Der Achtinfame – Der Mutmacher

Der Achtinfame

Infam können die Menschen sein, doch sind sie es stets einmalig, nicht aber achtmalig. So entschied sich der Achtinfame achtfaltig, und nicht einfältig dazu, die Zahl ACHT zu seiner liebsten Zahl zu machen. Um ein Marmeladenbrot zu bestreichen, benötigte er stets acht Striche. Reiste er weit, so packte er seinen Koffer achtmal um. Auch unterschrieb er stets achtmal, das sah dann so aus als hätte er nur einen besonders dicken Stift gewählt, um Dokumente zu beglaubigen. Denn glauben konnte er sich stets, soweit er alles achtmal tat.
Auch bemühte er sich seit jeher acht Freundinnen zu seinem Freundeskreis zu zählen, und wenn eine ging, so kam eine andere dazu, denn es mussten schon acht sein. Vor einer Woche hatte er acht vollzählig, da kam eine andere Freundin hinzu. Doch der Achtinfame wusste was zu tun war. Immer. Und so weiß er es auch jetzt und tötet sie achtmal.

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Der Mutmacher

Der Mutmacher hat sein Gewerbe noch nicht eintragen können. Heutzutage sind die Behörden sehr streng.
Am Mut seiner Mitbürger feilt, schraubt und sägt er. Ist der Mut einmal fertiggestellt, so liegt es an ihm, ihn an den Mann oder an die Frau zu tragen. Denn Mut trägt nicht jeder. Mut steht nicht jedem.
Doch es ist mühsam Menschen zu finden, die bereit sind Geld für Mut auszugeben. Dabei fehlt es doch gerade an ihm, um den Mut zu erwerben. Die Menschen sind so dumm.
So stellt er sich an die dunklen Ecken, die hellen Gassen, die verstaubten Straßen und die vollen Märkte… all das für ein bisschen Einkommen mit dem ältesten Gewerbe der Welt.
Mut verkaufen.

Überposis

Halt, Stopp! Ey, Schaffnerin! Gut, dass ich sie gleich erwische! Ich muss erstmal durchatmen. Ich bin den ganzen Weg vom Flughafen-Shuttle – puh! Ich komme gerade aus New York! Ich war die ganze Nacht im Flieger. Bin total drüber. Ich weiß nicht, ob das das Jetlag ist oder die Medikamente. Ich hatte gestern eine Zahn-OP. Mit Zahn ziehen, Eiter ausspülen und nähen und so. Fies. Jedenfalls musste ich bar bezahlen. Ich hab‘s vorm Start nicht mehr zum Automaten geschafft. Und nach der Landung auch nicht. Kann ich trotzdem mitfahren? Geht das? Ich meine, ohne Geld?

Wir machen das so: Ich fahre mit bis Leipzig. Dort steige ich aus und flitze zur Western Union. Da hebe ich das Geld aus New York ab. Dann komm ich zurück und bezahle das Ticket. Okay? Ich lasse ihnen bis dahin meinen Pass da. Als Pfand. Sie geben ihn mir zurück, wenn wir quitt sind. Keine Tricks. Und keine Sorge: Ich brauche meinen Pass. Ohne Pass bin ich erledigt.

Machen Sie doch mal eine Ausnahme! Kommen Sie schon! Bitte! Das wäre super, wenn wir das so machen könnten. Echt? Sie sind richtig cool. Ich setze mich da vorn hin, dann habe ich es nachher nicht so weit zur Tür. Ist doch frei bei dir, oder? Super! Kann ich die Tasche unter deinen Sitz stopfen? Hilfst du mir? Dann packe ich die andere hier hoch! Wehe du illerst mir unters Shirt! Jetzt guck nicht so erschrocken. Spaß!

Du, ich hoffe, ich stinke nicht. Ich bin total durchgeschwitzt. Eigentlich müsste ich mein T-Shirt wechseln. Guck mal, das sind Schweißflecken und das hier sind Schampusränder. Sehen genauso aus. Einen Fächer könnte ich jetzt gut gebrauchen. Wie der Lagerfeld. Naja, der OP-Bericht hier wird es auch tun. Ist der auch mal zu was gut. Alter Schwede: 2.500 Dollar für das bisschen Zahn ziehen. Hat das jetzt wieder zu bluten angefangen? Es schmeckt so süßlich, irgendwie. Die haben das zwar genäht, aber das ist ja nicht blutdicht. Blutdicht – gibt es das Wort? Kannst du mal gucken, ob du da was siehst? Hinten rechts unten. Da wo der Zahn fehlt. Siehst du die Naht? Blutet das? Jetzt guck mich mal an. Nee, frontal. Ist das noch geschwollen? Fass mal an, das ist total heiß! Alter, mit so einer Beule im Gesicht kriege ich nie wieder einen Job! Keine Ahnung, was passiert ist. Gestern früh bin ich mit Zahnschmerzen aufgewacht und gestern Abend sah ich aus, als hätte ich eine aufs Maul gekriegt. In der Klinik haben die den Zahn sofort rausgemacht. Das hat übelst geknirscht! Die haben gesagt: No sports! I mean it: No sports! Aber wenn ich jetzt nicht geflitzt wäre, hätte ich den Zug verpasst. Klar, ich hätte auch den ICE nehmen können, aber im ICE kommt man mit so einer Nummer nicht durch.

Ist dir auch so heiß? Boah, guck mal, in meinem Bauchnabel kocht das Wasser! Hier! Ein Schweißtropfen-Rennen! Schluss jetzt, ich zieh mir was Frisches an. Halt das mal. Fuchsia oder Pistazie? Fuchsia, oder? Weißt du, alle denken immer, ich trainiere wahnsinnig hart. Aber das stimmt null. Ich habe fünf Jahre Fußball gespielt. Ewig her. Mein Körper hat sich das irgendwie gemerkt. Also, dass ich Sportler bin. Der sieht einfach weiterhin so aus. Du hast da bisschen Pech, aber mach dir nichts draus. Dafür ist dein Gesicht gut. Das sind die Gene. Ich mache überhaupt keinen Sport. Ich darf nicht trainieren, die haben mir das regelrecht verboten. Ich habe mal ein paar Wochen gepumpt, aber ich kann ja zugucken, wie bei mir die Muckis wachsen. Die von der Agentur haben dann gesagt, ich soll aufhören, sonst passe ich nicht mehr in die Slim-Fit-Hemden. Ist ja alles Slim Fit. Wenn du zu fett bist, bist du zu fett. 65 Kilo ist das Limit. Ich könnte höchstens Joggen gehen. Aber da habe ich gar keine Zeit für. Ich würde mich ja auch nur verlaufen.

Na gut, ich esse nicht so viel. Aber das ist auch nur wegen dem Stress. Denn wenn ich was esse, Alter, esse ich echt nur Fastfood. Am Liebsten die Schinken-Ananas mit der Mozarellakruste von Pizza Hut. Ey, Pizza Hut gibt es überall: in Mailand, London, Kopenhagen, New York, Moskau, überall. Die Pizza heißt natürlich immer anders. Ananas prosciutto in Mailand, zum Beispiel. Aber das hast du schnell raus. Schmecken tut sie überall gleich. Ich fühl mich immer zuhause, wenn ich die esse.

Dabei war ich jetzt wochenlang nicht zuhause. Voll fies, dass die Modewochen so kurz hintereinander sind. Manchmal weiß ich gar nicht, in welcher Stadt ich bin. Ist auch egal. Von den Städten kriege ich sowieso nichts mit. Früher haben meine Freunde gefragt Wo ist es denn am Schönsten? Keine Ahnung, Mann. Ich bin da nicht zum Sightseeing! Jetzt komme ich aus NYC. Fashion Week. Bin drei Shows gelaufen. Donna Karan, Issey Miyake und Hermès, das wird wie Hermes geschrieben, ist aber Französisch, deswegen spricht man das H nicht. Hermès.

Drei Shows in einer Woche. Klingt nicht viel, ne? Ich weiß nicht, was du arbeitest, aber nur an drei Tagen die Woche ins Büro, klingt bestimmt wie Urlaub für dich. Stimmt ja auch. Also ich habe abends jedenfalls keinen Muskelkater von der Schufterei, oder so. In Wirklichkeit ist das Business ja nur Warten, ne? Manchmal sitzt du vier Stunden rum und es passiert gar nichts. Dann kommt jemand und schminkt dich drei Stunden. Dann guckst du in den Spiegel und denkst: Krass, wer ist das? Oder vier Design-Studentinnen ziehen dich den ganzen Tag an und aus und zuppeln an dir rum. Manchmal musst du sechs Stunden vor so einer Show da sein. Und wenn du dann raus gehst und läufst, dauert das 30 Sekunden. Echt ey, sechs Stunden wegen 30 Sekunden. Hammer. Aber Arbeit ist das eigentlich nicht. Obwohl, letztes Jahr in Mailand hatte ich mal vier Shows an einem Tag. Da geisterst du bei 40 Grad 12 Stunden durch Mailand, das schlaucht wie Sau. Und trotzdem ist das Gewarte natürlich langweilig. Deswegen wird auch viel gekokst. Ey, wenn du nichts von der Stadt weißt, ne, wo die Dealer stehen, weißt du. Dann geht einer los, kauft bisschen Puder und dann wird Party gemacht. Die Partys sind geil, aber du musst immer aufpassen, dass kein Typ anfängt, dich zu befummeln oder sich mit dir rumzubeißen. Gibt halt viele Homos in dem Business, weißt du ja.

Klar kannst du auch ohne Puder Party machen, aber du kennst ja niemanden, dort. Das sind nicht deine Freunde. Ich dachte immer: Models, Fotografen, Designer, das ist doch eine Familie. Aber Models sind für die der letzte Dreck, wie Putzfrauen für dich. Jeder will modeln, und wer rumzickt, fliegt eben raus, draußen warten schon drei Neue. Du kannst dich nicht darauf verlassen, jemals jemanden wiederzutreffen. Also feierst du einmal schön mit denen und dann verschwindest du.

Krass ist, wenn die Party vorbei ist. Dann sitzt du in einem Raum mit zwei Dutzend Leuten und bist trotzdem allein. Du kannst dich ja auch nicht unterhalten mit denen, weil die alle kein Deutsch können. Und mein Englisch ist echt panne, besonders, wenn ich drauf bin. Hat mich nie interessiert, Englisch. Naja, ewig kannst du das nicht machen. Aber ich bin froh, dass ich es überhaupt machen kann.

Ich habe ja keine Ausbildung oder so. Bin mit der 8. Klasse von der Schule, weil ich keinen Bock mehr hatte. Gab nur Beef mit den Lehrern. Und war halt öde. Naja, mein Elternhaus war nicht das Beste, da gab es nicht so viel Support. Ich habe dann bisschen Fight Club gemacht, um Kohle zu verdienen und gedealt. Eigentlich war ich immer blank.

Und dann war ich eines Tages bei einem Kumpel in Berlin. Wir waren fett feiern und am nächsten Morgen, also eigentlich schon Nachmittag, gehe ich zum Bäcker und da werde ich von so einem Typen angesprochen. Das war ein Scout. Der hat krudes Zeug gefragt. Was ich so mache und ob ich Bock hätte, dass er mal eine Sedcard mit mir fotografiert. Ich hatte keinen Plan, was das ist, aber es klang nach Kohle und ich brauchte Kohle. War goldrichtig, ey.

Kennst du Heidi Klum? Ich bin jetzt bei der gleichen Agentur. Mal kucken, wie lange. Ich bin schon 25. Aber ich sage immer, ich bin 21. Kann ich doch machen, oder? Ich sehe halt jünger aus. Naja, ein paar Jahre wird das schon noch laufen. Die Opis in der Branche sind so 35. Danach kommt nur noch der Otto-Katalog oder die Apotheken-Umschau. Da musst du vorher den Absprung schaffen. Ich will zum Film. Wie Mark Wahlberg. Schaffen nicht viele. Die meisten stürzen total ab. Deswegen: Jetzt schön Kohle scheffeln. Noch geht‘s.

Sagt meine Freundin auch immer. Die macht irgendetwas mit Marketing für eine Pharmabude, aber kriegt nur Dreizehnhundert im Monat. Raus. Das mache ich in einer Show! Da hab ich zu ihr gesagt, zieh‘ doch bei mir ein und spar die die 500 Tacken Miete. Kauf dir lieber was Schönes. Keine Ahnung, schickes Auto oder so. Hat sie gemacht. Jetzt wohnt sie bei mir in Delitzsch. Ja, ich weiß, Delitzsch, krass. Aber ich bin dort geboren und ich will nicht weg. Da sind ja auch meine ganzen Leute. Theoretisch.

Boah, ich freu mich so, die heute Abend zu sehen. Ich habe ihr bisschen Bling-Bling gekauft. Die wird sich freuen. Wobei ich aufpassen muss, dass ich die nicht so verwöhne. Ich will keine verwöhnte Zicke. Ich brauche eine echte Frau. Weißt du, wenn ich meiner Süßen auf den Arsch haue, dann wackelt der noch in drei Monaten. Darauf stehe ich. Und das weiß die auch. Deswegen ist die auch nicht eifersüchtig. Die verhungerten Kokshühner interessieren mich nicht. Ich brauche was zum Anfassen, weißt du. Aber die Hühner dürfen ja nichts essen und trösten sich dann mit Nasen voller Puder. Was willst du mit so einer? Aber klar, es ist hart eine Beziehung zu führen, wenn deine Süße dich nie sieht. Das letzte Mal war ich vor neun Wochen zuhause. Deswegen bringe ich ihr immer was Schönes mit, wenn ich komme. Dann hat sie was an mich zu denken hat, wenn ich weg bin. Kohle ist ja da.

Wenn ich zwanzig Shows mache in einer Woche, sind das 25 Scheine. Im Moment muss ich die Hälfte an die Agentur abgeben. Aber das ist okay. Der Trick ist ja, eine Kampagne zu bekommen. Also Plakate, Anzeigen, Spots und so. Dafür kriegt man 180.000 Tacken im ersten Jahr und für jedes weitere Jahr der Kampagne nochmal 70 Scheine. Also 70 Tausend. Das wäre natürlich der Knaller. Aber ich bin schon zufrieden, wie es jetzt läuft.

Am Anfang war es heftig. Ständig musste ich zu Castings oder Previews und hab dafür keinen Cent gesehen. Jedes Mal habe ich mir fast in die Hosen geschissen. Ich wusste ja nicht, was die von mir wollen. Aber die wollen immer das gleiche: Den Rowdy. Bisschen böse gucken, bisschen Fresse ziehen, bloß nicht lachen. Das war’s. Hatte ich schnell drauf. Andauernd haben die Tussis von der Agentur angerufen, damit ich irgendwo hin fahre. Oder fliege. Ich so zu denen: Ey Leute, ich buttere hier nur rein. Und die so: Ey, chill mal, die große Kohle kommt schon noch! War dann auch so. Läuft.

Ich bin halt der Exotentyp für die. So viele Tattoos wie ich habe. Guck mal hier, sogar meine Geheimratsecken sind tätowiert, da gehen die total drauf ab. Und hier, meine Arme. Das ist meine Mama, hier ein Piratenschiff, da kommen aber noch Wellen hin und so. Der Knaller ist natürlich das Kreuz mit den Engelsflügeln auf meiner Brust. Soll ich das Shirt nochmal ausziehen? Hast du den Drachen auf meinem Rücken gesehen? Ist voll der Kontrast zu den feinen Klamotten. Das zieht den Fotografen total den Stecker.

Manche Klamotten darf ich behalten, wenn sie mir gefallen. Besonders, wenn die voller Schminke sind. Aber dann wäscht man die, und dann sind die wieder cool. Die Hose hier zum Beispiel. Sag mal, findest du auch, dass die am Arsch zu locker sitzt? Meine Agentin in New York sagt das. Und du?

Die meisten Kollegen sind total glatt. Manchmal machen die sich dann so Abziehbildchen-Tattoos drauf. Voll arm. Aber die sind eben derbe jung und haben null Lebenserfahrung. Die finanzieren sich ihr Studium mit dem Modeln, mehr ist das für die nicht. Für mich ist es mein Job. Mein einziger.

Echt, du steigst hier aus? Schade. Tja, dann: Hat mich echt gefreut, dich kennenzulernen. Weißt du, ich texte ja nicht jeden so zu. Aber bei Leuten, bei denen ich Interesse spüre, erzähle ich halt gern mal. Achso, ich heiße übrigens Norman.

Herr Bär und die Wespe

„Wir sollten es bei einer Verwarnung belassen, Herr Bär.“
Er hat die Lippen schon geschürzt, als er stockt.
„Finden Sie nicht?“
Sein Glas hat vibriert. In der Sekunde, in der er es ansetzen wollte, hat es vibriert. Er verharrt.
„Aber wieso?“
„Frau Brunner arbeitet seit 34 Jahren für uns. Acht davon für Sie, Herr Bär. Sie waren immer zufrieden.“
Langsam senkt er das Glas und stellt es vor sich auf den Tisch. Er beugt sich darüber und starrt hinein, wie in ein Mikroskop. Auf dem Spiegel seiner Apfelsaftschorle kämpft ein Insekt gegen das Ertrinken.
„Nein!“ Er schlägt eine Hand vor den Mund.
Sie blättert durch Ihre Unterlagen.
„Aus den jährlichen Leistungsbewertungen, die Sie geschrieben haben, geht aber hervor, dass Sie sogar sehr zufrieden mit ihr waren.“
Mit großen Augen sieht er auf. „Völlig unerheblich, jetzt.“

Hecktisch dreht er den Kopf hin und her. Er klopft die Taschen seines Jacketts ab, dann die seines Hemdes, dann die seiner Bundfaltenhose.
„Frau Brunner hat sich eine Verfehlung geleistet, Herr Bär.“
Er kippt das Glas an und stiert hinein. Das Insekt paddelt um sein Leben.
„Aber ihre Anstellung bei uns ist von außerordentlicher Wichtigkeit für sie.“
Er stellt das Glas ab. Mit beiden Händen fährt er sich durchs Haar. „Ihr Strohhalm.“
Erschrocken legt sie die Hand auf das silberne Kreuz in ihrem Dekolletee.
„Die Anstellung? Ihr Strohhalm?“ Sie nickt langsam. „Gewissermaßen.“
„Geben Sie ihn mir.“
„Was?“
„Ihren Strohhalm. Sie können Ihren Tomatensaft ohne trinken.“
„Warum sollte ich?“
„Schnell!“
Er streckt den Arm über den Tisch und schnappt sich den Strohhalm. Er zieht ihn durch die Lippen, um ihn vom Tomatensaft zu reinigen. Er achtet sorgfältig darauf, nicht seine Krawatte zu bekleckern.
Sie nimmt ihre eckige Brille von der Nase und lacht. „Herr Bär! Was wird das?“
Er schmatzt. „Ein Exempel, Frau Lugner!“

Vorsichtig fährt er mit dem Strohhalm in das Glas und legt ihn an die Seite des Insekts.
Mit offenem Mund starrt sie ihn an. „Sie retten eine Wespe?“
„Biene.“
„Sie retten eine Biene?“
„Einer Wespe würde ich genüsslich beim Ertrinken zusehen.“ Er grinst.
Die Biene angelt nach dem Strohhalm. Sie findet keinen Halt. Er schiebt sie an den Rand des Glases. Immer wieder landet das Insekt in der Schorle. „Mist!“

„Frau Brunner wird sich in der Sitzung nachher vor dem versammelten Vorstand für ihr Verhalten entschuldigen, Herr Bär. Wir sollten ihre Entschuldigung annehmen. Finde ich.“
Er greift nach dem Glas und legt es so schräg wie möglich, ohne dabei Schorle zu verschütten. Die Biene treibt ganz nach hinten zum Boden des Glases. „War ja klar!“
„Sie tut mir einfach leid, Herr Bär.“
„Mir auch. Es ist alles meine Schuld. Man darf süße Getränke nicht offen stehen lassen in einer solchen Umgebung.“
„Ich meine Frau Brunnner, nicht die Biene!“
„Sie ahnen ja nicht, wie wichtig Bienen für die Landwirtschaft sind!“
„Ihre Sekretärin ist mir augenblicklich wichtiger. “

Unermüdlich stochert er mit dem Strohhalm nach der Biene. Die Kunststoffoberfläche ist zu glatt. Die Biene hat keine Chance. Frau Lugner lehnt sich zurück und seufzt. „Die ist hin, Herr Bär.“
„Das sehe ich auch so.“ Er zieht die Schultern an. „Wir haben sensible Daten zu verarbeiten. Ich kann Frau Brunner nicht mehr Vertrauen. Frau Brunner hat mich hintergangen.“ Er lässt wieder locker.
Ihr Blick schweift über den Platz. „Indem sie eine Frikadelle gegessen hat?“ Sie schließt die Augen und badet ihr Gesicht in der Sommersonne.

Frustriert stellt er das Glas vor sich ab. Darin tobt eine Springflut. Die Biene hält sich wacker. Mit dem kleinen Finger angelt er nach ihr. „Es geht nicht um die Frikadelle.“ Der Finger ist zu kurz, die Hand zu dick, der Pegel zu niedrig. „Verdammter Mist!“
„Worum dann? Ums Brötchen?“ Sie legt ihre Brille auf den Tisch. Er studiert den ungewohnten Anblick ihres brillenlosen Gesichtes. „Es kommt auch nicht auf den Wert des Brötchens an, sondern einzig und allein auf das Vertrauen.“
Frau Lugner öffnet einen Knopf ihrer Bluse um noch mehr Sonnenstrahlen zu erhaschen. „Und ihr Vertrauen ist nachhaltig erschüttert, weil sich Frau Brunner ein Frikadellenbrötchen gemacht hat?“
Er hält die Luft an. Blitzschnell beugt er sich über den Tisch und greift sich das Glas Tomatensaft. Frau Lugner wirft die flachen Hände in die Luft. „Was ist nur los mit Ihnen?“

Er nimmt sein Glas und legt es schräg. Aus dem Glas in der anderen Hand lässt er langsam den Tomatensaft in die Schorle fließen. Schnell bilden die beiden Flüssigkeiten eine trübe dunkelorange Einheit. Auf deren Spiegel strampelt eine hilflose Biene.
„Der Knackpunkt ist, dass sie sich seit Jahren schon vor den Sitzungen des Sachverständigenrats am Buffet bedient hat.“ Er knallt das leere Glas auf den Tisch. „Hinter meinem Rücken.“
„Wie sind sie ihr auf die Schliche gekommen?“
„Sie hat es zugegeben.“
„Aber wie haben Sie es bemerkt?“

Ruhig richtet er das Schorleglas auf. Mit dem Zeigefinger der freigewordenen Hand bildet er einen Haken, den er neben der Biene in die Flüssigkeit taucht.
„Es gab einen Verdacht. Wir haben dann bei der letzten Sitzung des Sachverständigenrats nachgezählt.“
Langsam fährt er mit dem Haken unter die Biene. Vorsichtig hebt er ihn an. Mit den Hinterbeinen zuerst krabbelt die Biene auf seinen Finger.
„Und siehe da.“ Er strahlt.
„Es fehlte eine Frikadelle?“
Er wird ernst. „Eine Frikadelle und zwei halbe Brötchen.“

Er hebt die Biene aus der Flüssigkeit, die unerwartet sämig von seinem Finger tropft. Die Biene wagt ihre ersten benommenen Schritte.
„Sie wird sie stechen!“
„Die Hand, die sie rettet?“ Lächelnd runzelt er die Stirn.
Sie hebt ihre Unterlagen wie einen Schutzschild. „Der Stich einer Biene kann gefährlich werden!“
„Wespenstiche sind deutlich gefährlicher.“ Er führt den Finger dicht vor seine Nasenspitze.

Das Insekt beginnt sich zu putzen. Zuerst reinigt sich die Biene mit dem vordersten Beinpaar die Fühler. Ein bisschen sieht das aus, als würde sie sich frisieren. Er beobachtet den Vorgang mit kindlicher Freude. Frau Lugner beobachtet ihn, verliert aber nach einigen Sekunden das Interesse.
„Wir könnten Frau Brunner versetzten, Herr Bär. Wir könnten ihr die Chance geben, sich das Vertrauen an anderer Stelle wieder zu erarbeiten.“
„Am Gefährlichsten sind übrigens diejenigen Wespen, die für Bienen gehalten werden.“
Die Biene reibt sich ihre Vorderbeine abwechselnd aneinander und an ihrer Brust. Die Mittelbeine säubert sie, indem sie sie anwinkelt und sich damit mehrfach über ihren behaarten Bauch fährt. Mit den Hinterläufen verfährt sie ebenso.
Bär sieht sie scharf an. „Ich möchte, dass Sie ihr kündigen.“

Dann angelt er das Taschentuch aus der Brusttasche seines Jackets. Mit einem geübten Hieb in die Luft entfaltet er es, bevor er es vor sich auf dem Tisch ausbreitet.
„Frau Brunner hat angedeutet, dann das Arbeitsgericht anzurufen.“
„Wissen Sie eigentlich, dass Bienen sterben, wenn sie stechen?“
„Herr Bär.“
„Ihr Stachel hat Widerhaken. Beim Herausziehen reißt ihnen das Hinterteil ab. Bienen verwenden ihren Stachel deshalb klug. Nur Wespen können es sich leisten, wild um sich zu stechen.“
Langsam führt er den Finger zum Tisch und rollt ihn sachte darauf ab. Die Biene klettert auf das Taschentuch.

Frau Lugner schüttelt den Kopf. „Das tun Wespen nicht. Sie wehren sich, wenn sie sich bedroht fühlen. Das ist ihr gutes Recht.“
„Wie wollen Sie das beurteilen, Frau Lugner? Sie können Bienen und Wespen nicht voneinander unterscheiden.“
„Auch Wespen haben ihren Platz.“
„Bienen sind fleißige Nützlinge, Wespen hinterhältige Räuber.“
„Ein Wespenvolk vertilgt bis zu 500 Gramm Schädlinge pro Saison. Sie wissen das, Herr Bär.“
Er faltet die Hände vor dem Kinn und lächelt anerkennend.

„Ich bin aber allergisch gegen Wespen.“
Sie schlägt ihre Unterlagenmappe zu und wirft einen Blick auf ihr Handy.
„Wir müssen, Herr Bär. Die Sitzung beginnt in zehn Minuten.“
„Einen Moment noch.“

Wenige Augenblicke später wagt die Biene den kurzen Flug zum Hortensiengesteck in der Mitte des Tisches. Herr Bär faltet gewissenhaft sein Taschentuch. Schmunzelnd steckt er es zurück an seinen Platz.

Im Juli 2009 wurde einer seit 34 Jahren für den Bauernverband Westfalen tätigen Chefsekretärin gekündigt, weil sie ohne Wissen ihrer Vorgesetzten zwei halbe Brötchen und eine Frikadelle von deren Buffet aß. Das anschließende Gerichtsverfahren wurde mit einem Vergleich beendet; die Klägerin erhielt eine Abfindung.