Radius

Ich soll nur noch rausgehen, wenn ich muss, aber obwohl ich mich zusammenreiße so gut ich kann, ist mein Müssen ein anderes als dasjenige, das die Kanzlerin neulich im Fernsehen erklärte.

Ich muss jeden Tag, ich kann sonst nicht schlafen, weil die Muskeln in meinen Beinen nachts zu zucken anfangen – um ihren gerechten Anteil betrogen.

Ich bekomme ein Gefühl von Radius. Wie ein auf einer Wiese an einem Seil angepflocktes Schaf.

Nicht bloß, dass ich nur soweit von meiner Wohnung weggehen kann, wie ich im Stande und gewillt bin zu Fuß zurückzugehen, sondern auch, dass ich da schon überall war, hunderte Male, dass ich jeden Halm kenne und jede Wurzel, gut genug, um nicht mehr darüber zu stolpern.

Zum ersten Mal seit Heiko aus Delitzsch weggezogen ist, seitdem wir in den Zustand der Fernbeziehung eingetreten sind, der trotz vier mal Umziehen nach wie vor andauert, begreife ich, wo ich lebe: hier.

Hier ist, soweit mich meine Beine tragen.

Hier ist Volkspark, Kaufmitte, Arbeitersiedlung – zwar Weltkulturerbe, aber in Wirklichkeit auch nur Wohnblocks, meinetwegen schöne.

Hier ist der beste Eisladen Berlins, in dem Eis & Geld neuerdings über einen improvisierten Tresen hin & her gleiten, weil man den Laden nicht mehr betreten darf.

Hier ist Bärbel, Barbara, Gisela, Peter und die Orks mit ihren Tölen.

Außerdem der kleine Bäcker, die Zwiebelbratkartoffelkiezkneipe und der Dönerladen, aber nicht der neue; die Soßen schmecken komisch.

Hier sind die Kaninchen, die Krähen, der Reiher, die Mandarinenenten, die Schildkrötenfamilie und die Suhlen der Wildschweine, die immer näher ans Wohngebiet vorrücken.

Weg ist die U7. Weg ist der Fernbahnhof in Spandau. Weg ist alles womit/weg sind alle mit denen sie mich verbinden, auch alles innerhalb des S-Bahn-Rings.

Weg als wäre sie ein verblassender Tagtraum ist meine Wohnung in Hamburg, in der meine Pflanzen verdursten und in der außer meinem Kühlschrank im energiesparenden Holiday-Modus seit Wochen nichts ein Geräusch gemacht hat.

Nicht weg, aber fern sind meine Freunde. Verteilt auf mehrere inselgleiche Raumstationen, die nur selten und nur vorübergehend einen so günstigen Winkel zur Erde haben, dass Videotelefonate möglich sind – ja, ich höre dich, hörst du mich, prima, na?

Neben mir atmet mein Mann. Ich mach die Augen zu und lausche.

Veröffentlicht von

Korbinian

Korbinian Saltz wurde im November 1978 in Kapstadt geboren. Seitdem ist er unterwegs in Richtung Norden. Weil er ein miserabler Fotograf ist, versucht er alles, woran er sich erinnern möchte in Worten zu bewahren. Einige davon veröffentlicht er hier. Andere auf korbiniansaltz.de

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