An wem

Für Ferdinand von Schirach, nach einem Erzählband des Autors

Schuldig ist nur das Wort geworden.

Schuldig nach dem Wort die Tat.

Die Tat ist schuldig durch den Menschen.

Der Mensch sprach Schuld.

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Schuld brach den Menschen auf.

Setzte ihn, geteilt das Selbst,

Auf einen Berg und ließ ihn

Gut Ding und Weile haben.

Reichte Keile, um den Zwiespalt

Zu verstärken mit Achtung

Und mit Gewalt und gab der Schuld

Im zweigeteilten Menschen schließlich

Gestalt, die da rang um letzte Worte:

– Die da rang     um letzten Gipfel,

– Die da rang     um letzte Segnung,

– Die da rang.    Die da sang.

Sangklar  getroffene Schuld.

.

Sing noch einmal das Lied der Unschuld.

Sing noch einmal den Traum der Zügellosen.

Spiel noch einmal das Lied vom Leben.

Spiel die Liebe nicht mit bloßen,

Nackten Händen nach. Inszeniere

Die Maske nur und lass Arme sinken,

Beide. In der Schuld soll der Mensch ertrinken,

Darum schreibe.

Damit er Acht gebe

Um all der Gedanken und all der Träume.

Bäume dich entgegen. Bäume das Leben.

Bäume die Tat auf: am Tag bloß

Sieht man selten klar.

Darum musst du schreibend geben.

Sonderbar, so sonderbar. Da reihst du

Fremde und bekannte Worte

Neben immer andere Worte auf.

Stehst neben dir und dem.

Andere fallen auf dich zu.

Du aber fragst: schuldig,

an wem?

Der Gönner


Der Gönner gönnt dir das Paradies, ohne selbst daran teilzunehmen. Bei einem Wein lädt er dich ein, um zu plaudern und plaudert dir alles aus dem Leib, denn er ist der Gönner, der dir ein Paradies beschreibt und das Grauen im Paradies, ohne selbst daran teilzunehmen, darin verweilt.

Mit seinem Geld wirft er um sich. Er verteilt Trinkgelder mit der Geste des großen Mannes, der es nicht bemerkt, wie ihn die Scheine aus den Taschen, die Zahlen von der Abrechnung fallen. Unter allen Sternen ist er der hellste, der gibt. Mit einem Wink besticht er den Ober mit seinem distanzierten Lächeln und bezahlt noch im Sitzen mit der eigenen Zeit. Darin verweilt.

Dem Gönner sieht man seine Rechnung an. Die Zahlen sind ihm schwarz anzumerken.

Was er hat, das gönnt dir der Gönner. Vom Schlechten und vom Guten gibt er dir ab. Ohne zu fragen, überreicht er dir seine Geheimnisse.

Doch du wirst fragen. Er wird sie dir gönnen, dir entgegentragen.

Denn der Gönner gönnt dir dieses Paradies auf Erden, dass noch in seiner Hölle durch Wärme und dem letzten Brand besticht, auch wenn es lodert und brechend über dich kommt, gönnt er dir das Paradies bildlich gesprochen, von dem er dir Stück um Stück gibt, auch wenn dir nur am kleinsten daran liegt. Einen Kuchen gleich teilt er die Welt in gut und schlecht und tut sich selbst nicht schlecht damit, dir einen guten Schleier über die Netzhaut zu legen. Dir entgegentragend: sein Leben.

Der Gönner gönnt der Sonne ihr Licht und dir deinen Frieden. Darum legt er sich ins Zeug. Willst du gebraucht werden, so gönnt er dir, dich zu lieben. Und liegt in deinem Erkennen auch Schmerz und man hat es prophezeit, sticht dir der Gönner das Messer in die Brust, auf dass du nicht länger leiden mögest an deiner Zeit.

Denn wer nicht sehen will, der muss bei ihm nicht sehen. Der Gönner gönnt jedem sein Trübes. Sein Tribunat ist kein Verrat.

Den Fußweg legt der Gönner gerne in Begleitung zurück. Manchmal versucht er den Schritt anzupassen, andernorts bleibt er stehen, um in der Betrachtung von etwas zu verharren, was in der Bewegung längst vergangen wäre, doch es vergeht nicht, bleibt, brennt sich ein. Auch das gönnt er dir: mit ihm sehen zu lernen. Mit einem Gönner gönnt man sich zu sein.

Doch nicht nur zu anderen ist er gönnerhaft. Auch zu sich selbst.

Manchmal legt er seine beste Uhr an, um den besten Blick des Tages auf diese Uhr zu legen. Auch die Stille gönnt er sich. Wirklich verlebt er Tage. In ihr verharrt er zu Lebzeiten, gibt manchmal davon ab, wenn man fragt und behält sie für sich, wenn man letzte Bitte verschweigt, wenn es tagt, wenn es nächtigt, wenn Zeit ist.

Der Gönner beherrscht die Materie. Deine Ahnen werden wieder lebendig, dein Kind, noch ungeboren, schreit zum ersten Mal und auch die Gräber werden gegen Gärten eingetauscht. Berauscht von diesem Fest, lässt du ab von dem Menschen, der du einmal warst. Denn rester ist französisch und heißt bleiben. Denn was bleibt, ist der Rest, davon zu schweigen, keine Spuren hinterlässt.

Nackt erwachst du im Bett. Deine Hand lastet in der Scham, ein Zahn muss dir Fehlen oder ist es der Biss, der dich schmerzen macht. Die Sonne überstrahlt dich und mit dem Anblick des Paradieses gelingt dir auf gespenstische Art und Weise der Tag. Wenn du etwas Schöneres erwünschst, so frag danach.

In seinem aufgehellten Dunkelblick erscheint dir Gott persönlich. Auch daran nimmst du nicht mehr teil. Im Tanz der Worte passiert es dir vielleicht, dass er sich über deine Sätze neigt und sie anklagt zu gönnen das Stück vom Paradies, das alles verheißt, dunkel und hell ist und die Erde erblindend überstrahlt; denn er ist der Gönner, der dir ein Paradies beschreibt und das Grauen im Paradies, ohne selbst daran teilzunehmen. Der nicht klagt. Er ist bei dir auf allen Wegen und nimmt kein Geschenk zurück.

Der Gönner gönnt jedem, das für ihn bestimmte

Glück.

Unbekannt

Freund, mir unbekannt,

reichen die Tränken,

um zu dürsten?

Freund, uns unbekannt,

stehen die Bäche noch auf Abwegen?

Der Regen fällt den Fremden,

die Sonne bricht sein Haar,

die Liebe weiß, dass er weiß:

doch spricht es nicht aus.

Freund, sich unbekannt,

rennen die Frösche noch

vom Himmel auf Erden?

Freund, sich unbekannt,

langen mit großen Armen die Kälber hinüber

zu dir, um zu wissen das Gras?


Freund, sich unbekannt,

unter warmen Betten,

reicht da dein Herz?

Bist nicht längst du abhanden gekommen

dem Allen – bist nicht längst du

fragil und schadvoll gewesen?

Schambehaftet und sorgengetränkt

schickt einer Worte deiner Antwort zu.

Du, Freundunbekannt,

weißt noch nicht,

dass die Zeiger keine sind,

die Bilder nicht mehr werden:

dass wir auf Erden vergessen

und ungelenk

der Freiheit entgegenschweren.

Babett


Lieben. Begehren. Anfassen. Atmen. An Lust saugen, tauchen und verschwinden.

Fliegen wollen, töten mit Verrat und getötet haben (mittels Gefühls).

Er telefonierte wie wild, um sein Geld zu verdienen. Verdiente er es? Er wusste es nicht, zum Schluss stumpfte er ab, als lebe er ewig, habe schon ewig gelebt. Vielleicht hatte er sie alle erlebt, jede einzelne, verführt in einem Traum auf dem weißen Pferd. Verdient hatte er das Geld für die Frauen. Bezahlte: mit einem Scheck, mit einer Rechnung, einem Telefonat. Eines Morgens wach: die Frist sei vorbei. Schluss mit lustig. Ende im Gelände.

Er ertug seinen Körper in Creme, trug seine Hosen in Schweiß und zerfraß seine Fragen ohne Würde.

Babett, er hatte sie geliebt… schwarzes Haar, dicklich, oder vielleicht nicht dicklich, rund, weiblich, ja feminin und schön, für ihn war sie schön, sehr schön, doch er hatte sie auch nur ein Jahr gekannt. Ein Jahr ist lang genug, um sich daran zu erinnern. Nach einem Streit, es kann sein, vielleicht hätte er sie nicht mehr so schön gefunden, oder er hätte sie noch mehr begehrt und dann… ganz einfach, von einem Tag auf den anderen, Schluss, das war’s, du bist mir zu nah… er hatte es sich einfach gemacht. Liebe schon einmal vor, ich liebe dann nach. Oder brauche mich schon mal warm, ich bleibe dann gebraucht und brauche dich in einem Jahr umso mehr. DANN schrien sie: dann und dann und dann. Sie wusste nicht, dass der Held am Ende stets glorreich seine Beute erlegt. Ein funkelnder Star, ein Massen verzaubernder ( wie eine schöne grelle Werbetafel).

Trotz der müden Augen geliebt werden wärmt, rettet… nicht? Liebe rettet!

Er stopfte seine Erinnerungen in den Staub seiner Asche links neben den Taschentüchern. Und Gott war er schön. Immer schon. Vor allem in dem Jahr mit der Babett. Er war schön, cool, elegant, männlich. Unnahbar wie Marlboro-Pferde-Reiter.

Babett. Mit Babett war es komisch anders. Diese mollige Traumfrau in spe, mit der konnte man wirklich mehr haben. So sagt man ja, in der Liebe will man alles vom andern. Und viel war sie. Sie liebte ihn, dachte aus ihm heraus und fragte für ihn nach ihm alles. Wer warst du, warum warst du wie du warst? Aber merk dir das.

Einmal Sex und die Liebe ist vorbei.

Der Achtinfame – Der Mutmacher

Der Achtinfame

Infam können die Menschen sein, doch sind sie es stets einmalig, nicht aber achtmalig. So entschied sich der Achtinfame achtfaltig, und nicht einfältig dazu, die Zahl ACHT zu seiner liebsten Zahl zu machen. Um ein Marmeladenbrot zu bestreichen, benötigte er stets acht Striche. Reiste er weit, so packte er seinen Koffer achtmal um. Auch unterschrieb er stets achtmal, das sah dann so aus als hätte er nur einen besonders dicken Stift gewählt, um Dokumente zu beglaubigen. Denn glauben konnte er sich stets, soweit er alles achtmal tat.
Auch bemühte er sich seit jeher acht Freundinnen zu seinem Freundeskreis zu zählen, und wenn eine ging, so kam eine andere dazu, denn es mussten schon acht sein. Vor einer Woche hatte er acht vollzählig, da kam eine andere Freundin hinzu. Doch der Achtinfame wusste was zu tun war. Immer. Und so weiß er es auch jetzt und tötet sie achtmal.

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Der Mutmacher

Der Mutmacher hat sein Gewerbe noch nicht eintragen können. Heutzutage sind die Behörden sehr streng.
Am Mut seiner Mitbürger feilt, schraubt und sägt er. Ist der Mut einmal fertiggestellt, so liegt es an ihm, ihn an den Mann oder an die Frau zu tragen. Denn Mut trägt nicht jeder. Mut steht nicht jedem.
Doch es ist mühsam Menschen zu finden, die bereit sind Geld für Mut auszugeben. Dabei fehlt es doch gerade an ihm, um den Mut zu erwerben. Die Menschen sind so dumm.
So stellt er sich an die dunklen Ecken, die hellen Gassen, die verstaubten Straßen und die vollen Märkte… all das für ein bisschen Einkommen mit dem ältesten Gewerbe der Welt.
Mut verkaufen.

Armer Anton / Zacharias Zahnlücke / Zoras zickige Ziehmutter / A-Z

Armer Anton

Am Anfang arbeitet Anton auffallend akkurat. Ansonsten aber angelt Anton allabendlich ausgelassen an Aischas attraktiven Ausschnitt. Außer Angestellter Angermeier argwöhnt abermals an Antons albernen Angeleien. Aber Antons außergewöhnlicher Augenglanz ändert alles. Abrupt äußern ahnungslose Angestellte ähnliche Anliegen. Aber Angermeiers Augäpfel äußern alles andere als Annäherung. Also ändert Anton ärgerlich alle Anstrengungen an Aischas ausladendem Ausschnitt. Armer Anton!

Zacharias Zahnlücke

Zacharias Zindelmeier zeigt zögerlich zwei Zahnlücken. Zahnarzt Zangemann zeigt Zindelmeier ´zig Zängchen. Zacharias zaudert, zittert, zuckt zusammen. Zangemann zerrt, zieht, zerrt, zick-zack, zick-zack, zerstört Zahnhälse, zählt zwanzig Zwischenteile. Zufrieden zeigt Zangemann Zindelmeier zehn Zahnlücken. Ziemlich zahnfrei zieht Zacharias Zindelmeier zweifelnd zum Zeitungsstand, zählt zähneklappernd Zeitungsgeld zusammen.

Zoras zickige Ziehmutter

Zora Zindel zupft zufrieden zinnoberfarbene Zierpflanzen. Ziehmutter Zarathundra zetert Zora zusammen. Zähneknirschend zieht Zora zickig zum zerfallenen Zierbrunnen zurück. Zuviel Zank zerstört Zoras zarte Zauberwelt.

A-Z

Achmed besitzt Charme. Das ekelt Franz. Ganz hetzerisch ist Jeanine. Kevin lacht mitunter nur oder posiert quasselnd Richtung Schulklasse. Tatsächlich untersuchen vergleichsweise wenig Xenophobe Zustände.

Pauke Petrys Plan platzt /Hörn Höcke

Pauke Petrys Plan platzt

Pauke Petrys politische Pöbeleien passen planlosen Pegidaanhängern perfekt. Plötzlich plappern politisch prasselblöde Pegidisten Paukes perverse Putin-Phantasien. Parteiübergreifend pfeifen politikinteressierte Personen Pfeifkonzerte, parodieren prachtvoll Petrys Pampe, präsentieren per Parlamentsbeschluss Persönlichkeitsrechte pur. Plötzlich platzt Pauke Petrys Plan. Peng!

Hörn Höcke

Hörn Höcke hockt hinterlistig hinter hochgezimmerter Hirnschranke. Hörn horcht hungrigen Hilfesuchenden hinterher, hetzt, holt hastig hasserfüllte Hilfsbürgertruppen herbei. Hundert hat Höcke herausgeschrien! Hunderttausend! Hunderttausende! Hundertmillionen Hilfebedürftige holen Häuslebauers hartersparte Habseligkeiten heraus, handreichen Hehlerwaren. Halt! Halt hetzt Höcke herzaufbäumend. Halt! Halt! Höckes Hilferuf hinterlässt hilfswillige Helfershelferhelfer. Herbeigeströmte hetzen Hilfesuchende. Hörn Höckes Hysterie hat Hochkonjunktur.

Aljoscha, Teil II

Um sich abzustützen ließ der Angetrunkene, der dem Geruche nach in sein Beinkleid uriniert haben musste, seinen Kuchen fallen. Aljoscha half dem völlig Betrunkenen beim Aufstehen, stellte sich aber dabei so geschickt zwischen den Mann und das Stück Kuchen, dass es der Betrunkene trotz des Suchens, nicht finden konnte. Aljoscha wusste nur zu genau, dass Betrunkene, wenn sie ihr Ziel aus den Augen verloren, recht schnell etwas anderes unternahmen. Mit dieser Beobachtung hatte er schon mehr als einmal Schläge von seinem Vater abhalten können. Aljoscha stellte sich vor den Mann, stützte ihn übertrieben heftig unter dem Arm und sagte in seiner seit frühen Kindertagen anerzogenen ehrerbietigen Stimme: „Väterchen, verehrtes Väterchen, Sie müssen nach Hause, sonst erfrieren Sie hier auf der Straße. Gehen Sie, sehr verehrtes Väterchen, gehen Sie bitte hier entlang, Ich stütze Sie. Gehen Sie, es ist dunkel. Gehen Sie hier entlang, ich zeige Ihnen den Weg!“ Dabei verneigte er sich, wie es ihm seine geliebte Mutter beigebracht hatte, weil sie wusste, dass Leute wie sie im Leben nur weiterkommen würden, wenn sie sich tief genug vor anderen verneigten. In ihrer Erziehung bestand sie bei all ihren Kindern umso mehr auf der tiefen Verbeugung, da es ihrer Meinung außerdem die einzige Möglichkeit war, kostenlos Menschen für sich zu gewinnen oder, wenn sie Groll in sich trugen, diesen ohne Aufhebens aus der Welt zu schaffen. Aljoscha verneigte sich, wie er es gelernt hatte vor dem seiner Meinung nach nicht allzu hohen Herren und zeigte mit seiner Tschapka zur Straßenmitte, die der Betrunkene nun überqueren müsse. Der Mann machte sich ruckartig und mit einem verächtlichen Blick von dem frierenden Jungen los, sah von den Fußlumpen hinauf zu dem dürftigen Schal, der nicht wirklich den Hals und die dünne Brust des Jungen bedeckte, drehte sich noch einmal nach dem Kuchen um, schien aber nicht mehr so recht zu wissen, was er eigentlich suche, schüttelte den Kopf und fluchte unverständliche Worte und blieb mitten auf der Straße stehen. Eine vorbeifahrende Kutsche brachte Aljoscha endlich die rettende Idee. „Väterchen, verehrtes Väterchen“, sprach er ihn mit einer ungewohnt listigen Stimme an, „passen Sie auf, sonst werden Sie von der Kutsche überfahren. Sicherlich ist der Fahrer wieder betrunken. Kommen Sie, schnell, kommen Sie, Verehrtester, ich bringe sie rasch auf die andere Seite der Straße!“ Er griff dem Mann kräftig am Arm und zog ihn von der Straße herunter, drehte ihn in die Richtung, in die der Angetrunkene ursprünglich gehen wollte und gab ihm einen Schubs auf die Schulter, dass der Betrunkene fast wieder hinfiel. Der Mann gehorchte seinen mahnenden Worten, brabbelte etwas von der Jugend, die so gar nichts taugt, und das er als er so jung war, schneidig gewesen wäre, einem heldenhaften General gleich und die Weiber, allesamt, die gesamte Weibsbilderschaft, nur ihm gehorcht hätte. Dabei pfiff er, so gut er es in diesem Zustand noch konnte und nuschelte immerzu: „Jawohl, General, jawohl, Weibsvolk, General, alle Weiber.“ Danach verschwand er, eine Linie von Wassertropfen auf seinem Weg zurücklassend im Schneegewölk.
Aljoscha konnte mit dem Inhalt seiner Worte nichts anfangen, wusste aber, dass Betrunkene zuweilen in nassen Beinkleidern von schneidigen Generälen und willigen Frauen, die angeblich alles machen würden, sprachen. Er rannte auf die Mitte der Straße zurück und suchte das Stück Kuchen, das verschneit irgendwo in seiner Nähe liegen musste. Von dem Stück beseelt und von seinem Hunger getrieben, kniete er sich auf die Straße und tastete mit seinen erfrorenen Händen in das Schneegestöber. Der, so schien es ihm jetzt, nur ihm zum Schure in noch dickeren Flocken herabsank, um auf seiner schmalen Nase und seinen langen schwarzen Wimpern, den verklebten Haarlocken und dem viel zu dünnen Schal, niederzugehen und ihm den Blick auf das begehrte Stück Kuchen zu verwehren. Trotzig schüttelte er seinen Kopf, hob die Hände in den Himmel und sagte leise, fast flehentlich in seiner ehrerbietigen Stimme. “Ihr Heiligen, ihr Heiligen, ihr Lieben, bitte, bitte, lasst mich den schönen Kuchen finden. Ich bitte Euch sehr darum. Ich habe so lange keinen mehr gegessen! Ich schwöre, ich schwöre, ich werde ihn auch mit meinen Geschwistern teilen. “ Er ließ die Hände sinken und sah auf die weiße Straße mit den schwarzen Kutschspuren, die vom frisch fallenden Schnee zusehends aufgefüllt wurden. Er lief von einer Seite der Straße zur anderen und wieder zurück. Er lief vor, zur Seite, machte einen Kreis, dass man hätte in dem dichten Schneegestöber leicht glauben können, einen Betrunkenen, wie sie zu dieser Stunde oft unterwegs sind, sehen zu können. Verwirrt von dem Speichel der sich in immer größeren Mengen in seinem Munde ansammelte, benommen von dem Schmerz den die Säure in seinen Magen anrichtete und irre von dem Wunsch nach der ersehnten Süße des Kuchens, ließ er sich erschöpft vor den Rest der Wagenspur niedersinken. Er breitete die Hände aus und wünschte sich hier und jetzt endlich sterben zu können. Langsam ließ er seinen dürren Körper nach vorn in den Schnee fallen. Er wusste, wenn er jetzt nicht wieder aufstand, dass er starr und kalt werden würde, wie der Mann heute Nachmittag, zwischen dem Arzt und der Heilerin. Plötzlich und aus einem unerklärlichen Triebe heraus, sei es weil er sich um seine Geschwister sorgte, oder weil er immer noch zu viel Lebenswillen innehatte, stellte er sich auf die Knie, stützte sich in die aufgetürmten Schneewehen und spürte auf einmal das Stück Kuchen zwischen seinen eiskalten, starren Fingern. Er setzte sich wie ein Kleinkind breitbeinig auf die Straße und begann zu weinen. Er weinte dicke Tränen, wie man es dem schlanken, zähen Jungen, der durch Schläge nicht nur seines Vaters groß geworden war, niemals zugetraut hätte. Er weinte, dicke Tränen, dass die Flocken auf seinen Wimpern und den verfilzten Haarspitzen zu schmelzen begannen. Er weinte, dass die Tränen auf den Kuchen tropften und den Schnee darauf zum Schmelzen brachten und die verschiedenen Farben der Kuchenzutaten zum Vorschein traten. Er weinte, weil er lange nicht mehr geweint hatte. Er weinte, weil der Vater irgendwie anders geworden ist, seit er seine geliebte Mutter mit eigenen Händen eingegraben hatte. Und schließlich weinte er auch, weil sein Vater ihm an diesem Tage verboten hatte, am offenen Grabe vor den acht Geschwistern zu weinen. Aber am meisten weinte er, weil das schöne Stück Kuchen, nach dem er sich von ganzem Herzen gesehnt hatte, von der Kutsche zerfahren und nun zermatscht vor ihm in zwei Teilen im Schnee lag. Er hob die zwei Stücke auf und versuchte sie mit den steifen Fingern zu streicheln. So, als ob er seiner geliebten Mutter ins Gesicht sah, um sich für eine ihrer vielen Zärtlichkeiten zu bedanken, schaut er in den Himmel und sagte in seiner gewohnt ehrerbietigen aber immer noch verweinten Stimme: „Danke, ihr Heiligen, danke Euch allen!“ Er sah auf die Marmorierung des Kuchens und legte beide Stücke jeweils auf einen Oberschenkel. So als wollte er seine eben gedachten Gedanken des Freitodes im Schnee dennoch umsetzen, legte er sich an die Stelle der Kutschspur, pustete sie vorsichtig frei und begann mit beiden Daumen an dem Steinpflaster zu kratzen. Dabei pustete er immer und immer wieder Schneeflocken von den Kutschspuren weg. Behutsam sammelte er die Krümel des Kuchens, die er von dem schmutzigen Pflaster abkratzen konnte, auf und streute sie vorsichtig in seine Seitentasche. Danach nahm er seine zwei Kuchenhälften, stand auf, bekreuzigte sich noch einmal an der Stelle, wo der Kuchen gelegen hatte und ein zweites Mal mit Blick in den Himmel, wo er die Heiligen vermutete. Mit beiden Händen schützte er die zwei Hälften und trug sie, wie der Pfarrer den allsonntäglichen Kelch vor seiner Brust. Er hauchte über seine Finger, damit der Schmerz, der sich darin befand, endlich verschwand. Taumelnd setzte er sich an den Rand der Straße, sah sich die beiden Hälften an und schätzte deren Größe. Das kleinere der beiden wickelte er in sein Taschentuch und steckte es zu den Krümeln in die Tasche. Das Größere nahm er in beide Hände und versuchte es zu erwärmen. Wieder hauchte er über seine Hände und hoffte so endlich den darin befindlichen Kuchen essbar zu machen. Er stand auf und lief in einem Glückstaumel die dunkle Straße entlang. Er sah die großen Augen seiner Geschwister, ihr erstauntes Lächeln, ihre vielen Fragen und das tagelange Erzählen von dem herrlichen Fund. Voller Glück lief er schneller und schneller und hatte das wunderschöne Gefühl, zu fliegen. Er lief und rutschte an einer frischen Schneewehe aus. Die Kuchenhälfte fiel zurück auf die Straße. Aljoscha erwachte aus seinem Glückstaumel und tapste auf allen vieren der Kuchenhälfte, die im dichten Schneefall verschwand, hinterher. Die heranfahrende Kutsche, vor die er den nicht so feinen Herren eben noch gewarnt hatte, fuhr im Eiltempo über das Kopfsteinpflaster und die Peitsche surrte durch die Luft. Betäubt von dem kostbaren Verlust suchte Aljoscha weiter und bückte sich in die frische Schneewehe. Die Kutsche raste auf den Jungen zu. Aljoscha sah von der Stelle, an der er die Kuchenhälfte vermutete, auf. Er sah die herannahenden Pferde und warf seinen dünnen Leib in die Schneewehe und drehte sich von dieser an den Straßenrand. Er stand auf, betastete sich von den Fußlappen bis zum Schal und konnte kaum glauben, unversehrt geblieben zu sein. Erschöpft von dem Schreck und erschöpft vom Abtasten, kauerte er sich auf den Bordstein, hob die Hände nach oben und sagte in seiner ehrerbietigen Stimme: „Danke, danke, ihr Heiligen, habt vielen, vielen Dank“. Er verbeugte sich ins Dunkel und sackte zusammen. Im Liegen zog er das Stück Kuchen aus der Hosentasche und entfernte das Taschentuch. Er öffnete den Mund und schob die Zunge heraus, um endlich die ersehnte Süße zu schmecken, um die er sich seit über eine Stunde so verzweifelt bemühte. Als er die Stelle erkannte, an der er lag, stieß er sich vom Bordstein ab. Dabei umklammerte er ein im Schnee liegendes morsches Stück Holz und schubste seinen schlanken Körper in einem Zuge nach oben, dass auch die zweite Kuchenhälfte im hohen Bogen im Schnee verschwand. Mit letzter Kraft rannte er über die Straße zum Licht des Gasthauses und stellte sich vor das Fenster an dem er heute Nachmittag seine Buchstaben geschrieben hatte. Verwirrt vom Tage und verwirrt auch vom eben Erlebten, starrte er zum Licht und von diesem auf seine immer noch zitternden Hände. Zwischen den Fingern hielt Aljoscha statt des morschen Holzes, einen rotledernen Beutel mit einer aufwendig verzierten Messingschnalle.

In Wolken

Der Tunnel liegt vor ihr wie ein dunkler Schlund. Aus dem Inneren weht ihr eine Fahne verbrannten Diesels entgegen. Die feuchtglänzende Straße lockt wie eine gierig herausgestreckte Zunge. Ein Wagen nach dem anderen ergibt sich bereitwillig.

Auf dem Zubringer hatten sie das Warnlämpchen auf dem Armaturenbrett bemerkt, kurz vor der Einfahrt hatte es nach verschmortem Gummi gerochen, in der letzten Nothaltebucht hatte er angehalten und war ausgestiegen um die Motorhaube zu öffnen. Sie war ein paar Minuten reglos im Wagen sitzen geblieben. Jetzt löste sie ihren Sicherheitsgurt, der mit einem leisen Surren bis zur Schnalle in der beigen Veloursverkleidung verschwand und stieg ebenfalls aus. Allerdings nicht, um ihre Hilfe anzubieten, wie sie selbst noch in diesem Augenblick dachte. Vielmehr war es ihr bestimmt, das Bild zu sehen, das sich ihr bot, als sie auf die Straße trat. Es ergriff Besitz von ihr, noch bevor sie die Tür des Wagens geschlossen hatte.

Der Tunnel liegt vor ihr wie ein dunkler Schlund, ein Wagen nach dem anderen ergibt sich. Die graugrünen Gipfel, die wie stumme Zeugen dahinter thronen, sind geköpft von einem tief hängenden Himmel, der den Straßenlärm und das Tageslicht verschluckt. Alles unter diesem Himmel ist mit einem feinen, feuchten Film überzogen, der kalt nach innen kriecht.

Sie hatten geplant, ihren Urlaub auf der anderen Seite des Gebirges zu verbringen, falls man von Planung sprechen möchte und von Urlaub. Es war nicht die Zeit dafür, der Sommer war vorüber, der Winter hatte noch nicht begonnen. Manche Pensionen entlang der Straße waren in Gerüste gehüllt, an denen Planen flatterten, als hätte man sie zugedeckt, damit sie gut schliefen in der Zeit zwischen den Saisons.

Es war auch deshalb nicht die Zeit für Urlaub, weil er in Projekten stark eingebunden war. Nur unter großer Anstrengung war es ihm gelungen, sich die Freiräume für diese Reise zu schaffen. Sie aber hatte es für dringend geboten gehalten, dass sie sich Zeit für einander nähmen in einem Schutzraum außerhalb ihres Alltags. Zumindest waren das die Worte, die er gegenüber seinem Vater gewählt hatte, um die arbeitsfreie Woche zu erklären.

Aus der Motorhaube quillt eine Wolke, weiß und dicht wie Watte, die sich nur zögerlich mit der Umgebungsluft mischt. Innerhalb von Sekunden legt sie sich um und über Arnolds stämmigen Körper wie ein schweres Federbett. Lediglich seine nervös tänzelnden Budapester Schuhe und sein ersticktes Hüsteln zeugen noch von seiner Existenz.

An den Schuhen eines Menschen erkennt man seinen Charakter. Bei keiner einzigen Begegnung hatte sich Arnolds Vater diesen Hinweis verkneifen können. Arnold war schließlich eingeknickt und eigens nach Berlin gefahren, um im Stammhaus am Kurfürstendamm fünf Paar der einzigen Marke zu erstehen, die sein Vater akzeptierte. Den Heimweg über hatten sie gestritten, weil sie sich die Frage nicht hatte verkneifen können, wie es sich denn liefe, in den Schuhen seines Vaters. Man hätte in den Urlaub fahren können für das Geld. Jetzt fuhren sie in den Urlaub.

„Suboptimal, das Ganze.“, sagt Arnold aus der Wolke.
„Warum sagst du nie Scheiße wenn du Scheiße meinst?“, fragt sie in die Wolke zurück. Und dann: „Willst du nicht zuerst das Dreieck aufstellen?“
Noch während er die Taschen aus dem Kofferraum hebt um nach dem Warndreieck zu suchen, atmet sie tief ein, hält die Luft an und steigt in die Wolke. Um sicherzugehen, dass ihre Pumps auf dem Asphalt ihre Existenz nicht bezeugen, setzt sie sich auf die Kante der offenen Motorhaube und stellt ihre Füße auf die verchromte Stoßstange darunter.

Auch sie ist binnen weniger Sekunden völlig umfangen von dichtem Rauch. Ihre Sicht reicht gerade noch bis zu ihren angezogenen Knien, aber schon die Struktur ihrer Strumpfhosen ist kaum noch auszumachen. Sogar der feine Sprühregen kann die Wolke nicht durchdringen. In der Wolke ist es warm. Als sie sich zwei Finger in die Ohren steckt, ist sie glücklich.

„Tschüss, machen Sie’s gut.“ hört sie ihn sagen, als sie ihre Ohren kurz lüftet. Er sagt das immer zur Verabschiedung. Tschüss, mach’s gut. Und noch nie hatte sie verstanden, was er damit meinte. Hatte er Angst, sein Gegenüber würde es schlecht machen? Hielt er es für notwendig, seinem Gegenüber seine Erwartung zu kommunizieren? Versuchte nicht grundsätzlich immer jeder alles gut zu machen?

Sie steckt ihre Finger wieder in ihre Ohren. Sie hört ihr Blut zirkulieren. Dieses dumpfe Wummern hatte sie schon als Kind beruhigt. Für sie klingt es wie das Betriebsgeräusch der Maschine, die im Hintergrund dafür sorgte, dass das Leben lief. Zu hören, dass die Maschine einwandfrei arbeitete bedeutet, dass was immer gerade ist, vergehen wird. Sie findet das tröstlich. Einmal hatte sie versucht, das Arnold zu erklären. Der hatte ein Gesicht gemacht als hätte er Zahnschmerzen und das Thema gewechselt. Als er zum letzten Mal von einer 1-a-laufenden Maschine gesprochen hatte, hatte er den Motor dieses von Hand polierten Wagens gemeint, der zwei Jahre älter war als er und sie nun im Stich ließ. So war das oft mit dem, was Arnold sagte.

Wenn sie mit ihm irgendwo hinkam – zur Jahresauftaktveranstaltung im Rotary Club, zum ersten Gesprächstermin in der Kinderwunschklinik, zum Abschlussball des Salsa-Kurses – und Arnold gefragt wurde, was er mache, antwortete er immer: Ich baue Häuser.

Damit enthüllte er dreierlei. Erstens, dass er Minderwertigkeitskomplexe hatte und auch, dass er findet, dass er eigentlich keine haben müsste. Zweitens, dass er ein Hochstapler ist, aber nicht ohne Gewissen, weshalb er niemals so hoch stapeln würde, dass man ihn des Lügens bezichtigen könnte. Und drittens, dass er gern ein Kreativer wäre, aber eingesehen hat, dass man entweder ein Kreativer ist oder eben keiner, wie er.

Jeder, dem er das antwortet denkt, Arnold sei Architekt, obwohl er das nicht sagt. Tatsächlich ist Arnold Bauingenieur. Und das sagt er auch nicht. Er entwirft keine Häuser. Er ist dafür zuständig, dass Häuser, die andere entworfen haben, von wieder anderen nach einem feststehenden Plan gebaut werden. Bauingenieur ist ein respektabler Beruf. Außer man schämt sich dafür, weil man gern Künstler geworden wäre oder Architekt.

Der Rauch verzieht sich, während sie das denkt. Was auch immer den Rauch verursacht hatte, kühlte sich ab, wie sich alles abkühlt, das niemand mehr befeuert. Als er scherenschnittartig wieder zum Vorschein kommt, ist er gerade dabei sein Telefon in die braune Lederhülle zu nesteln, die sie ihm genäht hatte. Sie nähte gern mit Leder. Jede Naht war eine Narbe, die einer Wunde beim heilen half.

„Was soll das, Ivy?“, fragt er lachend, als er sie wieder erkennen kann. Sie grinst und schnappt nach frischer Luft. Was will man einem Menschen antworten, der nicht versteht, was das Umfangensein von einer Rauchwolke sollen könnte? „Der Pannendienst müsste gleich hier sein.“, murmelt er, die Zigarette schon im Mundwinkel. „Was soll das?“, könnte sie jetzt zurückfragen, aber er würde anfangen sie in eine Diskussion über Genuss zu verwickeln und ihr nicht erlauben, mit ihm eine Diskussion über Sucht zu führen und zwar nicht über die Sucht nach Nikotin. „Was für eine Idiotie, über jemanden zu lachen, der von einer Rauchwolke eingehüllt sein möchte, kurz bevor man sich selbst in eine Rauchwolke einhüllt.“, sagt sie stattdessen. Er sagt nur: „Idiotie, ja?“

Arnold raucht Nil-Zigaretten, und wenn es keine Nil-Zigaretten gibt, raucht er nicht. Und auch wenn es Nil-Zigaretten gibt, raucht er nicht. Nicht richtig. Sie beobachtet ihn genau. Er zieht den Rauch in seine Mundhöhle in dem er die Wangen nach innen wölbt. Das macht sein Gesicht noch kantiger, er sieht dann noch besser aus und sie weiß, dass er das weiß. Bevor er den Rauch in seine Lungen zieht, öffnet er kurz die Lippen, so dass die kleine Rauchschwade, die er dadurch verliert einige Sekunden wie ein Schleier vor seinem Gesicht hängt, als sei sie noch ganz benommen von der Dunkelheit in seinem Mund. Die andere Hälfte des aufgenommenen Rauchs atmet er schließlich ein, aber nicht tief, nicht bis zum Bauchnabel, höchstens bis zur Brust. Manchmal lässt er den Rauch auch schon vorher wieder durch die Nasenlöcher entweichen. Arnold verlässt sich darauf, dass die Leute denken, der Rauch müsse in der Lunge gewesen sein, um durch die Nasenlöcher austreten zu können. Das aber stimmt nicht; sie hatte ihn längst widerlegt.

„Kann ich auch eine haben?“, fragt sie.
„Du sollst nicht rauchen, Ivy.“, antwortet er.
„Ich heiße Ivanka.“
„Ich weiß, wie du heißt.“
„Dann mach mich nicht niedlich.“
„Ich versuche, Nähe zu machen.“
„Du machst dich lächerlich.“
„Und du machst dich rar.“
„Und du machst mich wahnsinnig.“
„Ich würde dich wahnsinnig gern glücklich machen.“
„Ich bin glücklich, wenn ich mir die Finger in die Ohren stecke.“

Er raucht. Sie lauscht.

„Ich möchte, dass wir in die andere Richtung fahren, wenn das Auto wieder fährt.“, sagt sie nach einer Weile.
„Aber wir müssen durch diesen Tunnel.“, antwortet er.
„Das passt zu dir. Lieber den leichten Weg, durch den trockenen, ebenerdigen Tunnel nehmen, als den über den gefährlichen, schroffen Berg.“
„Wir müssen bis 19 Uhr angereist sein. Über den Pass werden wir uns um Stunden verspäten.“
„Wenn wir durch den Tunnel fahren, kommen wir nie an. Er wird uns verschlingen ohne zu kauen.“
„Ivy. Bitte. Wir werden durch den Tunnel fahren.“
„Ivanka! Danke. Wir werden umkehren.“
„Wir stehen auf einer 4-spurigen Schnellstraße. In der Mitte ist eine doppelte Leitplanke. Wir können hier nicht umkehren.“
„Dann fahr. Ohne mich.“
„Ivy, bitte.“
„Ivanka!“

Er reicht ihr eine Zigarette und nimmt sich noch eine.
Zwei Menschen vor einem alten Wagen mit aufgerissenem Maul am Rande einer Schnellstraße, eingehüllt in zwei schmale Wolken aus hellem Rauch. Er zertritt seine Zigarette, läuft zum Kofferraum, öffnet ihn und hebt zwei Taschen heraus, bevor er ihn wieder schließt. Er läuft zur Motorhaube und schließt auch sie, bevor er einsteigt. Der Wagen startet nicht, er startet nicht, er startet. Sie raucht. Einer nach dem anderen ergibt sich bereitwillig in den dunklen Schlund, denkt sie. Es riecht nach verbranntem Diesel.

Die Internette

Bevor die Internette mit dem Taxi zur Arbeit ins nahe gelegene Krankenhaus fährt, hat sie es sich zur Gewohnheit gemacht, ihre Ladekabel zusammenzurollen und ihre beiden Smartphones wie Revolver links und rechts in die Gürteltaschen zu verstauen.

Sie wirft sich auf die Rückbank, streift die Pantoletten ab und stützt die Füße an die Scheibe der gegenüberliegenden Tür. Sie greift zu den beiden Smartphones und tippt den Inhalt ihres Traumes -, oder auch nur die Dauer des nächtlichen Gewitters mit der Anzahl der Blitze als erste Nachricht ein. Aufgeregt versendet sie diese Informationen an ihre noch schlafenden Abonnementen. Reichen für die Weitergabe ihrer News Daumen und Zeigefinger nicht aus oder bekommt sie die von ihr gefürchteten Muskelkrämpfe im Daumen, setzt sie sich auf und tippt und scrollt stattdessen mit der Nase Informationen ins Tablet.

Fährt die Internette an der Krankenhauspforte vor, steigt sie aus und schreibt die letzten Worte über grandiose Mitternachtsschwimmen, über einen Feuerwehreinsatz, den ihre Freunde durch ein drei-Meter hohes Lagerfeuer ausgelöst haben oder auch über ein Wettessen mit Todesfolge und verschickt die Nachrichten mit 33 Emojis. Erst danach schlüpft sie in ihre Pantoletten und versteckt das Tablet geschickt unter ihrer luftigen Kleidung. Schweißgebadet greift sie das mitgebrachte Handtuch aus der Tasche und trocknet sich Hals, Hände und die Stirn ab. Sie schleicht hinter die Pförtnerei und wringt das Handtuch über der in schnurgerader Reihe gepflanzten Köpfe des Pfücksalats aus, die der Pförtner jedes Frühjahr für sein Frühstück angelegt hat. Ist sie damit fertig, stopft sie das Handtuch wieder in die Tasche, geht zurück zum Auto und schickt dem Fahrer Infos über wichtige Kulturveranstaltungen auf sein Smartphone, die ihm jede Menge zusätzliche Fahrgäste versprechen. Hat sie hingegen wieder heikle Informationen über das abendliche Treiben seiner geschiedenen Frau oder böse Streiche seiner drei heranwachsenden Kinder parat, krakelt sie mühselig Buchstaben auf linierte Zettel, faltet diese zusammen und legt sie als Lohn für treue Fahrdienste auf den Beifahrersitz. Mit einem Nicken bedankt sich der Fahrer, fragt, wann er sie wieder abholen soll und braust mit Lichtsignal davon.

Betritt die Internette das Foyer des Krankenhausgebäudes, schnappt sie alle Meinungsfetzen auf, die sie bekommen kann. Mit diesen geht sie in die neonbeleuchteten Flure und fragt entgegenkommende Mitarbeiter nach den Launen ihrer Chefs oder Kollegen. Noch im Hören greift sie in den Beutel, winkt besorgt oder erfreut den Berichterstattern zu und gibt die Melange aus Meinungsfetzen und eben geäußerten Nachrichten blind in die Smartphones ein und drückt aufgeregt gleichzeitig die Entertasten. Bevor sie auf Station ankommt, hat sie so ein erstes Stimmungsbarometer der Belegschaft noch vor den Sechs-Uhr-Nachrichten abgesandt. Und es ist kein Wunder, dass, seit sie sich mit ihren beiden Smartphones in die letzte Personalratswahl mit zigtausend Rund-SMS eingemischt hat und der aussichtsreichste Kandidat von Platz eins auf den vorletzten Platz rutschte und andere Kandidaten, die seit Jahren aktiv für die Rechte der Mitarbeiter kämpfen, urplötzlich rausfielen, -die Geschäftsführung, die Personalabteilung sowie der Personalrat zu ihren treuesten Kunden zählen sollen. Einzig der Pförtner weigert sich beharrlich eines von den doofen Smartphonedingern zu kaufen und den unverständlichen Quatsch, den sie Tag und Nacht schreibt, zu lesen. Seit geraumer Zeit wird gemunkelt, dass die Pflegedienstleitung extra wegen ihr einen nicht näher benannten Mitarbeiter mit Diplomstudiengang der Neuen Medien beschäftigt, der tags und manchmal auch nachts mit der Weiterverarbeitung ihrer Nachrichten beschäftigt sei. Auch hält sich das Gerücht, die Personalakte der Internetten sei nur wegen ihrer eifrigen Smartphonetätigkeiten bei allen Entlassungsgesprächen immer wieder unauffindbar. Viele, die dieses Gerücht verbreiten, stellen ungefragt der Internetten ihr Wissen zur Verfügung. Auch scheint ihr, dass die Chefs ihr gegenüber irgendwie aufmerksamer geworden sind, ihr neuerdings jede Menge Komplimente machen und sie des Öfteren in der Kantine zum Essen einladen.

Gelangt die Internette endlich auf Station, geht sie voller Ungeduld in die Zimmer, öffnet die Fenster und lässt die ersten Sonnenstrahlen auf die Gesichter der noch schlafenden Patienten scheinen. Sie klopft sie wach, nimmt die Becher vom Nachttisch, reicht sie ihnen an die Münder und fragt ganz nebenbei, wie viele Besucher gestern das Radrennen des Enkels hatte, wie das Essen derzeit schmeckt, wie laut sie die Musik beim diesjährigen Sommerfest des Krankenhauses fanden oder auch nur wie sie die Kleiderordnung auf einer Skala von eins bis zehn einstufen würden. Haben die Patienten ihre Informationen im Halbschlaf genuschelt, klopft sie ihnen anerkennend auf die Schulter, stellt die leer getrunkenen Becher auf die Nachttische zurück, notiert die Flüssigkeitsmenge im Einfuhrprotokoll, zieht die Decken bis zur Nasenspitze hoch, schließt die Fenster und gibt noch im Raume stehend umgehend Votings zur Genießbarkeit des Patientenessens, des Lärmpegels im Krankenhaus und zum schrillsten Ärztekittel an alle Whatsapp-Gruppen ihres ellenlangen Verteilers weiter. Und nur wenn die Daten mehr als zwei, drei SMS überschreiten, schiebt sie sich seit Neuestem in einen der sehr schmalen Patientenschränke, zieht das Tablet unter dem Shirt hervor und schreibt ausführliche Rundmails mit Grafikanhang und Balkendiagramm. Dabei kommt es ihr zugute, dass sie die eigens für diese schmalen Schränke begonnene Diät erfolgreich beendet hat. Anschließend kommt sie wie nach einem Toilettengang erleichtert aus dem Schrank, schiebt zufrieden die Tür zu und steckt das Tablet unters Shirt. Meist bemerkt sie erst jetzt, dass sie in der Zwischenzeit furchtbar müde geworden ist und sie dringend einen Frühstückskaffee braucht. Im Pausenraum angelangt, schiebt sich die Internette in ihre Lieblingsecke an die Stirnseite des Tisches, streift die Schuhe ab, legt die Beine hoch und lauscht gleichzeitig allen Gesprächen der Mitarbeiter. Da es sehr anstrengend ist, die Verwandten und Bekannten der Mitarbeiter auseinanderzuhalten, kann es schon mal vorkommen, dass der Internetten die Augen zufallen und sie in einen wohltuenden Sekundenschlaf hinabgleitet. Erwacht sie wieder, gibt sie die oft unvollständigen Sachverhalte in ihre beiden Smartphones ein. Nicht selten ist sie von der Brisanz ihrer neu gewonnenen Informationen so perplex, dass sie vor Schreck gleichzeitig in zwei, drei oder gar vier Brötchen beißt und den viel zu heißen Kaffee abwechselnd aus den umherstehenden Kaffeepötten runterschlüft. Ist die ihrer Meinung nach viel zu kurze Pause vorbei, zieht die Internette ihre Pantoletten an und fragt die Stationsleiterin, ob sie die Patienten in den OP fahren oder von dort abholen darf. Vorher schleicht sie in den Umkleideraum und wechselt ihre zwei schwächelnden Smartphones gegen zwei mit aufgeladenen Akkus. Die akkuschwachen Smartphones steckt sie an einer Verteilerdose an, die ihr ein Handwerker, aus der Schar der unendlichen Verehrer, in den Umkleideschrank heimlich eingebaut hat. Mit den zwei aufgeladenen Smartphones bewaffnet, schnappt sie sich ein im Gang geparktes Bett nebst Patient und beginnt ihre ausgedehnte Spazierfahrt durch alle Etagen und Winkel des Krankenhauses. Zuerst führt sie ihr Weg in die Wäscherei. Dort horcht sie was die Besungene an Zetteln, Eintrittskarten und anderen interessanten Fundstücken in den schmutzigen Wäschestücken gefunden hat und welche wichtigen Nachrichten sich daraus rekonstruieren lassen. Anschließend schiebt sie das Bett mitten in die Raucherinsel der Krankenpflegeschule, holt ihre Zigaretten heraus, steckt sich und dem halbschlummernden Patienten eine Zigarette zwischen die Lippen und gibt der qualmenden Schülerschaft Tipps, wo in den nächsten Nächten angesagte oder gar streng verbotene Tanzveranstaltungen mit anschließendem Nacktbaden stattfinden. Kommt die Internette von der kleinen Raucherpause an der Kantine vorbei, kann sie sich meist nicht beherrschen. Sie wirft ihre und des Patienten Zigarette in die Ecke, stellt das Bett mit dem magennüchternen Patienten neben den beleuchteten Lunchautomaten, zieht sich ihr saftiges Schinken-Käse-Sandwich mit Ei und Salat aus dem Automatenfach und stürmt an die Kasse zu Herrn Auskunft. Dort tauschen sie Speicherkarten mit verschiedenen Diagrammen und Grafiken aus und besprechen wichtige Kulturveranstaltungen, die im Umkreis von mindestens einhundertfünfzig Kilometern stattfinden. Und jedes Mal nimmt sich die Internette ganz fest vor beim nächsten Schwatz nicht wieder zwei, drei Stunden in der Kantine zu verweilen. Denn oft kommen die Patienten danach viel zu spät zu ihren OP-Terminen oder versterben, weil die Sauerstoffmaske zwischenzeitlich verloren gegangen oder der Infussiomat leer gelaufen ist. Sie übergibt ihre halbtoten Patienten am OP-Eingang und übernimmt die frisch operierten Patienten. Da das Handy im OP und ITS-Bereich keinen Empfang hat, hasst sie die Zeit der Übergabe und drängt das Personal zur Eile. Anschließend rast sie wie von der Tarantel gestochen mit dem Patienten in den Flur zurück und prüft mit zitternden Händen den Empfang ihrer beiden Smartphones. Mit der Fülle an Informationen beantwortet sie auf der Rückfahrt bereitwillig jedem Mitarbeiter, wann, wo, wie, welche wichtigen Veranstaltungen stattfinden, wie hoch die Eintrittsgelder sind, wie viele Karten sich überhaupt noch im Umlauf befinden und ob die Fragenden zu dieser oder jener außergewöhnlichen oder einmaligen Veranstaltung kommen müssen. Gern beendet sie ihre Tipps mit dem mahnenden Satz, dass ein Fernbleiben ein nicht wieder gut zumachender Frevel oder gar ein untrügerisches Zeichen von kultureller Einfältigkeit vor aller Welt darstelle und der Ferngebliebene sich nicht mehr bei Tage unter die Menschheit getrauen könne. Sind die Fragenden noch im Zweifel, schiebt sie den standardisierten Satz hinterher, dass auch sie todmüde sei, dass auch sie Wäsche in der Waschmaschine habe und auch ihre Fenster vor Dreck aus den Rahmen fielen, aber sie sich gar nicht mehr im Spiegel ansehen könne, wenn sie der Veranstaltung fernbliebe. So angeheizt beteuern die Informierten, dass sie in jedem Falle zur angemahnten Veranstaltung kämen. Oft trifft sie am Abend den Handwerker, der ihr fortwährend zulächelt, Teile ihres alten oder neuen Stationsteams oder gar ganze Abteilungen dort an. In diesen Momenten fühlt sie sich seltsam geborgen und glaubt sich ihrem großen Ziele näher, einmal alle Mitarbeiter des Krankenhauses als familiäres Ganzes zu erleben. Sie nimmt die Smartphones und macht Fotos, die sie als Panoramabilder in verschiedene Netzwerke stellt und mit den Namen aller Abgebildeten versieht. Die Gelungensten klebt sie später an einer der wenigen freien Plätze ihrer vier Meter hohen, weiß getünchten Wände der Drei-Zimmer-Altbauwohnung mit Außentoilette. In sehr guten Momenten gelingt ihr das Kunststück, die Anwesenden im Saale in tobende Begeisterung zu versetzen. Dann schunkelt sie so lange hin und her, bis die Anwesenden die von ihr vorgegebene Bewegung aufgreifen und in eine einzige Woge verwandeln. Nach solchen Veranstaltungen fährt sie nicht, wie sonst üblich, mit dem Taxi zum nächsten Ereignis, sondern schaltet ihre beiden Smartphones aus, nimmt ihre bunten Pantoletten in die Hand und planscht im Springbrunnen und träumt davon, endlich von einem schönen Mann entdeckt zu werden. Barfuß tanzt sie nach Hause. Sie legt sich ins Bett und schaukelt sich mit dem Rhythmus der abendlichen Woge in den wohl verdienten Schlaf und stellt sich die Frage warum sich niemand getraut, sie endlich anzusprechen. Und nur wenn sie wieder einen ihrer furchtbaren Albträume hat, schreckt sie aus ihrem Schunkelschlafe auf und starrt mit weit aufgerissenen Augen auf ihre beiden Handys, die sie stets fest umklammert in den Händen hält. Dabei überlegt sie, was sie eigentlich machen wird, wenn sie, wie im Traume geschehen, wirklich in ein Funkloch fallen sollte.

Würde man den Pförtner nach ihr fragen, würde er sagen, dass sie eine ausgesprochene Handymacke hätte und er beim besten Willen nicht sagen könne, woher sie die viele Kohle nehme, um die täglichen Taxifahrten bezahlen zu können. Außerdem würde er behaupten, dass sie endlich einen Mann in ihr unstetes Leben lassen müsse. Dann würde sich das mit der Doppel-Handymacke und dem Taxirumgekutsche schnell legen. Außerdem könne er dann wieder seinen geliebten Pflücksalat abernten und zum Frühstück essen.

Die Gastnehmerin, Teil V

Sie steht auf, zupft ein verwelktes Blatt von der Grünpflanze, wirft es in den Mülleimer und geht auf die Toilette. Wie immer lehnt sie die Tür an und ich höre wie ihr Urin in die Schüssel läuft. Damit ich das Geräusch des Urinstrahls heute nicht hören muss, lege ich Jazzmusik in den Spieler und drehe die Musik laut. Sie kommt aus dem Bad und schimpft erwartungsgemäß, dass das furchtbare Affenmusik sei, dass die Nachbarn dieses Geheul auf keinen Fall dulden würden und auch sie bei der furchtbaren Musik sofort gehen werde. Ich schalte die Musik etwas leise, sage beiläufig, dass es mir leidtue und warte bis sie sich angezogen hat. Ich begleite sie zur Tür. Sie bleibt im Flur stehen und fragt, ob nicht doch etwas Geld in dem Geldbeutel sei und ob ich noch einmal gründlich nachsehen könne. Siegessicher gehe ich zum Küchenschrank zurück, nehme mit ausladender Handbewegung den Geldbeutel aus dem Fach, werfe ihn in die Luft und drücke ihn ihr in die Hand und ermuntere sie, doch selber noch einmal ganz gründlich hineinzusehen. Sie schaut hinein und dreht die Spitze ihres Schuhs, als wollte sie eine Zigarette austreten. Sie klopft mit der Hand auf die Oberfläche ihrer Tasche und flüstert, ob ich nicht wenigstens etwas Kleingeld im Portemonnaie sei. Die Gastnehmerin, Teil V weiterlesen

Die Gastnehmerin, Teil IV

Sie legt ihren Wunschzettel neben den Teller, zupft am Ärmel ihres zu großen Kostüms und schließt die Knöpfe. Sie streckt die Finger durchs Haar, dreht an ihren Locken und beißt mit ihrem schlecht sitzenden Gebiss auf die Unterlippe, dass es aus der Kieferleiste kippt. Erschrocken schiebt sie das Gebiss zurück und greift an die Goldkette, die bis zur Brustmitte hängt. Sie umgreift den antiken Anhänger mit dem ovalen Granat, den sie aus einem unbekannten Grunde als einzig verbliebenes Schmuckstück noch nicht verkauft hat. Mit dem Schmuckstück ihrer Großmutter pendelt sie heftig hin- und her, sodass ich die Befürchtung bekomme, die feinen Kettenglieder könnten reißen und der Anhänger auf dem Fußboden landen. Dabei höre ich ein rhythmisches Tippen unter dem Tisch. Ich drehe mich zu ihr herüber, höre wie das Geräusch lauter und schneller wird und überlege, wo ich es gehört habe. Es war bei ihrem letzten Besuch. Aus einem mir unerklärlichen Grunde bin in der darauf folgenden Nacht aufgewacht und hatte erkannt, dass sie immer dann, wenn sie etwas als unangenehm empfindet, mit dem Fuß auf den Boden tippt, als wollte sie lieber weglaufen. Sie lässt den Anhänger los, hält die Hand vor den Mund und fragt in kaum hörbarer Stimme: “Kannst Du mir etwas Geld leihen?“ Die Gastnehmerin, Teil IV weiterlesen

Die Gastnehmerin, Teil III

Sie knurrt. Ich drehe das Radio leise, den Wasserhahn ab und wiederhole in langsamen Worten meine Frage: „Schmeckt´s dir? Schmeckt´s? Oder bist du schon satt? Wenn Du satt bist, musst du´s mir nur sagen. Dann stelle ich den restlichen Käse auch gern wieder in den Kühlschrank! Der muss ja nicht unnütz auf dem Tisch stehen.“ Ich höre ein weiteres Mal ihr Knurren und ein „Nein, nein, es schmeckt! Stell´ den Käse bloß nicht wieder weg!“ Ich drehe den Kopf etwas zur Seite und sehe wie sie mit der einen Hand hastig zwei Scheiben in ihren Mund steckt, wobei die eine Scheibe für Sekunden wie eine weiße Zunge heraushängt und im Rhythmus ihrer Kaubewegung mitschwingt. Mit der anderen Hand schiebt sie schnell die verbliebenen Käseteile auf ihren Teller. Sie nimmt die mitgebrachte Tüte aus der Tasche und kippt den Käse hinein. Ich drehe den Kopf zurück zur Spüle, schließe die Augen und spüre das Gefühl, dass ich in solchen Momenten immer verspüre. Ich sage mir in Gedanken, dass ich diesem Gefühl des Mitleids ab heute nicht mehr nachgeben will. Außerdem sage ich mir, dass ich mir das seit Jahren jedes Mal vorgenommen habe. Zum Schluss sage ich mir, dass ich aus einem unerklärlichen Grund seit dem letzten Besuch weiß, dass ich von ihr nichts mehr erhoffen kann.
Ich öffne die Augen, schiele auf den Tisch und sehe wie sie das letzte Stück herunterschlingt. Ich bemerke, wie ich die Schnur der Mikrowelle umfasse und in die Steckdose schieben will. Ich schüttle den Kopf, schalte die Herdplatte an, lege meine flache Hand darauf, bis es warm wird und ich ein leichtes Brennen verspüre, starre in das immer deutlicher werdende Rot und spreche lautlos zu mir: „Ab heute, ab heute muss das anders werden! Du hast es dir versprochen!“ Ich lege die Schnur der Mikrowelle aus der einen Hand, nehme die andere Hand von der Platte, schalte den Herd aus und überlege, wann sie endlich mit dem eigentlichen Grund ihres Besuches herausrücken wird. Ich halte meine Hand unter das kalte Spülwasser und bin mir auf einmal sicher, dass ich ihr es ganz gewiss nicht leicht machen werde und sie ab heute mit mir einen wirklich echten Gegner haben wird. Als erstes kommt mir die Idee, ihr Gespräch, zu torpedieren. Da ich weiß, was sie in Wirklichkeit will, dürfte es mir nicht allzu schwer fallen, jedes Mal, wenn sie damit beginnen würde, sie mit einem anderen Thema zu überrumpeln. Ich gieße ihr Kaffee ein. Dieses Mal gieße ich ihn, wie den Tee in chinesischen Filmen, aus großer Höhe ein, damit er schnell kalt wird. Ich weiß, kalten Kaffee mag sie noch weniger als zu heißen. Sie sagt, dass es schön sei, dass es so schnell mit diesem Besuch geklappt habe und sie ein dringendes Anliegen auf dem Herzen habe. Ich frage sie, was eigentlich ihr Herz mache und wie der Befund des Langzeit-EKGs ausgefallen sei. Sie sagt, dass sie es noch nicht geschafft habe, aber gleich nächste Woche zum Arzt gehe. Sie sagt, dass es schön ist, dass es mit diesem Besuch so schnell geklappt habe und sie wieder einmal einen kleinen Wunsch hätte. Ich frage, ob sie denn die Weihnachtswünsche der Verwandtschaft für dieses Jahr schon wüsste und bin völlig erstaunt als sie ja, natürlich sagt und dass sie ja deswegen mich besuchen komme. Ich verdrehe die Augen und sage, dass ich mich über ihren Besuch sehr freue, mir aber dieses Jahr vorgenommen habe, keinerlei Wünsche zu erfüllen. Sie sagt, dass auch sie sich dieses Jahr vorgenommen habe keine allzu großen Wünsche zu erfüllen und es sich sowieso nur wieder um Kleinigkeiten handle. Sie greift in ihre Jackentasche und holt den Weihnachtswunschzettel, den sie auf die Rückseite eines langen Kassenbons geschrieben hat, heraus. Da ich weiß, dass sie mit ihrer Brille nicht allzu viel erkennen kann, gehe ich zum Fenster, sehe hinaus und drehe am Stellrad der Jalousie. Sie beugt sich über den Zettel mit der kindlich krakeligen Schrift und beginnt laut vorzulesen. Ich bin erstaunt, dass sie ihre Schrift immer noch erkennt. Ich schaue wieder scheinbar unbeteiligt durch die Fensterscheibe und drehe ein weiteres Mal am Stellrad der Jalousie. Sie hält den Zettel nah an ihre Brille und liest in ihrer unnachgiebigen Art, die ich bewundere und zugleich fürchte, ihren Wunschzettel vor. Ich sehe weiterhin aus dem Fenster und drehe ein weiteres Mal das Plasterädchen der Jalousie und bin erfreut, mit wie wenig Aufwand ich ihren Willen unterbrechen kann. Sie schiebt den Zettel vor die Brille, reibt ihre Augen und beginnt zu stottern. Ich flüstere in Gedanken, dass ihr das völlig zu Recht geschieht und es die Strafe dafür ist, das von mir erbetene Geld statt für die neue Brille für unsinnige Einkäufe auszugeben. Sie reibt sich erneut die Augen und beginnt zu zittern. Da mir dieser Anblick leidtut, drehe ich das Rädchen der Jalousie zurück. Sofort beginnt sie wieder, diesmal schneller, die Wünsche vom Zettel vorzulesen. Da mich das, aber auch mein gottverfluchtes Mitfühlen ärgert und ich mir nicht sicher bin, was mich mehr von beidem in hilflose Wut versetzt, drehe ich das Rädchen zurück. Sie reibt Kreise über die Karos ihres violetten Hosenkostüms. Ich drehe wieder an dem Rädchen. Sie beobachtet mich und ich überlege, was ihre Beobachtung bedeutet und ob sie gemerkt hat, dass ich das Rädchen gedreht habe. Das macht mich völlig unsicher. Ich schaue noch einmal aus dem Fenster, öffne es, winke und rufe auf die Straße herunter. Ich schließe das Fenster, reibe mit dem Ellenbogen über die Scheibe, gehe vom Fenster zur Spüle, die hinter ihr steht und überlege wie ich ihren Leseschwall unterbrechen kann. Ich hole mit dem schweineteuren Bergkäse, den ich extra für diese Situation beim Händler bestellt habe, meine allerletzte Waffe aus dem Kühlschrank, stelle ihn vor sie und bemerke erst jetzt, dass sie schweigt und ihre Brust sich schnell auf- und abbewegt. Ich glaube puterrot zu werden, drehe mich von ihr weg und sage trotzig, dass ich ihn extra nur für sie gekauft habe, vorhin glatt vergessen habe ihn auf den Tisch zu stellen und nun aber auch möchte, dass sie ihn unbedingt isst und ich ihn ansonsten nie mehr kaufen werde. Sie schaut auf ihren Wunschzettel, auf den Käse, auf den Wunschzettel und von dort langsam auf den Käse und danach mich fragend an. Ich nicke ihr zu und sage im überzeugt lässigen Tonfall, dass es da überhaupt nichts zu überlegen gibt. Sie schaut mich zögernd an und legt in Zeitlupe den Zettel neben den Teller. Ich hobele die Scheiben vom Käse herunter und garniere sie auf den Teller. Sie schaut mich an und beginnt die Scheiben in einem Tempo in den Mund zu schieben, dass ich mit dem Hobeln kaum nachkomme Sie greift zur Kanne und gießt sich mit Schwung Kaffee nach, dass der Kaffee über die Tasse, auf die Untertasse und von dort auf den Tisch schwappt. Sie trinkt ihn mit einem großen Schluck, dass er tröpfchenweise aus den losen Gebisshälften träufelt. Ich beobachte sie und möchte am liebsten zum Fenster stürzen und die Jalousie komplett zudrehen. Stattdessen drehe ich mich wieder zur Spüle, frage sie in einem eingeübt scheinheiligen Ton, was denn dieses Mal der Grund ihres Besuches ist und spüre plötzlich wie mir übel wird und ich mich über meine eben gestellte Frage zu ärgern beginne, da ich ihr nun eine wunderbare Steilvorlage biete, die sie garantiert nutzen wird. Mit vollem Mund, nimmt sie den Wunschzettel in die Hand und beginnt laut vorzulesen. Ich schüttle den Kopf, setze mich an den Küchentisch sehe die vielen Posten, die auf der Vorderseite des Kassenbons aufgetragen sind und spüre das jahrhundertealte Gefühl in mir hochsteigen aus der Wohnung zu laufen, getraue es mir aber nicht. Ich sehe auf die Herdplatte, schüttle den Kopf und bezweifle, ob ich jemals diesem Gast, der auch heute wieder mit einem Selbstverständnis an seinem sogenannten Stammsitz am Küchentisch Platz genommen hat, gewachsen bin. Ich stehe auf, gehe zum Küchenherd, schalte die Herdplatte an und drücke meine flache Hand darauf.

Die Gastnehmerin, Teil II

Im ersten Teil wartet der Erzähler auf seinen Gast und erzählt dabei (aufgeregt) wie aufgeregt er ist und er sich auch dieses Mal gegen dieses unangenehme Gefühl nicht wehren kann. Noch während des Wartens vollzieht sich für den Erzähler und den neugierigen Leser aus (noch) unerklärlichen Gründen eine Wandlung seines sonst üblichen Verhaltens. Diese Wandlung wird heute in Teil II fortgeführt und der Leser wird (un-gewollt) zum voyeuristischen Teilhaber des bizzaren Frühstücksgeschehens am Küchentisch.

Sie greift den Käse, schneidet wie erwartet dicke Scheiben herunter und stapelt ihn auf das Brötchen. Ich beobachte sie und bin verwundert, weil mich ihre Verfressenheit überhaupt nicht aufregt. Stattdessen sage ich, dass es mich sehr freut, dass sie heute ausnahmsweise viel Appetit mitgebracht hat und es ihr so wunderbar schmeckt. Ich nehme die Kaffeekanne, gieße ihr den tiefschwarzen Kaffee randvoll in die Tasse und sage: „Einen recht bekömmlichen und guten Hunger!“ Sie trinkt einen Schluck, antwortet, bei mir hast du das anders gelernt und beschwert sich, dass ich ihr zu viel Kaffee in die Tasse gegossen habe, sie ihn nun nicht mehr mit Milch verdünnen kann und der Kaffee außerdem viel zu stark sei. Sie erinnert mich daran, dass ich doch wüsste, dass sie starken Kaffee seit langem nicht mehr vertrüge und ob ich unbedingt wolle, dass sie wie ihr Großvater Magenkrebs bekomme. Ich entschuldige mich beiläufig und biete ihr mit einem Lächeln Milch an. Ich gehe zum Kühlschrank, öffne mit der einen Hand die Tür, ziehe mit der anderen Hand den Neztstecker der Mikrowellenschnur aus der Dose und stelle ihr die eiskalte Milch, die ich vor ihrem Besuch ins Kühlfach gelegt habe, auf den Tisch. Sie fragt mich, ob ich wenigstens Milch in der Mikrowelle warm machen könne. Ich verneine, drücke stattdessen theatralisch an der unbeleuchtete Tastatur und bedaure, dass die Mikrowelle aus einem mir wirklich unerklärlichem Grunde just gestern den Geist aufgegeben habe und sie die Milch heute leider mal kalt nehmen müsse. Sie sagt nein und trinkt den schwarzen Kaffee in kleinen Schlucken und flüstert, dass sie, wenn sie ihre Diagnose bekäme, wenigstens wisse wer an alledem schuld sei. Ich versichere, dass das nie und nimmer passiert und sie wenigstens Hundert werde. Mit einem Knurren beißt sie in die Brötchenhälfte und zieht wie ein wildes Tier daran. Sie lässt den Teil der Brötchenhälfte wieder aus dem Mund gleiten, dreht den Kopf zur Seite und versucht es noch einmal. Als auch das nicht gelingt, schiebt sie die Lippen vor und lutscht an der Kruste. Sie schiebt ihre Zähne hin- und her, beißt vorsichtig hinein und würgt das abgesägte Stück herunter. Sie flucht und legt die Hälfte des Mohnbrötchens zurück und isst stattdessen den Käse vom Teller. Damit sie nicht mit dem Essen aufhört, gehe ich zum Kühlschrank und nehme den Büffelmozzarella heraus. Ich öffne die Verpackung, rieche daran, lecke mit der Zunge um den Mund, stelle den Mozzarella direkt vor ihre Nase und sage ihr in die Länge gezogen, dass ich den Käse extra nur für sie gekauft habe. Ich hoffe ihr so ein schlechtes Gewissen zu machen und ihre Fresssucht wieder anzuheizen. Wenn ich Glück habe, isst sie wieder alles, was ich auf den Tisch gestellt habe und ihr wird schlecht. Heute scheint mir das nichts auszumachen. Sonst regt mich ihr zu erwartendes Verhalten Tage vorher maßlos auf und ich beschwere mich lautstark vor dem Spiegel stehend über ihre Verfressenheit und mache ihren immer gleichen jammernden Monolog nach, bei dem sie sagt, dass sie wieder viel zu viel gegessen habe und ihr nun schlecht würde. Jedes Mal nehme ich mir vor dem gottverdammten Spiegel stehend vor, ihr endlich zu sagen, dass sie über ausreichend Geld verfügt und ich nicht mehr ihr Goldesel sein möchte. Aber nachdem ich die Vermutung habe, dass sie es ist, die im Hof hinter die Container kotzt, stört mich ihre Fresserei nur noch halb. Am Anfang dachte ich, es seien Jugendliche oder eines von den Hippie-Pärchen aus dem Nachbarhaus, die nach ihren Saufgelagen gern mal in die Ecken kotzen oder pinkeln. Aber nachdem ich festgestellt habe, dass die Kotze immer dann hinter dem Container liegt, wenn sie da war und die Hippies zu der Zeit ihren Rausch ausschliefen, bekam ich diese Ahnung. Ich gebe zu, dass ich manchmal, wenn ich mich wieder über sie aufrege und wütend durch die Bude renne, das Kotzgeräusch nachmache und mich schlagartig dabei wohlfühle. Wenn ich Glück habe, kann ich es heute endlich live erleben. Ich summe ein Lied, schneide den Mozzarella in extra dicke Scheiben und lege ihn breitfächerig auf den Meißner Servierteller meiner verstorbenen Großmutter. Mit gespreizten Fingern nasche ich eine Scheibe vom Teller und summe trotz vollem Munde weiter. Jedes Mal wenn sie den Teller mit dem Streublumenmuster sieht, wird sie unruhig und äußert abwertende Bemerkungen, um auch das letzte bei mir verbliebene Stück meiner geliebten Großmutter, von mir geschenkt zu bekommen, um es anschließend zu verscherbeln. Über die Jahre habe ich es mir abgewöhnt, die Teile, die sie an den Antiquitätenhändler in meiner Straße verkaufte, zurückzukaufen. Anfangs hatte ich mich geärgert, dass sie die Stücke verkauft hat. Später war ich nur noch enttäuscht, dass sie sich nicht einmal die Mühe gab, die mir zuvor abgeschwatzten Teile, so zu verkaufen, dass ich es nicht bemerke. Und als sie mir eher zufällig ein Stück abschwatze, das ich ihr schon einmal geschenkt hatte, ließ ich es, weitere Teile vom Händler zurückzukaufen. Ich streichle über eine der abgebildeten Streublumen auf dem Teller, schmatze nachdenklich, sehe ihr in die Augen und sage, dass das ein wunderschönes Muster ist und ich gar nicht weiß, wer diesen prachtvollen Teller, wenn ich nicht mehr bin, bekommen soll und er sicherlich, wie mein anderer Kram in einer der vielen Haushaltauflösung oder gar im Sperrmüll landen wird. Ich staune, dass mir heute das bei Sammlern begehrte Motiv nicht abschwatzen will und stelle Pfeffer, Salz und Olivenöl wie eine Mauer um den Meißner Teller herum. Ich nehme das Kürbiskernöl, öffne es und sage ihr, dass das Öl vorzüglich zum Mozzarella passe. Ich garniere die Scheiben mit frischen Basilikumblättern und Cherrytomaten und bitte sie sich nicht zu zieren und doch endlich zuzugreifen. Ich gehe zur Spüle, wasche meine vom Käse verklebten Hände und sage ihr, dass der Büffelmozzarella erst neulich im Fernsehen von ihrem Lieblingskoch angepriesen wurde. Ich gehe zurück zum Tisch und erwische sie, wie sie mit ihren dicken Fingern an ihren beiden Gebissen rumruckelt. Erstmals erfreue ich mich bei dem Anblick, dass ihr die Beißer nicht mehr passen und sie seit Jahren deswegen Schmerzen hat. Hätte sie das viele Geld, das sie mir damals über Monate abgepresst hatte, auch wirklich für die Zahnarztrechnung verwendet, müsste sie jetzt nicht mit Schmerzen am Tisch sitzen und mit kaputten Zähnen und einem zu großen Gebiss essen. Ich drehe mich zurück zur Spüle und frage sie in einem Tonfall, bei dem ich mir sicher bin, dass sie in jedem Fall auf meine Frage antworten muss: „Schmeckt´s dir eigentlich? Du sagst gar nichts?“

Die Gastnehmerin, Teil I

Ich warte. Meine Mutter hat sich angemeldet. Sie hatte gestern am späten Abend angerufen und gefragt, ob sie mit mir heute Morgen etwas überaus Wichtiges besprechen dürfe. Es sei dringend, sehr dringend.
Ich kenne ihre Art. Ich kenne ihre unaufschiebbaren Wünsche und auch ihre Hartnäckigkeit. Sie gibt nicht nach. Sie gab noch nie nach. Sie versucht es anfangs freundlich, später indem sie mir ein schlechtes Gewissen macht und zum Schluss mit Vorwürfen. Das alles ist mir vertraut. Nun sitze ich da und warte auf das, was ihr Besuch von mir fordern wird. Ich schalte den Fernseher an und springe von Sender zu Sender. Nachdem ich alle dreiunddreißig Programme durchgeblättert habe, fange ich wieder von vorne an, bis es zwei Mal kurz hintereinander klingelt. Sie klingelt immer zwei Mal. Das ist ihr Zeichen. Das hat sie vor Jahren für uns festlegt. Deswegen ermahne ich die Postträger und die Bewohner des Hauses, falls sie Irgendetwas von mir wollen, bitte, bitte nur einmal zu klingeln. Da sie schon mehrfach erlebt haben, wie mies es mir geht, wenn sie zweimal klingeln, halten sich die meisten an meine ungewöhnliche Bitte, wie sie sie verwundert ein jedes Mal nennen, wenn wir darauf zu sprechen kommen. Wieder klingelt es zwei Mal. Und dann noch zweimal kurz hintereinander. Auch das kenne ich von ihr. Heute stürze ich nicht zur Tür, sondern lasse mir Zeit. Eigentlich wäre jetzt eine weitere Chance, mich endlich still zu verhalten und nicht zu öffnen. Eigentlich. Noch nie habe ich diese Chance genutzt. Komischerweise bereite ich mich aber jedes Mal auf diesen Moment vor. Ich schalte alle Lampen aus, drehe das Radio leise und wenn es draußen dunkel ist, schalte ich sogar den Fernseher ab, damit mich das Geflacker nicht verrät. Noch nie habe ich mich still verhalten. Doch, ein einziges Mal. Mir war das damals so unangenehm, dass ich mich bei ihr entschuldigte, ihr versicherte, sehr, sehr fest geschlafen zu haben und ihr zum Abschied Geld geschenkt hatte.
Ich schalte den Fernseher ab, stehe vom Sofa auf, setze einen Fuß vor den anderen und schleiche so zum Türsummer. Es klingelt zwei Mal kurz. Ich warte einen Moment, bis es wieder und wieder zwei Mal kurz hintereinander klingelt und versuche in gelangweilter Stimme zu fragen, wer da ist. Ich höre ihr: „Hier is´ Mutti! Lass mich rein!“ Über meine gelangweilte Stimme bin ich erschrocken. Schnell drücke ich den Summer und öffne die Wohnungstür. Ich gehe ins Schlafzimmer und hole ein Hemd aus dem Schrank, ziehe es aber nicht an. Stattdessen hänge ich es zurück, gehe ins Bad, nehme ein schmutziges Hemd aus der Wäsche und streife es über. Ich gehe zurück ins Wohnzimmer, werfe mich auf das Sofa, schalte den Fernseher wieder an und drücke wahllos durch die Sender. Das Klingeln hat meinen Puls hochgejagt. Ich reibe die Hände an den Hosenbeinen trocken. Ich fluche und drehe den Fernseher lauter.
Sie klopft an die Tür. Ich rufe vom Sofa aus herein und spüre jetzt das Pochen am Hals. Ich drehe die Lautstärke noch ein Stück auf, bevor ich den Fernseher ausschalte. Früher hätte sie sich zuallererst über die Lautstärke beschwert und verlangt den Ton leise zu stellen. Es wäre ihre erste Anweisung gewesen. Es war immer ihre erste Anweisung wenn sie in mein Zimmer eintrat. Sie hatte diese Begründung auch gern benutzt, um mein Zimmer zu betreten, selbst dann, wenn ich gar keine Musik gehört hatte. Ich wische meine kalten Hände nochmal an den Hosenbeinen trocken und schiebe mich vom Sofa auf.
Jetzt steht sie da, klopft leise an der Stubentür und tritt ein. Ich blicke flüchtig zu der kurzatmigen und unfrisierten Frau in ihrem zu großen violetten Hosenkostüm und nicke. Irgendwie freue ich mich über ihre Kurzatmigkeit. Ich hatte mir vor Jahren angewöhnt in obere Etagen zu ziehen. Irgendwie fühlte ich mich dort wohler. Mit jedem Umzug zog ich eine Etage höher, anfangs noch mit Fahrstuhl. Als ich bemerkte, dass ihr das Treppensteigen immer schwerer fiel, suchte ich speziell nach Wohnungen in Häusern ohne Fahrstuhl. Die Makler wollten mir mein Anliegen erst nicht glauben. Aber nachdem ich ihnen Fitnessgründe dargelegt hatte, suchten sie für mich und erklärten mir, dass das Gesetz jedoch Wohnungen nur bis zur Sechsten ohne Fahrstuhl zulässt. Sicherlich fällt mir das tägliche Treppensteigen schwer und ich verfluche sie manchmal auf einem der Treppenabsätze. Wegen den einhundertneun Stufen trinke ich nur noch Leitungswasser und esse eingeschweißtes Fertigzeug. Und seit ich hier oben in die Mansardenwohnung mit der steilen Wendeltreppe gezogen bin, habe ich sogar mein Bier weggelassen und trage meinen Wocheneinkauf in einem speziellen, rückenschonenden Bergsteigerrucksack.
Sie geht in die Küche, setzt sich auf den Stuhl und ringt um Luft. Ich stelle mich an die Spüle, putze am Wasserhahn und beobachte sie aus den Augenwinkeln. Ich freue mich wie sich ihre flache Brust schnell auf- und abbewegt. Wenn sie wieder Luft bekommt, wird sie mich fragen, ob´s denn hier nichts zu essen gibt. Da mir die Frage wieder unangenehm sein wird, hole ich ein hart gekochtes Ei, Margarine und den vorbereiteten Teller Käse aus dem Kühlschrank. Warum ich mich dieses Mal für hart gekochte Eier und Margarine im Kühlschrank entschieden habe, obwohl weder ich noch sie das Zeug essen, sage ich ihr vorerst noch nicht, stelle es ihr aber demonstrativ auf den Tisch. Ich gehe zur Kaffeemaschine und fülle mehr als die doppelte Menge Kaffeepulver, die ich benötige, in den Filter. Ich öffne den Schrank und hole das Gedeck mit der angeschlagenen Tasse heraus, das ich dachte längst weggeworfen zu haben und stelle auch dieses vor sie. Eigentlich müsste jetzt etwas passieren. Eigentlich. Da nichts passieren will, drehe ich ihr den Rücken zu und suche Brötchen im Fach. Das abgepackte Brot schiebe ich dabei unter die Servietten und das Backpapier, dass sie, wenn sie danach suchen würde, in keinem Fall fände. Ich weiß genau, dass sie keine Mohnbrötchen isst. Trotzdem staple ich sie neben die Margarine und erkläre, dass ich leider vergessen habe ihr Brot mitzubringen und ihr nur frische Mohnbrötchen anbieten kann. Sie sagt in ihrem vorwurfsvollen Tonfall, dass sie überhaupt nicht verstehen kann wie ich ihr Brot vergessen könne und wo ich meine Gedanken wieder hätte und ob ich überhaupt auch wenigstens einmal an sie denke. Sie verzieht die Mundwinkel, greift nach einem der frischen Brötchen, betastet es und legt es wieder hin. Damit sie sich es nicht anders überlegt, schneide ich das von ihr betastete Brötchen auf. Mit einem Lächeln, über das ich völlig erstaunt bin, lege ich die Hälften auf den Teller und gebe ihr ein abgenutztes Messer aus dem Schrank. Sie greift zur Margarine, fragt warum ich keine Butter hätte und ob ich sie jemals Margarine essen sah und beschmiert widerwillig die Brötchenhälften. Ich reiche ihr den vollgepackten Teller mit den verschiedenen Käsesorten und bin gespannt auf das, was jetzt passieren würde.

Die Traumfängerin

Die Traumfängerin erscheint hier und da. Oft kommt sie nicht, aber man kennt sie seit Jahren. Sie ist viel auf Reisen. Doch sie ist immer wieder auf dieselbe Weise da. Die Traumfängerin verkehrt nicht mit Nachbarn. Sie bekommt keine Post und redet nicht viel. Die Traumfängerin weiß seit ihrer Geburt, dass niemand besser ist als sie. Die Männer kennen ihre Gabe nicht, die Frauen ahnen sie nur. Die Traumfängerin ist auf alles Schöne aus, was es gibt in der Welt der Träume. Denn sie selbst ist traumlos. Um die elfte Stunde wirft sie sich ihren Mantel über die Schulter und verschwindet im Nebel. Sie trägt ein Netz aus feinmaschigem, weichem Tüll bei sich, angebracht an einem Stock. Geduldig wartet sie ab und hascht zu, wenn ihr etwas, das schon lange als schön gilt und noch nicht in ihrem Besitz ist, in einem Traum zu finden ist. Die Traumfängerin hat keine Schwierigkeiten die Schönheiten aufzufinden, sie erkennt sie sofort. Und so erhascht sie sich einen Sieben-Punkt-Marienkäfer, feinste englische Rosen, Pfefferminz-Schokoladenpralinés, ein Schaumbad so hoch wie die Pyramiden von Gizeh, Schneewittchens Haar, einen Sommermorgen auf einer Lichtung im Wald und einen Ritt durchs Lavendelfeld. So leise sie kommt, so leise verschwindet sie auch wieder. Man sieht sie nie unterwegs. Nur die Kinder wissen um sie. Sie tun es ihr nach und haschen nach Schmetterlingen.

Fehlersuche

„Ey, Jungs!“ Wir sehen uns an und sind uns einig, dass wir nicht gemeint sein können. Wir sind lange keine Jungs mehr und kennen niemanden, der uns so laut auf der Straße hinterherrufen würde. „Hey, ihr da!“ Wir bleiben stehen und drehen uns um. Aus einem Fenster im zweiten Stock des blassgelb getünchten Wohnblocks winkt uns eine blondgelockte, schmuckbehangene Frau, Mitte 50. „Könnt ihr mir mal meinen Fernseher einschalten?“ Ich rufe: „Wir müssen weiter.“ Du rufst: „Ist das so schwer?“ „Eigentlich ist es ganz leicht, nur heute geht’s nicht!“, ruft die Frau. „Wir sind keine Elektriker.“, stelle ich klar. „Ihr müsst bei Balzereit klingeln. In der 52. Ich lasse euch rein.“

„Ist das eine Falle?“, flüstere ich im Hausflur. „Du meinst, sie schlägt uns mit bloßen Fäusten K.O., raubt uns aus und kullert uns dann die Treppe runter?“, fragst du. „Blödsinn.“, zische ich. „Siehste.“, kicherst du.

„Na, wer bist du denn?“, ruft die adrett gekleidete Dame, die Ihre Armreifen klappern, als sie den Kragen unserer Hündin grault. „Das ist echt in Ordnung von euch!“, sagt sie, als sie sich wieder aufrichtet und unsere Hündin durch ihre Beine hindurch in der Wohnung verschwindet. „Vor zehn Minuten ist meine Serie losgegangen! Ich verpasse alles! Zum verrücktwerden!“ Aus der Wohnung schlägt uns ein Geruch entgegen, den ich kenne, aber nicht einzuordnen weiß. „Kommt rein!“ „Es ist leichtsinnig von Ihnen, fremde Männer in ihre Wohnung zu lassen.“, sage ich, bevor ich einen Fuß über die Schwelle setze. „Ihr seid doch keine Ganoven, oder? Außerdem habe ich Pfefferspray. Bitte zieht die Schuhe aus.“

Mein Blick fällt auf einen Strauß Trockenblumen auf einem gehäkelten Deckchen. Dein Blick fällt auf einen Glaswürfel auf dem gepolsterten Telefonbänkchen, in welchen die Portraits zweier Kinder gelasert sind. Unsere Hündin steht schwanzwedelnd auf der Türschwelle zum Schlafzimmer. Darin ein hohes blassrosa bezogenes Ehebett, auf dessen rechter Seite sich Decken und Kissen für jede Jahreszeit stapeln.

„Hier entlang, hier lang!“, ruft die Frau und weist uns den Weg ins Wohnzimmer. Wir müssen ein bisschen rangieren, damit wir alle vier Platz darin finden. Die Frau stellt sich vor ihre rotbraune Schrankwand, faltet die Hände vor dem Bauch und richtet ihren Blick erwartungsvoll auf den dunklen Bildschirm. „Der Leonhard wacht doch heute aus dem Koma auf! Und hier ist alles schwarz!“ Ich versuche mich zu erinnern, woher ich diesen Geruch kenne, hier ist er stärker, nicht penetrant, aber unüberriechbar.

„Wie machen Sie ihren Fernseher normalerweise an?“, fragst du. Angesichts der vier abgegriffenen Fernbedienungen auf dem beige gefliesten Couchtisch, halte ich das für eine gute Idee. „Na so!“, ruft die Frau, tritt einen Schritt zurück, schnappt sich eine der Fernbedienungen, richtet sie wie eine Waffe auf den Fernseher und feuert. „Da! Nichts! Schwarz!“ „Hm.“ Du bist ratlos. Ich knie mich vor den Fernseher, um das Fabrikat zu entziffern. Ich vergleiche es mit denen der Fernbedienungen auf dem Tisch. „Wollen Sie jetzt dafür beten, dass es wieder funktioniert?“, lacht die Frau. „Ich versuche es zuerst mit Logik.“, murmele ich. „Oh, ein Studierter!“, lacht die Frau lauter.

Eine Fernbedienung gehört zum Radio, eine zum Receiver der Kabelgesellschaft, eine scheint für Steckdosen zu sein und die vierte kann ich nicht zuordnen. „Wo ist denn die Fernbedienung, die zum Fernseher mitgeliefert wurde?“
„Der wurde nicht geliefert. Mein Mann hat den in den Arcaden gekauft und mit dem Auto her gefahren.“
„Aber es muss doch eine Fernbedienung dabei gewesen sein.“, hake ich nach.
„Müsste eigentlich, oder?“, stimmt die Frau zu und sieht dich hilfesuchend an.
„Ist die Ihnen vielleicht hinter das Sofa gerutscht?“, vermutest du.
„Das Sofa? Nein. Ich sitze im Sessel. Setzen Sie sich doch.“, antwortet die Frau. „Möchten Sie einen Keks?“

Die Beschriftung der Tasten ist nicht mehr zu erkennen. Ich probiere die beiden großen Knöpfe in den oberen Ecken von Fernbedienung Numero vier. Nichts tut sich. Meine Finger fahren den Rahmen des Fernsehers ab. An der Rückseite ertaste ich Knöpfe. Ich drehe den Fernseher etwas aus der Schrankwand und beuge mich in das Fach.

„Also, so habe ich das nie gemacht.“, höre ich die Frau hinter mir. „Ich bin nie in die Schränke gekrabbelt.“ Ich drücke den Einschalter – ohne Ergebnis. Ich verfolge das Kabel des Fernsehers, bis es durch eine Bohrung im Rücken der Schrankwand verschwindet. Mir fällt ein, dass es in der Wohnung unserer Nachbarn genauso roch, am Schluss.
„Sind Sie sicher, dass das Gerät Strom hat?“, frage ich.
„Ich habe alles bezahlt!“
„Vielleicht ist die Sicherung durchgebrannt?“, schlägst du vor.
„Das weiß ich nicht.“
„Wo ist denn ihr Sicherungskasten? Im Flur vielleicht?“

Während du mit der Frau nach verborgenen Klappen in der Holzvertäfelung des Flurs suchst, schalte ich das Radio ein. Die Hündin springt auf und stößt sich an einem Zeitungsständer, als Udo Jürgens grölt: „…und wenn ich dann traurig werde, liegt es daran, dass ich träume von daheim …“ Ich schalte das Radio wieder aus. Die Hündin dreht sich einmal und legt sich wieder ab.

„Ach lassen Sie doch! Der ist doch tot. Ihr würgt den einfach ab! Pietätlos! Furchtbar!“, ruft die Frau vom Flur.
„Hier ist der Sicherungskasten, Frau Balzereit. Alles scheint in Ordnung zu sein.“, erklärst du.
„Ach Leute, darf ich euch was anbieten? Einen Kaffee vielleicht? Oder ein Bier?“

Erst jetzt entdecke ich die kleine Betriebsleuchte oben in der Mitte der Fernbedienung. Die müsste blinken, wenn man eine Taste drückt. Ich öffne das Batteriefach und nehme die Batterien raus. Sie fühlen sich leer an.
„Haben Sie das jetzt aufgeschraubt?“, fragt die Frau zurück im Wohnzimmer. „Machen Sie das mit Ihren Fingernägeln? Meine splittern wie Glas.“
„Haben Sie Ersatzbatterien im Haus?“, frage ich zurück.
„Ich weiß nicht. Sind die denn leer?“
„Wahrscheinlich.“
„Dann muss ich das meinem Mann sagen. Dann muss der neue Batterien kaufen. Das muss der morgen machen.“
„Bei Reichelt gibt es auch Batterien.“, sage ich. „Ist doch gleich die Straße rüber.“
„Ich weiß doch gar nicht, welche ich kaufen soll.“, wendet die Frau ein.
„Dann nehmen Sie die Alten mit, zum Vergleich.“, schlage ich vor.
„Nein, das macht mein Mann. Der ist fürs Handwerkliche.“, erklärt sie. „Ach, darf ich Ihnen etwas anbieten? Einen Saft vielleicht? Ein Bierchen?“
Wir sehen uns an.

„Wir können Ihnen Batterien mitbringen.“, sage ich. „Wir sind sowieso auf dem Weg in die Stadt.“
„Das würdet ihr machen?“, fragt die Frau.
„Kein Problem.“, sagst du. „Wir nehmen eine alte Batterie mit und heute Abend bringen wir Ihnen neue.“
Die Hündin steht auf und schüttelt sich. Wir verabschieden uns.
„Aber lasst mich nicht so lange warten! Ich muss wissen, was mit Leonhard ist“, ruft sie uns aus dem offenen Fenster hinterher. Wir drehen uns noch einmal um und winken. Die Hündin bellt.

„Warum lässt du Ihren Mann nicht die Batterien besorgen?“, fragst du an der Ampel.
„Sie hat keinen Mann.“, sage ich fest. „Hast du das Bett gesehen? Nur eine Hälfte wird benutzt. Das Schuhregal im Flur? Keine Herrenschuhe. Nicht einmal Pantoffeln. Und am Essplatz am Küchentisch: nur ein Platzdeckchen. Sie ist allein.“
„Aber warum hat sie dann ständig von ihrem Mann gesprochen?“
„Vielleicht hatte Sie mal einen. Vielleicht war ihr das doch nicht geheuer mit zwei fremden Männern in ihrer Wohnung.“
„Vielleicht war sie auch verwirrt.“
„Natürlich war sie verwirrt. Sie trinkt.“
„Was?“
„Zweimal hat sie uns Bier angeboten.“
„Und Kaffee. Und Saft. Und Kekse.“
„Ich rieche das. Dieser süße, leicht scharfe, leicht säuerliche Geruch. Du nicht?“
„Kein bisschen. War doch alles ordentlich. Sie hat auch ganz normal gesprochen.“
„Denkst du etwa, Alkoholiker lallen?“
„Also mir kam sie normal vor.“
„Wenn sie normal wäre, hätte sie ihre Nachbarin gebeten, mal nach dem Fernseher zu sehen. So ganz normal ist es ja nicht, wildfremde Menschen von der Straße in die Wohnung zu rufen, damit sie Elektrogeräte in Betrieb nehmen. Oder?“
Endlich wird grün.

Wir vergessen die Batterien in der Stadt. Auf dem Rückweg kaufe ich vier Stück für 1,79 € bei Reichelt die Straße rüber. Du gehst mit der Hündin nach Hause und willst das Essen vorbereiten. Ich suche Balzereit am Klingelbrett, aber als ich klingele, macht mir lange niemand auf. Ich trete zurück vom Klingelbrett, um zu sehen, ob im Wohnzimmer Licht brennt. Durch das geschlossene Fenster richtet die Frau ihren Finger auf mich. Wenige Sekunden später ertönt der Summer.

Auf dem Treppenabsatz öffnet mir ein Mann. Braune Cordhose, grauer Pullover über dem Bauch, Kinnbart, goldene Brille, Halbglatze.
„Ich bringe die Batterien.“, stottere ich.
„Welche Batterien?“, fragt er.
„Für Ihre Frau.“
„Für meine Frau?“ Der Mann kommt aus der Tür und verschränkt die Arme. „Ihre Frau hatte uns heute Nachmittag gebeten, ihr den Fernseher einzuschalten. Der hat nicht funktioniert, wahrscheinlich, weil die Batterien der Fernbedienung leer sind. Ich habe jetzt neue gekauft.“
„Sie? Wer sind Sie überhaupt?“ Er mustert mich von oben bis unten. „Was soll das für ein Trick sein?
„Kein Trick!“, sage ich genervt. „Wir liefen hier zufällig vorbei; ihre Frau hat uns aus dem Fenster nach oben gerufen. Ist ihre Frau da?“
„Meine Frau schläft. Sie waren also heute Nachmittag in meiner Wohnung?“
„Ja. Aber nur wegen des Fernsehers.“
„Wer ist denn da?“, ruft die Frau von drinnen.
„Ich komme gleich.“, ruft der Mann zurück.
Es riecht nach scharf angebratenem Fleisch und Zwiebeln.

Der Mann streicht sich mit einer Hand durch den Bart, als er sich mir wieder zuwendet. „Wir brauchen keine Batterien, danke.“, sagt er und geht zurück in seine Wohnung.
„Aber ich habe sie extra für Sie gekauft.“, sage ich.
„Gut. Was macht das?“ Der Mann wendet sich ab und sucht in den Taschen seiner Jacke an der Garderobe nach seinem Portmonee. Durch die Glaseinsätze in der Stubentür sehe ich das bläuliche Flackern des Fernsehers.
„Nein, so meine ich das nicht.“, sage ich. „Ich will nur, dass sie die Batterien nehmen; ich kann sie wirklich nicht gebrauchen.“
Der Mann stockt kurz, dann nimmt er seine Hände aus den Jackentaschen und fährt sich rechts und links der Nase unter seine Brille. Mehr zur Garderobe als zu mir sagt er: „Meine Frau – aber das können Sie nicht wissen. Meine Frau hat Probleme.“ Schließlich tritt er doch wieder vor die Tür und zieht sie so weit hinter sich zu, dass sie gerade noch nicht ins Schloss schnappt. Noch immer sieht er mich nicht an. „Meine Frau, wie soll ich sagen, ist ein bisschen-“ Er wedelt mit der flachen Hand vor seiner Stirn. „Verstehen Sie?“
„Trinkt sie?“, frage ich und beiße mir sofort auf die Lippen.
„Sind sie bescheuert?“, fährt er mich an. Erst als er mir in die Augen sieht, bemerke ich, dass er den Tränen nahe ist. Er macht einen Schritt auf mich zu und ist mir plötzlich so nah, dass ich mein erschrockenes Spiegelbild in seinen Brillengläsern entdecke. „Meine Frau ist krank! Psychisch. Man weiß noch nicht, was es ist; die Ärzte sind noch auf Fehlersuche. Sie jedenfalls, Sie haben keine Ahnung!“
Nach einer Pause sage ich leise: „Entschuldigung.“

„Was ist denn hier los?“, fragt die Frau auf der Türschwelle stehend mit einem Bissen Boulette auf der Gabel in ihrer Hand.
„Nichts, Täubchen.“, sagt der Mann.
„Ich bringe Ihnen die Batterien.“, sage ich.
„Und wo ist euer Hund?“, will die Frau wissen. „Euer niedlicher Hund! Ich habe hier Boulette für ihn!“

„Es war sehr nett von Ihnen, dass Sie meiner Frau helfen wollten.“, sagt der Mann freundlich und legt den Arm um seine Frau.
„Gern geschehen.“, sage ich und reiche ihm die Batterien.
„Einen schönen Abend Ihnen.“
„Ihnen auch.“
„Die Boulette!“, ruft die Frau und läuft mir in Socken vier Stufen hinterher, um mir den Bissen von ihrer Gabel in die nackte Hand zu reichen.

Der Miesepeter

Der Miesepeter heißt gar nicht Peter. Er heißt Klaus. Jeden Morgen in der Frühe, gegen sechse, kriecht er aus den Federn. Übellaunig ist er ins Bett gestiegen und übellaunig erwacht er auch. Er schlüpft in seine blauen Eislatschen, grummelt leise in seinen rauschenden Bart. Dieser wächst seit einer Ewigkeit proportional zur schlechten Laune. Besser: sein Bart ist sein Schlechte-Laune-Barometer. Mit dem heutigen Tage reicht er ihm schon bis zum kleinen linken Zeh. Tagtäglich kämmt er ihn mit einem grobzinkigen Kamm. Er ölt ihn ein und an besonders üblen Tagen, flicht er ihn zum Zopf. Ungehalten meckert er: über das Wetter, die Frauen, die Liebe und die Lust; über Rosinen im Kuchen, Löcher in Pantoffeln und Filz im Bart. Vor Jahren schon hat er seine Frau verlassen. Sie hatte ihm einen Rasierer geschenkt.

Reginas Reisen

Ja, Sie müssen entschuldigen. Das dauert ein bisschen. Die Rechner sind langsam. Obwohl, vielleicht sind sie gar nicht langsam. Vielleicht stehen sie einfach nur zu weit auseinander. Stellen Sie sich das mal vor! Die Anfrage muss durch tausende Kilometer Kabel zum anderen Ende der Welt! Vielleicht fliegt sie auch durchs All über Satellit, wer weiß. Kann sich kein Mensch vorstellen, diese Technik.

Aber die Menschen haben keine Geduld! Als wären die Tage heute kürzer als vor 20 Jahren. Was meinen Sie, wie oft Leute regelrecht ausflippen, da drüben an den Kassen, wenn die Kassiererin mal ein Storno hat. Oder wenn die Bonrolle alle ist. Ist doch verrückt, oder? Die Leute schieben stundenlang einen riesigen Einkaufswagen durch einen zwei-etagigen Supermarkt, aber wenn es dann an der Kasse eine Minute länger dauert, drehen sie durch. Und die Mädels müssen immer freundlich bleiben. Immer nett.

Das wäre kein Job für mich. Den ganzen Tag Waren übers Band ziehen, geht auf die Schultern. Ich hab‘s so schon mit dem Kreuz. Obwohl ich jeden Tag mit Romeo rausgehe. Und dann eben diese schlechtgelaunten Kunden an den Kassen. Nancy – Sehen Sie sie, die Dunkelhaarige in der 4? – die kommt manchmal zu mir rüber in ihrer Pause, dann essen wir eine Bockwurst zusammen. Oder Nudeln, drüben beim Fidschi. Ich weiß, darf man nicht mehr sagen. Beim Asiaten. Obwohl, ich meine das gar nicht – ich habe gar nichts gegen die. Jedenfalls, die Nancy hat Geschichten auf Lager, da geht Ihnen das Messer in der Tasche auf.

Da habe ich es ganz gut in meinem Kabuff. Also, es ist nicht mein Kabuff, lassen Sie das ja nicht den Chef hören. Na gut, wenn die Leute hier rein kommen, hängen denen die Mundwinkel auch sonst wo. Aber wenn sie rausgehen sind sie zufrieden. Alle. Das ist meine Arbeit. Leuten dabei helfen, ihre Träume zu erfüllen.

Bei Ihnen eben Accapulco. Ach, ich habe mich vertippt. Deswegen findet der auch nichts. Acapulco, heißt es richtig, mit nur einem C. Jetzt sucht der hier noch mal. Acapulco. Klingt schön, oder? Wie ein Cocktail – mit viel Rum. Oder ein Tanz – der heiße Acapulco! Wie der Lambada, früher, den habe ich im Bikini getanzt! Aber was wollen Sie in Acapulco?
Wissen Sie, die Leute stolpern ja immer hier rein, mit den abenteuerlichsten Vorstellungen. Wenn ich die frage, wohin es gehen soll, dann gucken die ganz verträumt an mir vorbei, auf die Prospekte oder auf die Kassen und dann sagen sie in als würden sie einen Schokodrops lutschen: Namibia. Oder: Hawaii. Oder: Menorca. Unter uns: Manchen kann ich da nicht ins Gesicht gucken, ich müsste feixen. Verstehen Sie das? Als wäre Namibia das Paradies! Fragen Sie mal die Namibianer! Für die ist das hier das Paradies. Obwohl die bestimmt besseres Wetter haben.

Können Sie sich erklären, warum immer alle denken, anderswo wäre es schöner als hier? Schön ist es doch überall! Anderswo ist es nur anders. Ich sag’s Ihnen im Vertrauen: Mein Paradies ist meine Terrasse. Nicht weit zum Kühlschrank, Blick ins Grüne und in den Geschäften reden sie meine Sprache. Ich glaube, das ist eine Berufskrankheit. Wie bei Carola von der Frischetheke. Seitdem die den ganzen Tag Fleisch und Wurst verkauft, kriegt sie das Zeug nicht mehr runter.
Nee, also hier finde ich nichts. Wir müssen das direkt bei der Fluglinie versuchen. Ist aber auch ein außergewöhnliches Ziel. Was wollen Sie nur in Acapulco? Das ist in Mexiko, oder? Einen Moment. Ich wähle uns mal ein. Ich meine, mir ist das natürlich recht, wenn die Leute viel verreisen. Je weiter, desto lieber. Sagt mein Chef auch, wenn er ultimo die Abrechnung macht. Obwohl, soviel Abrechnung ist hier gar nicht. Ist ja auch kein Wunder. Wer soll denn hier reinkommen? Leipzig Arcaden – klingt erstmal exquisit. Aber gucken Sie sich die Leute doch mal an, die da drüben einkaufen. Diese versteinerten Gesichter. Und wie die rumlaufen. Die können sich keinen Urlaub leisten. Oder die buchen den im Internet. Ist ja billiger, denken immer alle. Stimmt gar nicht. Naja, wenn mein Chef mal ein bisschen Pepp in den Laden bringen würde und ein paar Plakate raushängen würde, könnte das hier auch besser laufen. Aber mich fragt ja keiner.

Ach Mensch, sehen Sie den? In dem hellbraunen Mantel? Mit dem langen weißen Schal? Oder heißt das creme? Wir haben früher Eierschale dazu gesagt. Jedenfalls: den kenn ich. Das ist, also das war mal, naja – verrückt, den kenne ich. Dass der hier einkaufen geht! Oje, guckt der? Der guckt doch hier rüber! Wie sehe ich aus? Geht das so mit meinen Haaren? Wenn der jetzt – Was habe ich denn hier für einen Fleck? – wenn der jetzt hier rüber kommt um Hallo zu sagen, falle ich um. Der sieht aber gut aus! Klar hat er sich verändert, die grauen Schläfen und so. Aber für sein Alter? Reif, sieht er aus. Männlich. Toll! Ein gutaussehender Mann, das müssen Sie zugeben. War der aber schon in seiner Jugend!

Nein, nein, machen Sie sich keine Gedanken. Die Warteschleife von diesem Airline-Service ist immer gut gefüllt. Das wird schon noch ein paar Minuten dauern. Aber die Musik ist doch ganz schön, oder? Ist das aus Dirty Dancing?

Jetzt muss er gleich hier lang. So elegant! Früher war der mehr sportlich, wissen Sie? Sehen Sie die Schuhe? Und diese Uhr! Der hat bestimmt einen tollen Job. Der macht das große Geld. Schon in der Ausbildung hatte der echt was drauf. Aber der hatte immer Freundinnen, ich kam nie an den ran. Da habe ich dann eben jemand anderen geheiratet. Er bestimmt genauso. Trägt er einen Ring? Erkennen Sie das? Ich habe meinen ja für meinen Zahn einschmelzen lassen, als mein Mann dann – ach schade, der guckt nicht. Obwohl, wäre mir auch peinlich. Wer weiß, ob der mich überhaupt erkennen würde. Ich hier in meinem Pulli und der mit seinem Kaschmirschal. Wir haben ja auch wer weiß wie lange nicht mehr gesprochen. Nee, der ist auf dem Sprung. Sehen Sie nur, wie schnell der läuft! Der hat keine Zeit. Der hat bestimmt nie Zeit.

Jetzt sagen Sie gleich: Kein Wunder, Zeit ist Geld. Sagen alle. Aber ganz ehrlich: Ich glaube, das stimmt nicht. Ich glaube, Zeit ist Zeit und Geld ist Geld! Denken Sie da mal drüber nach. Machen Sie das mal. Muss nämlich jeder selber entscheiden, was ihm wichtiger ist.

Also, tut mir Leid, aber hier kommen wir heute nicht weiter. Die Vermittlung von der Airline macht gleich Feierabend und ich auch. Nein, bis um Acht haben wir nicht mehr auf. Das lohnt sich nicht. Können Sie vielleicht morgen nochmal kommen? Oder ich probiere es gleich früh und rufe Sie dann an? Normalerweise bin ich nicht so, aber heute muss ich echt pünktlich weg. Ich muss meinen Schein noch abgeben. Lotto, Sie etwa nicht? Mittwoch und Samstag. Nur noch sieben Minuten bis Annahmeschluss.

Nö, also ich gewinne öfter mal was. Neulich erst den zweiten Preis bei so einem Kreuzworträtsel. Drei Tage Allgäu. Habe ich mal Mädelswochenende mit meiner Tochter gemacht. Wellness-Hotel, super.
Ach, es gibt so viele Preisausschreiben! Reich werden Sie in so einem Reisebüro nämlich nicht, das sage ich Ihnen. Also ich könnte nicht nach Acapulco fliegen, von meinen paar Quieksern. Wieso eigentlich ausgerechnet Acapulco?
Doch, doch man kann gewinnen, man muss aber eben auch mitspielen. Und eines Tages – wer weiß? Wenn man dem Glück keine Chance gibt, kann es einen ja nicht finden.

Die Geldeintreiberin

Die Geldeintreiberin kennt keinen Tag und keine Nacht. Sie übt keinen Beruf aus, nein, sie ist berufen. Sie wittert die Geldstücke schon um achtzig Meter im Voraus und bohrt sich vor Aufregung mit dem linken Zeigefinger in der Nase. Herzlich begrüßt sie die gut bestückten Gäste hinter dem Tresen und nestelt nervös an ihrem Rock. Schon vor Jahren hat sie sich eine Tasche darunter genäht und im Laufe des Tages wird sie mit Rock älter und fülliger. Sobald die Geldeintreiberin die Scheine und Geldstücke in Empfang genommen hat, denn bei ihr darf man nur in bar bezahlen, rennt sie sofort in ihre Stube nebenan. Hastig schüttelt sie all ihre neu gewonnenen Besitztümer aus der Rocktasche. Sie breitet sie sorgfältig aus und sortiert die Scheine und Münzen nach Wert. Die Scheine verstaut sie akkurat in der Schrankwand und wischt bei der Gelegenheit mit dem Staubwedel sorgfältig über ihren gesamten Bestand. Sie ist stolz. Beständig stapelt sie höher. Beständig wächst sie über sich hinaus. Glückselig nimmt sie sich nun der Münzen an. An jeder einzelnen riecht sie und leckt die Kopfseite genüsslich ab. Das macht sie immer so, es ist ihr Begrüßungsritual. Die Geldeintreiberin weiß sehr wohl um den geringeren Wert der Münzen, aber dennoch bevorzugt sie jene. Sie liebt es, die Geldstücke zu polieren und als Dank ihr Spiegelbild darin erblicken zu dürfen. Zudem ermöglicht es ihr das Kopfkissen anstelle von Daunen damit aufzufüllen. Darauf könnte sie sicherlich gut schlafen, würde sie nicht schon wieder die nächsten, gut bestückten Gäste wittern.