Flecken, dunkelblau (2)

(Fortsetzung des Textes von letzter Woche. Eine 78jährige Patientin einer geschlossenen psychiatrischen Station erörtert mit einem Psychologen die möglichen ursachen der unerklärlichen Verletzungen, die sie nachts erleidet.)

Oh, ich weiß, was sie sagen werden. Sie werden mir eine Nacht in einem Schlaflabor vorschlagen. Sie werden vorschlagen, dass wir dem Spuk leicht auf die Schliche kommen, wenn Sie mich unter Kameraüberwachung stellen und mein Gehirn an allerlei Elektroden anschließen. Am nächsten Morgen wüssten wir sicher mehr. Wissen wir nicht. Ich habe das schon hinter mir. Generell schlafe ich nicht in Schlaflaboren. Schlafen in einem Schlaflabor ist, als würden Sie versuchen in einem vollbesetzten Theatersaal auf der Bühne zu schlafen – unmöglich. Als ich zwei Nächte im Schlaflabor komplett durchwacht hatte, haben sie mir drei zusammenhängende Nächte dort gebucht. In der dritten Nacht war ich so erschöpft, dass ich tatsächlich eingeschlafen bin. Es blieb alles friedlich. Selbstverständlich. Dass es im Schlaflabor nicht passiert ist, beweist gar nichts. Als würde es sich zeigen, wenn alle gucken!

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Flecken, dunkelblau (1)

Wie ich geschlafen habe? Gut, danke. Und Sie? Oder ist das eine ernst gemeinte Frage? Wirklich? Dann kann ich das nicht beantworten. Es ist eine absurde Frage, sofern Sie sie ernst meinen.

Die Handlungsrichtung ist falsch. Verstehen Sie? Sie verdrehen Aktiv und Passiv. Wenn Sie mich fragen, ob ich gut geschlafen habe, dann klingt das, als würden sie herauszufinden versuchen, wie erfolgreich ich bei der Verrichtung der Tätigkeit Schlafen war. Aber ich habe ja gar nichts getan. Wissen Sie, was ich meine?

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Deutschlandhalle

Sie öffnete den Mund, streckte ihre Zunge heraus, legte die Tablette auf die Zungenspitze und spülte sie mit einem Glas Wein herunter. Sie atmete tief ein, nahm die zweite, der in Reihe gelegten Tabletten vom Tisch und schluckte auch diese. Sie mochte weder den Weißwein, den sie im letzten Jahr zu ihrem Geburtstag vom Zivi geschenkt bekommen hatte und den sie anfangs vereinzelt vor dem Zubettgehen, später beim Mittagessen und seit einigen Wochen regelmäßig auch zum Frühstück trank, noch die Tabletten die sie unter dem Bett ihres Sohnes im Jugendzimmer gefunden hatte und die sie seit seiner Flucht fast täglich probierte. Sie öffnete wieder den Mund, schluckte eine weitere Tablette herunter und hoffte, das die Wirkung des Weines und die beruhigende Wirkung der Tabletten heute besonders schnell einsetzten. Sie nahm die Geburtstagskarte vom Küchentisch, drehte sie auf den Kopf und flüsterte: “Jetzt bin ich einundachtzig Jahre und einen Tag alt!“. Sie legte die Karte zurück auf den Tisch, griff die schwere Armbanduhr ihres Schwiegervaters und hob sie vor ihre Augen. Sie küsste auf das beschädigte Glas und lächelte. Sie streichelte mit beiden Daumen über die zerkratzte Oberfläche, roch an ihr und glaubte die wohlriechende Haut ihres Schwiegervaters zu spüren. „Elf Jahre“, flüsterte sie auf das Glas,“ Elf Jahre hast Du jeden Handgriff, den ich hier in der Küche gemacht habe, von dem hohen Sofa unter dem Fenster mit vielen Komplimenten beobachtet. Elf Jahre habe ich Dich dafür bekocht und gepflegt!“ Sie verglich die Zeit auf der goldenen Uhr, auf dem bunten Küchenwecker und dem weißen Zifferblatt des Kirchturmes: es war viertel Zwölf. Sie knöpfte die gemusterten Dederonschürze auf, zog sie aus und faltete sie über die Stuhllehne. Sie streifte ihre beiden dünnen Eheringe vom Finger, hielt sie vor ihre Augen, überflog die kaum lesbaren Gravuren und legte sie auf das Kopfkissen des Sofas. Seit der Schwiegervater auf diesem Sofa verstorben war, vermied sie, sich darauf zu setzen oder wenn sie von ihren Hausarbeiten müde wurde, darauf zu legen. Sie saß viel lieber auf der hellblauen Sitzfläche des Küchenstuhles, an dessen Griffen lederne Handtaschen und Plastikbeutel klemmten und über dessen Lehne sich in den Jahren Schürzen aufgetürmt hatten. Sie konnte auf diesem Stuhl stundenlang zu den drei Kinderbildern im Buffet schauen. Sie konnte, wenn es dabei dunkel geworden war, ohne ein einziges Wort an dem Tag gesprochen zu haben aufstehen und ins Bett gehen. Sie öffnete wieder die Augen und sah sich prüfend in der Küche um: der Mülleimer war geleert, der Fußboden gewischt und gebohnert, die Gardine gewaschen und gestärt, die Gläser poliert und zu exakten Reihen in den Schränken verstaut, das Gas abgestellt, die Wohnungstür verschlossen. Sie stand auf, ging zum Buffet und schob den Stecker des Radios in die Steckdose. Seit Jahren schaltete sie mit diesem Trick den Kasten mit den vielen Knöpfen an und aus. Sie hörte Applaus aus dem Lautsprecher. Sie stellte das Radio leise. Seit sie in einer Dokumentation sich als HJ-Mädchen in der Deutschlandhalle wild applaudierend wiedererkannt hatte, mochte sie weder politische Reden noch das widerliche Geräusch des Applauses zu Partei-oder Brigadeveranstaltungen. Sie fühlte sich seit diesem Tag um ihre wunderbaren Erinnerungen von Damals betrogen und konnte bis heute nicht verstehen, dass er das, was die über ihn behaupteten, zugelassen hatte. „Wir haben viel erreicht, meine sehr verehrten Damen und Herren“ klang die Frauenstimme zur Festtagsrede zum 65. Jahrestag der Republik. „Angela“, sprach sie zur Skala des Radios schauend, “Angela“, so hätte meine Tochter ursprünglich heißen sollen. Sie strich sich die nicht vorhandenen Falten aus ihrem Kleid und ging zurück zum Tisch. Sie sah auf das vergilbte Weiß der Tapete und hörte für Sekunden wieder die schrille Stimme ihres verstorbenen Ehemannes, der beim Einzug in diese Wohnung auf dem Weiß aller Decken und Wände bestanden hatte. Sie zuckte zusammen, beugte sich für einen Moment nach vorn und sah aus dem Fenster zu jener Stelle am Haus, an der er über die Jahre ihre Dinge zerschlagen hatte. Sie stand auf und ging ins Schlafzimmer. Sie stellte sich an das Fußende der Betten, streckte die Händen auf die frisch bezogene Wäsche und streichelte über das Lieblingsmuster ihres Ehemannes, das sie am Morgen aufgezogen hatte: weißer Stoff mit blauen Wolken. Sie ging an sein Kopfkissen, betrachtete das Wolkenmuster und verließ, wie er es von ihr stets gefordert hatte und wie sie es seit jeher gewohnt war, auf Zehenspitzen das Schlafzimmer. Sie schloss mit einem Zeigefinger, den sie zwischen Türblatt und Rahmen schob, die Tür und ging zurück in die Küche. „Unsere Republik hat sehr viel erreicht, meine sehr verehrten Damen und Herren“, klang die freundliche Frauenstimme aus dem Lautsprecher. „Wir leben in einem Land, das jedem Wohlstand und Sicherheit garantiert!“ Applaus! Sie schlich noch einmal zur Schlafzimmertür, öffnete sie leise und warf sie mit einem Krachen zu. Sie ging zurück in die Küche und hörte wie der Applaus verstummte. „Im Namen der Bundesrepublik gratuliere ich Ihnen allen, meine sehr verehrten Damen und Herren“ Sie stellte das Radio, aus der die freundliche Frauenstimme klang, laut und sah in die Kindergesichter, die aufgereiht im Küchenbuffet abgelichtet standen. Sie zog die Schublade auf und holte die rote Wäscheleine mit dem Seemannsknoten heraus. Sie tastete über den Knoten den sie von ihrem Großen gelernt hatte und den sie seit Monaten vor dem Buffet stehend fast täglich übte. Sie hatte dabei sehr oft an die denen schönen Abende denken müssen, an denen der Große Seemannsgeschichten erzählte, die damals alle bezweifelten und die sie gegen jeden Zweifler heftig verteidigte. Sie erzählte noch Jahre danach ihrem Mann, der wenige Wochen nach seiner Pensionierung eines Morgens im Bett liegen geblieben war, diese wunderschönen Geschichten. Sie erzählte diesem Ehemann, der keine dunklen Farben ertrug, der stets eine Schaufel, eine Flasche Wasser, etwas Essen und eine Taschenlampe unter dem Bett liegen hatte, an jeden Morgen und an jeden Abend diese Geschichten, um ihn endlich wieder zum Aufstehen zu bewegen. Selbst mit dem Tag, an dem sie allein in dem Bett  lag, erzählte sie sich diese Geschichten und ertappte sich, wie sie diese oder jene Begebenheit durch neue Inhalte variierte. Sie erzählte die Geschichten ihres ältesten Sohnes, wenn sie im Bett liegend an diesen denken musste, manchmal so oft und so laut, dass sie glaubte, dieses lachende Gesicht im Küchenbuffet aus dem Schiff herausholen zu können. Sie legte die rote Wäscheleine in die Schublade zurück und schob die Lade zu. Sie ging zum Tisch, setzte sich auf den Stuhl, seufzte und wischte mit der flachen Hand über die giftgrüne Wachsdecke mit den pinkfarbenen Pusteblumen. Sie mochte weder die Farben noch die neumodischen Formen. Sie hatte anfangs kleine, später große Einrichtungsgegenstände in den Farben und Formen, die ihre Tochter liebte, gekauft, um, wenn sie endlich einmal käme, sie damit beeindrucken zu können. Sie schob eine weitere Tablette, die das letzte Kinderbild tütenweise unter der Matratze zurückgelassen hatte auf die Zungenspitze,  goss mit einen kräftigen Schwung Weißwein in ihr Glas, spülte die Tablette herunter und hoffte wieder, dass die wohltuende Wirkung der letzten Wochen und Monate heute besonders schnell einsetze. Sie lachte. „Wie beim Arzt“, sprach sie belustigt zu den Kinderbildern! Sie sah zu dem dritten Kinderbild und war sich immer noch nicht sicher, ob sich der Jüngste noch auf der Flucht vor den schlechten Freunden befand, ob er eine Offizierskarriere wie der Große begonnen hatte, oder ob er…. Sie lallte: „Ein guter Junge bist du, ein Guter, du bist der Beste von allen. Bestimmt bist du auch Offizier geworden, wie der Große!“ Sie öffnete das Kuvert mit den vielen Geldscheinen die sie über die Jahre von ihrem ältesten Sohn geschickt bekommen hatte und war sich für einen Moment nicht sicher, ob es für ein ordentliches Begräbnis reichen würde. Sie spürte wie die Tabletten des Jüngsten endlich zu wirken begannen. Sie griff nach den verbliebenen zwei Tabletten, drehte die Zunge heraus und warf belustigt eine der beiden in den Mund. Sie hob die zweite in die Luft, küsste sie laut, schob sie zwischen ihre Zähne und biss darauf. Sie schlürfte mit offenem Mund Weißwein. Sie würgte und brach die beiden Tabletten wieder heraus. Sie beugte sich nach vorn und tastete nach den Tabletten. Sie nahm sie in die Hand, wischte sie trocken, schob sie wieder in den Mund und schluckte sie mit dem Rest Wein herunter. Sie hörte wie die Kinderbilder im Buffet zu sprechen begannen: Das erste Bild rief: Mama, wo ist mein Lexikon; Das zweite weinte: Mama, meine Farben sind alle; Das dritte rief: Mama, ich habe wieder eine Fünf und einen Eintrag bekommen. Sie hielt sich die Ohren zu und sah wie die lachenden Kinderbilder sich übereinander schoben. Sie hörte wie die Bilder durch ihre verschlossenen Ohren im Kinderchor sangen: „Mama, wir haben Hunger, Hunger, Hunger; wir haben Hunger, Hunger, Hunger; wir haben Hunger, Hunger, Hunger; wir haben Durst!“ Sie riss die Hände von den Ohren und drückte sie vor ihre Augen. „Wir haben aus unserer Vergangenheit gelernt und sind jetzt ein in aller Welt geachteter Staat, meine sehr verehrten Damen und Herren“, hörte sie die freundlich klingende Frauenstimme aus dem Lautsprecher sagen. Applaus! Sie hob ihren Arm. Sie schüttelte den Kopf. Sie presste beide Hände wieder auf ihre Ohren. Sie starrte auf den grauen Fliesenboden und sah ihren Ehemann aus einer der Fliesen mit einer Schaufel herausklettern. Sie drehte den Kopf ruckartig zur Seite, blickte hinüber zum hohen Sofa unter dem Fenster und sah den Schwiegervater in seiner hochdekoriert Uniform. Sie ging zum Fenster, setzte sich auf das Sofa und fühlte wie er seine weiche, wohlriechende Hand mit der schweren, goldenen Armbanduhr, die er aus dem Krieg mitgebracht hatte unter ihr Sommerkleid schob. Applaus! Sie stand auf und ging zurück zum Tisch. Sie hörte aus dem Applaus eine kräftige Stimme rufen “Mein Sohn, mein Sohn ist ein jämmerlicher Versager. Applaus. Wir Deutschen lassen uns vom Iwan nicht unterkriegen. Applaus. Wollt ihr den totalen Krieg? Stürmischer Applaus. Du hättest mich, mich und nicht diesen elenden Volksverräter heiraten sollen!“ Sie hörte den Applaus verstummen und die Hymne in der Deutschlandhalle erklingen. Sie stand auf, hob noch einmal die Hand nach oben und winkte. Sie öffnete die Augen und verglich die Zeiger auf der Kirchturmuhr, auf dem Küchenwecker und der Armbanduhr. Sie spürte zwei kräftige Glockenschläge auf ihrer Stirn; sie spürte den Sekundentakt in ihren Ohren; sie spürte das Armband um ihrer Brust. Sie nahm die Hand herunter und ließ sich auf die hellblaue Sitzfläche des Stuhles zurückfallen. Sie beugte sich über die grüne Wachsdecke, griff die Armbanduhr und presste sie wie den Orden, den sie damals von ihm bekommen hatte, zwischen ihre Handinnenflächen. Sie formte ihre Lippen zu einem Kuss. Sie holte tief Luft und atmete zufrieden aus.

Der Altersscheue

Der Altersscheue fürchtet nichts so sehr wie seinen Geburtstag. Spricht einer seiner stets gutaussehenden Gesprächspartner unbedacht ein Wort aus, das mit Alterung in Verbindung steht oder auch nur gebracht werden könnte, hält der Altersscheue schreckhaft die Hand vor das Gesicht, tupft die vielen, dicken Schweißperlen von der gecremten und geschminkten Stirn oder steckt die lackierten Nägel seiner Zeigefinger tief in die Ohren. Wird in solch einem Gespräch zufällig sein tatsächliches Alter erkannt und trägt es der Entdecker nichtsahnend in die Welt, zittert der Altersscheue vor Wut. Er stößt mit den Füßen heftig gegen Betten oder tritt wahllos Wäschekisten ein, die in den Stationsfluren abgestellt sind. Noch vor Ort erklärt er lauthals den geschwätzigen Entdecker zu seinem Todfeind. Denn nichts verletzt ihn mehr, als der Verrat seines wirklichen Alters.

Der Altersscheue zieht jeden Morgen die dicke handgefertigte Silikonmaske, die er zur Straffung seiner Haut über Nacht trägt, vom Gesicht. Danach massiert er nach einer von ihm entwickelten Dehnübung die Haut bis er das Gesicht wieder bewegen kann. Ist er damit fertig, läuft er ins Bad, stellt sich auf die große Glaswaage, pustet mit aller Kraft die Luft aus seinen Lungenflügeln und zieht den Bauch ein. Dabei kneift er die Augen fest zusammen und streckt die Hände zur Baddecke. In Zeitlupe senkt er den Kopf und blinzelt auf die elektronische Anzeige. Ist er mit der Zahlenfolge auch hinter dem Komma zufrieden, atmet er hörbar Luft ein. Mit weit ausgebreiteten Armen hüpft er lächelnd von der chromgefassten Waage, klopft sich anerkennend auf die linke und rechte Schulter und tanzt ausgelassen durch die drei Zimmer seiner nach den neuesten Wohntrends eingerichteten Wohnung. Wieder im Bad angekommen, dreht er eine Pirouette und verbeugt sich gönnerhaft vor dem Spiegel wie vor jubelnden Publikum.

Um seinen Körper nach etwaigen Alterserscheinungen gründlich abzusuchen, knipst er den eigens installierten Halogen-Flutstrahler an und stellt sich in dessen breiten Lichtkegel. Er umgreift die große Standlupe und setzt zur besseren Kontrolle eine Juweliersbrille auf. Akribisch beginnt er Millimeter für Millimeter sein kosmetisch bearbeitetes Gesicht zu prüfen. Er schielt zwischen die gebleichten und reparierten Zähne und streckt die Zunge mit einem lauten „Bääh“ heraus. Mehrfach umrundet er dabei die obere und untere Zahnreihe, bis ihm die Zunge lahmt. Mit einem kräftigen Biss prüft er die korrigierten Lippen, ob sie noch prall genug für bevorstehende Abenteuer sind. Er nimmt die ägyptische Liebescreme, die er hinter dem Schrank in einem speziell eingebauten Versteck hält und die er stets nach einer streng geheimen Rezeptur nach Anweisung seiner Modezeitung fertigt. Hat er die Lippen gründlich eingecremt, beginnt er widerwillig die Fältchen auf der Stirn zu zählen. Verzählt er sich, was in neuester Zeit sehr häufig vorkommt, wiederholt er das Abzählen, dieses Mal mit halb geschlossenen Augen, bis er jedes Fältchen erfasst hat. Und nicht selten bricht er tränenüberströmt zusammen oder fällt beim Addieren der vielen Fältchen kurz in Ohnmacht und verletzt sich an der Badheizung oder seiner Lichtanlage. An solchen Tagen ist er krankgemeldet und schluckt massenhaft Vitamine und Aufbaupräparate.

Ist er endlich mit dem Fältchenzählen fertig, streckt er den Hals schwanenhaft nach oben und misst mit einem Präzisionszirkel das Doppelkinn ab und notiert die Zahl in einer Tabelle. Anschließend schneidet er schimpfend die kleinen Härchen aus Ohren und Nase. Danach schaut er verächtlich über und unter die Augen und schminkt alle Ränder kunstvoll zu. Ist er mit dem Zustand seines Gesichtes halbwegs zufrieden, greift er das Maßband und prüft den Bizeps und den Brustumfang. Um erneuten Entzündungen der vielen Einstichpunkte seines abgesaugten Bauchfettes zu vermeiden, schmiert er mit beiden Händen dicke Schichten Kamille-Gel auf die schmerzenden Stellen. Sind alle Körperpartien kontrolliert und sorgfältig eingecremt, sucht er zum Schluss auch im Genitalbereich nach Spuren seines Alters. Findet er graue Härchen, schreit er laut auf und reißt sie unverzüglich und ohne auf etwaige Schmerzen zu achten mit einer bereit liegenden Briefmarkenpinzette heraus. Hat er endlich alle Normalitäten seines tatsächlichen Alters entfernt, fotografiert er mit dem neusten Smartphone mehrfach alle Partien seines polierten und entgrauten Körpers. Mit einem zufriedenen Lächeln betrachtet er die einzelnen Bilder in der Fotogalerie seines großen Displays. Gern schnalzt und zwinkert er in die bespiegelte Glasfläche, wie er es früher oft bei den Groupies aus seiner Schülerband gemacht hatte. Damit ihm kein einziges Bild verlorengeht, rennt er ins Wohnzimmer und speichert sofort alle Bilder in einem extra dafür angelegten Ordner im Rechner, damit er sie am Ende des Jahres zu einer Videoanimation zusammenschneiden und ins Internet stellen kann. In den letzten Jahren, hatte er dafür viel Zuspruch erhalten. Ist er mit der umfangreichen Speicherung fertig, wackelt der Altersscheue zufrieden mit beiden Pobacken, ruft laszive Sprüche in den Flur und reibt sein Hinterteil kreisend an den gefliesten Badwänden. Mit einen kräftigen Trommelwirbel auf seinen Hintern beendet er die ausgiebige Morgenbetrachtung.

Fühlt sich der Altersscheue um mindestens fünfzehn Jahre verjüngt, schlendert er ins große Ankleidezimmer. Er öffnet den beleuchteten Wandschrank und sucht in den nach unzähligen Farben und Schnitten unterteilten Fächern und Schüben nach der passenden Tageskleidung. Mit einem anerkennenden Blick greift er nach der in Frankreich abonnierten aktuellen Modezeitschrift, die er in der zurück liegenden Nacht bis zur Erschöpfung immer und immer wieder durchgeblättert hat. Hat er die abgebildeten Kleidungsstücke gefunden, zieht er sie in Zeitlupe an und malt sich lebhaft Chancen aus, die ihm in dieser Kleidung zuteilwerden. Ist er angezogen, zieht er sich wieder in Zeitlupe aus, um sich danach erneut anziehen zu können. Besonders gelungene Outfits fotografiert er mit dem Smartphone und klebt sie an die Zimmerwände oder sammelt sie für sein jährliches Fotoalbum. Allzu oft vergisst er bei diesem ausgiebigen Ritual die Uhrzeit und muss mit seinem verrosteten Opel Calibra mit überhöhter Geschwindigkeit auf Arbeit fahren.

Kommt der Altersscheue am Morgen ins Krankenhaus, beobachtet er die Gestik und Mimik der Mitarbeiter die ihm zufällig in den Fluren begegnen. Verspricht ihm eine Körperbewegung oder ein Gesichtsausdruck oder Tick eine Verjüngung, macht er diese umgehend im nächsten Flur nach. Aber am liebsten schleicht er noch vor Beginn des Dienstes zum kleinen Raucherbereich der Krankenpflegeschule. Er schraubt die Deckenlampe heraus und stellt sich in die unbeleuchtete Ecke. Mit großen Augen betrachtet er die neuesten Accessoires an Nase, Ohren, Händen und Füßen der verschlafenen Schülerschaft. Bewundernd lauscht er jeden coolen Spruch, jede Bemerkung und jeden noch so fragwürdigen Sprachtrend der Rauchenden ab. Hat er genug Leichtigkeit und Zukunftsglauben eingesaugt, rennt er auf die Toilette und kneift sich in die verschwitzte Nase, damit er nicht wahnsinnig zusammenbricht. Ungeduldig notiert er alle Worte in sein dickes, ausgefranstes Hosenheft. Anschließend dreht er das Heft auf die Rückseite und beginnt alle Accessoires sorgfältig und detailliert mit Malstiften einzuzeichnen. Hat er alles notiert und skizziert, drückt er zur Erleichterung die Toilettenspülung und taumelt völlig erschöpft aber zufrieden auf Station.

Der Altersscheue arbeitet ungern mit Mitarbeitern zusammen, die älter sind. Soweit es möglich ist, läuft er ihnen mit schnellen Schritten davon, lässt ihnen gekonnt den leeren Fahrstuhl oder schnürt so lange an seinen Schuhen, bis die Mitarbeiter aus seinem Blickfeld verschwunden sind. Er ist sich sicher, dass jeder von ihnen viele verpasste Chancen, die er bedauert und unter denen er leidet, mit sich herumträgt. Ältere Patienten fertigt er zur Visite in sekundendschnelle und mit einem Dauermonolog im gereizten Tonfall ab, damit sie ihn in keinem Fall in Gespräche über Leiden, Alter oder unerfüllte Wünsche verwickeln können. Denn ihren sehnsüchtigen Blick, mit dem sie von ihren verlorenen Möglichkeiten berichten, kann er nicht ertragen. Nur wegen dieser Patienten lässt er sich krankschreiben und ruft täglich auf Station an, und kommt erst nach deren sicherer Entlassung wieder auf Arbeit zurück.

Kommt der Altersscheue nach dem Dienst nach Hause und hat er eine Andeutung über eine Verabredungen bekommen, rennt er sogleich zum Friseur und lässt sich die angesagteste Frisur schneiden und färben. Danach eilt er zur Kosmetik und erstreitet sich einen Termin außer der Reihe. Zum Schluss geht er zur Pediküre. Zuhause angekommen, verstreut er wahllos Kleidungsstücke von vorrangegangen Liebschaften in der gesamten Wohnung. Ab und zu legt er selbst verfasste Dankesbriefe auf den Nachttisch, klebt Küsschenzettel an den Badspiegel oder schreibt Anerkennungssprüche auf benutzte Höschen oder Bettlaken. Er dreht die Musikanlage auf und spielt CDs oder Videos von Musikgruppen, deren Namen er überhaupt nicht kennt, von denen er aber weiß, dass sie derzeit gehört werden. Wie zu Teeniezeiten strippt er ausgelassen vor dem Spiegel seiner Anbauwand. Er spreizt die Arme und spielt nackt aktuelle Stars aus Film und Fernsehen nach. In diesen Momenten schließt er die Augen und fühlt sich jung und in vergangene Zeiten versetzt. Erinnert er sich aber plötzlich an das faltige Gesicht seines hilflosen Großvaters, versteckt er sich unter dem Tisch und wartet bis die Erinnerung wieder verschwunden ist. Danach krabbelt er unter dem Tisch hervor, legt eine der unbekannten CDs in die Musikanlage und dreht den Regler bis zum Anschlag auf. Seine Lieblings-CDs hat der Altersscheue schon vor Jahren vorsorglich im Keller versteckt oder über Nacht heimlich in die Mülltonne geworfen damit sie auf keinen Fall sein wirkliches Alter verraten können.