr Auskunft, dass er sie weiterhin unaufgefordert und unter eigener Gefahr unterrichten werde. Mit dieser Methode verfährt er, bis alle ausreichend abgefertigt wurden.

Zum Mittagsbuffet, wenn Herr Auskunft die Salate liebevoll angerichtet hat, die warmen Speisen in den Töpfen dampfen und mit mediterranen Kräutern garniert sind, streut er an seiner Kasse sitzend, eine zweite und noch gewaltigere Information in die Kantine. Hat sich diese in allen Fluren und Zimmern des Krankenhauses ausgebreitet, kommt es vor, dass die Geschäftsführung die überfüllte Kantine oder andere Teile des Krankenhauses absperren lässt. Und es ist mehr als einmal passiert, dass panische Patienten wegen falschen Feueralarms evakuiert werden mussten, dass Mitarbeiter mit Mundschutz ängstlich auf Arbeit erschienen und dass das Hygieneamt hektisch Fußböden und Decken desinfizieren ließ. Selbst die Antiterrorgruppe scheint seit Jahren Dauergast zu sein und hat verschiedene Kellergewölbe, Wände und die Kanalisation nach versteckten Waffenlagern durchbrochen, hat blumengeschmückte Gartenanlagen wegen vermeintlicher Fliegerbomben durchpflügt, hat abgestellte Koffer gesprengt und verdächtige Pulverhäufchen geprüft.

Kommt Herr Auskunft nach solch einem ereignisreichen Tag in seine kleine Wohnung, zieht er den Hausanzug an und legt sich zufrieden ins flauschige Bett. Er schließt die Lider und lässt noch einmal genüsslich die angstverzerrten Gesichter in Zeitlupe an seinem inneren Auge vorbeiziehen. Sorgfältig analysiert er alle abgegebenen Informationen. Hat er die Analyse abgeschlossen, greift er im Nachttischfach nach der selbst gebauten Messskala und benotet sich selbstkritisch von eins bis zehn. Anschließend steht er auf, kocht Kaffee, holt den am Abend vorgebackenen veganen Kuchen aus dem Kühlschrank und erwärmt zwei Stück in der Mikrowelle. In kleinen Kringeln sprüht er Dosensahne auf den Zuckerguss und beobachtet wie sie schmilzt.

Zufrieden setzt sich Herr Auskunft auf das Plüschsofa, schaltet den Fernseher an und legt die Stoppuhr zwischen Kuchengabel und Fernbedienung. Geduldig wartet er auf den ersten Anruf. Klingelt das Telefon,
beantwortet er mit vollem Mund bereitwillig alle ihm gestellten Fragen. Ab und zu unterbricht er den Anrufer mit geheimen Informationen, die er ihm flüsternd und exklusiv zusteckt. Ist das Telefonat beendet, klatscht er in die Hände, streckt die Arme abwechselnd rhythmisch in die Luft. Hat hingegen ein aufgebrachter Abteilungsleiter angerufen oder eine erstaunte Stationsschwester stundenlang mit ihm telefoniert, springt er vom Sofa, dreht sich mehrfach um die eigene Achse und tanzt nicht weniger als vier Mal ausgelassen um den Wohnzimmertisch. Vor dem Fernsehgerät bleibt er anschließend atemlos stehen.

Geht Herr Auskunft nach den unzähligen Telefonaten am Abend schlafen, schreibt er exakt alle eingegangenen Anrufe auf. Je verzweifelter die Stimmen aus dem Hörer klangen, desto breiter malt er den Strich in das dicke Heft. Er legt es unter eines seiner vielen Kissen, kuschelt den Lockenkopf mit den vielen Sommersprossen in die Federn und fühlt sich seinem Traum nah, dass bald die Krankenhausleitung, der Staatsminister oder gar die verschiedenen Radiosender bei ihm anrufen würden. Mit diesem Gedanken schließt Herr Auskunft die Augen, dreht sich auf die Seite und gähnt. Verspielt zupft er an den Lippen, murmelt unverständliche Wortfetzen in den Stapel Kissen und schläft sorglos ein.

Stoppelmanns Zähne

„Guten Tag!“, sagte sie. Das gehörte zu ihrem Job. Und nur die Besten konnten das so, dass es die Kunden auch glaubten. Sie konnte das, wenn sie etwas gegen ihre Kopfschmerzen genommen hatte. In den sechs Jahren, die sie hier war, hatte sich noch keiner über sie beschwert.

Der Stoppelmann nickte, schwieg aber. Manchmal murmelte er etwas. Aber er sprach nie. Sie mochte ihn, er wusste das. Wann immer sie in einer Kassenbox saß, wenn er alles beisammen hatte, zahlte er bei ihr. Oft wollte sie ihn fragen, wie er heißt, damit sie ihn beim nächsten Mal mit Namen begrüßen könnte. Aber eine Frage von ihr hätte eine Antwort von ihm verlangt. Sie respektierte seine Grenze. Job ist Job.

Dabei meinte sie es gut mit ihm. Sie wollte ihm eine Zahnärztin empfehlen. Eine liebe Omi, zu der sich sogar ihr Vater getraut hatte. Die war ganz vorsichtig und redete nicht viel. Der Vater musste da zwar hundertmal hin, aber danach konnte er wieder ungeniert lachen. Und er hatte doch immer so gern gelacht.

Damit die Zähne schön weiß blieben, würde sie dem Stoppelmann später auch den Trick erklären. Sie hatte ihn von der Frau in der Apotheke. Von der, die ihr immer ihre Kopfschmerztabletten verkaufte. Weil sie so oft in die Apotheke ging, dachte die Apothekenfrau wahrscheinlich, sie wären Freundinnen. Warum sonst hätte sie ihr letzte Woche den Trick verraten? Jedenfalls: Mit dem hätte es ihr Vater geschafft, seine schlechte Angewohnheit zu überwinden. Und der Stoppelmann könnte es so auch schaffen.

Er vertraute ihr. Nur bei ihr kaufte er sechs Schachteln auf einmal. Und bei keiner anderen Kollegin legte er gleich zwei Flaschen Pfefferminzlikör aufs Band. Sie beobachtete das vom Backstand, wenn sie dort aushalf. Selbst bei ihr versteckte er die Flaschen unter einer Zeitung, die sie geschickt nur soweit anhob wie nötig, um die Strichcodes zu scannen.

Stoppelmanns Frau musste auch Kassiererin gewesen sein. Sie musste ihm erzählt haben, wie im Pausenraum über Kunden gesprochen wird. Mit seinen zur Entschuldigung hochgezogenen Schultern bat er sie, kein schlechtes Wort über ihn zu verlieren. Und auch den Ladendetektiv nicht auf seine Manteltaschen anzusetzen. Scharf wie ein Terrier war der. Sie versprach es mit einem Zwinkern. Lang genug, damit er es als verständiges Nicken lesen konnte. Kurz genug, um nicht als Schäkerei missverstanden zu werden. Dienst ist Dienst.

Stoppelmanns Frau war schon ewig weg. Der Länge seiner Haare nach zu urteilen, mindestens drei Jahre. Vor einer Weile hatte er wohl eine Freundin in Aussicht. Da hat er ein paar Mal Pralinen gekauft. Ist aber nichts draus geworden. Jetzt kaufte er wieder Knackwurst. So oder so, ihr war er zu alt. Und außerdem: Einen Mann mit schlechten Zähnen küsst keine Frau gern, auch keinen lieben. Da war sie sich mit ihrer Mutter einig. Obwohl sie einen Ehemann nicht wegen schlechter Zähne verlassen würde, wie ihre Mutter. Dass verspricht man sich doch, wenn man heiratet: dass man sich immer hilft. Sie würde ihren Ehemann einmal gut behandeln.

Als der Stoppelmann plötzlich vormittags zum Einkaufen kam, war ihr gleich klar, dass er bald knapp bei Kasse sein würde. Geld ausgeben in der Zeit, in der andere es verdienen, geht nicht gut. Mit den trockenen Schwielen an seinen Händen verschwanden auch die Euros auf seinem Konto. Sie sah das an seinen Einkäufen. Nudeln, Dosenfleisch, Ketchup.

Wie ungerecht das war! Der Stoppelmann war so fleißig! Wie viele Male war er mit putzverkrusteten Hosen einkaufen gewesen? Die waren bestimmt nicht beim Kaffeetrinken schmutzig geworden. Jeder, der seinen verzerrten Mund sah, wenn er sich den Rucksack mit den schweren Flaschen auf den Rücken wuchtete, musste doch kapieren, dass er nicht mehr als Maurer arbeiten konnte. Mit so einem kaputten Rücken! Als Maurer! Sie hätten ihm eine andere Arbeit geben müssen, im Büro, irgendwas, oder als Anstreicher. Aber nichts!

Vielleicht haben sie ihn auch rausgeschmissen, weil sie dachten, er trinkt. Solche Idioten! Haben die ernsthaft geglaubt, er braucht den Pfeffi, damit es dreht? In der Arbeit? Unter der prallen Sonne? Dummköpfe! Wie soll jemand gerade Mauern hochziehen, wenn er besoffen ist?

Ihr Vater hatte ihr damals erklärt, warum man Pfefferminzlikör trinkt. Aus drei Gründen: Erstens will man den schlechten Geruch überdecken. Kaputte Zähne stinken und man kommt nun mal nicht überall durch, stumm wie ein Fisch. Zweitens will man die Zahnfleischentzündungen desinfizieren. Die heilen nur, wenn sie keimfrei sind. Weiß jeder! Drittens will man, dass es nicht mehr weh tut. Wer mal richtige Zahnschmerzen hatte, weiß, dass man alles macht, um sie loszuwerden. Aber wie sollte sie ihm helfen, wenn sie ihn nicht zum Antworten zwingen wollte? Sie musste nachdenken. Aber ihr Kopf!

Mittlerweile kaufte er die Wurstpackungen mit den roten Sonderetiketten und das geschnittene Graubrot in Plastiktüten. Dabei hatten sie am Backstand in der Filiale jeden Tag eine andere Sorte in der Aktion, die leckerer war als seine. Und gesünder. Und billiger, immerhin 60 Cent. Am liebsten würde sie ihn mal fragen, wieso er das macht. Aber er würde ja nichts antworten. Seine Zähne mussten schlimm aussehen. Sie erinnerte sich an die ihres Vaters. Sie verstand seine Scham. Aber wie ihre Mutter, verstand sie absolut nicht, warum Männer ihr Geld so verplempern.

Als er neulich Schweinelende von der Bedientheke aufs Band legte und Wildlachs aus der Eiswürfelkühlung und den teuren Spreewald-Pfefferminz, wollte sie ihm schon gratulieren, zur neuen Arbeit. Mit einem strahlenden Lächeln, nicht mit Worten, natürlich. Dann aber bemerkte sie den blassen Streifen an seinem Ringfinger. Und als sie sah, dass auch die Silberkette um seinen Hals verschwunden war, wurde sie sauer. Während der Stoppelmann die 12,40 € aus seinem Portmonee kramte, erkannte sie das dünne hellblaue Quittungspapier im Geldscheinfach. Es war vom dicken Pfandleiher am Steinweg. Er gab es aus für die wertvollen Dinge, die er sich borgte und dann verscherbelte.

So ein Mistkerl! Den silbernen Anhänger ihrer Omi hatte er verhökert, obwohl der Vater ihm den nur geliehen hatte. Und auch die Granat-Ohrringe waren futsch, als sie sie am Zahltag abholen wollte. Dem Pfandleiher gönnte sie keinen weiteren Reibach, der war fett genug.

Während sie das Wechselgelt für die 15 Euro abzählte, die ihr der Stoppelmann gegeben hatte, nahm sie ihren Mut zusammen. Sie griff den Kuli für die Kartenzahlungen und riss den Kassenzettel von der Rolle. Auf die Rückseite kritzelte sie:

Frau Dr. Oettmeier
Kurt-Eisner- Ecke Kochstraße
Dienstags ab 8 Uhr.

Zusammen mit den Münzen streckte sie ihm den Zettel entgegen: „Ich möchte, dass Sie heute ihren Kassenbon mitnehmen.“

Der Stoppelmann sah sie aus großen Augen an und nickte. Sie zwinkerte noch einmal. Langsam nahm er den Kassenzettel. Wie sie das freute! Wenn dann bald alles wieder in Ordnung ist, mit seinen Zähnen, würde sie ihn beiseite nehmen und ihm den Trick verraten.

Sie würde sagen: „Und wenn sie morgen früh aufstehen, dann lassen Sie die Flasche Pfefferminz einfach zu. Sie brauchen sie jetzt nicht mehr, mit ihren schönen Zähnen. Also müssen Sie die Gewohnheit loswerden, so sparen Sie viel Geld.“ Sie würde ihm eintrichtern, sich vorzunehmen: „Heute trinke ich keinen Pfefferminz. Nur heute nicht. Morgen darf ich wieder. So viel ich will. Aber heute? Nö, heute will ich nicht. Heute lasse ich es. Wird ja kein Problem sein, es einen Tag zu lassen.“ Und sie würde sagen: „Dann lassen sie es. Verstehen Sie? Sie lassen es! An diesem Tag. Und am nächsten Tag“, würde sie kichern, „Am nächsten Tag machen sie es einfach genauso. Und dann wieder. Und so können Sie sich selbst überlisten. Nach ein paar Tagen haben sie den Likör vergessen. So einfach ist das.“

Der Stoppelmann hatte den Bon gefaltet und sorgsam vor die Quittung des Pfandleihers gesteckt. Als er sein Wechselgeld aus ihrer Hand sammelte, sah sie ihn an. Mit geschlossenen Lippen lächelte er, bevor er seinen Einkaufswagen in Richtung Ausgang schob.

Manni + Horst

Es ist 3:50 Uhr. Ein Montagmorgen im März. Aber es könnte auch ein Dienstag-, ebenso ein Donnerstagmorgen sein. Ihm war jeder Tag gleich.
Das Radio hatte eine Weckfunktion und 3:50 Uhr startete er mit der Sendung durch die Nacht in den Tag. Die Zigaretten der Vortage füllten den Aschenbecher bis an den Rand. Sie hinterließen eine Schwade kalten Rauches, die er genüsslich in sich aufnahm. Wenige Minuten später lag Mentolgeruch der Zahnpasta und Kaffeeduft in der Luft − oder besser gesagt in der Kabine.
Es war nicht sein eigener Truck. Seine Gedanken drehten sich ständig darum, wie lange der Sprit noch reichen würde, wann in die Waschanlage zu fahren sei, der nächste Ölwechsel nötig wäre und eine neue gelbe Plane beschafft werden müsste. Aber es war nicht sein Eigener, so sehr er es sich auch wünschte. Vielleicht war das so wie mit seinem Ziehvater. „So sehr ich es mir auch wünsche, du bist nicht mein Eigener!“, hatte der immer zu ihm gesagt, wenn er etwas angestellt hatte, er unglücklich gestürzt war und ein Loch in der Hose gehabt hatte oder er in Ohnmacht gefallen war, wenn zu viele Menschen an ihm zogen oder der Wind ungünstig stand.
Aber auch, wenn der Truck nicht ihm, sondern Herrn Horst gehört, so liebt er ihn trotzdem. Denn er war der Auffassung, das könne man – jemanden lieben, ohne ihn besitzen zu wollen. Seine Freundin − die Gabi − die liebt er. Aber gehören tut sie jemand anderem – nämlich Herrn Horst. Der kümmert sich auch immer darum, dass sie schick aussieht, zieht ihr Röcke an und aus und legt ihr an besonderen Tagen die Perlenkette um. Dann ist er eifersüchtig, aber ändern kann er es nicht. Er liebt sie eben.
Die Tür ging auf. „Guten Morgen Manni. Heute fahren wir die Gabi besuchen. Und ihr zwei Hübschen dürft dann die ganze Woche gemeinsam auf der Logistikmesse bleiben.“, sagte Horst und schwang sich auf seinen Sitz. Der Truck fuhr los. Horst pfiff ein Liedchen zur Radiomusik. Manni schwieg. „Na Manni, da hat´s dir wohl die Sprache verschlagen, was?“, grölte Horst und klopfte Manni freundschaftlich auf die Schulter aus Papier.

statt Glückwünschen

Statt Glückwünschen sage ich euch heute, sage ich jedem Einzelnen von euch, sage ich Dir:

Du wirst scheitern.

Es wird Dir nicht gelingen, Deine in jahrelanger Lehre erworbenen Fertigkeiten zum Erhalt und zur Entfaltung unserer Freiheit einzusetzen, denn dieser Einsatz ist kräftezehrend und frustrierend. Stattdessen wirst Du Deinen Scharfsinn, Deine Gewandtheit, Deinen Eifer bereitwillig eintauschen gegen Augenmasken und Ohrenstöpsel, um in den leidenschaftslosen Halbschlaf des Unterhaltenwerdens und Beschäftigtseins herabzusinken, in dem sich Dein Umfeld außerhalb dieser Institution längst befindet.

Das ist nicht meine Schuld, wahrlich: Ich versuchte, was in meiner Macht stand, Dich zu einem wachen, mündigen, mutigen Menschen zu bilden – und ich vermeide an dieser Stelle ganz bewusst das Wort Bürger, weil das Wort Bürger unwillkürlich einen Bezug zum Staate herstellt, der unser Staat sein will, der bei Lichte betrachtet aber Teil, wenn nicht gar Urheber der Ideologie des selbstbezogenen Wohlfühlens ist, welcher auch Du erliegen wirst. Nein, ich knüppelte Dich nicht ins Normalmaß hinein.

Aber Du wirst das tun. Allmählich, schulterzuckend, ohne Not. Du wirst kein Wort darüber verlieren, zumal es dankbare Alternativthemen gibt: eine Regierung von Konzernmarionetten, eine Hochkultur auf Rummelplatzniveau und das Wetter, dass in diesem Jahr die tollsten Kapriolen schlägt.

Aber falls Du darüber reden musst, gut vorbereitet und hübsch zurecht gemacht auf einem Klassentreffen; aus heiterem Himmel am Frühstückstisch, dereinst mit Deinen pubertierenden Nachkommen; oder weil Du mir nichtsahnend auf der Straße begegnest, als klapprige Greisin, weil ich Dir aufgelauert habe, weil ich Dich geradezu gestellt habe, so dass Du mir erschrocken und mit roten Wangen gegenüberstehst und um Atem ringst, und mehr noch um Worte, während Du beim einleitenden Geschwätz, das ich Dir der Überraschung halber gewähren werde, verzweifelt nach einer Ausrede suchen wirst, die die lackbeschichtete Einkaufstasche in Deiner Rechten rechtfertigt und die Fernbedienung für die Zentralverriegelung Deines allradbetriebenen Straßenkreuzers in der Linken; wann immer Du also in die Verlegenheit kommen wirst, darüber sprechen zu müssen, wirst Du es schamlos herunterspielen, und wann immer Du gezwungen sein wirst, Dich zu erklären, weil da eine ist, die fragt und nicht locker lässt, wirst Du versuchen, Dich rauszureden.

Von der Nachfrage am Arbeitsmarkt wirst du sprechen, die jedem Kompromisse abverlangt, der erfolgreich sein will, obwohl Erfolg viel mehr bedeutet, als ein üppiges Salär, weil Erfolg in Zahlen oder Hierarchie-Ebenen nicht gemessen werden sollte, und wahrer Erfolg nur in der nachhaltigen Veränderung gesellschaftlicher Strukturen bestehen kann, wie Du betonen wirst, da Dir diese Parole aus Studientagen einfallen wird, während Du Dich freisprichst, und Dir auch einfallen wird, dass Du diese Parole einmal wie Deinen Namen im Munde geführt hast. Von den vielen Rechnungen, wirst Du sprechen, die schließlich bezahlt werden müssen, und für die Deine Eltern immer weniger bereitwillig das Portmonee geöffnet haben, je älter Du wurdest, was ihnen ja niemand verdenken kann, da es ihren ohnehin mickrigen Wohlstand zusätzlich schmälerte und ihr kleiner Wohlstand doch aber alles war, was sie hatten. Und auch von den bescheidenen und später dann weniger bescheidenen Wünschen wirst Du berichten, die ja ganz normal seien. Und obwohl Du Dir das heute nicht vorstellen kannst, wirst Du das Wort „normal“ ohne jegliches Problembewusstsein verwenden. Auch Du wolltest New York sehen und Südafrika. Auch Du wolltest ein Eigenheim und – Warum denn nicht? – einen Pool. Deine Wünsche waren nicht besonders; besonders war, dass Du in der glücklichen Lage warst, sie Dir erfüllen zu können. Teils als Belohnung für das Geleistete – ohne dabei zu spezifizieren, was das denn sein könnte – teils aber auch als Trostpflaster, mit Hilfe dessen Du Dich über die Unbarmherzigkeiten des Alltags hinwegzutrösten versuchtest: Überstunden, Steuererklärungen, die Alterung Deiner Haut.

Und hinter Deinem freundlichen Lächeln, das Du schauspielern wirst, und dessen einziger Zweck es sein wird, mich für Dich zu vereinnahmen, damit ich Dich nicht auf Deinen dicken Bauch anspreche oder auf den Kaschmir-Mantel mit dem Du ihn verhüllst, hinter diesem falschen Lächeln weggesperrt also, wird unter Asche ein schlechtes Gewissen flackern und ramponierte Traurigkeit.

Und beides wird sich aus Deiner Erinnerung speisen, aus Deiner Erinnerung an diesen augenblicklich verstreichenden Moment, der seiner Natur nach ein feierlicher sein sollte, und von dem Du erwartet hattest, dass ich ihn dafür nutzen würde, Dich zu den erzielten Leistungen zu beglückwünschen, Dir Mut zu machen, für das, was vor Dir liegt oder um Dich als neue Elite dieses Landes zu preisen.

Du wirst diesen Moment als einen Ankerpunkt in Deiner Biographie erinnern, an dem Du trotzig beschlossen hast, Du selbst zu bleiben, ausgefüllt von dem naiven aber liebenswerten Glauben, einerseits zu wissen, wer Du bist und andererseits überhaupt jemand zu sein, dessen Kern unveränderlich, klar umrissen und beschreibbar sei, und eben gerade nicht zu werden, wie die Anderen – wohlgemerkt, ohne Dir auch hier die Mühe zu machen, zu definieren, wer diese Anderen denn seien, und worin ihre unverzeihlichen Verfehlungen bestünden – sondern immerfort Deinen Idealen treu zu bleiben, also Deinem Versprechen, diese Welt zu einem besseren Ort zu machen, einem Versprechen, dessen Blauäugigkeit und Albernheit sich Dir heute noch nicht erschließt, und sich Dir, so hoffe ich, viele Jahre lang noch nicht erschließen wird. Denn wenn es Dir nicht gelingt, Dich dauerhaft am Tropf der alltäglichen Zerstreuungen zu narkotisieren, wird Dich die Erkenntnis dieser Albernheit eines Tages treffen wie ein Schlag, dessen Härte und Schwung geeignet ist, was Du Dir aufbautest, einzureißen und Dich wach aber nackt auf ein neues, leeres Feld zu schleudern, so wie es mir selbst und anderen meines Kalibers geschehen ist.
Wenn mein Plan aufgeht, wirst Du diesen eben verstreichenden Moment, in dem Dich nur Deine Höflichkeit und die Konvention des Protokolls auf Deinem Stuhle hält, als einen Moment der Wut verinnerlichen, in dem Dir eine unsympathische, nicht nur desillusionierte, sondern in ihrer Arroganz regelrecht altersboshaft gewordene Lehrerin jegliche Standhaftigkeit abspricht und jeden Charakter; in dem sie Dir persönlich nicht nur die Fähigkeit, sondern gar den bloßen Willen zu Veränderung oder wenigstens zum Widerstand gegen das Bestehende abspenstig macht, in dem sie Deine ganze Generation zu einer Generation der gut ausgebildeten aber zu früh zu bequem gewordenen Mitläufer degradiert, die es sich gemütlich machen wird, im ererbten Wohlstand, und die diesen Wohlstand für nichts anderes verwenden wird, als sich abzuschotten, sich vollzustopfen, sich zu amüsieren und an die sich in einhundert Jahren niemand erinnern wird, weil diese Generation nichts vollbringen wird, das es wert sein wird, erinnert zu werden. Nichts, als sich verführen zu lassen, von den Versprechen der Technologie und des Besitzes, die unhaltbar sind und deren Preis zu hoch ist. Du bezahlst Technologie und Vernetzung mit der Fähigkeit zu präzisem Fragen und konzentriertem Denken. Du bezahlst Besitz mit der Fähigkeit, kompromisslos zu antworten und in der Konsequenz zu handeln. Du bezahlst Sicherheit mit Freiheit.

Ich hoffe inständig, dass diese Erinnerung wie ein Dorn in Deinem Fleisch sitzen wird, dessen Spitze trotzig schmerzt, wenn Du stehenbleibst und quälend sticht, wenn Du Dich setzt, damit Du fortkommst und wach bleibst und weitergehst, auf dass ich hernach aus Zeitungen, Ausstellungskatalogen, Theaterkalendern oder Wahlprogrammen erfahre, dass doch etwas aus Dir geworden ist, weil Dich der Trotz stur gemacht hat, weil Du vom Spott zäh geworden bist und weil Du ums Verrecken nicht werden wolltest, wie ich.

Dann werde ich mich rückhaltlos meiner Schmach hingeben, das verspreche ich. Denn dies ist die glücklichste Zukunft, die ich denken kann: Ich hätte doch viel erreicht.

Ich könnte heute in Ruhe und Dankbarkeit abtreten.

Die Lebensrechnerin

Die Lebensrechnerin zählt aufmerksam die Jahre und es entgeht ihr kein einziger Tag dabei. Unermüdlich berechnet sie im Archiv des Krankenhauses das Leben der Nachbarn, der Kollegen und der Patienten und trägt jede noch so kleine Information in ihre persönliche Sterbeliste ein. Selbst Daten, die sie über deren Angehörige im Vorbeigehen aufschnappt, verarbeitet sie am Abend begierig.

Liest sie in der Zeitung vom Ableben eines geschätzten Mitarbeiters oder hört sie in den Krankenhausfluren vom plötzlichen Tod eines Patienten, zuckt sie erschrocken zusammen und irrt durch die neonbeleuchteten Gänge, bis sie glaubt, endlich einen Informanten gefunden zu haben. Sofort beginnt sie, ihn in ein Gespräch zu verwickeln. Dabei vermeidet sie es stets tagespolitische oder gar soziale Ereignisse zu kommentieren. Auch hütet sie sich, mit Mitarbeitern des Personalrates zu sprechen, um nicht in interne Arbeitsrechtsstreitereien oder eine mögliche Kandidatur gebracht zu werden. Stellt sich der Informant ihrer Meinung nach stur, verstrickt sie ihn in konstruierte Fallbesprechungen, neue Therapieverfahren oder unklare Krankheitsbilder. Und nur wenn er nach diesen Versuchen immer noch keine Information hervorbringt, fragt sie nach der Uhrzeit und läuft entsetzt mit wehendem Kittel davon.

Hat sie endlich einen Informanten gefunden, der ihr Details über den Tod des Kollegen oder Patienten geben kann, hört sie ihm mit zusammengekniffenen Augen zu, presst beide Hände an ihre Schläfen, und versucht sich das Portrait des Verstorbenen vorzustellen. Krampfhaft überlegt sie, ob er beim letzten Zusammentreffen bereits an einer Erkrankung litt oder sonstige Anzeichen eines frühen Todes mit sich trug. Ist sie mit den Überlegungen zur Ursache fertig, atmet sie erleichtert aus und öffnet wieder die Augen. Oft fragt sie mit leiser Stimme den Informanten, ob die Todesart häufig vorkomme und was der Verstorbene zur Verhinderung hätte tun können. Beschwichtigt der Informant, dass die Erkrankung selten sei, atmet sie für alle gut hörbar aus und schlendert hüftschwingend, die dicken Krankenakten auf den Kopf tragend durch die Flure. Und es bereitet ihr eine große Freude schon auf dem Stationsgang gedanklich die Anzeige akkurat an der schwarzen Umrandung herauszuschneiden. Nicht selten ertappt sie sich wie ihre Hand die Schneidbewegungen langsam imitiert. Und oft wird sie deswegen von ihren Informanten argwöhnisch beäugt oder daraufhin angesprochen. Gibt hingegen der Informant zu verstehen, dass die Krankheit häufig vorkäme, oder das sie so gut wie nie behandlungsfähig sei, sucht sie fluchtartig die nächste Toilette auf und lässt minutenlang kaltes Wasser über ihre Haare und ihr blasses Gesicht laufen. Und nicht selten passiert es, dass sie von ungläubigen Herren beim Händewaschen angesehen wird oder dass sie ihre Krankenakten auf der Fensterbank zurücklässt.

Kommt die Lebensrechnerin nach einer solchen Nachricht nach Hause, schafft sie es kaum ihre Schuhe auszuziehen. Sie erstellt ohne etwas gegessen oder den Hut abgenommen zu haben in ihrer Straßenkleidung eine ausführliche Kartei mit den Lebensdaten des Verstorbenen. Sie sucht die jeweiligen Tabellen hervor und trägt alle Informationen mit verschiedenen Farben sorgfältig ein. In Fachbüchern vergleicht sie die Diagnose, Therapien und Lebenszahlen, addiert sie mit zitternder Hand und dividiert sie durch die Anzahl der einzelnen Lebenserwartungen. Den Gesamtwert trägt sie hastig und bis auf die zehnte Zahl hinter dem Komma in die Tabelle ein. Häufig wird ihr dabei schwindlig, dass sie erschöpft zu Boden sinkt. Und nur, wenn es ihr gelingt, ihre Lebenserwartung höher als die des Verstorbenen hervorzurechnen, kann sie auf den sonst üblichen Telefonruf des Notarztes verzichten.

Die Lebensrechnerin mag weder Haustiere noch Grünpflanzen. Sie wohnt in einer Wohnung mit stets polierten Parkett und geputzten Fliesen. Freunde empfängt sie selten, da ihr die aufwendige Reinigung nach jedem Besuch zu beschwerlich erscheint. Die Lebensrechnerin isst am liebsten Essen aus der Assiette oder aus dem Einweckglas und verbringt die meiste Zeit mit dem Studium von medizinischer Fachliteratur. In ihren freien Tagen absolviert sie ihre unzähligen Arzttermine. Und Urlaubsorte, die außerhalb Deutschlands liegen, kommen für sie überhaupt nicht infrage. Selbst Feierlichkeiten, zu denen sie manchmal eingeladen wird, verlässt sie prinzipiell noch vor dem Festessen mit der immer gleichen Bemerkung, es gehe ihr heute gar nicht gut.

Bevor die Lebensrechnerin am Abend ins Bett geht, durchdenkt sie nochmals ihre vielen Tabellen. Dabei geht sie gründlich vor, denn sie weiß, all zu oft ist sie wegen einer fehlenden Berechnung in der darauf folgenden Nacht erwacht, hat ihren verschwitzten Körper unruhig auf der klimatisierten Matratze hin und her gewälzt und ist, wenn nötig, aus dem Bett gesprungen und hat hastig die verschobene Berechnung nachgeholt. Und nicht selten ist sie bei dem Zusammentragen der fehlenden Lebenszahlen am Schreibtisch eingeschlafen und am anderen Morgen viel zu spät auf Arbeit erschienen.

Die Lebensrechnerin kennt keine Tagträume. Nachts träumt sie schlecht. In den vielen Albtraumphasen, die sie durchlebt, schreit sie lauthals die Namen aller Krankenschwestern, die dringend eine Kinderfrau für ihre unbeaufsichtigten Sprösslinge suchen, in die Dunkelheit. Selbst bei geschlossenen Fenster sind die langen Namensreihen, die sie bei ihren Stationsbesuchen von den Dienstplänen heimlich fotografiert, noch im benachbarten Viertel zu hören. Und es kommt vor, dass besorgte Bewohner bei ihr klingeln oder die Feuerwehr rufen.

Die Lebensrechnerin geht gern in ihren freien Tagen auf Friedhöfe. Oft nimmt sie die Kinder der Krankenschwestern mit um ihnen die Vergänglichkeit ihres jungen Lebens vor Augen zu führen. Sie spaziert mit ihnen zwischen den Grabreihen hin und her und fordert sie auf, je nach Größe oder Farbe des Steines, die entsprechenden Lebensdaten zu notieren. Anschließend addieren oder dividieren sie die Ergebnisse in ihren Schulheften. Fragen die Kinder, woran die Menschen unter den dunklen Steinen verstorben sind, entsinnt sich die Lebensrechnerin ihrer erfolgreichen Aufführungen im Schultheater und spielt den Kindern ausführlich das Ableben der Verstorbenen vor. Dabei röchelt und jammert sie so laut, dass auch sie selbst in Todesangst gerät. Manchmal beschweren sich vorbeigehende Besucher empört bei ihr oder dem ungläubigen Friedhofspersonal. Und oft wird von den Eltern der Kinder nach solchen langen Spaziergängen erzählt, dass ihre quirligen Sprösslinge in den darauf folgenden Tagen besonders schweigsam gewesen wären.

Die Lebensrechnerin hat viele Fehltage. Oft meldet sie sich früh, kurz vor Dienstbeginn, krank. Auch beklagen sich Ärzte und Verwaltungsmitarbeiter immer wieder, dass einzelne Krankenblätter oder gar ganze Akten für Tage, manchmal sogar Wochen unauffindbar seien.

Herr Bär und die Wespe

„Wir sollten es bei einer Verwarnung belassen, Herr Bär.“
Er hat die Lippen schon geschürzt, als er stockt.
„Finden Sie nicht?“
Sein Glas hat vibriert. In der Sekunde, in der er es ansetzen wollte, hat es vibriert. Er verharrt.
„Aber wieso?“
„Frau Brunner arbeitet seit 34 Jahren für uns. Acht davon für Sie, Herr Bär. Sie waren immer zufrieden.“
Langsam senkt er das Glas und stellt es vor sich auf den Tisch. Er beugt sich darüber und starrt hinein, wie in ein Mikroskop. Auf dem Spiegel seiner Apfelsaftschorle kämpft ein Insekt gegen das Ertrinken.
„Nein!“ Er schlägt eine Hand vor den Mund.
Sie blättert durch Ihre Unterlagen.
„Aus den jährlichen Leistungsbewertungen, die Sie geschrieben haben, geht aber hervor, dass Sie sogar sehr zufrieden mit ihr waren.“
Mit großen Augen sieht er auf. „Völlig unerheblich, jetzt.“

Hecktisch dreht er den Kopf hin und her. Er klopft die Taschen seines Jacketts ab, dann die seines Hemdes, dann die seiner Bundfaltenhose.
„Frau Brunner hat sich eine Verfehlung geleistet, Herr Bär.“
Er kippt das Glas an und stiert hinein. Das Insekt paddelt um sein Leben.
„Aber ihre Anstellung bei uns ist von außerordentlicher Wichtigkeit für sie.“
Er stellt das Glas ab. Mit beiden Händen fährt er sich durchs Haar. „Ihr Strohhalm.“
Erschrocken legt sie die Hand auf das silberne Kreuz in ihrem Dekolletee.
„Die Anstellung? Ihr Strohhalm?“ Sie nickt langsam. „Gewissermaßen.“
„Geben Sie ihn mir.“
„Was?“
„Ihren Strohhalm. Sie können Ihren Tomatensaft ohne trinken.“
„Warum sollte ich?“
„Schnell!“
Er streckt den Arm über den Tisch und schnappt sich den Strohhalm. Er zieht ihn durch die Lippen, um ihn vom Tomatensaft zu reinigen. Er achtet sorgfältig darauf, nicht seine Krawatte zu bekleckern.
Sie nimmt ihre eckige Brille von der Nase und lacht. „Herr Bär! Was wird das?“
Er schmatzt. „Ein Exempel, Frau Lugner!“

Vorsichtig fährt er mit dem Strohhalm in das Glas und legt ihn an die Seite des Insekts.
Mit offenem Mund starrt sie ihn an. „Sie retten eine Wespe?“
„Biene.“
„Sie retten eine Biene?“
„Einer Wespe würde ich genüsslich beim Ertrinken zusehen.“ Er grinst.
Die Biene angelt nach dem Strohhalm. Sie findet keinen Halt. Er schiebt sie an den Rand des Glases. Immer wieder landet das Insekt in der Schorle. „Mist!“

„Frau Brunner wird sich in der Sitzung nachher vor dem versammelten Vorstand für ihr Verhalten entschuldigen, Herr Bär. Wir sollten ihre Entschuldigung annehmen. Finde ich.“
Er greift nach dem Glas und legt es so schräg wie möglich, ohne dabei Schorle zu verschütten. Die Biene treibt ganz nach hinten zum Boden des Glases. „War ja klar!“
„Sie tut mir einfach leid, Herr Bär.“
„Mir auch. Es ist alles meine Schuld. Man darf süße Getränke nicht offen stehen lassen in einer solchen Umgebung.“
„Ich meine Frau Brunnner, nicht die Biene!“
„Sie ahnen ja nicht, wie wichtig Bienen für die Landwirtschaft sind!“
„Ihre Sekretärin ist mir augenblicklich wichtiger. “

Unermüdlich stochert er mit dem Strohhalm nach der Biene. Die Kunststoffoberfläche ist zu glatt. Die Biene hat keine Chance. Frau Lugner lehnt sich zurück und seufzt. „Die ist hin, Herr Bär.“
„Das sehe ich auch so.“ Er zieht die Schultern an. „Wir haben sensible Daten zu verarbeiten. Ich kann Frau Brunner nicht mehr Vertrauen. Frau Brunner hat mich hintergangen.“ Er lässt wieder locker.
Ihr Blick schweift über den Platz. „Indem sie eine Frikadelle gegessen hat?“ Sie schließt die Augen und badet ihr Gesicht in der Sommersonne.

Frustriert stellt er das Glas vor sich ab. Darin tobt eine Springflut. Die Biene hält sich wacker. Mit dem kleinen Finger angelt er nach ihr. „Es geht nicht um die Frikadelle.“ Der Finger ist zu kurz, die Hand zu dick, der Pegel zu niedrig. „Verdammter Mist!“
„Worum dann? Ums Brötchen?“ Sie legt ihre Brille auf den Tisch. Er studiert den ungewohnten Anblick ihres brillenlosen Gesichtes. „Es kommt auch nicht auf den Wert des Brötchens an, sondern einzig und allein auf das Vertrauen.“
Frau Lugner öffnet einen Knopf ihrer Bluse um noch mehr Sonnenstrahlen zu erhaschen. „Und ihr Vertrauen ist nachhaltig erschüttert, weil sich Frau Brunner ein Frikadellenbrötchen gemacht hat?“
Er hält die Luft an. Blitzschnell beugt er sich über den Tisch und greift sich das Glas Tomatensaft. Frau Lugner wirft die flachen Hände in die Luft. „Was ist nur los mit Ihnen?“

Er nimmt sein Glas und legt es schräg. Aus dem Glas in der anderen Hand lässt er langsam den Tomatensaft in die Schorle fließen. Schnell bilden die beiden Flüssigkeiten eine trübe dunkelorange Einheit. Auf deren Spiegel strampelt eine hilflose Biene.
„Der Knackpunkt ist, dass sie sich seit Jahren schon vor den Sitzungen des Sachverständigenrats am Buffet bedient hat.“ Er knallt das leere Glas auf den Tisch. „Hinter meinem Rücken.“
„Wie sind sie ihr auf die Schliche gekommen?“
„Sie hat es zugegeben.“
„Aber wie haben Sie es bemerkt?“

Ruhig richtet er das Schorleglas auf. Mit dem Zeigefinger der freigewordenen Hand bildet er einen Haken, den er neben der Biene in die Flüssigkeit taucht.
„Es gab einen Verdacht. Wir haben dann bei der letzten Sitzung des Sachverständigenrats nachgezählt.“
Langsam fährt er mit dem Haken unter die Biene. Vorsichtig hebt er ihn an. Mit den Hinterbeinen zuerst krabbelt die Biene auf seinen Finger.
„Und siehe da.“ Er strahlt.
„Es fehlte eine Frikadelle?“
Er wird ernst. „Eine Frikadelle und zwei halbe Brötchen.“

Er hebt die Biene aus der Flüssigkeit, die unerwartet sämig von seinem Finger tropft. Die Biene wagt ihre ersten benommenen Schritte.
„Sie wird sie stechen!“
„Die Hand, die sie rettet?“ Lächelnd runzelt er die Stirn.
Sie hebt ihre Unterlagen wie einen Schutzschild. „Der Stich einer Biene kann gefährlich werden!“
„Wespenstiche sind deutlich gefährlicher.“ Er führt den Finger dicht vor seine Nasenspitze.

Das Insekt beginnt sich zu putzen. Zuerst reinigt sich die Biene mit dem vordersten Beinpaar die Fühler. Ein bisschen sieht das aus, als würde sie sich frisieren. Er beobachtet den Vorgang mit kindlicher Freude. Frau Lugner beobachtet ihn, verliert aber nach einigen Sekunden das Interesse.
„Wir könnten Frau Brunner versetzten, Herr Bär. Wir könnten ihr die Chance geben, sich das Vertrauen an anderer Stelle wieder zu erarbeiten.“
„Am Gefährlichsten sind übrigens diejenigen Wespen, die für Bienen gehalten werden.“
Die Biene reibt sich ihre Vorderbeine abwechselnd aneinander und an ihrer Brust. Die Mittelbeine säubert sie, indem sie sie anwinkelt und sich damit mehrfach über ihren behaarten Bauch fährt. Mit den Hinterläufen verfährt sie ebenso.
Bär sieht sie scharf an. „Ich möchte, dass Sie ihr kündigen.“

Dann angelt er das Taschentuch aus der Brusttasche seines Jackets. Mit einem geübten Hieb in die Luft entfaltet er es, bevor er es vor sich auf dem Tisch ausbreitet.
„Frau Brunner hat angedeutet, dann das Arbeitsgericht anzurufen.“
„Wissen Sie eigentlich, dass Bienen sterben, wenn sie stechen?“
„Herr Bär.“
„Ihr Stachel hat Widerhaken. Beim Herausziehen reißt ihnen das Hinterteil ab. Bienen verwenden ihren Stachel deshalb klug. Nur Wespen können es sich leisten, wild um sich zu stechen.“
Langsam führt er den Finger zum Tisch und rollt ihn sachte darauf ab. Die Biene klettert auf das Taschentuch.

Frau Lugner schüttelt den Kopf. „Das tun Wespen nicht. Sie wehren sich, wenn sie sich bedroht fühlen. Das ist ihr gutes Recht.“
„Wie wollen Sie das beurteilen, Frau Lugner? Sie können Bienen und Wespen nicht voneinander unterscheiden.“
„Auch Wespen haben ihren Platz.“
„Bienen sind fleißige Nützlinge, Wespen hinterhältige Räuber.“
„Ein Wespenvolk vertilgt bis zu 500 Gramm Schädlinge pro Saison. Sie wissen das, Herr Bär.“
Er faltet die Hände vor dem Kinn und lächelt anerkennend.

„Ich bin aber allergisch gegen Wespen.“
Sie schlägt ihre Unterlagenmappe zu und wirft einen Blick auf ihr Handy.
„Wir müssen, Herr Bär. Die Sitzung beginnt in zehn Minuten.“
„Einen Moment noch.“

Wenige Augenblicke später wagt die Biene den kurzen Flug zum Hortensiengesteck in der Mitte des Tisches. Herr Bär faltet gewissenhaft sein Taschentuch. Schmunzelnd steckt er es zurück an seinen Platz.

Im Juli 2009 wurde einer seit 34 Jahren für den Bauernverband Westfalen tätigen Chefsekretärin gekündigt, weil sie ohne Wissen ihrer Vorgesetzten zwei halbe Brötchen und eine Frikadelle von deren Buffet aß. Das anschließende Gerichtsverfahren wurde mit einem Vergleich beendet; die Klägerin erhielt eine Abfindung.

Wann haben Sie zum letzten Mal eine Erfahrung gemacht?

“Wann haben Sie zum letzten Mal eine Erfahrung gemacht?”

Berger zieht die Augenbrauen zusammen. Ein Schweißtropfen schafft den Weg und rinnt Richtung Auge. Der rote Rahmen seiner Brille spaltet Zuckowski optisch den Schädel. Trotzdem schiebt er das breite Gestell langsam wieder Richtung Nasenwurzel. Er verwendet dafür den Mittelfinger der linken Hand. Er hofft, dass ihr Unterbewusstes diese Geste richtig deutet.

“Herr Berger?”

“Am 22. Juni.” Er pustet sich eine Strähne aus dem Gesicht. “Ein Freitag.”

Zuckowski versucht ein gütiges Lächeln und legt den Kopf schief. Ihre blonden glatten Haare biegen sich auf den Schulterpolstern ihres hellblauen Blazers. “Die Frage zielte mehr auf die Art der Erfahrung ab.”

Der von seinen Wimpern gefilterte Schweißtropfen geht im Tränenfilm seines linken Auges auf. Obwohl es brennt, erlaubt er sich nicht zu blinzeln. “Sie haben nach dem Zeitpunkt gefragt.”

Bis auf die große Perle, die an einer silbernen Kette unter ihrem Ohrläppchen wackelt, verharrt sie völlig regungslos. Er findet Perlen pervers. Perlen sind Zysten, hat er gelesen. Muscheln bilden Sie unter größten Anstrengungen, um Fremdkörper unschädlich zu machen. Frau Zuckowski schmückt sich mit Zysten, denkt er.

Das Brennen in seinen Augen wird so stark, dass er sie fest zusammenkneifen muss. Jetzt erlaubt auch sie sich zu zwinkern. “Ist Ihnen warm, Herr Berger?”, ruft sie in betonter Überraschung.

“Am 22. Juni habe ich meinen engsten Geschäftspartner und besten Freund verloren.”

Ihre Lippen formen ein kindliches “Oh!”. Sie hält es, bis sie sicher ist, dass er die Fülle ihrer Lippen gebührend bewundert hat. „Soll ich die Klimaanlage einschalten?”, fragt sie dann.

“Das wird ihn mir nicht zurückbringen.” entgegnet er ohne Zögern.

Sie löst ihre übereinander geschlagenen Beine, erhebt sich, umrundet ihren gewaltigen Schreibtisch und geht an ihm vorüber zum Bedienelement für die Klimaanlage neben der Tür. Er findet es obszön, wie ihre nylonüberzogenen großen Zehen durch die Löcher an den Spitzen ihrer Schuhe luken. Ihrer Aufmerksamkeit für einen Augenblick entkommen, trocknet er sich das Gesicht mit dem Ärmel seines Jacketts.

“Viel besser!” lobt sie sich. Ihr schwarzer Ledersessel seufzt, als sie wieder in ihm Platz nimmt. „Wo waren wir?“

„Er fehlt mir.“ sagt Berger ernst. „Nicht wegen des Geschäfts. Der Laden ist zu. Er fehlt mir als Freund.“

„Das tut mir leid.“ Die Worte sind längst verhallt, aber ihr Kopf nickt noch verständnisvoll. Als sie begreift, dass Berger sie für immer wortlos weiternicken lassen würde, fragt sie: “Gibt es etwas, das Sie aus diesem Verlust mitnehmen können?”

Im Rahmen einer Geste, die sie für ein Lächeln hält, zeigt sie ihm ihre großen weißen Zähne.
Er versteht ihre Drohung und braucht einige Sekunden, sich seiner Furchtlosigkeit zu erinnern.

„Ja.” sagt er dann als hätte er einen spontanen Einfall. „Ich kann daraus lernen, mit künftigen besten Freunden nicht zu vögeln.“ Langsam beugt er sich über den Tisch zu ihr herüber. „Das macht viel kaputt, glauben Sie mir.”

Sie rutscht auf ihrem Stuhl hin und her. “Ich verstehe nicht recht, glaube ich.” Erst als sie zu ihrem metallenen Kugelschreiber greift, den sie vorhin wie einen Strich unter eine Rechnung auf ihre Gesprächsnotizen gelegt hatte, findet sie wieder Halt.

“Nein, sicher nicht.” bestätigt er. „Nur die wenigsten wissen, wie es ist für zwei Männer, von morgens bis abends an einem Projekt zu arbeiten und gemeinsam ein Geschäft aufzubauen. Das schweißt extrem zusammen. Da entwickelt sich aus einer Freundschaft eine Bruderschaft. Wenn man zusammen ist, ist einfach alles gut. Merkt man aber erst, wenn einer fehlt. Man kann sich nicht vorstellen, dass sich das alles in einer einzigen Nacht kaputtvögeln lässt.“ Er lehnt sich zurück und faltet die Hände hinter seinem Kopf. „Ist aber so.”

Sie starrt ihn an, als würde sie ein fremdartiges Insekt untersuchen.

“Es fing einfach an. Eines Tages ist mir aufgefallen, wie gut Matze riecht. Es war heiß in meiner Dachwohnung. Im Sommer ist es immer unerträglich heiß. Wir hatten den ganzen Tag nach einem Fehler im Code gesucht. Als ich ihn irgendwann fand, sprang er auf, kam zu mir herüber und drückte mich. Ich wusste ja, wie er riecht. Aber in diesem Moment war ich wie vom Blitz getroffen. Wie benommen.“

Sie ist wieder zu sich gekommen und schafft es, seinen Vortrag zu durchschneiden, obwohl er schneller spricht, als er denkt. „Herr Berger, was wollen Sie mir damit sagen?“

„Dass Sie ja nicht ahnen, wie sehr man die Macht der eigenen Gedanken unterschätzt!“ ruft er staunend. „Ich habe Matze seitdem als Freund oder Kollegen überhaupt nicht mehr ernst genommen. Ich habe ihn permanent sexualisiert. Plötzlich bemerkte ich die Haare auf seinen Unterarmen. Ich fing an, die Adern auf seinen Handrücken zu mögen. Seine runden, flachen Fingernägel. Heimlich studierte ich die Kontur seiner Brust in seinem offenen Hemd. Die Form seiner Lippen, wenn er darauf herum kaute, um sich besser konzentrieren zu können. Die Muskulatur seiner Schenkel, wenn er sich bückte, um uns Bier aus dem Kühlschrank zu holen. Seinen Arsch. Ich dachte, kucken ist in Ordnung. Er merkt es doch nicht. Kucken tut niemandem weh. Kucken tut gar nichts.“

Mit erhobenem Zeigefinger schiebt er ihre Replik zurück in ihren offenen Mund. Als wären es vier separate Sätze spricht er: „Das stimmt aber nicht.“ Und dann weiter: „Kucken kann total gewaltvoll sein.” Für einige Sekunden zieht er theatralisch die Mundwinkel nach unten, als hinge das Gewicht des letzten Satzes wie Blei an ihnen.

„Herr Berger!“, ruft sie entrüstet aber zu langsam. „Warum erzählen Sie das?“

“Weil Sie gefragt haben.” antwortet er verblüfft. “Sie wollten wissen, was meine letzte Erfahrung war. Bitte sehr, das ist sie.”

“Herr Berger.“ Erneut sucht sie auf ihrem Stuhl nach Haltung. Sie findet die einer Insektenforscherin, die einem 10jährigen erklären muss, warum sie für ihre Arbeit Hummeln tötet. „Mit dieser Frage wollte ich herausfinden, was Ihnen wirklich wichtig ist und wie stabil sie sind.”

“Weiß ich doch.“ antwortet er, als hätte sie versucht, ihm einen misslungenen Witz zu erklären. „Und mit meiner Antwort wollte ich Ihnen vermitteln, dass mir Matze wirklich wichtig war, dass es aber meine Libido war, die mich noch stärker“ er unterbricht, um für den Bruchteil einer Sekunde die Lippen zu schürzen „umtrieb.“

„Das“, sagt sie fest, während sie mit dem Kugelschreiber auf ihn zeigt, „ist Ihnen gelungen, Herr Berger.” „Eindrucksvoll.“ schiebt sie nach, um sich noch ein paar Sekunden Stille zu verschaffen.

„Wollen Sie wissen, wie’s weiterging?”, fragt er vorsichtig, nachdem sie ihre Waffe ratlos hat sinken lassen.

„Ich finde Ihr Verhalten sehr unpassend.” ruft sie, während sie die silberne Oberfläche ihres Kugelschreibers auf Fingerabdrücke zu untersuchen scheint.

„Also ja?”, hakt er freundlich nach.

„Herr Berger, Sie sind eigentlich nicht in der Position hier Fragen zu stellen.” Sie beginnt, den Stift am Saum ihres knielangen Rockes sorgfältig zu polieren.

„Oh!“, er verzieht das Gesicht, als hätte er auf etwas Saures gebissen.“ Das Wort eigentlich sollten Sie eigentlich nicht verwenden.“ Dann flüstert er: „Es untergräbt ihre Position.”

„Es geht hier nicht um meine Position. Es geht um Ihre.”, versucht sie mit fester Stimme.

„Und die würde ich Ihnen gern darlegen.”

Ein Wink mit der flachen Hand, erteilt ihm das Wort. „Bitte.”

Er schnalzt, als er seinen roten Faden wiederfindet. „Ich habe dann angefangen von Matze zu träumen. Also nachts. Also von Sex mit ihm.”

„Herr Berger!” Sie seufzt, lehnt sich zurück und verschränkt die Arme unter ihren großen Brüsten.

„Ich habe angefangen an ihn zu denken, wenn ich wichse.”

„Hören Sie sofort auf damit!” Sie schlägt mit beiden Handflächen auf die Glasplatte ihres Schreibtisches. Er erschrickt und erhöht sein Sprechtempo, als bliebe ihm nicht viel Zeit, alles zu erklären.

„Ich habe gedacht, das ist in Ordnung. Also, weil er davon ja nichts erfährt. Es ist aber nicht in Ordnung! Weil es mein Verhalten ihm gegenüber verändert hat. Es hat mein Verhältnis zu ihm verändert. Er war ein Freund, ein Bruder. Aber durch meine Gedanken wurde er zur Beute für mich. Ich habe ihn angelogen.“

Er schluckt. Sie untersucht mit gleichgültigem Blick die Deckenpaneele.

„Ich wollte ihm gefallen. Bevor er morgens kam, habe ich gebadet und mich rasiert. Manchmal habe ich eine Stunde lang vor meinem Kleiderschrank gestanden. Nebenbei habe ich mir überlegt, welche Geschichten ich ihm in den Arbeitspausen erzählen könnte, ganz beiläufig, um ihn zu beeindrucken. Mir ist überhaupt nicht aufgefallen, wie schäbig das war.” Langsam schüttelt er den Kopf.

„Wieso schäbig?” Die Insektenforscherin ist zurück in ihrem Gesicht.

Über ihr Unverständnis erschrocken sieht er sie ernst an. „Er war doch völlig arglos! Ich war sein Kollege, sein Kumpel! Er hielt mich für locker und aufrichtig. Für ihn war es ein Arbeitstag, für mich war es ein Date. Er kam unbewaffnet. Ich habe alle Register gezogen. Verstehen Sie denn nicht, wie hinterlistig das war?“

„Sie waren verliebt.”, sagte Sie schulterzuckend und mit einem verständigen Grinsen, das ihn ekelt.

„Ach Quatsch.“ Mit einer beiläufigen Handbewegung wischt er ihre Küchenpsychologie beiseite. „Ich war nicht verliebt! Ich habe diesen man vor 10 Jahren im Studium kennengelernt. In allen Beziehungen, die er seither führte, war ich der beste Freund an seiner Seite. Ich weiß, was für ein Kind er ist. Was für ein Ja-Sager. Nach drei Monaten in einer Beziehung mit ihm wäre ich gestorben vor Langeweile. Aber dazu hätte es sowieso erst kommen können, nachdem mir große Brüste und blonde Haare gewachsen wären. Gott, wie hörig Matze gegenüber großen Brüsten ist!“ Er macht einen breiten Mund, als wäre ihm die Herleitung einer komplizierten mathematischen Formel gelungen.

„Ich wollte mit Matze vögeln, das war alles. Einmal mit ihm vögeln. Einmal wissen, wie es ist. Ob es stimmt, was seine Ex-Freundinnen so erzählen. Mir war nicht klar, wie viel das zerstören würde.”

Sie ist auf ihrem Grinsen hängengeblieben. Er befeuchtet ausgiebig seine Lippen. Dann sagt er langsam: „Sie hören ja zu.”, obwohl er „Geht es Ihnen gut?“ meint.

„Ich glaube, dass wir unser Gespräch hier beenden sollten.“ Sie schnaubt ein bisschen, als sie lacht. „Ja, ich denke, ich habe genug gehört.”

„Gut.” sagt er. Seine Anstalten aufzustehen beschränken sich jedoch darauf, die Hände klatschend auf seine Oberschenkel fallen zu lassen.

„Gut.” Sie sammelt seine auf dem Tisch ausgebreiteten Unterlagen zusammen und bildet einen sauberen Stapel, den sie so behutsam wieder vor sich auf die Glasplatte legt, als dürfe dabei kein Geräusch entstehen.

„Herr Berger, warum haben Sie das getan?” Ihr Blick klebt weiter am Titelblatt seiner Bewerbungsmappe.

„Gute Frage!“ lobt er. Mit Daumen und Zeigefinger glättet er seinen Kinnbart. „Die Gelegenheit war günstig und ich packte sie beim Schopfe. Ich bin so. Matze trank immer zu viel, wenn wir mal zusammen aus waren. Aber wir waren nicht oft zusammen aus. Kurz, nachdem Matze diese Frau hier in Dresden kennengelernt hatte, ist er zu ihr gezogen. Programmiert haben wir immer in Leipzig, bei mir. Und wenn wir nach der Arbeit mal noch was trinken wollten, hieß das automatisch, dass Matze bei mir schlafen musste. Das gefiel seiner Freundin nicht. Die hatte sowieso beschlossen, mich nicht zu mögen. Obwohl wir uns nie getroffen haben. Sie hielt unser ganzes Projekt für Zeitverschwendung. Mich eingeschlossen.“

Sie will ihn unterbrechen, kommt aber nicht über lautes Einatmen hinaus.

„Ich weiß, ich verstehe das auch.“, wiegelt Berger ab. „Eine Beziehung zu pflegen braucht eben Zeit! Die gemeinsamen Abende müssen toll sein. Aber unsere gemeinsamen Abende waren auch toll! Wir haben niemanden gebraucht. Wir sind immer in unsere Stammkneipe zwei Straßen weiter und haben Gott und die Welt gerettet. An diesem speziellen Abend hat er mir sein Herz ausgeschüttet, weil er bezweifelte, dass seine Freundin an ihn glaubt. Keine Ahnung. Ich habe ihm einen Doppelten nach dem anderen bestellt. Und als sie um zwei die Musik ausgemacht haben, konnte er nur noch lallen. Da wusste ich: Jetzt oder nie. Torkelnd und grölend sind wir zu mir. Als sei es ein Witz unter Besoffenen, bin ich einfach zu ihm in die Dusche gestiegen.“ Er grinst wie ein schmieriger Gebrauchtwagenverkäufer, bevor er ruft: „Bingo!“

Sie starrt ihn ausdruckslos an. Wegen ihrer großen braunen Augen muss er daran denken, dass Kühe in Indien heilige Tiere sind. Bedrohlich leise sagt sie: „Ich meine nicht–“, sie presst die Lippen aufeinander, „die Sache mit ihrem Freund. Ich meine unser Gespräch. Warum haben Sie es so ruiniert?”

„Ich habe Ihnen nur geantwortet.“ sagte er aus dem niedlichsten seiner Dummerchen-Gesichter.

Sie schließt die Augen und spuckt „Ihr Privatleben interessiert mich nicht.” in die Luft.

„Naja.“, er lächelt versöhnlich. „Sie haben aber andauernd danach gefragt.”

„Mitnichten.”, zischt sie.

Als gäbe es Doppel-Ü ruft er: „Natürlich haben Sie das.“ Dann schaltet er eine Oktave höher. „Andauernd! Wie würden Sie sich als Mensch beschreiben? Was würden Ihre Freunde über Sie sagen? Was sind Ihre drei größten Stärken? Was ihre Schwächen? Sind das wirklich alle Schwächen? Wovor fürchten Sie sich? Was haben Sie in der Zeit getan, in der Sie nicht gearbeitet haben? Was tun Sie zum Ausgleich?”

„Ich muss wissen, mit wem ich es zu tun habe, bevor ich Sie einstelle!” Ihre Hände sind flach nebeneinanderliegend an der Tischplatte festgefroren, was ihn beruhigt, weil sie so keinen Schaden anrichten können.

„Eben.“, schnarrt er, als sei sie schwer von Begriff. „Deshalb muss ich Ihnen ehrlich antworten.“

Als müsse das Adjektiv ganz ohne Vokale auskommen entgegnet sie: „Aber professionell.“

„Professionell ehrlich?“ rätselt er, während sie wieder auftaut.

„Wissen Sie, das Gespräch lief gut.“ Sie überfliegt ihre Notizen, bevor sie „Wirklich gut.“ nachschiebt. „Warum haben Sie dann alles kaputt gemacht?“

„Ich konnte doch nicht wissen, dass es so furchtbar werden würde.“, bat er um Entschuldigung.

„Aber was haben Sie denn erwartet?“, ruft sie, nicht einmal bemüht, ihre Erschöpfung zu verbergen.

„Völlig Unrealistisches, da haben Sie recht.“ gibt er kleinlaut zu. Dann setzt er zur Verteidigung an: „Aber so ist das ja immer mit glühenden Fantasien: Wenn sie Wirklichkeit werden, enden Sie in einer Katastrophe.“

Sie faltet geräuschlos ihre Hände und klemmt Sie sich vors Kinn.

„Naja, oder zumindest in einer Enttäuschung. Ich wusste, was ihn scharf macht. Ich habe mir ja Tausend Mal anhören müssen, was seine Freundin alles eklig findet. Als ich ihn soweit hatte, sind wir rüber ins Bett. Aber mir war überhaupt nicht klar, wie schwer er ist. Ich habe kaum Luft bekommen unter ihm, auch, weil er so fies nach Knoblauch und Alkohol stank. Als ich dann oben war, hat der angefangen zu schniefen, wie ein Walross. Ich dachte, der ist erkältet, oder so, dabei ist der einfach nur tierisch abgegangen. Und als ich gerade richtig in Fahrt war, brüllte der plötzlich wie ein Gorilla. Ich hatte echt Angst, die Nachbarn rufen die Polizei. Dann machte er ein Gesicht als hätte er ‘ne Herzattacke und dann war er fertig. Fertig! Das hat keine zehn Minuten gedauert. Natürlich hatte er sofort keine Lust mehr. Und ich musste mir selbst helfen. Vielleicht kennen sie das.“

„Das reicht, Berger!“ Sie legt ihren Kopf in ihre Hände, als wollte sie sich die Spitzen ihrer Zeigefinger diskret in die Gehörgänge stopfen.

„Das reichte nicht nur, das war einfach zu viel.“, korrigiert er. „Am nächsten Morgen wurde ich von der Wohnungstür geweckt, die krachend ins Schloss fiel. Ich habe Matze nie wieder gesehen. Auch nicht gesprochen. Ich habe hundertmal versucht, ihn zu erreichen. Keine Chance. Er hat nur noch per E-Mail mit mir kommuniziert. Und seitdem das Geschäft abgewickelt ist, antwortet er gar nicht mehr. Der ist einfach zu feige. Das war’s.“

„Korrekt, Herr Berger: Das war’s. Sie gehen jetzt. Den Job haben sie nicht. Sie wollten ihn doch gar nicht wirklich, oder?“ Dann erschrickt sie. „Den Job!“

Berger erhebt sich und zupfte sein Jackett zu Recht. Dann sagt er lächelnd: „Tja also, ich fand’s interessant, dass wir uns kennengelernt haben.“

„Hier sind ihre Unterlagen, Herr Berger. Guten Tag und gute Reise.“

„Vielen Dank, und – sagen Sie schöne Grüße.“

Der Geldbeschneider

Der Geldbeschneider liebt nichts so sehr wie den eigenen Vorteil. An jeder Stelle des Krankenhauses, an der sich eine Möglichkeit ergibt, nutzt er diesen, egal wie gering der Betrag auch für ihn sein mag. Und selbst in den entferntesten Winkeln würde er, wenn sich dort erfolgreich etwas finden ließe, mit aller Macht suchen.

Schon auf der Fahrt ins Krankenhaus, beobachtet der Geldbeschneider mit wachen Augen den Fußboden des Niederflurwagens. Er streckt seinen Kopf unter die Sitzreihen oder schiebt ihn geschmeidig an den Mitfahrenden vorbei, die sich die Neuigkeiten des Tages berichten. Unruhig sucht er nach Gegenständen, die verträumte Gäste liegen gelassen haben. Selbst ein Geldstück, das  an der  Umrandung eines Hosensaumes ruht, findet er zielsicher zwischen den vielen Beinreihen. Hat er es entdeckt, schnappt er es blitzartig beim Aussteigen mit geübtem Handgriff. Und er ärgert sich über den ganzen Tag, wenn er nicht wenigstens eine kleine Kupfermünze am Abend aus einer seiner tiefen Jackentaschen herausnehmen und bestaunen kann.

Der Geldbeschneider kleidet sich stets als letzter in der Umkleidekabine um. Nur so hat er alle Spinde im Blick und kann, wenn möglich, unbeobachtet Dinge an sich bringen, die verschlafene Mitarbeiter in der morgentlichen Hektik achtlos liegen gelassen oder verloren haben.

Kommt der Geldbeschneider zur Dienstbesprechung ins Schwesternzimmer, grüßt er überfreundlich und in die Länge gezogen jeden einzelnen Kollegen. Mit weichem Handgriff umfasst er deren Hände und versucht in der kurzen Zeit des Grußes sich einen Überblick über die umherliegenden Dinge zu verschaffen. Gern verwickelt er Patienten, die zufällig auf dem Flure stehen, in Gespräche, über unerfreuliche Diagnosen oder äußerst riskante Therapien. Dabei versucht er sie soweit zu verwirren, das sie selbstversunken oder völlig verängstigt ihre persönlichen Habseligkeiten auf der Waschkonsole oder dem Fensterbrett zurücklassen. Überdies klagt er häufig bei Patienten, die er auf Umwegen zur Diagnostik fährt, wie schlecht er entlohnt würde. Und nicht selten stecken ihm diese ab und zu ein paar Scheine, scheinbar von ihm unbemerkt, in die Jackentasche. Auf dem Rückweg bleibt er atemringend an der hell erleuchteten Vitrine mit den vielen Hausmitteilungen stehen, schliesst die Augen und lehnt seinen Rücken an die Wand. Hastig zieht er das knisternde Papier heraus, reibt es   zwischen den Händen und versucht mit den Fingerkuppen den Wert des Geldes zu ertasten. Hält er es nicht mehr aus, blinzelt er, presst den Schein gegen das Vitrinenglas und streicht das Papier mit beiden Daumen glatt. Hat er die Banknotenmerkmale gründlich geprüft, haucht er auf den Zahlenwert. Er steckt die lange Zunge heraus und  betupft das Wasserzeichen. Schließlich leckt er den gesamten Schein auf beiden Seiten sorgfältig ab. Das durchfeuchtete Papier faltet er zweimal zusammen und markiert es mit seinem Gebissabdruck. Nachdem er daran gerochen hat, schiebt er den Schein in die kniehohen Karostrümpfe, die er sommer´s wie winter´s trägt. Erschöpft fährt er zurück auf Station.

Der Geldbeschneider lebt von Frau und Kind getrennt. Er wohnt in einem Gartenhaus, das er durch jahrelangen Rechtsstreit den  Miterben abgetrotzt hat. Seine Parzelle pflegt er übergründlich, und holt, wenn es sein muss, selbst in der Nacht noch so manche reife Frucht aus der Beetfurche um sie den Schnäbeln pickender Vögel am darauf folgenden Morgen vorzuenthalten. Möbel hat sich der Geldbeschneider noch nie geleistet. Vielmehr besitzt er, die seiner Meinung nach achtlos auf den Sperrmüll des Krankenhauses geworfenen Dinge. Und Selbst das plastene Geschirr, das über die Jahrzehnte augesondert wurde und noch aus den Gründungsjahren des Krankenhauses stammen soll, hat er  auf seine Weise erworben.

Der Geldbeschneider geht ungern einkaufen. Es macht ihm schon seit Jahren nichts mehr aus, die Reste, die auf Station gesammelt werden, zu einem deftigen Eintopf zu verwerten.

Am Abend, wenn alle Türen fest verriegelt sind, setzt er sich in seinen Rollstuhl oder legt sich in sein Krankenbett und schiebt den Betttisch heran. Er entzündet ein Ewiges Licht, das er aus der Leichenhalle entwendet hat und schließt zufrieden die Augen. Er blinzelt in den rot flackernden Lichtschein und streckt geräuschvoll seinen dürren Körper aus. Wenn er dem Krankenhausseelsorger wieder eine gute Flasche Messwein entwenden konnte, freut er sich besonders. Würdevoll öffnet er die Flasche und lässt den Wein in winzig kleinen Schlucken in eine Schnabeltasse laufen. Er schiebt die Zunge vor und schlürft Tropfen für Tropfen die Flüssigkeit heraus, und leckt, wenn er damit fertig ist, bis in die kleinste Stelle des Becherbodens. Dabei schmatzt er so lautvoll, dass das Geräusch selbst noch am hohen Gartenzaune deutlich zu hören ist. Hat er den Becher ausgeleckt, stellt er das kleine Kofferradio an, kuschelt sich auf die Seite seines Bettes und beginnt zu träumen. Regelmäßig wünscht er sich endlich ohne ein einziges Geldstück im Monat ausgegeben zu haben, leben zu können. Neuerdings stellt er sich immer häufiger vor, wie er einen Schatz in seinem Garten finden würde oder das Lohnbüro ihm bis zum Lebensende versehentlich Chefarztgehälter überwiese.

Der Geldbeschneider arbeitet unauffällig und leise. Patienten und Mitarbeiter beklagen, dass des öfteren Dinge abhanden kämen. Und selbst die Verwaltung kann nur mitteilen, das er seit seiner Ausbildung im Krankenhaus beschäftigt ist.

Würde man den Pförtner nach ihm befragen, würde er mit einer heftigen Handbewegung abwehren, ausspucken und ihn als einen krummen Hund bezeichnen, der freundlich wirres Zeug daherquatsche. Außerdem würde er sagen, dass man bei ihm nicht sicher sein könne, ob er  einen nicht den Arsch unter’m Hintern wegstehle.

Der Geldbeschneider wusste vom ersten Tage an, was er mit seinem Anteil von 23.572 Euro machen würde. Er wollte ihn in Goldbarren anlegen. Und Silvester, wenn alle Kleinstadtbewohner auf dem Platze feiern, wollte er diesen Punkt Mitternacht unter seinem Erdbeerbeet, das er extra der habgierigen Kinder wegen, vor seinem Küchenfenster angelegt hatte, vergraben. Der Geldbeschneider wüsste als einziger Mitarbeiter der Krankenstation, wo und wie er 235.720 Euro sicher vergraben müsste.