Kollegen sind tabu, aber Alkohol ist schlecht für die Deckung

Kollegen sind natürlich tabu. Privates und Dienstliches ist voneinander zu trennen, das hat schon mein Vater gewusst und er konnte das auch erklären: Wenn das Dienstliche privat wird, wird es meistens kompliziert. Meine Mutter und die Sekretärin meines Vaters bestätigen das. Aber diesen einen Kollegen ein klitzekleines bisschen anzuhimmeln, macht mir Spaß und hat mich schon in einigen Sitzungen davor bewahrt, alberne Blümchen in mein Notizbuch zu kritzeln, so wie es meine Chefin macht, der ihrem Notizbuch nach zu urteilen sehr offensichtlich jemand zum Anhimmeln fehlt. So ein bisschen Schwärmerei kann niemandem schaden finde ich, insbesondere dann nicht, wenn schwärmen bedeutet, dem Schwarm gegenüber dermaßen lässig aufzutreten, dass dieser zurecht daran zweifeln darf, ob man seine Existenz überhaupt bemerkt. Aber Alkohol ist schlecht für die Deckung.

Er ist betrunken und ich bin betrunken und schon während er zur Bar torkelt, an der ich auf meinen Mojito warte, denke ich: Meine Fresse, eine Betriebsfeier, wie in den „So bewahren Sie auf einer Betriebsfeier ihr Gesicht“- Ratgeber-Artikeln auf Welt Online. Jetzt reiß dich also zusammen, denke ich, und verliere nicht dein Gesicht, nur weil seines so niedlich ist. Und als er die Bar erreicht sage ich: „Hey Mattis!“ und verkneife mir gerade so das „Wie geht’s altes Haus?“, worauf ich sehr stolz bin, weil es beweist, dass ich noch nüchtern genug bin um zu merken, dass ich nicht lässig klinge, sondern wie ein erkälteter Azubi im Team von Cobra 11. Mattis bestellt das Gleiche wie ich, ohne zu wissen, was ich bestellt habe. Er mag mich vielleicht doch, denke ich, und im nächsten Moment denke ich, ach was, der ist einfach betrunken. Ihm ist egal, was ihn gleich noch betrunkener macht und mir kann egal sein, ob er mich mag oder nicht.

Er klettert auf den Barhocker neben mich und brummt: „Weißt du, Korbi, eins muss ich dir mal sagen.“, und ich denke, reiß dich ja zusammen verliere bloß nicht dein Gesicht und vor allem: nenne mich nie wieder Korbi. Er zündet sich eine an und lässt seinen Blick in die Ferne schweifen und ich muss lachen, weil niemand so schön gender performt wie Mattis Hansen. Aber als der Rauch des ersten Zuges langsam aus seiner Mundhöhle entlang seiner vollen Oberlippe an seinen Bartstoppeln nach oben steigen will und er ihn plötzlich wieder einzieht, wobei er ein rückwärts gesprochenes S macht, fällt mir das Lachen aus dem Gesicht und mir wird ein bisschen heiß. Klischee hin oder her.

„Ich habe ja schon ein Jahr bei euch gearbeitet, bevor ich kapiert habe, dass du schwul bist.“, sagt er und lässt denn Rauch durch leicht geschürzte Lippen entweichen und ich sage „Oh.“ und ziehe die Augenbrauen hoch. „Also eigentlich habe ich es gar nicht kapiert“, sagt er, bevor er den nächsten Zug nimmt, „Jenny hat’s mir erzählt und ich dachte erst, die verarscht mich. Aber dann hast du gesagt, dass du Marco Schreyl heiß findest und da war es dann klar.“ Das einzige, was mir klar wird ist, dass ich mein Gesicht längst verloren habe und zwar irgendwann in einem neonröhrenbeleuchteten Großraumbüro, stocknüchtern aber viel zu redselig. Glücklicherweise muss ich nicht mehr als „Naja.“ antworten, weil Mattis schon weitererzählt.

„Weißt du, ich kenne ja keine Schwulen. Der einzige Schwule, den ich jemals kannte, war beim Bund mit mir auf der Stube und das war voll die Tucke. Der war total anstrengend und hatte es nicht leicht.“ Ich sage „Aha.“, und bete dafür, dass mir dieser Zeitlupenkünstler von einem Barkeeper endlich meinen Mojito serviert, damit ich mir einen Eiswürfel in den Mund stecken kann, und gar nicht mehr antworten muss. Es dauert bis zu Mattis‘ „Aber du bist ja nicht so.“, bis meine Gebete endlich erhört werden und ich mir den Strohhalm zwischen die Zähne klemmen kann, damit meine Zunge ja kein dummes Zeug mit meinen Zähnen formuliert. „Du bist ein gestandener attraktiver Mann.“, sagt Mattis als nächstes und es ist sein Glück, dass ich ihn ein bisschen anhimmle, andernfalls hätte ich ihn jetzt in eine Diskussion darüber verwickeln müssen, was er ungewöhnlich daran findet, dass homosexuelle Männer gestanden und attraktiv sein können, und diese Diskussion verliert man gegen mich. So aber fasse ich das als Kompliment auf und spüre, wie ich puterrot werde.

Als mich Mattis dann fragt, ob ich schon immer schwul war, zerstäube ich mit dem feinen Alkoholnebel, den ich unkontrolliert in die Luft pruste, auch jegliche Hoffnung auf die Existenz Gottes. Mattis guckt mich ernst an, obwohl, ernst ist das falsche Wort. Er guckt so, wie jemand guckt, der mit ehrlichem Interesse das Verhalten eines ihm unbekannten Tieres studiert. Und weil ich ihn nicht bloßstellen will, verschleiere ich meinen Lachanfall zu einem Hustenfanfall. Ich konnte ja nicht ahnen, dass er mir erst fest auf den Rücken klopfen und als nächstes sanft über die Schulter streichen würde. Als ich mich wieder gefangen habe, einige Sekunden nachdem er seine Hand wieder bei sich hat, sage ich: „Ich bin ungefähr so lange schwul, wie du hetero bist.“ und finde, dass ich jetzt gelassener klinge, als ich mich fühle. Mattis zeigt mir sein schönes Lächeln und ich zeige Mattis mein verlegenes Grinsen und wie gut mein Herz mein Gesicht durchblutet, und weil das ja nicht für immer so weiter gehen kann, sage ich: „Aber ich habe schon mal mit einer Frau geknutscht, falls du das meinst.“

Der Barkeeper serviert Mattis seinen Mojito und ich begreife, dass das Gleiche wie ich zu bestellen kein Ausdruck besonderer Sympathie, sondern Zeugnis besonderer Rationalität war. Mattis musste auf seinen Mojito viel kürzer warten, als ich auf meinen und das lag daran, dass der Barkeeper nur einmal zu mixen anfangen musste. „Prost!“, sage ich und Mattis sagt: „Nur einmal?“, und ich denke, wieso soll ich „Prost! Prost!“ sagen, wenn du nicht wenigstens „Prost!“ sagst, aber ich schweige lieber, weil ich befürchte, dass es peinlich werden könnte und das ist klug. Ein paar Sekunden später begreife ich nämlich, dass er das Knutschen meint und nicht das Trinken. „Ja, nur einmal“, antworte ich schließlich, „und das war interessant, weil sich die Frau viel weicher und viel weniger stachlig anfühlte als alle Männer, die ich jemals küsste.“ Mattis nickt langsam und fängt an, mit seinem Strohhalm den Saft aus den Limettenachteln am Boden seines Glases zu drücken, und ich würde einen Zehner dafür geben, zu erfahren, was er denkt. Dann presst er die Lippen zusammen und ich schmunzele darüber, dass er sich für das bisschen Saft so konzentrieren muss. Der denkt gar nichts mehr, denke ich.

„Na klar“, sagt Mathis dann unvermittelt und ohne seinen Blick vom Glas abzuwenden, „man muss alles mal ausprobieren, eigentlich.“, woraufhin mir unwillkürlich der Mund aufgeht. Aber anstatt etwas zu sagen, zum Beispiel „Falls du mal Knutschen mit einem Mann ausprobieren willst, ich schmecke gerade nach Minze, Zucker und Limetten.“, trinke ich lieber einen großen Schluck und starre auch ein bisschen in mein Glas.

Als ich das betretene Schweigen nicht mehr aushalte sage ich: „Lass uns wieder rüber zu den anderen gehen.“ und Mattis sagt:
„Jo.“, aber er sieht mich nicht an. Während ich vom Barhocker klettere, lege ich meine Hand zur Stütze auf seine Schulter und als ich merke, wie hart und warm die ist, ärgere ich mich schon. Hätte ich nur mal mein Gesicht riskiert, um sein niedliches zu küssen. Bis zur nächsten Betriebsfeier muss es erst Herbst, Winter, Frühling und wieder Sommer werden.

Briefe & Falten

Aus dem Briefkasten fällt ein Umschlag. Ich klemme meine Einkäufe unter den Arm, bücke mich und erwische ihn zwischen Zeigefinger und Mittelfinger. Ich wundere mich darüber, wie dick und weich er sich anfühlt. Ich lese meine Adresse und versuche von der Handschrift auf den Verfasser zu schließen. Meine Hausnummer wurde ausgebessert, aber wer sie falsch hin schrieb und dann korrigierte, erkenne ich nicht. Auf der Rückseite des Umschlags steht ein Wort. Ich kann nicht entziffern, welches. Es besteht aus unterschiedlich hohen Spitzen und Haken, es hat keine Ösen, keine Schlaufen, keine Kringel. Der Handschrift nach eine aggressive Person, denke ich und komme mir albern vor. Ich reiße das Kuvert auf, vorsichtig, an der Seite, damit das Wort auf dem Rücken keinen Schaden nimmt. Ohne den Brief auseinander zu falten erkenne ich an den sich auffächernden Rändern, dass er aus drei Bögen besteht, die von vorn und hinten beschrieben sind.

Ich freue mich darüber, einen Brief erhalten zu haben, zumal einen handgeschriebenen. Während ich die Treppen zu meiner Wohnung nach oben steige, versuche ich mich zu erinnern, wann ich zum letzten Mal einen handgeschriebenen Brief erhielt. Bis zum zweiten Stock fallen mir nur Postkarten ein. Bis zum dritten Stock bin ich frustriert darüber, dass nur Rechnungen und Reklame in meinem Briefkasten landen. Dann denke ich wieder an die Postkarten und ärgere mich über meinen gewohnheitsmäßigen Frust. Bis zum vierten Stock nehme ich mir vor, mehr Postkarten zu schreiben, um im Gegenzug häufiger welche zu empfangen. Aber woher denn, denke ich im Fünften,  ich verreise doch so selten. Und an wen denn, denke ich dann, aber da erreiche ich meine Tür.

Ich schließe meine Wohnung auf und werfe meine Schlüssel in den Korb. Den Brief lege ich auf den Schuhschrank, mit der Anrede nach oben, das ist Zufall, wirklich. Die Einkäufe stelle ich auf den Boden und während ich meine Jacke ausziehe, erkenne ich, dass die Anrede auf meinen Namen endet und meinem Namen nur eine sehr kurze Grußformel vorangestellt ist. Als ich meine Schnürsenkel öffne, entschlüsselt mein Gehirn das kurze Wort. „Ach“, sage ich. „Ach“ und mein Name steht da, denke ich, und dann weiß ich, der Brief ist von dir. Niemandes Namen besteht aus so vielen Spitzen und Haken wie deiner: Vinzent.

Ohne mir vorher die Hände zu waschen gehe ich ins Arbeitszimmer und setzte mich an meinen Schreibtisch. Während mein Rechner hochfährt, überlege ich wegen einer passenden Anrede. Ich finde „Ach“ sehr treffend, aber „Ach“ hast Du verwendet und außerdem ist es wehleidig. Während ich ein leeres Dokument öffne, frage ich mich, wie du darauf kommst, dass das bei mir ziehen könnte. Ich schreibe nur „Vinzent,“ und dann warte ich, bis mein Herz wieder langsamer schlägt als die Eingabemarkierung auf dem Bildschirm blinkt.

Ich schreibe:

„danke für Deinen Brief. Ich habe lange keinen Brief mehr erhalten, zumal keinen handgeschriebenen. Vielleicht wünschst Du dir eine handgeschriebene Antwort, aber die schreibe ich nicht. Weil ich es nicht gewohnt bin mit der Hand zu schreiben, bereitet es mir Schmerzen. Außerdem habe ich keine schöne Schrift. Deine Schrift ist auch nicht schön.“

Diesen Satz lösche ich wieder. Es geht nicht um Schönheit. Nicht mehr.

„Es ist komisch, dass ich mich über deinen Brief freue. Ich habe nämlich beschlossen, ihn nicht zu lesen.

In den letzten Tagen ist es mir einige Male gelungen, auf dem Nachhauseweg an Deinem Haus vorbei zu radeln, ohne dabei zu Deinem Fenster hinauf starren zu müssen, um zu sehen, ob du rauchst. Das ist ein Erfolg, denn ich nehme auf dem Nachhauseweg am Straßenverkehr teil und kann mir eine solche Unaufmerksamkeit nicht erlauben. Einmal wäre ich beinahe auf ein ausparkendes Auto aufgefahren und musste mich als Hans-guck-in-die-Luft beschimpfen lassen. Gestern habe ich zum ersten Mal fast nicht an Dich denken müssen. Es ist gemein von Dir, dass Du mir heute schreibst.

Ich habe mich wegen meines neuen Geruchs oft wie von einem Fremden bedrängt gefühlt in den letzten Wochen. Aber ich sah mich gezwungen, mein Deo zu wechseln, nachdem ich jahrelang ohne Erklärung geduldet hatte, dass Du das gleiche verwendest wie ich. Jetzt habe ich mich daran gewöhnt und werde dabei bleiben.

In den letzten Wochen habe ich viel gefroren. Bis auf zwei Paar waren alle dicken Socken, die ich besaß von Dir gestrickt, weshalb ich mir verboten hatte, sie anzuziehen. Am nächsten Dienstag wird der Wäschekorb für die Kleidersammlung vor der Haustür stehen, dort werde ich sie hineingeben, der Sack ist gepackt und verknotet. Ich habe neue Socken inzwischen, die sind zwar nicht so schön bunt aber dafür kann ich sie auch im Büro tragen.

Wenn ich Deinen Brief lese und Du darin endlich erklärst, warum es ausgerechnet Konrad sein musste, könnte es sein, dass wir uns wieder vertragen. Dann wirst du mir vielleicht neue Socken stricken oder Schals. Eines Tages werde ich dann wieder frieren, das ist mir zu riskant. Abgesehen davon habe ich eine Aufstellung gemacht, die ergeben hat, dass die Vorteile des Endes unserer Freundschaft die Nachteile bei weitem überwiegen: Ich habe mehr Zeit zum Lesen. Und ich habe mehr Zeit zum Schreiben. Zum Beispiel fürs Tagebuchschreiben. Anders als Du merkt sich mein Tagebuch die Dinge, die ich ihm erzähle. Und es verwendet sie nicht gegen mich. Weder verschweigt es mir etwas noch erfindet es etwas dazu, das ich nie gesagt habe. Ich werde wieder an Dich denken müssen, wenn ich Deinen Brief lese, dabei gibt es so viel anderes, über das ich dringend nachdenken müsste, zum Beispiel darüber, was ich nun an Weihnachten mache. Wenn ich Deinen Brief lese, werde ich mich wahrscheinlich ärgern, weil Du mir wieder versuchen wirst weiszumachen, dass ich nicht erwähnt hätte, wie schön ich Konrad finde und ich will keinen krummen Mund vom Ärger. Am Schlimmsten wäre, wenn Du „Entschuldigung“ sagen würdest. Man kann nicht einfach so „Entschuldigung“ sagen. Man kann nur darum bitten.

Nach wie vor stört mich, dass Du in die gleiche Wohnung in der gleichen Etage auf der gleichen Seite wie ich gezogen bist, wenn auch sechs Häuser weiter. Aber ich werde Deinetwegen nicht umziehen.

Wenn ich Deinen Brief nicht lese, wird das Ende unserer Freundschaft meine Schuld sein. Wenn wir in einigen Jahren darauf zurückblicken – Du in deiner Wohnung und ich in meiner – werde ich derjenige sein, der die letzte Chance zur Versöhnung ungenutzt hat verstreichen lassen. Ich werde nicht wissen können, ob Du immer noch behauptest, das bisschen Mitdenken wäre zu viel verlangt gewesen. Ob Du mir wieder vorwirfst, dass ich Dir auch viel angetan hätte, ohne aber zu benennen, was. Vielleicht verpasse ich aber auch den historischen Moment in dem Dir eine Einsicht über die Lippen kommt. Ich habe schon manches verpasst, Konrad zum Beispiel, ich bin immer noch da, das halte ich aus.

Bestimmt, findest Du es feige und faul von mir, deinen Brief nicht zu lesen, aber feige und faul sein ist eine Überlebensstrategie, die sich in der Tierwelt sehr bewährt hat und ich mag Tiere. Außerdem war ich sehr fleißig, das Loch, dass Du hinterlassen hast, irgendwie zu stopfen. In den Lücken in meinen Bücherregalen leben jetzt beispielsweise Schwäne und Giraffen aus Papier. Aus deinem Brief ließe sich eine Schildkröte oder einen Fuchs falten, aber das kann ich noch nicht.

Jedenfalls kannst Du jetzt nicht einfach so zurückkommen. Und überhaupt kannst Du nicht zurückkommen. Weil es Dich, wie ich Dich dachte ja nie gegeben hat. Es wäre deshalb besser gewesen, Du hättest Deinen Brief an mich nicht abgeschickt. Den Fehler, der Dir mit der Hausnummer passiert ist, hättest Du als Zeichen lesen sollen. Ich kenne Deine Hausnummer leider noch genau. Aber meine Druckerpatrone ist leer, und ich werte das als eindeutiges Zeichen.

Als ich gefragt werde ob ich speichern möchte, klicke ich auf „Beenden ohne speichern“. Während ich meine Einkäufe ins Regal räume, beneide ich meinen Computer.

Letzte Nacht

„Willst du auch einen?“ Simon kramt in der Nachttischschublade.
„Was?“ Mitri deckt sich zu.
„Kaugummi. Wir können noch einen zusammen kauen, bevor wir auseinandergehen.“
„Keine Zigaretten, wie im Film?“
„Ich rauche nicht mehr.“
„Steht aber noch in deinem Profil.“
„Echt? Ich habe hier noch irgendwo Zigaretten, wenn du magst.“
Simon will aufstehen. Mitri erwischt seine Schulter in der Dunkelheit und hält ihn zurück.
„Ich rauche nicht.“
„Steht aber in deinem Profil.“
„Ich weiß.“
„Und da steht auch, du würdest 90 Kilo wiegen.“
„Du magst kräftige Männer.“
„Aber du bist spindeldürr!“
„Liegen wir deshalb im Stockdunklen? Bin ich hässlich?“
„Nein! Aber warum machst du dich dicker als du bist?“
„If it makes you happy, it can’t be that bad.”
Simon schmatzt. Es riecht nach Pfefferminz.

„Auch das steht anders in deinem Profil, aber:“, Simons Stimme brummt etwas in Mitris Ohren, „Du machst das nicht so oft, oder?“ Simon tastet nach Mitris Kopf und legt ihn auf seine Schulter. „Du warst total aufgeregt. Deine Finger waren eiskalt, dein Mund ganz fest und deine Hüften völlig verkrampft.“
„War ich schlecht?“
„Du warst süß.“ Simon streichelt Mitris Schulter. „Später hat es dir gefallen, oder?“
„Ich war unkonzentriert, anfangs.“
Simon kichert. Mitri legt seine Hand auf Simons Bauch.

„Ich musste an die Meteoriten denken.“
„An was?“
„Heute Nacht wird ein unikaler Meteoritenschauer über Deutschland niedergehen.“
„Unikal? Und das macht dich an?“
Simon legt ein Bein zwischen Mitris Schenkel.

„In Tschebarkul sind im Februar drei Menschen bei Meteoriteneinschlägen drauf gegangen.“
„Drei.“
„Eintausendundvier wurden verletzt.“
„Beulen am Kopf? Blaue Flecken?“
„Den Meisten wurden durch herumschießende Glasscherben die Körper zerschnitten.“

„Und du wolltest es noch einmal krachen lassen, bevor du zerfetzt wirst?“
„Ich wollte meinen Körper benutzen.“
„Fremdbild als Gummipuppe. Wie schmeichelhaft.“
Simon zieht sein Bein zurück und legt seine Hände auf die Decke. Mitri hebt seinen Kopf und schaut dorthin, wo er Simons Gesicht vermutet.

„Ich habe das noch nie gemacht.“
„Noch nie? Wieso jetzt?“
„Ein einziger Meteorit reicht, um diese Stadt dem Erdboden gleich zu machen.“
„Wie in diesen amerikanischen Katastrophenfilmen? Hoffentlich ist mein Kameraakku geladen.“
„Das ist nicht witzig.“

Simon stützt sich auf seine Ellenbogen und wendet Mitri den Kopf zu.
„Die Meteoriten verglühen doch in der Atmosphäre!“ Er singt. „Voila: Sternschnuppen!“
„Eben nicht. Sternschnuppen sind Meteore. Meteore verglühen. Meteoriten sind viel größer. Sie schaffen den Weg durch die Atmosphäre. Heute Nacht kommen Meteoriten. Riesige.“
„Und schlagen ausgerechnet hier ein?“
Mitri zuckt mit den Schultern. „Ich weiß nicht.“
„Du tust aber so, als wüsstest du es.“
„Je nach Temperatur und Dichte verändert sich beim Eintritt in die Atmosphäre der Winkel ihrer Flugbahn. Niemand kann berechnen, wo sie einschlagen.“
„Haben Sie dich in der Schule oft gehänselt?“
„Wieso?“
Simon lässt sich wieder auf den Rücken fallen. Mitri räuspert sich.

„Die hätten doch Bescheid gesagt, wenn die gefährlich wären.“
„Damit sich die Leute im Keller einschließen?“
„Ja. Zum Beispiel.“
„Das sind keine Hagelkörner. Das sind Meteoriten. Die reißen Krater von mehreren Kilometern. Druckwelle, Staubwolke, tagelange Dunkelheit. Sowas.“
„Aber dann hätten die uns evakuieren müssen!“
„Wohin denn?“
Simon macht eine Kaugummiblase, die ihm klatschend aufs Kinn fällt.

„Die hätten uns trotzdem gewarnt.“ Er kaut wieder.
„Die haben uns gewarnt.“
„Wer?“
„Die ESA. Du liest keine Nachrichten, oder?“
Simon schlägt die Decke zurück und stolpert in die Dunkelheit. Einige Sekunden später erscheint sein Gesicht auf dem Sofa in einem bläulichen Licht.

„Krass.“
„Du vertraust mir nicht.“
„Noch drei Stunden Zeit.“
Ein Metallarmband klappert. „Drei Stunden und sieben Minuten.“
„Deswegen hast du deine Uhr nicht abgelegt.“
„Hat sie dich gestört?“
„Uhren stören immer.“
Simon klappt den Rechner zu. Einige Schritte später zeichnen sich am Fenster über der Stadt die tiefschwarzen Umrisse seines Körpers vor der fastschwarzen Nacht ab.

„Müsste man die nicht schon sehen?“
„Wenn sie in drei Stunden hier sind und mit vierzig Kilometer pro Sekunde auf uns zu rasen, dann sind sie –“, Mitri zählt seine Finger, „Dann sind sie noch circa vierhunderttausend Kilometer entfernt. Soweit reicht dein Auge nicht.“
Simon lacht. „Hast du das jetzt ausgerechnet?“
Mitri setzt sich auf. „Ja. Stimmt es nicht?“
„Keine Ahnung.“

Mitri faltet die Beine zum Schneidersitz und lehnt seinen Kopf an die Wand.
Simon dreht sich um und starrt ins dunkle Zimmer.
„Was machen wir jetzt?“
Mitri zögert. „Noch einmal miteinander schlafen?“
„Spinnst du?“
„Hat es dir nicht gefallen?“
„Nein! Doch!“ Simon zögert. „Ich will nicht, dass du deinen Körper an meinem benutzt.“
„Das war schlecht formuliert, entschuldige.“
„Ich habe auch schlecht formuliert: Ich möchte nicht mit einem Fremden Sex haben, wenn die Apokalypse hereinbricht.“
Simon setzt sich aufs Fensterbrett und zieht die Beine an.

Mitri spricht vom Bett her leise. „Ich bin kein Fremder.“
„Wir sehen uns zum ersten Mal.“
„Aber wir chatten seit mehr als zwei Wochen.“
„Trotzdem.“
„Ich habe deine Handynummer seit neun Tagen!“
„Trotzdem.“
„Du hast mir von deiner Trennung erzählt.“
„Na und?“
„Und dass du viel getrunken hast, danach.“
„Ja, es ging mir schlecht! Ich trinke nicht mehr!“
„Dafür chattest du.“
„Was hat das damit zu tun?“
„Du hast mir Fotos geschickt, von früher. Mit Ex-Mann und Ex-Hund.“
„Ja! Und du hast mir viel von dir erzählt! Deine Jugend in Tscheljabinsk oder –blinsk oder wie auch immer, die Reise hierher, der Typ, der dich dann doch hat Sitzenlassen. Man erzählt sich voneinander, wenn man chattet.“ Simon springt vom Fensterbrett. „Aber das macht uns noch lange nicht zu“, eine Gürtelschnalle klimpert, „Das macht uns noch lange nicht zu Gefährten.“

Simon stürzt im Zimmer umher.
„Was tust du?“
„Ich ziehe mich an.“
„Warum?“
„Ich werde nicht hier sein, wenn ein riesiger Felsbrocken ins Haus kracht. Du übrigens auch nicht.“
„Wo gehst du hin?“
„Ich werde nicht allein auf die Katastrophe warten.“
„Ich bin doch da.“
„Du gehst jetzt.“
Statt aufzustehen greift Mitri nach der Decke und legt sie sich um.

„Wo willst du denn hin?“
„Keine Ahnung.“
„Du musst doch wissen, wo du hin willst!“
„Ich weiß es aber nicht! Raus.“
„Zu deinen Eltern ins Kinderzimmer? Zu deinen Pärchenfreunden in die Besucherritze?“
„Nein.“
„Zu deinen traurigen Singlefreunden auf die Couch? Zur perfekten Familie deiner Schwester?“
„Mann, nein!“
„In die Arme deines Ex‘? Zwischen ihn und den Neuen? In eine Bar?“
Simon schreit: „Ist ja gut!“

Simon tritt dicht ans Bett. Mitri spürt die Wärme seines Bauchs auf den Wangen.
„Und du? Wo willst du sein?“
Mitri flüstert. „Hier.“
„Warum ausgerechnet hier?“
„Ich will nicht alleine sein.“
„Warum ausgerechnet bei mir?“
„Zufall.“
„Lüg mich nicht an.“
„Du warst der einzige, der Zeit hatte.“
„Lüg mich nicht an!“
„Du erinnerst mich an Kostya.“
„Wer ist Kostya?“
„Kostya.“ Mitri schnieft. „Kostya war gut zu mir.“
„Ich bin nicht Kostya!“
„Ich liebe dich.“
Simon stürzt zur Tür und machte Licht. Beide sind geblendet.

„Du kennst mich überhaupt nicht!“
„Das ist egal.“
„Das ist nicht egal. Ich will jetzt bei meinen Leuten sein.“
„Wer sind deine Leute?“
„Menschen, die ich liebe. Menschen, die mich lieben.“
„Ich bin hier.“
Simon setzt sich auch aufs Bett, Mitri gegenüber.
„Aber uns verbindet keine Liebe, kapierst du das?“
„Wo sind deine Leute? Deine Leute sind sonstwo. Ich bin hier.“
„Du bist so schräg!“

„Es ist ganz einfach: Du hast dich gezeigt, ich habe mich gezeigt. Wir haben uns verbunden. Wir sind jetzt, hier, beieinander. Wir wissen nicht, wie viel Zeit bleibt. Wir wissen nicht, was passiert, wenn wir raus gehen. Oder was morgen ist. Aber wir wissen, dass es gut ist, wenn du dich zu mir legst und ich mich an dich schmiege. Bis es wieder hell wird. Falls es wieder hell wird.“
Simon springt wieder auf.

„Ich weiß nicht, was das für dich ist, Stardust – verdammt, ich kenne nicht einmal deinen Namen!“
„Mitri.“
„Dimitri?“
„Mitri.“
„Wie?“
„Egal.“
„Ja es ist egal. Für mich war das ein Sexdate. Kein Wir-werden-eng-umschlungen-von-der-Sonne wachgeküsst, kein Wir-geben-uns-knutschend-dem-Tod-hin, nicht der Anfang einer mehrjährigen Beziehung.“ Simon läuft unruhig im Zimmer auf und ab. Mitri schließt die Augen.
„Trotzdem Liebe.“
Simon schreit. „Du kennst mich nicht. Du liebst mich nicht!“
Mitris Augen bleiben geschlossen. „Wie soll ich dich kennen? Dein Profil ist voller Lügen.“
Simon tritt zum Bett. „Ja! Eben! Und?“
„Deine Nachrichten waren es auch. Von wegen, du schwärmst für Sheryl Crow, wie ich.“
„Tu ich.“
„Du hast vorhin nicht einmal die Top-Zeile aus ihrem Top-Hit erkannt.“
„Wann?“
„Sogar deine Wohnung ist drappiert.“
„Meine Wohnung?“
„In deinem Bücherregal im Flur sind Lücken, in denen kein Staub liegt. Und die Bücher, die du hast stehen lassen, hast du nicht gelesen.“
„Natürlich habe ich das.“
„Niemand hat Ulysses gelesen. Du trägst eine Maske. Und darunter noch eine. Und noch eine.“
Simon packt Mitri an den Schultern „Wie du!“
Mitris Decke rutscht herunter. „Natürlich.“
Simon tritt zurück und kratzt sich am Kopf. „Also?“
„Du bist wie ich.“ Mitri öffnet die Augen. „Darunter.“
„Du bist verrückt!“
„Und du?“
„Ich?“

Mitri legt sich hin und atmet aus.
„Du bist verloren, ich bin verloren.“
Simon steht und schweigt.
„Mach das Licht aus und leg dich zu mir.“
Es donnert in der Ferne.
„Muss ja nicht für immer sein.“

Wann haben Sie zum letzten Mal eine Erfahrung gemacht?

“Wann haben Sie zum letzten Mal eine Erfahrung gemacht?”

Berger zieht die Augenbrauen zusammen. Ein Schweißtropfen schafft den Weg und rinnt Richtung Auge. Der rote Rahmen seiner Brille spaltet Zuckowski optisch den Schädel. Trotzdem schiebt er das breite Gestell langsam wieder Richtung Nasenwurzel. Er verwendet dafür den Mittelfinger der linken Hand. Er hofft, dass ihr Unterbewusstes diese Geste richtig deutet.

“Herr Berger?”

“Am 22. Juni.” Er pustet sich eine Strähne aus dem Gesicht. “Ein Freitag.”

Zuckowski versucht ein gütiges Lächeln und legt den Kopf schief. Ihre blonden glatten Haare biegen sich auf den Schulterpolstern ihres hellblauen Blazers. “Die Frage zielte mehr auf die Art der Erfahrung ab.”

Der von seinen Wimpern gefilterte Schweißtropfen geht im Tränenfilm seines linken Auges auf. Obwohl es brennt, erlaubt er sich nicht zu blinzeln. “Sie haben nach dem Zeitpunkt gefragt.”

Bis auf die große Perle, die an einer silbernen Kette unter ihrem Ohrläppchen wackelt, verharrt sie völlig regungslos. Er findet Perlen pervers. Perlen sind Zysten, hat er gelesen. Muscheln bilden Sie unter größten Anstrengungen, um Fremdkörper unschädlich zu machen. Frau Zuckowski schmückt sich mit Zysten, denkt er.

Das Brennen in seinen Augen wird so stark, dass er sie fest zusammenkneifen muss. Jetzt erlaubt auch sie sich zu zwinkern. “Ist Ihnen warm, Herr Berger?”, ruft sie in betonter Überraschung.

“Am 22. Juni habe ich meinen engsten Geschäftspartner und besten Freund verloren.”

Ihre Lippen formen ein kindliches “Oh!”. Sie hält es, bis sie sicher ist, dass er die Fülle ihrer Lippen gebührend bewundert hat. „Soll ich die Klimaanlage einschalten?”, fragt sie dann.

“Das wird ihn mir nicht zurückbringen.” entgegnet er ohne Zögern.

Sie löst ihre übereinander geschlagenen Beine, erhebt sich, umrundet ihren gewaltigen Schreibtisch und geht an ihm vorüber zum Bedienelement für die Klimaanlage neben der Tür. Er findet es obszön, wie ihre nylonüberzogenen großen Zehen durch die Löcher an den Spitzen ihrer Schuhe luken. Ihrer Aufmerksamkeit für einen Augenblick entkommen, trocknet er sich das Gesicht mit dem Ärmel seines Jacketts.

“Viel besser!” lobt sie sich. Ihr schwarzer Ledersessel seufzt, als sie wieder in ihm Platz nimmt. „Wo waren wir?“

„Er fehlt mir.“ sagt Berger ernst. „Nicht wegen des Geschäfts. Der Laden ist zu. Er fehlt mir als Freund.“

„Das tut mir leid.“ Die Worte sind längst verhallt, aber ihr Kopf nickt noch verständnisvoll. Als sie begreift, dass Berger sie für immer wortlos weiternicken lassen würde, fragt sie: “Gibt es etwas, das Sie aus diesem Verlust mitnehmen können?”

Im Rahmen einer Geste, die sie für ein Lächeln hält, zeigt sie ihm ihre großen weißen Zähne.
Er versteht ihre Drohung und braucht einige Sekunden, sich seiner Furchtlosigkeit zu erinnern.

„Ja.” sagt er dann als hätte er einen spontanen Einfall. „Ich kann daraus lernen, mit künftigen besten Freunden nicht zu vögeln.“ Langsam beugt er sich über den Tisch zu ihr herüber. „Das macht viel kaputt, glauben Sie mir.”

Sie rutscht auf ihrem Stuhl hin und her. “Ich verstehe nicht recht, glaube ich.” Erst als sie zu ihrem metallenen Kugelschreiber greift, den sie vorhin wie einen Strich unter eine Rechnung auf ihre Gesprächsnotizen gelegt hatte, findet sie wieder Halt.

“Nein, sicher nicht.” bestätigt er. „Nur die wenigsten wissen, wie es ist für zwei Männer, von morgens bis abends an einem Projekt zu arbeiten und gemeinsam ein Geschäft aufzubauen. Das schweißt extrem zusammen. Da entwickelt sich aus einer Freundschaft eine Bruderschaft. Wenn man zusammen ist, ist einfach alles gut. Merkt man aber erst, wenn einer fehlt. Man kann sich nicht vorstellen, dass sich das alles in einer einzigen Nacht kaputtvögeln lässt.“ Er lehnt sich zurück und faltet die Hände hinter seinem Kopf. „Ist aber so.”

Sie starrt ihn an, als würde sie ein fremdartiges Insekt untersuchen.

“Es fing einfach an. Eines Tages ist mir aufgefallen, wie gut Matze riecht. Es war heiß in meiner Dachwohnung. Im Sommer ist es immer unerträglich heiß. Wir hatten den ganzen Tag nach einem Fehler im Code gesucht. Als ich ihn irgendwann fand, sprang er auf, kam zu mir herüber und drückte mich. Ich wusste ja, wie er riecht. Aber in diesem Moment war ich wie vom Blitz getroffen. Wie benommen.“

Sie ist wieder zu sich gekommen und schafft es, seinen Vortrag zu durchschneiden, obwohl er schneller spricht, als er denkt. „Herr Berger, was wollen Sie mir damit sagen?“

„Dass Sie ja nicht ahnen, wie sehr man die Macht der eigenen Gedanken unterschätzt!“ ruft er staunend. „Ich habe Matze seitdem als Freund oder Kollegen überhaupt nicht mehr ernst genommen. Ich habe ihn permanent sexualisiert. Plötzlich bemerkte ich die Haare auf seinen Unterarmen. Ich fing an, die Adern auf seinen Handrücken zu mögen. Seine runden, flachen Fingernägel. Heimlich studierte ich die Kontur seiner Brust in seinem offenen Hemd. Die Form seiner Lippen, wenn er darauf herum kaute, um sich besser konzentrieren zu können. Die Muskulatur seiner Schenkel, wenn er sich bückte, um uns Bier aus dem Kühlschrank zu holen. Seinen Arsch. Ich dachte, kucken ist in Ordnung. Er merkt es doch nicht. Kucken tut niemandem weh. Kucken tut gar nichts.“

Mit erhobenem Zeigefinger schiebt er ihre Replik zurück in ihren offenen Mund. Als wären es vier separate Sätze spricht er: „Das stimmt aber nicht.“ Und dann weiter: „Kucken kann total gewaltvoll sein.” Für einige Sekunden zieht er theatralisch die Mundwinkel nach unten, als hinge das Gewicht des letzten Satzes wie Blei an ihnen.

„Herr Berger!“, ruft sie entrüstet aber zu langsam. „Warum erzählen Sie das?“

“Weil Sie gefragt haben.” antwortet er verblüfft. “Sie wollten wissen, was meine letzte Erfahrung war. Bitte sehr, das ist sie.”

“Herr Berger.“ Erneut sucht sie auf ihrem Stuhl nach Haltung. Sie findet die einer Insektenforscherin, die einem 10jährigen erklären muss, warum sie für ihre Arbeit Hummeln tötet. „Mit dieser Frage wollte ich herausfinden, was Ihnen wirklich wichtig ist und wie stabil sie sind.”

“Weiß ich doch.“ antwortet er, als hätte sie versucht, ihm einen misslungenen Witz zu erklären. „Und mit meiner Antwort wollte ich Ihnen vermitteln, dass mir Matze wirklich wichtig war, dass es aber meine Libido war, die mich noch stärker“ er unterbricht, um für den Bruchteil einer Sekunde die Lippen zu schürzen „umtrieb.“

„Das“, sagt sie fest, während sie mit dem Kugelschreiber auf ihn zeigt, „ist Ihnen gelungen, Herr Berger.” „Eindrucksvoll.“ schiebt sie nach, um sich noch ein paar Sekunden Stille zu verschaffen.

„Wollen Sie wissen, wie’s weiterging?”, fragt er vorsichtig, nachdem sie ihre Waffe ratlos hat sinken lassen.

„Ich finde Ihr Verhalten sehr unpassend.” ruft sie, während sie die silberne Oberfläche ihres Kugelschreibers auf Fingerabdrücke zu untersuchen scheint.

„Also ja?”, hakt er freundlich nach.

„Herr Berger, Sie sind eigentlich nicht in der Position hier Fragen zu stellen.” Sie beginnt, den Stift am Saum ihres knielangen Rockes sorgfältig zu polieren.

„Oh!“, er verzieht das Gesicht, als hätte er auf etwas Saures gebissen.“ Das Wort eigentlich sollten Sie eigentlich nicht verwenden.“ Dann flüstert er: „Es untergräbt ihre Position.”

„Es geht hier nicht um meine Position. Es geht um Ihre.”, versucht sie mit fester Stimme.

„Und die würde ich Ihnen gern darlegen.”

Ein Wink mit der flachen Hand, erteilt ihm das Wort. „Bitte.”

Er schnalzt, als er seinen roten Faden wiederfindet. „Ich habe dann angefangen von Matze zu träumen. Also nachts. Also von Sex mit ihm.”

„Herr Berger!” Sie seufzt, lehnt sich zurück und verschränkt die Arme unter ihren großen Brüsten.

„Ich habe angefangen an ihn zu denken, wenn ich wichse.”

„Hören Sie sofort auf damit!” Sie schlägt mit beiden Handflächen auf die Glasplatte ihres Schreibtisches. Er erschrickt und erhöht sein Sprechtempo, als bliebe ihm nicht viel Zeit, alles zu erklären.

„Ich habe gedacht, das ist in Ordnung. Also, weil er davon ja nichts erfährt. Es ist aber nicht in Ordnung! Weil es mein Verhalten ihm gegenüber verändert hat. Es hat mein Verhältnis zu ihm verändert. Er war ein Freund, ein Bruder. Aber durch meine Gedanken wurde er zur Beute für mich. Ich habe ihn angelogen.“

Er schluckt. Sie untersucht mit gleichgültigem Blick die Deckenpaneele.

„Ich wollte ihm gefallen. Bevor er morgens kam, habe ich gebadet und mich rasiert. Manchmal habe ich eine Stunde lang vor meinem Kleiderschrank gestanden. Nebenbei habe ich mir überlegt, welche Geschichten ich ihm in den Arbeitspausen erzählen könnte, ganz beiläufig, um ihn zu beeindrucken. Mir ist überhaupt nicht aufgefallen, wie schäbig das war.” Langsam schüttelt er den Kopf.

„Wieso schäbig?” Die Insektenforscherin ist zurück in ihrem Gesicht.

Über ihr Unverständnis erschrocken sieht er sie ernst an. „Er war doch völlig arglos! Ich war sein Kollege, sein Kumpel! Er hielt mich für locker und aufrichtig. Für ihn war es ein Arbeitstag, für mich war es ein Date. Er kam unbewaffnet. Ich habe alle Register gezogen. Verstehen Sie denn nicht, wie hinterlistig das war?“

„Sie waren verliebt.”, sagte Sie schulterzuckend und mit einem verständigen Grinsen, das ihn ekelt.

„Ach Quatsch.“ Mit einer beiläufigen Handbewegung wischt er ihre Küchenpsychologie beiseite. „Ich war nicht verliebt! Ich habe diesen man vor 10 Jahren im Studium kennengelernt. In allen Beziehungen, die er seither führte, war ich der beste Freund an seiner Seite. Ich weiß, was für ein Kind er ist. Was für ein Ja-Sager. Nach drei Monaten in einer Beziehung mit ihm wäre ich gestorben vor Langeweile. Aber dazu hätte es sowieso erst kommen können, nachdem mir große Brüste und blonde Haare gewachsen wären. Gott, wie hörig Matze gegenüber großen Brüsten ist!“ Er macht einen breiten Mund, als wäre ihm die Herleitung einer komplizierten mathematischen Formel gelungen.

„Ich wollte mit Matze vögeln, das war alles. Einmal mit ihm vögeln. Einmal wissen, wie es ist. Ob es stimmt, was seine Ex-Freundinnen so erzählen. Mir war nicht klar, wie viel das zerstören würde.”

Sie ist auf ihrem Grinsen hängengeblieben. Er befeuchtet ausgiebig seine Lippen. Dann sagt er langsam: „Sie hören ja zu.”, obwohl er „Geht es Ihnen gut?“ meint.

„Ich glaube, dass wir unser Gespräch hier beenden sollten.“ Sie schnaubt ein bisschen, als sie lacht. „Ja, ich denke, ich habe genug gehört.”

„Gut.” sagt er. Seine Anstalten aufzustehen beschränken sich jedoch darauf, die Hände klatschend auf seine Oberschenkel fallen zu lassen.

„Gut.” Sie sammelt seine auf dem Tisch ausgebreiteten Unterlagen zusammen und bildet einen sauberen Stapel, den sie so behutsam wieder vor sich auf die Glasplatte legt, als dürfe dabei kein Geräusch entstehen.

„Herr Berger, warum haben Sie das getan?” Ihr Blick klebt weiter am Titelblatt seiner Bewerbungsmappe.

„Gute Frage!“ lobt er. Mit Daumen und Zeigefinger glättet er seinen Kinnbart. „Die Gelegenheit war günstig und ich packte sie beim Schopfe. Ich bin so. Matze trank immer zu viel, wenn wir mal zusammen aus waren. Aber wir waren nicht oft zusammen aus. Kurz, nachdem Matze diese Frau hier in Dresden kennengelernt hatte, ist er zu ihr gezogen. Programmiert haben wir immer in Leipzig, bei mir. Und wenn wir nach der Arbeit mal noch was trinken wollten, hieß das automatisch, dass Matze bei mir schlafen musste. Das gefiel seiner Freundin nicht. Die hatte sowieso beschlossen, mich nicht zu mögen. Obwohl wir uns nie getroffen haben. Sie hielt unser ganzes Projekt für Zeitverschwendung. Mich eingeschlossen.“

Sie will ihn unterbrechen, kommt aber nicht über lautes Einatmen hinaus.

„Ich weiß, ich verstehe das auch.“, wiegelt Berger ab. „Eine Beziehung zu pflegen braucht eben Zeit! Die gemeinsamen Abende müssen toll sein. Aber unsere gemeinsamen Abende waren auch toll! Wir haben niemanden gebraucht. Wir sind immer in unsere Stammkneipe zwei Straßen weiter und haben Gott und die Welt gerettet. An diesem speziellen Abend hat er mir sein Herz ausgeschüttet, weil er bezweifelte, dass seine Freundin an ihn glaubt. Keine Ahnung. Ich habe ihm einen Doppelten nach dem anderen bestellt. Und als sie um zwei die Musik ausgemacht haben, konnte er nur noch lallen. Da wusste ich: Jetzt oder nie. Torkelnd und grölend sind wir zu mir. Als sei es ein Witz unter Besoffenen, bin ich einfach zu ihm in die Dusche gestiegen.“ Er grinst wie ein schmieriger Gebrauchtwagenverkäufer, bevor er ruft: „Bingo!“

Sie starrt ihn ausdruckslos an. Wegen ihrer großen braunen Augen muss er daran denken, dass Kühe in Indien heilige Tiere sind. Bedrohlich leise sagt sie: „Ich meine nicht–“, sie presst die Lippen aufeinander, „die Sache mit ihrem Freund. Ich meine unser Gespräch. Warum haben Sie es so ruiniert?”

„Ich habe Ihnen nur geantwortet.“ sagte er aus dem niedlichsten seiner Dummerchen-Gesichter.

Sie schließt die Augen und spuckt „Ihr Privatleben interessiert mich nicht.” in die Luft.

„Naja.“, er lächelt versöhnlich. „Sie haben aber andauernd danach gefragt.”

„Mitnichten.”, zischt sie.

Als gäbe es Doppel-Ü ruft er: „Natürlich haben Sie das.“ Dann schaltet er eine Oktave höher. „Andauernd! Wie würden Sie sich als Mensch beschreiben? Was würden Ihre Freunde über Sie sagen? Was sind Ihre drei größten Stärken? Was ihre Schwächen? Sind das wirklich alle Schwächen? Wovor fürchten Sie sich? Was haben Sie in der Zeit getan, in der Sie nicht gearbeitet haben? Was tun Sie zum Ausgleich?”

„Ich muss wissen, mit wem ich es zu tun habe, bevor ich Sie einstelle!” Ihre Hände sind flach nebeneinanderliegend an der Tischplatte festgefroren, was ihn beruhigt, weil sie so keinen Schaden anrichten können.

„Eben.“, schnarrt er, als sei sie schwer von Begriff. „Deshalb muss ich Ihnen ehrlich antworten.“

Als müsse das Adjektiv ganz ohne Vokale auskommen entgegnet sie: „Aber professionell.“

„Professionell ehrlich?“ rätselt er, während sie wieder auftaut.

„Wissen Sie, das Gespräch lief gut.“ Sie überfliegt ihre Notizen, bevor sie „Wirklich gut.“ nachschiebt. „Warum haben Sie dann alles kaputt gemacht?“

„Ich konnte doch nicht wissen, dass es so furchtbar werden würde.“, bat er um Entschuldigung.

„Aber was haben Sie denn erwartet?“, ruft sie, nicht einmal bemüht, ihre Erschöpfung zu verbergen.

„Völlig Unrealistisches, da haben Sie recht.“ gibt er kleinlaut zu. Dann setzt er zur Verteidigung an: „Aber so ist das ja immer mit glühenden Fantasien: Wenn sie Wirklichkeit werden, enden Sie in einer Katastrophe.“

Sie faltet geräuschlos ihre Hände und klemmt Sie sich vors Kinn.

„Naja, oder zumindest in einer Enttäuschung. Ich wusste, was ihn scharf macht. Ich habe mir ja Tausend Mal anhören müssen, was seine Freundin alles eklig findet. Als ich ihn soweit hatte, sind wir rüber ins Bett. Aber mir war überhaupt nicht klar, wie schwer er ist. Ich habe kaum Luft bekommen unter ihm, auch, weil er so fies nach Knoblauch und Alkohol stank. Als ich dann oben war, hat der angefangen zu schniefen, wie ein Walross. Ich dachte, der ist erkältet, oder so, dabei ist der einfach nur tierisch abgegangen. Und als ich gerade richtig in Fahrt war, brüllte der plötzlich wie ein Gorilla. Ich hatte echt Angst, die Nachbarn rufen die Polizei. Dann machte er ein Gesicht als hätte er ‘ne Herzattacke und dann war er fertig. Fertig! Das hat keine zehn Minuten gedauert. Natürlich hatte er sofort keine Lust mehr. Und ich musste mir selbst helfen. Vielleicht kennen sie das.“

„Das reicht, Berger!“ Sie legt ihren Kopf in ihre Hände, als wollte sie sich die Spitzen ihrer Zeigefinger diskret in die Gehörgänge stopfen.

„Das reichte nicht nur, das war einfach zu viel.“, korrigiert er. „Am nächsten Morgen wurde ich von der Wohnungstür geweckt, die krachend ins Schloss fiel. Ich habe Matze nie wieder gesehen. Auch nicht gesprochen. Ich habe hundertmal versucht, ihn zu erreichen. Keine Chance. Er hat nur noch per E-Mail mit mir kommuniziert. Und seitdem das Geschäft abgewickelt ist, antwortet er gar nicht mehr. Der ist einfach zu feige. Das war’s.“

„Korrekt, Herr Berger: Das war’s. Sie gehen jetzt. Den Job haben sie nicht. Sie wollten ihn doch gar nicht wirklich, oder?“ Dann erschrickt sie. „Den Job!“

Berger erhebt sich und zupfte sein Jackett zu Recht. Dann sagt er lächelnd: „Tja also, ich fand’s interessant, dass wir uns kennengelernt haben.“

„Hier sind ihre Unterlagen, Herr Berger. Guten Tag und gute Reise.“

„Vielen Dank, und – sagen Sie schöne Grüße.“