Babett


Lieben. Begehren. Anfassen. Atmen. An Lust saugen, tauchen und verschwinden.

Fliegen wollen, töten mit Verrat und getötet haben (mittels Gefühls).

Er telefonierte wie wild, um sein Geld zu verdienen. Verdiente er es? Er wusste es nicht, zum Schluss stumpfte er ab, als lebe er ewig, habe schon ewig gelebt. Vielleicht hatte er sie alle erlebt, jede einzelne, verführt in einem Traum auf dem weißen Pferd. Verdient hatte er das Geld für die Frauen. Bezahlte: mit einem Scheck, mit einer Rechnung, einem Telefonat. Eines Morgens wach: die Frist sei vorbei. Schluss mit lustig. Ende im Gelände.

Er ertug seinen Körper in Creme, trug seine Hosen in Schweiß und zerfraß seine Fragen ohne Würde.

Babett, er hatte sie geliebt… schwarzes Haar, dicklich, oder vielleicht nicht dicklich, rund, weiblich, ja feminin und schön, für ihn war sie schön, sehr schön, doch er hatte sie auch nur ein Jahr gekannt. Ein Jahr ist lang genug, um sich daran zu erinnern. Nach einem Streit, es kann sein, vielleicht hätte er sie nicht mehr so schön gefunden, oder er hätte sie noch mehr begehrt und dann… ganz einfach, von einem Tag auf den anderen, Schluss, das war’s, du bist mir zu nah… er hatte es sich einfach gemacht. Liebe schon einmal vor, ich liebe dann nach. Oder brauche mich schon mal warm, ich bleibe dann gebraucht und brauche dich in einem Jahr umso mehr. DANN schrien sie: dann und dann und dann. Sie wusste nicht, dass der Held am Ende stets glorreich seine Beute erlegt. Ein funkelnder Star, ein Massen verzaubernder ( wie eine schöne grelle Werbetafel).

Trotz der müden Augen geliebt werden wärmt, rettet… nicht? Liebe rettet!

Er stopfte seine Erinnerungen in den Staub seiner Asche links neben den Taschentüchern. Und Gott war er schön. Immer schon. Vor allem in dem Jahr mit der Babett. Er war schön, cool, elegant, männlich. Unnahbar wie Marlboro-Pferde-Reiter.

Babett. Mit Babett war es komisch anders. Diese mollige Traumfrau in spe, mit der konnte man wirklich mehr haben. So sagt man ja, in der Liebe will man alles vom andern. Und viel war sie. Sie liebte ihn, dachte aus ihm heraus und fragte für ihn nach ihm alles. Wer warst du, warum warst du wie du warst? Aber merk dir das.

Einmal Sex und die Liebe ist vorbei.

Pauke Petrys Plan platzt /Hörn Höcke

Pauke Petrys Plan platzt

Pauke Petrys politische Pöbeleien passen planlosen Pegidaanhängern perfekt. Plötzlich plappern politisch prasselblöde Pegidisten Paukes perverse Putin-Phantasien. Parteiübergreifend pfeifen politikinteressierte Personen Pfeifkonzerte, parodieren prachtvoll Petrys Pampe, präsentieren per Parlamentsbeschluss Persönlichkeitsrechte pur. Plötzlich platzt Pauke Petrys Plan. Peng!

Hörn Höcke

Hörn Höcke hockt hinterlistig hinter hochgezimmerter Hirnschranke. Hörn horcht hungrigen Hilfesuchenden hinterher, hetzt, holt hastig hasserfüllte Hilfsbürgertruppen herbei. Hundert hat Höcke herausgeschrien! Hunderttausend! Hunderttausende! Hundertmillionen Hilfebedürftige holen Häuslebauers hartersparte Habseligkeiten heraus, handreichen Hehlerwaren. Halt! Halt hetzt Höcke herzaufbäumend. Halt! Halt! Höckes Hilferuf hinterlässt hilfswillige Helfershelferhelfer. Herbeigeströmte hetzen Hilfesuchende. Hörn Höckes Hysterie hat Hochkonjunktur.

Trau schau

Deiner Seele habe ich
keinen Abbruch getan.
Du bist meinetwegen,
wegen mir –
wegen dir –
deinetwegen –
wegen was,
(wegen dem doch nicht)
ein Gedicht geblieben.

Wegen dem Legen-zu-Mittag
liegen lassen,
verblassen.

Ein Gedicht bleiben können,
den Zeiten entgegen,
den Zeilen –
wegen Streben, wegen was,
wegen dem doch nicht…
reden, überreden,
streben zu reden:
reden lass.

Gedicht geblieben,
Gedicht bleiben
und Gesicht.
Dein Gesicht
in meinem Gesicht,
deine Gedichte
sind meine Gedichte,
meine Gedichte bleiben
wegen dir, deinetwegen.
Schweigen.
 
Wiegen, überwiegen,
liegend zu wiegend,
wiegen was…
wiegend liebend,
lieben zu lieben,
liebend, flehend,
stockend, stehend:
lieben lass.
 
Bloß der Regen fällt dein Haar.
 
Doch deiner Seele
hat das keinen Abbruch getan.
 
Und dann:
reise auf deine
stille Art und Weise
fort.
Liebend, flehend,
stockend, stehend:
lieben lass.
 
Was ist das:
pfeifend, reifend,
knochig betend:
Liebe lass.

Frau Schnorrmann

Langsam legte sich die stickige Zimmerluft in den Raum. Eine nach der anderen atmete den gleichmäßigen Atem, der der noch wach Liegenden verriet, dass die beiden Patientinnen bereits eingeschlafen waren. Und so wurde es kurz nach Mitternacht bis auch Frau Schnorrmanns unschöne Gedanken von dem gleichgültig machendem Geräusch der beiden Frauen erfasst wurden und sich ins Nichts auflösten: die Ankunft vor zwei Tagen; dass die Neue die geordnete Ruhe störe; die heiße Stimme von Frau Bayer; die jungfräuliche Lehrerin Frau Schubert, die im Bett sitzt und alles und jeden schulmeisterlich kritisierte, dass es selbst dem Personal manchmal zu viel wird.

Frau Schnormann bewegte sich im Bett von der einen auf die andere Seite. Dabei fiel ihre Steppdecke herunter und sie erwachte aus einem beunruhigenden Schlaf. Sie setzte sich auf und starrte zur der mehrere Meter hohen Zimmerdecke mit dem verzerrten Fensterkreuz mit Dreipass, welches das Mondlicht auf die weißen Wände projizierte. Sie betrachtete jede der gleichmäßig Atmenden in dem Raum und kletterte, nachdem sie sicher war, dass alle schliefen, vorsichtig über das Bettgitter hinab, hob die Steppdecke auf und legte sie ins Bett zurück. Mit kleinen Schritten bewegte sie sich ans Fenster, dessen Sims breit ausladend in ihrer Augenhöhe begann. Sie nahm sich einen Stuhl, kletterte darauf, legte ihre dicken Knie auf den Tisch, um auf diesen zu steigen. Mit den Händen stützte sie sich auf den tiefen Sims, öffnete das Fenster, umgriff die dünnen Sandsteinsäulen des Dreipasses und starrte still in die Nacht. Zu viel Mond, zu viel Licht, dachte sie. Das kann sehr gefährlich werden. Sie fror und knöpfte die zwei Knöpfe ihres rüschenbesetzen Nachthemdes zu. Die Kälte erinnerte sie an den Winter, an die ständige Angst, und immer die Russen im Nacken. Sie atmete die kühle, beißende ostpreußische Winterluft, hörte das Pferdegetrappel, wildes Durcheinanderschreien, das Knirschen von schnellen Fußstapfen, und in der Ferne den seit Wochen herannahenden Kanonendonner. Leise schob sie das Fenster zu, kniete sich mühsam auf den Tisch, um von diesem rückwärts auf den Stuhl zu klettern, um von dem wieder mit ihren nackten, für ihre Größe viel zu großen Füßen auf den Boden zu gelangen. Sie wischte mit ihren faltigen Wäscherinnenhänden über die Sitzfläche des Stuhles und schob ihn vorsichtig unter den Tisch. Sie kletterte über das Bettgitter in ihr Bett und bewegte den Kopf mit den faltigen Wangen auf dem Kopfkissen unruhig von der einen zur anderen Seite und kniff die Augen zusammen. Ihre breiten Hände mit den dicken Fingernägeln schob sie ins Gesicht und murmelte ein Gesicht. Es gelang nicht. Zu sehr schwirrten die Gedanken um sie herum und zu sehr beunruhigte sie diese Nacht. Ich halt das nicht aus. Ich weiß nicht was passiert ist, dachte sie. Sie rieb über den Bauch, der in der Windel steckte. Ich muss hier weg! Nein, nein, es ist zu spät, wie damals als sie ihn erschossen. Sie selbst spürte in jener Nacht nichts, die Tochter in ihrem warmen Stoffbündel gehüllt, schrie im Versteck. Sie schrie und hätte die Dorfbewohner fast verraten. Sie solle der Kleinen den Kehlkopf zudrücken, hatten die anderen gefordert. Es müsse sein. Sie dachte damals, die Tochter würde wegen der wenigen Habseligkeiten, schreien, die sie ins Knäuel heimlich eingenäht hatte, weil es doch immer hieß, die Russen würden die Kinder verschonen. Nur die Kinder. Deswegen riss sie die Löffel, die Silberschnalle der Mutter, die vergoldete Uhr, das Zigarettenetui des Vaters und die kleine, bronzene Kaiserplastik des Großvaters, heraus und warf sie in den Fluss. Erschossen hatten sie ihren Franz. Ganz einfach, ohne zu fragen, erschossen, und die Tochter hatte geschrien in dieser kalten, mondklaren Nacht und ließ sich einfach nicht beruhigen. Wie konnte das armselige Ding das nur merken, flüsterte Frau Schnorrmann zur Zimmerdecke, zu den Schatten des Dreipasses und zu dessen blasenförmigen Umrissen und glaubte den Schatten Dickichts im Schnee zu erkennen. Sie kniff die Augen zu, duckte sich in die Bettkuhle und flüsterte: „nur Du weißt warum, nur Du, lieber Gott? Ein Stück Papier hast Du mir gelassen, auf dem steht, dass er tot ist, in schöner Sütterlinschrift, mit einem Stempel drauf. Da sie sehr genau wusste, dass es ihr in diesen Momenten beim Einschlafen half, summte sie „Drei weiße Birken“ und streichelte sich über ihre Nase. Sie lief den Birkenhain entlang, stellte sich hinter die Mauerreste und hörte ihm beim Singen eines seiner vielen Volkslieder zu, die er gern und laut sang. Sie schwang sich heimlich über das Seitenbrett auf das Fuhrwerk, kletterte auf den Holzstapel und fuhr mit ihm ins Dorf.

Weil sie der Schlaf aber nicht haben wollte, öffnete Frau Schnurrmann die Augen, legte die Hände auf den Schoß und grübelte. Das gleichmäßige Atmen der Mitpatientinnen beunruhigte sie auf einmal. Sie kletterte wieder über das Bettgitter, ging zum Schrank, in dem die Schwestern die Kleidung bei der Ankunft einer Jeden hineinsortierten, nahm ihre Kleidung heraus, entfernte den schief eingeklebten Pflasterstreifen, auf dem ihr Name in hastig geschriebenen Buchstaben stand und zog die Sachen an. Da sie ihre Schuhe nicht fand, ging sie barfuß in ihrem viel zu großen grauen Mantel und dem viel zu langen grünen Rock durch den Raum, nahm ein Bündel Zellstoff, den die Schwestern vorsorglich am Abend auf alle Nachttische gelegt hatten und stellte sich an das gegenüberliegende Bett. Den Rock hatte sie vorher noch mit dem Pflasterstreifen zusammengeklebt, auf dem ihr falsch geschriebener Name stand. Die Patientin lag auf dem Rücken, die Arme auf der Brust, das Gesicht weit nach oben gerichtet, der Mund geöffnet. Mit ihrer blassen Haut wirkte sie wie eine in weißen Stein geschlagene Friedhofsskulptur. Frau Schnorrmann stellte sich an das Kopfende, seufzte und betete mit ihrer tiefen, brummenden Stimme, leise ein Vater Unser. Sie griff den Stapel mit den dünnen Zellstoffbahnen, zerpflückte diese zwischen ihren dicken Fingern zu kleinen Blütenknäulen und verstreute die Knäuel feierlich auf das Gesicht und auf die Brust der Schlafenden. Liebevoll streichelte sie über deren Wangen, murmelte Kinderreime und küsste sie. Von alledem aufgewacht, begann die Patientin um Hilfe zu schreien. “Was machen sie denn da? Die ist verrückt“, rief sie! „Bringt sie hier weg!“ und griff nach der Klingel. Völlig irritiert stand Frau Schnorrmann mit dem Zellstoff in der Hand, vor ihr. Die Nachtschwester betrat das Zimmer und herrschte sie an:“ Was wollen sie hier? Wissen sie nicht wie spät es ist? Gehen Sie sofort wieder in ihr Bett. Sie müssen doch schlafen, wenn sie gesund werden wollen!“ – „ Schaffen Sie mal die Oma hier fort“, geiferte die Patientin weiter und warf die zerpflückten Zellstoffknäuel, der auf ihrer Brust lag, hinter ihr her.
Mit gesenktem Kopf ging Frau Schnorrmann artig an der Hand der herbeigerufen Schwester. Sie entfernte das Bettgitter und legte die Frau wieder ins Bett. Frau Schnorrmann murmelte:“ Aber ich dachte, ich darf noch mal, aber ich muss sie doch wenigstens…!“ und sah dabei die Schwester an – „Ich bring ihnen noch etwas zur Beruhigung und dann schlafen wir aber fein. Es ist doch schon spät“, beschwichtigte die Schwester liebevoll die Frau.
Am anderen Morgen saß Frau Schnorrmann wortlos in ihrem Bett, zerriss den restlichen Zellstoff und streute ihn über ihre Bettdecke. Die lindgrüne Windel, die bis unter die dünnhäutige Brust reichte, irritierte den Arzt bei der Visite, dass er ihr das Nachthemd eilig zuknöpfte und beiläufig fragte „Was haben Sie denn da gestern Abend gemacht?“. Frau Schorrmann, die ihren Unterkiefer unaufhörlich hin- und herbewegte und mit den Händen die Zipfel der Bettdecke gegeneinander rieb, blickte ihn freundlich an. Sie hob die Schultern und sprach mit ihrer tiefen, ruhigen Stimme „Wissen Sie“, dann machte sie eine Pause, holte tief Luft, denn sie hatte vor jedem Studierten Respekt, „wissen Sie, ich wollte doch nur noch ein einziges Mal, ich musste sie doch…!“ Sie hob wieder die Schultern und sah hilflos in die Runde der Visite. Da müssen wir unbedingt etwas dagegen machen!“, unterbrach empört die Stationsschwester, sonst bekommt der Nachtdienst eine Meise.“ – „Na, dann geben Sie ihr 10 Tropfen Valocordin zum Abend und ein bisschen Haloperidol zur Nacht!“, beschwichtigte der Arzt, streichelte über den Kopf der Frau und ging zum nächsten Bett.

Nach der Visite klingelte das Telefon der Stationsleiterin und eine Schwester erkundigte sich, ob sich die 90´jährige Frau Schnormann noch auf ihrer Station befände und das ihre Tochter heute Nacht plötzlich auf ihrer Station verstorben sei. Die Stationsschwester überlegte, wie sie die Nachricht der verwirrten Frau übermitteln könne. Sie beauftragte mit der Nachricht eine neue Mitarbeiterin.

Die junge Schwester betrat das Zimmer, nahm eine Schüssel, füllte sie mit Wasser und wusch Frau Schnorrmann. Sie fragte sie nach ihrem Leben, nach besonderen Wünschen, massierte den Rücken, die Hände und die Füße. Die Schwester brachte es jedoch nicht fertig, der Frau den Tod der einzigen Tochter mitzuteilen und stellte ihr wortlos das Frühstück hin. Mittag trat sie wieder an ihr Bett, räumte das Frühstück weg, reichte ihr das Mittagessen und überlegte, wie sie ihr endlich den Tod mitteilen könne. Mit leiser Stimme fragte sie: „Haben Sie sich schon in diesem Zimmer eingewöhnt? Haben Sie noch einen Wunsch? Kann ich Ihnen das Kissen aufschütteln?“ Die alte Frau, die auf der Seite lag und von der nur ein Stück der grünen Windel zu sehen war, drehte sich zu ihr um, legte den Kopf auf die Hand, die auf dem Kopfkissen lag und schwieg. Die Schwester zwirbelte unaufhörlich den Haarlocken und sagte: „Frau Schnorrmann, Sie müssen jetzt sehr stark sein. Ihre Tochter ist letzte Nacht unerwartet gestorben. Frau Schnorrmann, haben sie verstanden, was ich eben gesagt habe?“ Die alte Frau setzte sich auf, griff die runden Hände der Schwester und streichelte sie. Sie runzelte die Stirn und wog ihren von Falten übersäten Kopf nach links und rechts, dass ihr Zopf wackelte. Mit tiefer, fast männlichen Stimme sagte sie müde: „Ich weiß, Kindchen. Da kann ich nun nichts mehr machen.“ Sie lächelte die Schwester an, dass ihre drei verbliebenen schiefen Zähne in der linken Mundhälfte, hervortraten. „Wenn ich Ihnen nur helfen könnte“, sagte die Schwester, weinend am Bettrand sitzend. Frau Schnorrmann schob ihre faltigen Hände um die Wangen der Schwester und flüsterte in ihrem ostpreußischen Dialekt: „Ich weiß Kindchen. Ich weiß es bereits!“ Danach schob sie ihre Hände um ihre flache Brust und murmelte. „Weißt Du, ich habe sie eigenhändig getragen, von Ostpreußen bis hierher, die Russen im Nacken und die Kanonen im Ohr. Es war Weihnacht 44`“. Sie streichelte nochmal die Schwester, legte sich zurück auf die Seite, dass nur die grüne Windel zum Vorschein kam und starrte das Bettgitter an.

Flecken, dunkelblau (2)

(Fortsetzung des Textes von letzter Woche. Eine 78jährige Patientin einer geschlossenen psychiatrischen Station erörtert mit einem Psychologen die möglichen ursachen der unerklärlichen Verletzungen, die sie nachts erleidet.)

Oh, ich weiß, was sie sagen werden. Sie werden mir eine Nacht in einem Schlaflabor vorschlagen. Sie werden vorschlagen, dass wir dem Spuk leicht auf die Schliche kommen, wenn Sie mich unter Kameraüberwachung stellen und mein Gehirn an allerlei Elektroden anschließen. Am nächsten Morgen wüssten wir sicher mehr. Wissen wir nicht. Ich habe das schon hinter mir. Generell schlafe ich nicht in Schlaflaboren. Schlafen in einem Schlaflabor ist, als würden Sie versuchen in einem vollbesetzten Theatersaal auf der Bühne zu schlafen – unmöglich. Als ich zwei Nächte im Schlaflabor komplett durchwacht hatte, haben sie mir drei zusammenhängende Nächte dort gebucht. In der dritten Nacht war ich so erschöpft, dass ich tatsächlich eingeschlafen bin. Es blieb alles friedlich. Selbstverständlich. Dass es im Schlaflabor nicht passiert ist, beweist gar nichts. Als würde es sich zeigen, wenn alle gucken!

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Flecken, dunkelblau (1)

Wie ich geschlafen habe? Gut, danke. Und Sie? Oder ist das eine ernst gemeinte Frage? Wirklich? Dann kann ich das nicht beantworten. Es ist eine absurde Frage, sofern Sie sie ernst meinen.

Die Handlungsrichtung ist falsch. Verstehen Sie? Sie verdrehen Aktiv und Passiv. Wenn Sie mich fragen, ob ich gut geschlafen habe, dann klingt das, als würden sie herauszufinden versuchen, wie erfolgreich ich bei der Verrichtung der Tätigkeit Schlafen war. Aber ich habe ja gar nichts getan. Wissen Sie, was ich meine?

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17. Juni

 Tag: 18. Juni

Zeit: Neun Uhr

Ort1: halb geöffneter Türeingang eines Reihenhauses.

Ort 2: geschlossenes Wohnzimmer, darin: stark abgenutzte Sitzgarnitur der 30siger Jahre; schwarzer Tisch mit gehämmerter Messingplatte und passendem Raucherset und Siegel; schwarze Uhr mit gehämmertem Ziffernblatt; brauner Bücherschrank mit Kunstzeitschriften in verschiedenen Sprachen; hellblauer, rechteckiger Hifi-Glastisch mit Fernseher; achtarmiger Holzleuchter mit Messingbeschlag an dem eine Fliegenrolle hängt; eine passende Stehlampe aber mit modernem Lampenschirmbezug; verblasste halblange Gardinen und grau-gelbe Stores dazu grüne Auslegware; diverse Bilder, keine Fotos; auf Putz gelegte Stromleitungen; vergilbte Tapete mit Blütendekor, teilweise löchrig; Berliner Ofen mit weißer Sitzbank davor.

Gesprächs-Person 1: Frau Charlotte Martha Banner, eine 72jährige Frau, leicht ergraute und zu einem Dutt gebundene Haare, lebt seit der Verhaftung ihres Mannes (August 1945) und der späteren Flucht ihrer Tochter (27.6.1961) mit deren einzigen Sohn in dem stark reparaturbedürftigen Haus. Kleidung: cremefarbene Spitzenbluse/bunte Schürze/schwarze geputzte Schuhe/ leicht beschädigte Strumpfhose/kein sichtbarer Schmuck/ungeschminkt. Stimme: tief, wenn sie sich ärgert, fast männlich.

Sie wird anfangs die Arme in die Hüften stemmen. Später wird sie auf der Dielentreppe sitzen und die Hände vor die Augen pressen.

Gesprächs-Person 2: Herr Torsten Banner, ein 26 jähriger Mann, schlank, groß, lange, gelockte rote Haare, ungekämmter Mittelscheitel, Sommersprossen, Ausbildung im VEB Bauhandwerk, Abteilung Reko, tätig als Tischler, erfolglose Studienbewerbungen für Architektur in Berlin-Weißensee und Rostock, Malerei in Dresden, Formgestaltung in Halle. Kleidung: Feinrippunterhose/ kaputte Jesuslatschen/ ansonsten unbekleidet/ silberner Ohrring/ Halslederband mit silbernem Kreuz/ Holzring an linker Hand/ Stimme: kindlich, manchmal, wenn er sich aufregt, fast stimmbruchhaft.

Er wird anfangs die Arme über den Kopf kreuzen und breitbeinig auf seiner Lieblingsstelle auf dem Sofa sitzen. Später wird er unentwegt an Nase, Hals, Brust und die Knie kratzen.

Gesprächs-Person 3: Herr Rolf Lang (Name laut Ausweis), ein ca. 45jähriger Mann, klein, schlank, dennoch kräftig, nordischer Hauttyp, blond, akkurat gekämmte Haare, Seitenscheitel, Beruf unbekannt, Kleidung: helles gestreiftes Hemd/ offene cremefarbene Lederjacke/ beigefarbene Kordhose/ dunkelbraune glatte Lederschuhe/ dunkelbraune Handgelenktasche/ schmaler Ehering. Stimme: klar, manchmal, wenn er sich aufregt, dröhnend bis einschneidend.

Er wird anfangs die Arme über der Brust kreuzen. Später wird er aufstehen, im Zimmer umherlaufen, wahllos Bücher und Gegenstände in die Hand nehmen und wieder hinstellen.

Gesprächs-Person 4: Herr Ronny Kurz (Name laut Ausweis), ein ca. 22jähriger Mann, groß, schlaksig, südländische Hauttyp, schwarze, glatte, lange Haare, Beruf unbekannt, Kleidung: dunkelblaues T-Shirt/ halb geschlossene Jeansjacke/ sehr enge Schneejeans/weiße Mokassins/ Aktenmappe aus Kunstleder/ silberne Halskette mit Kreuz. Stimme: unbekannt, da er während des gesamten Besuches kein einziges Wort sprechen wird.

Er wird die gesamte Zeit wortlos auf das Papier starren und in krakeliger Handschrift das Protokoll schreiben.

 

Meine Herren, Sie wünschen…

Frau Banner, wir möchten uns mit ihren Enkel unterhalten!

Sie sind,… meine Herren?

Frau Banner, wir sind Freunde Ihres Enkels.

Freunde? Aha, soso!

Frau Banner, bitte zweifeln Sie nicht an unserer Freundschaft?

Wundert Sie das, meine Herren?

Frau Banner, warum misstrauen Sie uns?

Meine Herren, die Freunde meines Enkels haben nie geputzte Schuhe. Nur wenn ich sie putze, sehen so blitzblank aus, wie bei Ihnen. Und sind es geputzte Schuhe, dann sind es meist nicht seine Freunde. So einfach ist das! Reicht Ihnen das als Antwort, meine Herren?

Frau Banner, wir kommen sozusagen als gute Freunde!

Außerdem, meine Herren, sind seine Freunde nicht so akkurat gekleidet. Die haben weder gebügelten Hemden, noch gekämmte Haare. Und diese albernen Handgelenktaschen… die kenne ich auch von keinem seiner Freunde. Nur kaputte Rucksäcke, meine Herren! Nur kaputte Rucksäcke…

Frau Banner, können wir trotzdem mit ihren Enkel reden?

Meine Herren, das ist im Moment nicht möglich!

Warum?

Weil mein Enkel im Moment ein Standbad nimmt!

Ein Standbad, Frau Banner?

Mein Gott… er wäscht sich, meine Herren!

Ah, Standbad?

Meine Herren, falls es Ihnen entgangen sein sollte, wir haben heute Sonntag! Und da gehen ich und mein Enkel zum Gottesdienst. Ich dachte, das wäre Ihnen hinlänglich bekannt? Wenn die Herren sich einen Moment gedulden wollen, ich kann meinen Enkel fragen, ob er fertig angekleidet ist. Torsten, Torsten, kommst du mal? Hier stehen zwei Herren mit Armgelenktasche, die sagen, Sie seien Freunde von dir. Hast du neuerdings neue Freunde?

Schick die Schnurchelheinis weg! Meine Freunde wissen, dass ich sonntags zuerst in die Kirche und danach in die Jugend gehe! Nur rote Socken und Ladendiebe belästigen brave Leute zum Sonntagvormittag! – Warte, Oma, ich schau selber nach den Schnurchelnasen! – Wer seid ihr? Ihr könnt´ gleich wieder abdampfen!

Herr Banner, wir wären an einem freundschaftlichen Gespräch interessiert.

Um diese Zeit? Nur Schnurchelnasen und Ladendie…

… und Ladendiebe, Herr Banner, wir wissen, das haben Sie eben gesagt. Hier unsere Ausweise! Wir wollen Ihnen ein paar Fragen stellen. Je eher Sie mit uns kooperieren, umso schneller können Sie in ihre Kirche gehen. Falls Sie nicht mit uns kooperieren, müssten wir Sie bitten mitzukommen!

Na, das ist ja ein Ding! Kommen Sie… Kommen Sie rein! – Muss ich Sie überhaupt reinlassen?

Her Banner, Sie sollten! Wir danken Ihnen für Ihre Mithilfe!

Wollen Sie sich setzen? Was habe ich denn nun wieder Schlimmes gemacht? Habe ich etwa während des Schlafes eine Bank mit wertvollem DDR-Geld ausgeraubt? Ich kann Ihnen versichern, dass ich garantiert Besseres zu tun hatte…

Wir denken, dass Sie sehr genau wissen warum wir hier sind! Wir interessieren uns für Aussagen, die Sie uns zu dem Vorfall geben werden!

Hallo? Ich versteh´ nur Bahnhof! Welche Antworten? Welcher Vorfall?

Wir glauben einen konterrevolutionären Spruch von Ihnen gelesen zu haben!

Was? Von mir? Ne Konterrevolution! Na Super. Da wüsst´ ich aber ´was von! Wann soll denn die stattfinden? Ach, da wär´ ich doch gern dabei!

Herr Banner, bleiben Sie sachlich! Dafür ist ihre Situation zu ernst! Wir wissen sehr genau, wer im Einzelnen alles hinter der staatsfeindlichen Aktion steckt. Wir denken aber, dass Sie uns das sicherlich jetzt freiwillig erzählen werden. Nur so können Sie ihre missliche Lage verbessern! Herr Banner, wir geben Ihnen jetzt die Chance das wiedergutzumachen! Nutzen Sie diese! Wir bieten sie Ihnen nur ein einziges Mal!

Was wollen Sie mir wieder anhängen? Ich weiß von keinem Text! Ihre Konterevolution, die findet doch nur in Ihren Köpfen statt. Alles nur Erfindung, alles nur Schikane!

Wir sind zu einer anderen Meinung gekommen! Wir sind uns sicher, dass Sie mit der kriminellen Aktion, etwas zu tun haben. Geben Sie den Widerstand auf. Nur wir helfen Ihnen mit heiler Haut davonzukommen. Sicherlich sind Sie da einfach nur reingerutscht. Und in so einem besonderen Fall würden wir Ihnen gern aushelfen. Wir sind wie gesagt keine Unmenschen.

Mit welcher Sache? Womit? Ich bin… ich bin nirgendwo… ich weiß gar nicht… nichts! Lassen Sie mich in Ruhe!

Sie verstehen uns sehr gut! Sagen Sie uns etwas über den Text und die Anstifter… Leugnen bringt doch nichts, Herr Banner. Sie wissen sehr wohl, was wir meinen! Außerdem wollen Sie doch heute noch in Ihre Kirche. Da sollten Sie keine Zeit verlieren. Wir hören Ihnen aufmerksam zu! Beginnen Sie, Herr Banner! Beginnen Sie!

Verdammt nochmal, welcher Text? Ich, ich…ich besitze nicht einmal eine Schreibmaschine! Da müssen Sie sich irren. Ich habe überhaupt nichts gemacht, das müssen Sie mir glauben. Das können Sie alles nachprüfen, alles. Ich habe nichts gemacht!

Glauben ist wohl eher Ihre Sache, Herr Banner! Uns interessiert vielmehr: Besitzen Sie Wandfarben? Haben Sie Pinsel?

Was soll die Frage? – Ja !

Sie geben also zu, schon einmal Wandfarben und Pinsel gekauft zu haben?

Ja, natürlich… andere auch. –Sie wohl nicht?

Wir interessieren uns für Ihre Farben und Ihre Pinsel. Wo haben Sie die Farben gekauft? Wann? Allein oder mit anderen? Wieviel?

Das weiß ich doch nicht mehr. Manchmal brauche ich Farben für´s Haus.

Sehen sie, Somit sind Sie zu Recht unser Hauptverdächtiger. Und die Farben und Pinsel mit denen Sie die Schmiererei gemacht haben, die werden wir auch noch finden. Oder wollen Sie behaupten, dass Sie keine Farben und Pinsel hier im Haus deponiert haben?

Ja, aber… das, das ist doch gar nicht mein Haus!

Aber Sie wohnen hier! Oder irren wir uns? Sie sind doch Herr Torsten Banner! Weisen Sie sich aus!

Was? Sie wollen zum Sonntagmorgen… jetzt meinen Ausweis hier im Wohnzimmer sehen? Schikane, Ich habe aber doch gar nichts gemacht! Überhaupt nichts! Wirklich nichts! Lassen Sie mich endlich in Ruhe. Bitte! Bitte!

Haben wir uns undeutlich ausgedrückt oder wollen Sie sich einer staatlichen Ausweiskontrolle widersetzen? Dann müssen wir Sie sofort mitnehmen.

Nein, natürlich nicht, aber ich bin doch in der Unterhose…

Aber was, Herr Torsten Banner? Was? Wir möchten sofort Ihren Ausweis sehen, Herr Banner! Jetzt holen Sie ihn! Sofort! Den haben Sie stets bei sich zu tragen!

Den muss ich holen. – Bitte, bitte, hier ist der Lappen!

Geht doch Herr Banner! Geht doch! Warum dieser zwecklose Widerstand, der führt doch zu nichts! Wir behalten ihren Ausweis. Reine Vorsichtsmaßnahme! Wir sind bemüht, Ihnen den Ausweis nach unserem Gespräch zurückzugeben. Das liegt ganz allein bei Ihnen! Sie helfen uns bei unseren Fragen und wir geben Ihnen danach den Ausweis zurück. Sie wissen, ohne den Ausweis dürfen Sie nicht weggehen. Also, lassen Sie uns jetzt rasch unsere Fragen abarbeiten. Und denken Sie daran, Sie wollen heute noch in Ihre Kirche gehen, wir nicht! Also, halten wir fest: wir wissen, Sie haben jede Menge Farben und Pinsel in dem Haus, in dem Sie amtlich gemeldet sind. Wir halten weiterhin fest: die Schmiererei wurde in Ihrer Straße unweit Ihres Hauses an einer Mauer gemalt. Und wir halten fest: die Schrift an der Wand ähnelt doch sehr Ihrer Schrift. Wir haben Fotos. Die Beweise zusammenzuführen ist für uns eine Kleinigkeit. Was haben Sie uns dazu zu sagen, Herr Torsten Banner?

Spinn´ ich! Was ist denn das für´n Scheiß´?

Antworten Sie einfach nur auf unsere Fragen. So schwer sind die doch gar nicht! Wir meinen die Schmierereien am Spezialhandel der sowjetischen Streitkräfte. Das ist kein Zufall, Herr Banner! Herr Banner, Sie haben sich das sehr genau überlegt!

Sie meinen den Spruch an der vergammelten, halb eingefallenen Wand?

Sehen Sie, Herr Banner, wir wussten, dass Sie ganz genau wissen, warum wir hier sind. Sie leugnen also nicht mehr. Prima, sehr gut, dass Sie sich für uns entschieden haben! Vertrauen sie uns weiterhin! Nur wir wissen wie Sie aus dem Schlamassel rauskommen!

Welchem Schlamassel? Den Spruch, den blöden Spruch, den, den hat doch jeder gesehen! Der ist doch harmlos, völlig harmlos, den, den, den, den kennt doch jeder!

Na, dann fragen wir mal anders: Was haben Sie denn gelesen? Was hat dort gestanden?

Das, was alle Anderen an dem Morgen auch gelesen haben!

Und was haben die anderen Leute gelesen?

„Nieder mit dem antiimperialistischen Schutzwall! – Brücken bauen statt Mauern“

Aha? Das haben Sie gelesen, Herr Banner? Und warum haben sie das geschrieben? Wollten Sie uns damit provozieren? Wer hat Ihnen geholfen? Wurden Sie vom Westen gesteuert? Was haben die Ihnen gezahlt? Wir wissen, dass ihre Mutter im Westen lebt.

Ich habe überhaupt nichts geschrieben… überhaupt nichts! Wirklich, ich… ich war das nicht! Das können Sie mir nicht so einfach an die Backe nageln!

Herr Banner, so einfach nageln wir Niemanden etwas an die Backe. Sie selbst haben uns doch eben gestanden, dass Sie das gelesen haben!

Ja, wie alle anderen auch!

Was die Anderen gelesen haben, können Sie doch gar nicht wissen. Wann haben Sie denn das gelesen?

Als ich auf Arbeit gehen wollte.

Uns interessiert: an welchen Tag und zu welcher Uhrzeit? So genau wie möglich, Herr Banner!

Am 17. Juni , so gegen halb fünf?

Halb fünf? Oder etwas früher? Oder doch etwas später?

Nein, nein halb fünf!

Halb fünf, das wollen wir mal so aufschreiben. Was uns weiterhin interessiert Torsten: Hast du jemanden gesehen?

Ich habe niemanden gesehen!

Ich denke, das haben alle anderen gelesen? Du willst jemanden decken? Wer waren die Anderen?

Weiß nicht, eine Frau und…

Wie sah die Frau aus? Wir interessieren uns sehr dafür. Beschreib´ sie so genau wie möglich!

Weiß nicht!

Erinnere dich! Du willst doch heute noch in deine Kirche!

… jung… blond… Locken… gelbe Strickjacke… weißer Rock, kurz, sehr kurz… mehr, mehr weiß ich nicht!

Gut, dein Geständnis wollen wir mal so notieren! Und der Mann, wie sah der aus?

Älterer Herr… schlank, kariertes Hemd… Aktentasche, ja eine Aktentasche!

Was für eine Aktentasche, Wie alt war der Mann? Wo wohnt er? Passen Farben zum Beschmieren der Wände in die Tasche?

Lederaktentasche… braun… eine dunkle…. ja, eine dunkle Hose. Ich habe da nicht darauf geachtet. Ich glaube, er wohnt in der Wilhelm–Pieck-Alle, in der eins. Manchmal sehe ich ihn auch mit seiner Frau im Konsum.

Gut, das Geständnis wollen wir mal so notieren. Was uns besonders interessiert: Waren noch andere Bürger zu dieser Zeit auf der Straße? Haben weitere Bürger diese Schmierereien gelesen? Das waren doch Schmierereien? Nicht wahr, Herr Banner? Torsten? Torsten?

Weiß ich nicht. Ja, ja natürlich waren das… ich weiß nicht, ich glaube, ich denke, das ist, das war doch nur ein harmloser Spruch von, von Wolf, Wolf Bier…mann…

Herr Banner, Sie und wir wollen diesen Asozialen Elementen, die nur die Zerstörung unserer sozialistischen Heimat wollen, keine handbreit Land geben. Der Meinung sind Sie doch auch! Oder?

Ich, ich… ich, wissen Sie, ich… ich…

Oder? Herr Banner!

Ja!

Na also! Dein spätes aber vernünftiges Geständnis wollen wir so notieren. Was uns aber noch dringend interessiert ist: Hat außer dir, der Frau und dem Mann noch jemand die antisozialistische Schmiererei am Spezialhandel der sowjetischen Streitkräfte gelesen? Torsten, du weißt, du bist zur Mithilfe bei der Aufklärung eines staatsfeindlichen Verbrechens verpflichtet. Sonst machst du dich strafbar. Und dann können wir dir nicht mehr helfen. Da endet unsere Freundschaft!

Ich… ich weiß. Ich habe niemanden außer die beiden gesehen. Wirklich. Ich habe Sie Ihnen doch so genau wie möglich beschrieben. Und wo der Mann wohnt, das habe ich Ihnen doch auch gesagt.

Gut. Sie haben also keine weiteren Bürger gesehen, Herr Banner? Sehr gut. Hier haben Sie Ihren Ausweis wieder. Und wenn Sie sich beeilen, schaffen Sie es noch in Ihre Kirche.

Danke, ich bringe, ich… ich bringe Sie, wenn Sie wollen… bringe ich Sie noch zur Tür!

Lieb von dir, Torsten. – Ach, zum Schluss unseres freundschaftlichen Besuches haben wir noch eine kleine Frage. Sagen Sie mal, wenn Sie die Schmiererei gelesen haben – und das haben Sie ja eben gestanden – warum haben Sie diese staatsfeindliche Hetze nicht umgehend angezeigt? Herr Banner, das ist Mithilfe zu konterrevolutionären Aktionen. Sie wissen, darauf steht mehrjährige Haftstrafe!

Ich hatte das nicht so als… verstanden… eher… verstanden… so wie Völker… verständigung unter Bruder… ländern. Ich weiß doch auch nicht… na so wie… wir das in der Schule gelernt haben, dass wir alle Gesellschaftsschranken… ab… also niederreißen. Tut mir leid. Das tut mir alles wirklich…

Da wir aber als deine neuen Freunde gekommen sind, bieten wir dir, lieber Torsten, eine Chance. Deswegen werden wir in den nächsten Tagen nochmal auf dich zukommen. Und was den kleinen Freundschaftsbesuch heute anbelangt: Das hat niemanden zu interessieren!

Frau Banner, bleiben Sie auf der Treppe sitzen, wir wollen Sie auf den Weg in ihre Kirche nicht länger aufhalten. Wir finden allein heraus. Vielen Dank.

Waltraud

+ Barbarusia möchte jetzt mit Ihnen reden +

Wer ist in der Leitung?

+ Auf alle Fragen eine klare Antwort +

Ich bin´s wieder, die Waltraud!

Hallo Waltraud, wie kann ich mit meinen universellen Tiefenkräften behilflich sein?

Ich wollte nach meinem Ältesten fragen… er ist seit über acht Monaten spurlos verschwunden und die Polizei kann ihn immer noch nicht finden. Und da dachte ich… da wollte ich… da möchte ich Sie nochmal bitten, Frau Barbarusia, ob Sie in der Zwischenzeit erfahren haben, ob er lebt, was er macht, ob es ihm gutgeht? Ich meine… ich weiß nicht weiter?

Ja, und was ist jetzt deine Frage, Waltraud? Wohin soll ich meinen engelsenergetischen Strahl schicken?

+ Sie können der Nächste sein. Rufen Sie sofort an +

Frau Barbarusia, richten Sie ihren Strahl zu meinem guten Jungen, ich… ich. Wissen Sie nicht mehr? Frau Barbarusia? Ich bin´s, die Waltraud! Ich habe Sie doch in den letzten Monaten immer wieder angerufen. Ich habe gespart, ich habe alle Sachen, die Sie mir empfohlen haben, gekauft. Alle! Ich habe wieder etwas Geld. Ich mache alles so, wie Sie es gesagt haben.

Ach, du bist´s, meine liebe Waltraud. Ich habe deinen Anruf vorhergesehen, ich wusste, dass du mich heute wieder anrufen würdest. Und deswegen habe ich einen Teil meiner kostbaren Energien für dich zurückgehalten, um sie dir jetzt zu schenken…

+ Barbarusia hilft Ihnen aus ihrer Lebenskrise. Rufen Sie an +

Meine liebe Waltraud, ich habe in den letzten Tagen mehrfach versucht mit deinem Jungen Kontakt aufzunehmen, aber die uritanischen Wolken verschleiern durch einen monofensorischen Einfluss meine Sicht… ich habe wirklich alles versucht, aber die uritanischen Wolken von links, die trisurdischen Gegenschwingungen von rechts, von oben die intergalaktische Fehlwolkenbildung und dazu noch der sehr, sehr kräftige monofensorische Einfluss… naja, Waltraud, da weißt du ja selber…Waltraud, gell, ich schaue jetzt trotzdem nochmal in die hochenergetische Kugel…

+ Rufen Sie an und Barbarusia gewährt Ihnen ein Telefonat ins Jenseits +

Lebt er noch, Frau Barbarusia? Wo ist er? Hat er genug zu Essen? Mir ist ganz schlecht… ich habe wieder die Nacht nicht geschlafen!

Also, Waltraud, soweit ich´s sehe, im Jenseits, im Jenseits ist er jedenfalls n-o-c-h nicht gelandet.

Das können Sie erkennen, Frau Barbarusia? Können Sie mir das versprechen? Stimmt das wirklich?

Ja, Waltraud, seit meinem fünften Lebensjahr sehe ich Verstorbene. Ich bin mit ihnen in reger Verbindung, unterhalte mich mit ihnen, so wie ich mich mit Dir unterhalte. Du hörst mich doch auch Waltraud, oder e-t-w-a nicht…?

Ja, ja, ich höre Sie sehr gut, Frau Barbarusia, sehr gut…

Das ist für mich mit meinen angeborenen transnistischen Engelsenergieströmen ü-berhaupt kein Problem, da mach´ dir mal keine Sorgen, gell´, den Transnismus, den habe ich schon während meiner Geburt in mich eingesogen. Meine Mutter war eine Engelsfrau, also bin ich eine Engelsgeborene, da kann ich auch nix für…also, deswegen kenne ich mich mit dem Jenseits aller-bestens aus, da bin ich sozusagen zu Hause. Im Jenseits, meine liebe Waltraud, ist dein Junge jedenfalls nicht eingegangen, das sagen mir soeben meine befreundeten Engel vom goldenen Tor.

+ Wählen Sie sich in eine der noch wenigen freien Leitungen ein, Barbarusia ist gleich für Sie da +

Wissen Sie, mein Frank ist ein guter Junge, der hat mir in all den Jahren nie Kummer gemacht… über 50 Jahren wohnt er nun schon bei mir. Und seit mein geliebter Mann einfach nicht mehr wieder gekommen ist… und die beiden anderen Jungs…auch sozusagen raus sind… den einen, den darf ich jeden Monat einmal von Amtswegen besuchen und der andere, naja, die Frau hat ihn gegen mich aufgehetzt… seit, seit die beiden anderen Jungs also auch raus sind, da hat doch mein Frank das Zimmer für sich ganz allein und kann sich Nacht für Nacht alle Sendungen von Ihnen angesehen und anrufen. Erst habe ich geschimpft, wissen Sie, ich… wir sind ja eigentlich katholisch… da habe ich geschimpft, weil er sein ganzes, sein sauer verdientes Geld… also das schöne Geld dafür ausgegeben hat. Wissen Sie und jetzt bin ich heilfroh, dass ich Sie über die Lieblingssendung von meinem Frank kennen gelernt habe. Ich wüsste gar nicht… was ich ohne Sie, Frau Barbarusia…

… Waltraud, als deine treue Helferin aus dem Jenseits werde ich jetzt nur für dich nochmal die Erdoberfläche mit meinen hochenergetischen Kristallschwingungen absuchen, vielleicht finde ich ihn dieses Mal. Wenn nicht, musst du wohl noch ein Weilchen Geduld haben und noch eins… zwei… vielleicht auch ein drittes Mal bei mir anrufen. Wie war das den nun am letzten Tag mit euch beiden, Waltraud, erzähl mir mal schnell? Erzähl´ es mir, lass es raus, ich sauge es in mich auf, ich neutralisiere es für dich, meine liebe Waltraud, ich neutralisiere alles was du mir jetzt sagst, al-les!

+ Sichern Sie sich heute die Reichtumsenergie +

Ich habe ihm gesagt, er soll das Radio nicht so laut machen und die Klospülung nicht bei jedem Bisschen benutzen und er soll pünktlich nach Hause kommen. Jedes Mal warte ich an der Tür… Er hat wie immer geschimpft und ist ohne sich zu verabschieden auf Arbeit gegangen, …aber dort ist er nicht angekommen. Und wiedergekommen ist er auch nicht. Frau Barbarusia, ich brate seit acht Monaten jeden Tag sein Lieblingsessen, Bratkartoffeln mit Kümmel und Buletten mit viel Estragon, um mich… wenn er wieder nach Hause kommt, zu entschuldigen. Ich… ich stelle jeden Tag das Essen in den Kühlschrank, und wenn das Kühlfach voll ist, räume ich es…. Ich weiß doch auch nicht, was ich sonst noch machen soll? Frau Barbarusia, er ist doch ein so guter Junge. Wissen Sie, ich bin so froh, dass ich ihn durch die Schulzeit bekommen habe… er hat mir nie, nie Kummer gemacht. Ich bin so froh, dass ich ihn damals aus der Mopedclique bekommen habe, er ist ein guter, ein guter Junge, das mit dem blauen Moped hatte er auch wieder schnell vergessen, Sie wissen doch, die Jungs und ihre Flausen …

Lass die schlechten Energien raus, Waltraud, immer raus damit, ich atme das alles in mich hinein! Lass sie raus, ich neutralisiere das alles für dich, ich neutralisiere die schwarzen Energien aus deinem Körper, ich sauge sie in mich auf, ich mache sie weiß, mache sie schneeweiß, hochweiß, ultraweiß, Waltraud…

Auch die Kleidung lege ich jeden Tag für ihn hin, Frau Barbarusia… und seine fünf Euro spare ich für ihn in seinem Sparschwein. Das Geld kann er nachzählen, das ist alles da. Die zwei Glücksschweine stehen auf seinem Nachttisch, 880 Euro sind zusammengekommen, 880 in Ein-Euro-Münzen. Ich gestatte ihm auch ein Moped, wenn er will… ein Moped wollte er immer… wenn er doch nur wiederkäme, ein Moped, ich habe schon nachgefragt, ein blaues… blau mochte er…

Genau, das meine ich, Waltraud! Da musst du wohl unbedingt g-a-n-z tief in dir nachsehen, da musst du in dich w-e-i-t reingucken, da musst du in dir kom-plett aufräumen, da ist etwas mit euch beiden in eurem schönen Glückshaus passiert, mit eurem Karma, etwas, das so nie-mals mit euch hätte passieren dürfen, verstehst du Waltraud! Da sind Strahlen gebrochen worden. Strahlen… das geht nicht ohne Bruch von Lebenskarma. Kein Wunder, dass es dir schlecht geht. Kein Wunder, dass du nicht schlafen kannst. Das ist alles ü-berhaupt kein Wunder. Wundert mich ü-berhaupt nicht. Aber wir beiden, du, meine liebe Waltraud und ich, wir beiden bekommen das schon wieder in den Griff. I-c-h bringe den Frank zurück und d-u erneuerst in der Zwischenzeit dein zerbrochenes Karma, gell´, meine liebe Waltraud!

Frau Barbarusia, dann bin ich wohl doch an allem Schuld?

Waltraud? Wenn du g-a-n-z tief in dich hineinschaust, dann kennst du die Antwort genau! Das muss ich dir doch nicht sagen, Waltraud. D-u und nur D-u kennst die Antwort! Stimmt´s, Waltraud! Ich empfehle dir dringend eine spirituelle Selbstreinigung mit Kristallquarzpaste, dann siehst du alles unverstellter, klarer, mit gereinigtem Blick. Mit der wertvollen Paste kann ich dir auch zwischendurch aushelfen, wenn du… ich meine… wenn sie dir im Moment fehlt. Ich weiß, du brauchst sie drin-gend. Waltraud, alles kein Problem, wenn du willst, Waltraud, kannst du sie gleich bei mir bestellen, kostet für dich… ich meine wegen der Sache mit dem Frank, fast nichts, für dich so gut wie gar nix. Waltraud, ich bin doch kein Unmensch! Als Engelsgleiche hat Geld für mich sowieso keinerlei Bedeutung, kei-ner-lei Bedeutung!

+ Ihr Schicksal in Barbarusias Händen +

Frau Barbarusia, ich habe mich immer um ihn gekümmert. Ich habe ihm das Essen gemacht, ich habe seine Wäsche gewaschen, sein Zimmer aufgeräumt, jeden Tag ein frisch gebügeltes Hemd über den Stuhl gehängt, täglich eine Schachtel Zigaretten und Kaugummi in die Tasche gesteckt, jeden Tag fünf Euro Taschengeld in geputzten Ein-Euro-Stücken auf seinen Platz gelegt und habe die Brote dick mit Wurst beschmiert und meinen Jungen danach geweckt. Nicht einen einzigen Tag ist er zu spät auf Arbeit gegangen, egal wie lang er sich ihre Sendungen ansah. Dafür habe ich gesorgt. Frau Barbarusia, was habe ich denn verkehrt gemacht? Was? Ich verstehe das alles nicht? Nacht für Nacht stelle ich mir die Fragen, die Sie mir in den letzten acht Monaten gestellt haben. Irgendwann hätte er ein tüchtiges Mädchen mit heimgebracht und wir hätten viele Kinder gehabt. Irgendwann. Manchmal habe ich ihn auch gefragt, warum er keine mitbringt… da hat er dann immer laut reagiert. Ich hätte gewiss gegen ein ordentliches Mädchen überhaupt nichts gehabt, Frau Barbarusia.

Waltraud, du musst g-a-n-z dringend ein spirituelles Sitzbad nehmen, nur dann, und nur dann wird´s besser mit dir und deinem… Wenn ich mich nicht täusche, empfange ich jetzt ganz schwache Signale von deinem, vom…

…von meinem Frank?

Ja, von deinem gu-ten Frank, Waltraud!

+ Hier erfahren Sie die ganze Wahrheit über ihre Sterne +

Was sagt er, Frau Barbarusia? Geht´s ihm gut? Was macht er? Hat er genug zu essen?

Das kann ich nicht sagen, dafür ist das Signal auch dieses Mal zu schwach, Waltraud, was du aber auf jeden Fall drin-gend machen musst, ist eine energetische Vollwaschung, am besten mit Amethrincreme, Bergkristallwasser und doppeltem Alttitansalz. Und nimm dazu meine spezielle Sondermischung Gravitationsstaub! Dann kann nix mehr schiefgehen, überhaupt nix! Meine Mischung wird dir auf dem Weg ins Licht die notwendigen Kräfte bringen. Ich kann dir die kostbaren Sachen besorgen, ü-berhaupt kein Problem. Musst du nur bei mir bestellen. Ich würde dir einfach die doppelte Menge reinpacken, die doppelte, weil ich weiß, dass du im Moment die doppelte Menge brauchst, gell´, Waltraud, einfach das Doppelte reinpacken, das Doppelte, für dich, meine liebe Waltraud, natürlich wie immer für dich zum halben Preis…

+ Keine ungeklärten Fragen – auf alles eine klare Antwort +

….und nachdem, was ich in der Kugel außerdem se-he… meine liebe Waltraud…

Ja, Frau Barbarusia?

… besitzt du bis zum Jahresende den Selbstheilungsmodus. Danach ist der Modus für den Rest des Lebens restlos aufgebraucht. Da brauchst du g-a-n-z dringend das neue Selbstheilungsstarterset, Waltraud, ohne das geht bei dir gar nichts mehr, ü-berhaupt nichts mehr, hörst du ü-berhaupt nichts! Gell´, meine liebe Waltraud. Dann schläfst du auch wieder besser. Das ist alles, alles kein Problem, da würde ich dir etwas abgeben von meinen privaten Reserven, einfach abgeben. Natürlich, nur wenn d-u willst… d-u wirst auch heute wieder bestellen. Ich weiß, d-u machst das! Etwas von meinem Privaten abgeben, Waltraud, gell´, von meinem wenigen Engelskontingent! Gebe ich gern, Waltraud… für dich… wegen Frank!

Frau Barbarusia, wann kommt mein guter Junge den nun zurück?

Die hochfrequenten supraleitenden Schwingungen aus der Kristallkugel lassen nach, aber Frank will, sagt er, dass du weiter für ihn sein Lieblingsessen machen sollst und dass du auf ihn warten sollst. Er sagt, er wird sich bei dir melden, das hat er mir soeben noch gesagt… nicht heute. Wann? Das weiß er noch nicht, aber an eurem Lieblingsplatz wird er sein, an dem ihr so gern gesessen habt, du weißt schon, du sollst in der Zwischenzeit in dich gehen… du weißt warum, sagt er… die Signale werden schwach… er sagt, er ist schon im Licht, er badet im Licht, seine Seele glänzt, er ist in einer glücklichen Situation, er erneuert sich ganzkörperlich… die transnistrischen Schwingungen in meiner Kugel lassen nach, Waltraud, ich kann unseren Energiestrom nicht mehr, nicht mehr aufrechterhalten, tut mir leid… tut mir, tut mir leid… die Verbindung ist abgebrochen… ich hö-re, blau, irgendetwas von einem blauen Fahrzeug…

Ein Moped? Bestimmt ein Moped, Frau Barbarusia, ein Moped, das wollte er schon immer, aber wegen der Prophezeiung, die Sie ihm gegeben haben… da habe ich´s versucht, zu verhindern. Können Sie das verstehen, Frau Barbarusia?

 

… blau, ein blau-es mit viel Chrom, Waltraud, das hat er eben gesagt!

Was sagt er noch! Was sagt mein Frank… an unserem Lieblingsplatz, der Gartenbank? Wann soll ich nochmal bei Ihnen anrufen, Frau Barbarusia? Was brauche ich alles für meine Selbstreinigung?

+ Bitten Sie Barbarusia um ihre kostbare Engelsenergie +

Waltraud, das Selbstreinigungsstarterset schicke ich Dir natürlich so schnell wie möglich zu, ich merke doch, dass du es dringend, g-a-n-z dringend brauchst. Eine kluge Entscheidung! Du spürst genau was du brauchst. Bleib´, bleib´ in der Leitung, wir nehmen nur schnell deine Daten auf. Setz Dich auf die Gartenbank, hat er mir eben noch gesagt, denke an ihn, hat er gesagt, brate Buletten mit ganz viel Estragon, hat er eben gesagt, denke über euch beide nach, du weißt warum. Warte auf der schönen, gemütlichen Gartenbank und kaufe das blaue Moped, kaufe es von seinem Geld, hat er noch zu mir gesagt. Stell´ das Moped neben die Gartenbank und warte, warte auf ihn, warte…dann wird alles gut!

+ Mit Barbarusia zur Reichtumsenergie +

Frau Barbarusia, wann können Sie wieder eine Verbindung herstellen? Geht es gleich jetzt nochmal? Bitte noch einmal!

Die Zeit ist schon wieder vorbei, Waltraud. Tschüssi, meine liebe. Dir alles Gute. Ich hoffe, ich konnte Dir auch heute wieder helfen. Tschüssi. Dir alles, alles Liebe, Waltraud!

+Barbarusia bringt auch Ihnen die Stimmen aus dem Jenseits direkt nach Hause+

Frau Barbarusia… ich bin´s… die Waltraud… Hallo…Hallo, ihre Waltraud, ihre Wal… Wal…?

Der Vergangenheitstreue

Dem Vergangenheitstreuen fällt es schwer, das Ticken von Uhren auszuhalten. Egal, wo er das gleichmäßige Geräusch vernimmt, ob auf Bahnhöfen, in Wohnzimmern oder Küchen, wird er unruhig und beginnt sich unwohl zu fühlen. Sieht er Mitarbeiter mit einer mechanischen Uhr am Handgelenk, geht er ihnen sofort aus dem Weg. Und muss er doch mit ihnen ein dringendes Fachgespräch führen, schätzt er die Lautstärke des Geräuschs der Uhrenmarke und stellt sich in sicherer Entfernung auf. In aller Kürze bespricht er mit ihnen das Notwendigste. Außerdem ist es dem Vergangenheitstreuen unangenehm Menschen zu beobachten, die immerzu in ihre dicken Kalender schauen, um nach etwaigen Terminen zu suchen, denn das Festlegen von Zeit ist ihm zuwider.

Kommt der Vergangenheitstreue auf Station, bitten ihn die Schwestern zum allmorgendlichen Kaffee um auch mit ihm private Erlebnisse ausführlich austauschen zu können. Da ihm dieses Angebot stets peinlich ist, lehnt er kopfschüttelnd und mit leiser Stimme ab. Noch nie soll es jemanden im Krankenhaus gelungen sein, dem Vergangenheitstreuen ein persönliches Gespräch zu entlocken, egal auf welcher Station er sich befand.

Vielmehr beginnt er nach der unangenehmen Frage unverzüglich mit der Arbeit, denn nur so ist er sich gewiss, dass er das Verstreichen von Zeit überhaupt nicht bemerkt. Dabei führt er routiniert jeden einzelnen Handgriff, den er während seiner Ausbildung erlernt hat, in Zeitlupengeschwindigkeit mit ein und derselben Genauigkeit Tag für Tag aus. Selbst Feiertage oder gar sein Geburtstag sind für ihn kein Grund irgendeinen seiner Handgriffe zu ändern. Neueste Arbeitsmethoden weiß er gekonnt zu umgehen. Und nur, wenn die Stationsschwester ihm mit Abmahnung oder gar Kündigung droht, benutzt er widerwillig und mit raschen Handbewegungen den modernen Infussiomanten, cremt die neue, unbekannte Wundsalbe auf die vereiterte Haut, verwendet die hochmoderne Antidekubitusmatratze und krakelt die Pflegedokumentation in die standardisierten Tabellen der Kurven. Hat hingegen die Stationsschwester über das Wochenende frei oder befindet sie sich auf einen ihrer unzähligen Auslandsreisen, nutzt er die Tage, um vergnügt seine alte Arbeitsweise anzuwenden.

Würde man den Pförtner des Krankenhauses an einem dieser Tage fragen, wie sich der Vergangenheitstreue in diesem Moment fühlt, würde er sein schönstes Lächeln aufsetzen und sagen, dass es diesem stillen, undurchschaubaren Jungen mit dem stets flüchtig-suchenden Blick, heute blendend gehe und er ihm viele solcher schönen Tage wünsche.

Hat die Mittagspause begonnen, geht der Vergangenheitstreue nicht wie andere Schwestern schwatzend in die Kantine, sondern schleicht in die abgedunkelten Patientenzimmer und bringt die welkenden Blumensträuße an sich. Seine Großmutter mochte nur frisch gepflückte. Unbemerkt wirft er die fast frischen Blumen in den Müll, geht in den kleinen Laden vor dem Krankenhaus, der ihn schon seit Jahren großzügig Rabatte gewährt und lässt vergleichbare Sträuße binden. Und nur wenn es die Blumensorte nicht gibt, kauft er einen bunten Strauß seiner Wahl und behauptet gegenüber den verschlafenen Patientinnen, dass ein sehr netter, unbekannter Besucher diesen Strauß abgegeben und den alten mitgenommen habe. Ist er mit dem Blumentausch fertig, fährt er zu seiner täglichen Runde ins Archiv der Anmeldung. Er nimmt den Nachschlüssel, den er sich durch ein vorgetäuschtes privates Gespräch mit der aufdringlichen Mitarbeiterin erschlichen hat und prüft akribisch die Aufnahmelisten der Patientinnen. Ist er damit fertig, geht er in den Garten und beobachtet das Goldfischpaar im Becken. Er holt die bunte Brotdose aus seinem Beutel und isst das dick bestrichene Butterbrot und den Riegel Vollmilchschokolade.

Kommt er nach dem Dienst nach Hause, legt er sich im Kinderzimmer auf sein Bett und betet ausführlich bis er für kurze Zeit einschlafen kann. Wacht er von einen seiner unschönen Träume auf, taumelt er erschöpft ins Schlafzimmer, um nach dem Bett seiner Großmutter zu sehen. Findet er ihr Bett unbenutzt, geht er in die Küche und greift aus dem defekten Kühlschrank die lauwarme Himbeerlimonade. Geräuschvoll trinkt er sie in einem Zuge aus. Mit verschlossenen Augen wartet er minutenlang auf ermahnende Worte. Bleiben auch an diesem Tage die geliebten Ermahnungen aus, setzt er sich an den weiß gestrichenen Holztisch, den der unbekannte Großvater seiner Großmutter zur Verlobung geschenkt haben soll und streichelt über das karierte Wachstuch. Aufmerksam nickt er dem weißen Stuhl mehrfach zu. Mit einem freudigen Lächeln springt er auf, stellt den Porzellanfilter auf die Kanne, steckt das Nylonsieb darauf und gibt vier gehäufte Löffel Kaffee hinein. Vom Emaillewaschbecken holt er Wasser und erhitzt es im verkrusteten Tauchsieder. In kleinen Schlucken brüht er kräftigen Kaffee. Wortlos stellt er die flache Teetasse mit dem blassen, goldverzierten Schnörkelmuster vor den Stuhl exakt auf den dunkelbraunen Kreis des Tischtuches. Er stellt die Keksdose, die Milch und die Zuckerschale neben den Kaffee. Von der Flurgarderobe holt er eilig die dicke Sonntagsausgabe der Tageszeitung, die er seit elf Jahren zusammengelegt im oberen Schubfach liegen hat. Er setzt sich neben den weißen Stuhl und liest langsam und deutlich alle Artikel der Zeitung laut vor, die er sich über die letzten elf Jahre eingeprägt hat.

Geht die Sonne unter, wäscht er im Halbdunkel das wenige Geschirr des Tages ab und erzählt vom Stationsalltag. Gründlich putzt er die Küche und die restlichen Räume der Wohnung. Ist er davon müde, geht er ins Kinderzimmer, legt sich auf das schmale Bett und schiebt die großen Kopfhörer auf die Ohren. Er schaltet die Hobby-Funkanlage ein und lauscht den Polizeifunk ab. Dabei versucht er nicht einzuschlafen. Bemerkt er, dass er müde wird, schlägt er zur Strafe mit der flachen Hand auf die Wangen. Und nur wenn die Wangenschläge seine Müdigkeit nicht beenden, piekt er mit der Kanüle in die Fingerkuppen.

Am Morgen zieht der Vergangenheitstreue die Kopfhörer von den Ohren. Übermüdet geht er in die Küche ans Waschbecken, rasiert sich gründlich ein Milchgesicht und wäscht widerwillig den Oberkörper ab. Er geht ins Schlafzimmer der Großmutter, greift wahllos im Wäscheschrank seine abgetragenen, unmodernen Sachen heraus und zieht sie schweigend an.

Auf der Fahrt in die Klinik beobachtet der Vergangenheitstreue aufmerksam alle Passantinnen, die ihr ähnlich sehen. Ab und zu fallen ihm für Sekunden die müden Augenlider zu und er träumt, dass er nach Feierabend einen frisch gepflückten Strauß Blumen auf dem Küchentisch vorfindet, den würzigen Duft von leckeren Kohlrouladen auf dem Absatz des Treppenhauses einatmet, mit ihr eine Riesenschüssel grüne Klöße formt und anschließend Puddingreste aus der alten Kristallschüssel lecken darf, während sie mit nicht ernst gemeinten Worten schimpft. Hat er den Kohlrouladenduft in der Nase, reißt er abrupt die Augen auf und gibt sich eine Ohrfeige. Hastig springt er vom Sitz auf, schaut unruhig aus dem Fenster und beobachtet wieder die Gehwege, Straßen und Kreuzungen. Und nur noch selten greift der Vergangenheitstreue nach der Notbremse.

Der Altersscheue

Der Altersscheue fürchtet nichts so sehr wie seinen Geburtstag. Spricht einer seiner stets gutaussehenden Gesprächspartner unbedacht ein Wort aus, das mit Alterung in Verbindung steht oder auch nur gebracht werden könnte, hält der Altersscheue schreckhaft die Hand vor das Gesicht, tupft die vielen, dicken Schweißperlen von der gecremten und geschminkten Stirn oder steckt die lackierten Nägel seiner Zeigefinger tief in die Ohren. Wird in solch einem Gespräch zufällig sein tatsächliches Alter erkannt und trägt es der Entdecker nichtsahnend in die Welt, zittert der Altersscheue vor Wut. Er stößt mit den Füßen heftig gegen Betten oder tritt wahllos Wäschekisten ein, die in den Stationsfluren abgestellt sind. Noch vor Ort erklärt er lauthals den geschwätzigen Entdecker zu seinem Todfeind. Denn nichts verletzt ihn mehr, als der Verrat seines wirklichen Alters.

Der Altersscheue zieht jeden Morgen die dicke handgefertigte Silikonmaske, die er zur Straffung seiner Haut über Nacht trägt, vom Gesicht. Danach massiert er nach einer von ihm entwickelten Dehnübung die Haut bis er das Gesicht wieder bewegen kann. Ist er damit fertig, läuft er ins Bad, stellt sich auf die große Glaswaage, pustet mit aller Kraft die Luft aus seinen Lungenflügeln und zieht den Bauch ein. Dabei kneift er die Augen fest zusammen und streckt die Hände zur Baddecke. In Zeitlupe senkt er den Kopf und blinzelt auf die elektronische Anzeige. Ist er mit der Zahlenfolge auch hinter dem Komma zufrieden, atmet er hörbar Luft ein. Mit weit ausgebreiteten Armen hüpft er lächelnd von der chromgefassten Waage, klopft sich anerkennend auf die linke und rechte Schulter und tanzt ausgelassen durch die drei Zimmer seiner nach den neuesten Wohntrends eingerichteten Wohnung. Wieder im Bad angekommen, dreht er eine Pirouette und verbeugt sich gönnerhaft vor dem Spiegel wie vor jubelnden Publikum.

Um seinen Körper nach etwaigen Alterserscheinungen gründlich abzusuchen, knipst er den eigens installierten Halogen-Flutstrahler an und stellt sich in dessen breiten Lichtkegel. Er umgreift die große Standlupe und setzt zur besseren Kontrolle eine Juweliersbrille auf. Akribisch beginnt er Millimeter für Millimeter sein kosmetisch bearbeitetes Gesicht zu prüfen. Er schielt zwischen die gebleichten und reparierten Zähne und streckt die Zunge mit einem lauten „Bääh“ heraus. Mehrfach umrundet er dabei die obere und untere Zahnreihe, bis ihm die Zunge lahmt. Mit einem kräftigen Biss prüft er die korrigierten Lippen, ob sie noch prall genug für bevorstehende Abenteuer sind. Er nimmt die ägyptische Liebescreme, die er hinter dem Schrank in einem speziell eingebauten Versteck hält und die er stets nach einer streng geheimen Rezeptur nach Anweisung seiner Modezeitung fertigt. Hat er die Lippen gründlich eingecremt, beginnt er widerwillig die Fältchen auf der Stirn zu zählen. Verzählt er sich, was in neuester Zeit sehr häufig vorkommt, wiederholt er das Abzählen, dieses Mal mit halb geschlossenen Augen, bis er jedes Fältchen erfasst hat. Und nicht selten bricht er tränenüberströmt zusammen oder fällt beim Addieren der vielen Fältchen kurz in Ohnmacht und verletzt sich an der Badheizung oder seiner Lichtanlage. An solchen Tagen ist er krankgemeldet und schluckt massenhaft Vitamine und Aufbaupräparate.

Ist er endlich mit dem Fältchenzählen fertig, streckt er den Hals schwanenhaft nach oben und misst mit einem Präzisionszirkel das Doppelkinn ab und notiert die Zahl in einer Tabelle. Anschließend schneidet er schimpfend die kleinen Härchen aus Ohren und Nase. Danach schaut er verächtlich über und unter die Augen und schminkt alle Ränder kunstvoll zu. Ist er mit dem Zustand seines Gesichtes halbwegs zufrieden, greift er das Maßband und prüft den Bizeps und den Brustumfang. Um erneuten Entzündungen der vielen Einstichpunkte seines abgesaugten Bauchfettes zu vermeiden, schmiert er mit beiden Händen dicke Schichten Kamille-Gel auf die schmerzenden Stellen. Sind alle Körperpartien kontrolliert und sorgfältig eingecremt, sucht er zum Schluss auch im Genitalbereich nach Spuren seines Alters. Findet er graue Härchen, schreit er laut auf und reißt sie unverzüglich und ohne auf etwaige Schmerzen zu achten mit einer bereit liegenden Briefmarkenpinzette heraus. Hat er endlich alle Normalitäten seines tatsächlichen Alters entfernt, fotografiert er mit dem neusten Smartphone mehrfach alle Partien seines polierten und entgrauten Körpers. Mit einem zufriedenen Lächeln betrachtet er die einzelnen Bilder in der Fotogalerie seines großen Displays. Gern schnalzt und zwinkert er in die bespiegelte Glasfläche, wie er es früher oft bei den Groupies aus seiner Schülerband gemacht hatte. Damit ihm kein einziges Bild verlorengeht, rennt er ins Wohnzimmer und speichert sofort alle Bilder in einem extra dafür angelegten Ordner im Rechner, damit er sie am Ende des Jahres zu einer Videoanimation zusammenschneiden und ins Internet stellen kann. In den letzten Jahren, hatte er dafür viel Zuspruch erhalten. Ist er mit der umfangreichen Speicherung fertig, wackelt der Altersscheue zufrieden mit beiden Pobacken, ruft laszive Sprüche in den Flur und reibt sein Hinterteil kreisend an den gefliesten Badwänden. Mit einen kräftigen Trommelwirbel auf seinen Hintern beendet er die ausgiebige Morgenbetrachtung.

Fühlt sich der Altersscheue um mindestens fünfzehn Jahre verjüngt, schlendert er ins große Ankleidezimmer. Er öffnet den beleuchteten Wandschrank und sucht in den nach unzähligen Farben und Schnitten unterteilten Fächern und Schüben nach der passenden Tageskleidung. Mit einem anerkennenden Blick greift er nach der in Frankreich abonnierten aktuellen Modezeitschrift, die er in der zurück liegenden Nacht bis zur Erschöpfung immer und immer wieder durchgeblättert hat. Hat er die abgebildeten Kleidungsstücke gefunden, zieht er sie in Zeitlupe an und malt sich lebhaft Chancen aus, die ihm in dieser Kleidung zuteilwerden. Ist er angezogen, zieht er sich wieder in Zeitlupe aus, um sich danach erneut anziehen zu können. Besonders gelungene Outfits fotografiert er mit dem Smartphone und klebt sie an die Zimmerwände oder sammelt sie für sein jährliches Fotoalbum. Allzu oft vergisst er bei diesem ausgiebigen Ritual die Uhrzeit und muss mit seinem verrosteten Opel Calibra mit überhöhter Geschwindigkeit auf Arbeit fahren.

Kommt der Altersscheue am Morgen ins Krankenhaus, beobachtet er die Gestik und Mimik der Mitarbeiter die ihm zufällig in den Fluren begegnen. Verspricht ihm eine Körperbewegung oder ein Gesichtsausdruck oder Tick eine Verjüngung, macht er diese umgehend im nächsten Flur nach. Aber am liebsten schleicht er noch vor Beginn des Dienstes zum kleinen Raucherbereich der Krankenpflegeschule. Er schraubt die Deckenlampe heraus und stellt sich in die unbeleuchtete Ecke. Mit großen Augen betrachtet er die neuesten Accessoires an Nase, Ohren, Händen und Füßen der verschlafenen Schülerschaft. Bewundernd lauscht er jeden coolen Spruch, jede Bemerkung und jeden noch so fragwürdigen Sprachtrend der Rauchenden ab. Hat er genug Leichtigkeit und Zukunftsglauben eingesaugt, rennt er auf die Toilette und kneift sich in die verschwitzte Nase, damit er nicht wahnsinnig zusammenbricht. Ungeduldig notiert er alle Worte in sein dickes, ausgefranstes Hosenheft. Anschließend dreht er das Heft auf die Rückseite und beginnt alle Accessoires sorgfältig und detailliert mit Malstiften einzuzeichnen. Hat er alles notiert und skizziert, drückt er zur Erleichterung die Toilettenspülung und taumelt völlig erschöpft aber zufrieden auf Station.

Der Altersscheue arbeitet ungern mit Mitarbeitern zusammen, die älter sind. Soweit es möglich ist, läuft er ihnen mit schnellen Schritten davon, lässt ihnen gekonnt den leeren Fahrstuhl oder schnürt so lange an seinen Schuhen, bis die Mitarbeiter aus seinem Blickfeld verschwunden sind. Er ist sich sicher, dass jeder von ihnen viele verpasste Chancen, die er bedauert und unter denen er leidet, mit sich herumträgt. Ältere Patienten fertigt er zur Visite in sekundendschnelle und mit einem Dauermonolog im gereizten Tonfall ab, damit sie ihn in keinem Fall in Gespräche über Leiden, Alter oder unerfüllte Wünsche verwickeln können. Denn ihren sehnsüchtigen Blick, mit dem sie von ihren verlorenen Möglichkeiten berichten, kann er nicht ertragen. Nur wegen dieser Patienten lässt er sich krankschreiben und ruft täglich auf Station an, und kommt erst nach deren sicherer Entlassung wieder auf Arbeit zurück.

Kommt der Altersscheue nach dem Dienst nach Hause und hat er eine Andeutung über eine Verabredungen bekommen, rennt er sogleich zum Friseur und lässt sich die angesagteste Frisur schneiden und färben. Danach eilt er zur Kosmetik und erstreitet sich einen Termin außer der Reihe. Zum Schluss geht er zur Pediküre. Zuhause angekommen, verstreut er wahllos Kleidungsstücke von vorrangegangen Liebschaften in der gesamten Wohnung. Ab und zu legt er selbst verfasste Dankesbriefe auf den Nachttisch, klebt Küsschenzettel an den Badspiegel oder schreibt Anerkennungssprüche auf benutzte Höschen oder Bettlaken. Er dreht die Musikanlage auf und spielt CDs oder Videos von Musikgruppen, deren Namen er überhaupt nicht kennt, von denen er aber weiß, dass sie derzeit gehört werden. Wie zu Teeniezeiten strippt er ausgelassen vor dem Spiegel seiner Anbauwand. Er spreizt die Arme und spielt nackt aktuelle Stars aus Film und Fernsehen nach. In diesen Momenten schließt er die Augen und fühlt sich jung und in vergangene Zeiten versetzt. Erinnert er sich aber plötzlich an das faltige Gesicht seines hilflosen Großvaters, versteckt er sich unter dem Tisch und wartet bis die Erinnerung wieder verschwunden ist. Danach krabbelt er unter dem Tisch hervor, legt eine der unbekannten CDs in die Musikanlage und dreht den Regler bis zum Anschlag auf. Seine Lieblings-CDs hat der Altersscheue schon vor Jahren vorsorglich im Keller versteckt oder über Nacht heimlich in die Mülltonne geworfen damit sie auf keinen Fall sein wirkliches Alter verraten können.

Das Mädchen aus der Fremde

Niemand wusste, wo sie herkam. Sie ging die Straßen des Dorfes entlang, als würde sie schon immer auf ihnen wandeln. Jede Gasse, jedes Schild, jeder Stein, jedes Haus, nichts schien ihr fremd zu sein, kein Baum und kein Mensch. Ihr Kleid flatterte im Wind und der Saum umspielte ihre Knie. Sie setzte behutsam einen Fuß vor den anderen. Sie trug keine Schuhe und lief doch nicht zu langsam. Ihre langen, weißen Arme schlenkerten neben ihrem schmalen Oberkörper hin und her. Den kleinen Lederkoffer, den sie bei sich hatte, trug sie einmal in der linken, einmal in der rechten Hand. Der große Filzhut saß scheinbar zur Zierde auf ihrem gelockten Schopfe. Alle paar Minuten rückte sie ihn zurecht und zog ihn sich noch tiefer ins Gesicht. Ihre Augen waren so grün wie der Hut.

Die Leute hatten sich viel zu erzählen. Ein jeder wusste etwas anderes zu berichten. Sie wäre fortgelaufen vor dem Krieg, sie wäre fortgelaufen vor der Armut, sie wäre fortgelaufen vor der prügelnden Mutter. Sie hätte kein Geld für neue Schuhe, sie wäre ein trotziges Mädchen, das ihre Eltern nur grämen wolle, sie hätte noch nie Schuhe getragen. Sie suche ihren Vater bei ihnen, sie suche ihr Glück, sie suche sich selbst.

Die Leute wunderten sich. Sie war höflich. Immer gerade so, um anderen gegenüber nicht ablehnend zu sein, und immer gerade so, dass niemand ihr freundschaftliche Empfindungen hätte entgegenbringen können. Und auch sonst war es, als nähme sie von allem das rechte Maß. Es war als bräuchte sie keinen Schlaf und es war als hätte sie keinen Hunger. Niemand sah sie je lachen und niemand sie weinen.

Jeden Morgen lief sie durch das Gewirr der Gassen und kam immer auf verschiedensten Wegen, punkt zwölf, wenn die Kirchenglocke schlug und die Sonne am höchsten stand, unter einem alten Eichenbaum zum Sitzen. Dieser Baum stand auf einem unbewirtschafteten Feld und hätten die Kinder sie vom alten Forststand im nebenanliegenden Wald nicht entdeckt, wüsste es niemand, dass sie hier täglich eintraf. Sie setzte sich unter die beschützende Baumkrone auf ihren kleinen Koffer, den sie stets mit sich führte und über den die Leute im Dorf munkelten, dass sie ihn auch im Schlaf immer dabei habe, weil sie ihn dann anstelle des Kopfkissens benutzen würde. Sobald sie es sich auf dem Koffer bequem gemacht hatte, sang sie. Aber sie sang nicht so, wie jeder im Dorf hätte singen können. Sie sang ganz außergewöhnlich. Niemand hatte bisher so eine Stimme vernommen und nicht nur die Kinder waren entzückt darüber, sondern auch die Bewohner des Dorfes lauschten andächtig der fremden Melodie, wenn der Wind sie zu ihnen trug. Bis zum Untergang der Sonne konnte man sie noch singen hören.

Und so kam es, dass ein jeder auf sie wartete. Ein jeder wartete Tag für Tag auf das Mädchen. Niemand hätte es vor dem Anderen zugegeben, aber jeder wartete auf das Mädchen, das immer barfuß ging, auf das Mädchen mit dem kleinen Koffer in der Hand. Ein jeder wartete punkt zwölf auf ihren Gesang unter dem alten Eichenbaum.

Und wie verstört waren die Leute im Dorf, als eines Tages ihre Stimme ausblieb. Alle stürmten aus ihren Häusern. Die Kinder rannten vorneweg, die Männer kamen mit den Gewehren hinterdrein, die Frauen schluchzten in ihre umhäkelten Taschentücher. Niemand wusste, wo sie hingegangen war.

Ein kaputter Topf und ein kaputter Deckel

Es ist fünf Uhr morgens und du horchst wie der Wecker tickt. Du weißt, du müsstest dich auf den Bauch drehen, den einen Arm unter das Kopfkissen legen und die Augen würden dir zufallen. Stattdessen stehst du auf und tappst barfuß in die Küche. Du suchst eine Mülltüte. Die Küchenlampe knipst du nicht an, der bärtige Mann aus der Wohnung gegenüber wirft dir oft Blicke über die Fenster hinweg, dass dich ein kleiner Schauer erfasst − so als bekäme man Gänsehaut. Das hochgestapelte Geschirr erkennst du schemenhaft und der Geruch, der davon ausgeht, verrät, dass du es gestern schon hättest abwaschen sollen. Dir fällt ein, dass du die Mülltüten vergessen hattest, beim Einkauf letzte Woche. Du nimmst dir stattdessen eine Einkaufstüte vom Küchenstuhl, die Moritz dort achtlos hingeworfen hatte.
Er war bestimmt gerade erst aus dem Club zurück. Die Zimmerwände sind nicht dicker als die Hartfaserrückwände eines Schranks. Und so kennt ihr euch besser, als euch manchmal lieb ist. Ihr hört die Lieblingssongs des Anderen genausooft mit, bringt einander Salbeitee, wenn die Hustenanfälle unerträglich werden und die nächtlichen Begegnungen des Anderen versucht ihr mit Oropax so intim wie möglich zu halten und grinst euch dann am Frühstückstisch an: „Na, ne tolle Nacht gehabt?“ „Hmm.“
Du drückst die Zimmertür leise zu. Der Laptop läuft noch. Du hast Sigur Ros´ gehört die ganze Nacht. Damit hatte alles begonnen. Ihr wart beide auf einer Informationsveranstaltung der Jusos. Du warst neu. Er war neu. Resi war neu. Resi mit ihren seltsamen Weltansichten, dass doch durch das Abschalten von Atomkraftwerken Arbeitsplätze verloren gängen, ließ euch beide die Augen verdrehen. Ihr habt darüber diskutiert bei Salzstangen und Bier. Du mochtest ihn sofort. Er war genau dein Typ. Lockige braune Haare, Bart und politisch interessiert. Du fragtest ihn, ob er dir vielleicht seinen Schlafsack borgen könnte. Warum, fragte er zurück. Du würdest nächste Woche nach Berlin zu einem Konzert von Sigur Ros´ fahren und müsstest dir noch einen Schlafplatz besorgen. Klar, kriegst du meinen Schlafsack, sagte er, aber nur, wenn du mich mitnimmst. Ihr wart also gemeinsam zum Konzert gefahren. Ihr habt euch Bandnamen hin- und hergeworfen und ward erstaunt gewesen, wie ähnlich doch euer Musikgeschmack war. Ihr seid spazieren gewesen am Spreeufer, habt Enten mit Pistazienschalen beworfen und seit Hand in Hand vor ihnen davon gelaufen, als sie euch mit ihren Schnäbeln in Rücken und Arme pickten. Ihr seid zum Flughafen gefahren und du hast das erste Mal ein Flugzeug von so nah gesehen. Ihr habt euch auf den buntbekreisten Sitzen der BVG aneinandergelehnt und auf einem unbefahrenen Bahnhofsgleis Kürbiskernbrötchen gegessen und mit einem großen Pappbecher Kaffee auf den Sonnenaufgang gewartet. Ihr nahmt den ersten Zug nach Leipzig. Ihr ward verknallt.
Du schaltest die Nachttischlampe an, obwohl es schon langsam hell wird draußen. Du öffnest die Tüte und wirfst die ausgebrannten Teelichter hinein, die vertrockneten Gänseblümchen, das Silberpapier von der Bio-Schokolade neben deinem Bett. Du frierst und eine Träne rinnt dir die Wange hinunter. Du musst an die erste gemeinsame Nacht denken, als er ein Porträt von dir malte. Zwei Stunden hattest du dich bemüht, still zu sitzen und hübsch auszusehen. Als Belohnung gab´s Spagetthi Bolognese. Die Teller habt ihr auf den Boden gestellt und „Dogville“ angeschaltet. Ihr seid eingeschlafen auf dem furchtbaren Sitzsack. Schlafen konnte man das auch nicht nennen, eher genießen einander nahe zu sein, egal wie unbequem es auch war. Als der Soundtrack zum hundertsten Male lief, bist du aufgestanden und hast den Laptop auf Standby geschalten. Er stand plötzlich hinter dir. Er legte seine Arme um deine Hüften und du hast dich umgedreht. Ihr habt euch geküsst.
Du hockst auf dem Bett und suchst nach einer Packung Taschentücher. Du kannst nicht aufhören zu weinen. Seine Paper liegen noch auf dem Nachttisch. Du hattest ein Kuli-Herz auf die Innenseite gemalt, als er sie neu gekauft hatte und du hattest am Abwaschbecken gestanden und dich verstohlen auf sein überraschtes Gesicht gefreut, als er sich eine Zigarette drehen wollte. Du schmeißt das Päckchen wütend in die Tüte. Und diese tausend Klebezettel, die hier im ganzen Zimmer verteilt sind, willst du ebenfalls reinschmeißen. Du reißt sie von der Wand über deinem Schreibtisch, vom Nachttisch, einen vom Radio und drei von der Tür. Dein Blick bleibt am Hocker hängen, auf dem sein blaues T-shirt liegt. Das hatte er einmal zum Trocknen bei dir gelassen, als ihr im strömenden Regen vom See nach Hause geradelt ward. Wenn du ehrlich warst, hattest du nie vor, ihm dieses Shirt zurückzugeben. Es roch nach seinem Aftershave und Sommerregen. Als er eine Woche paddeln war mit seinen Freunden, hattest du das Shirt über ein Kissen bezogen und dir vorgestellt, er würde jetzt neben dir liegen. Das hatte dich beruhigt. Sein Geruch und seine Wärme hatten dich immer beruhigt. Und wenn du Alpträume hattest und im Schlaf zu sprechen und zu weinen anfingst, dann hatte er dich geweckt und geküsst und dir die Haare aus dem Gesicht gestrichen.
Du läufst in die Küche. Die Kirchenglocke müsste gleich sechs schlagen. Du schaltest den Wasserkocher an. Ein Tee wäre gut. Hunger hast du nicht. Du kramst im Regal und die Schachtel Pfefferminztee fällt dir entgegen. Es gab Tage an denen er depressiv war und du wusstest nicht, wie du damit umgehen solltest. Du hattest dann gesagt: Komm, wir gehen spazieren und ihr lieft stundenlang schweigend Hand-in-Hand durch die ganze Stadt. Manchmal hast du ihm einen Gummi-Schlumpf gekauft und er hatte lächeln müssen. Manchmal aber hast du ihm einfach nur eine große Kanne Pfefferminztee gekocht und ans Bett gebracht. Du wirfst die Schachtel mit in die Einkaufstüte. Du mochtest ihn nie.
Du rufst E-Mails ab. Keine neuen Nachrichten. Du klappst den Laptop zu. Den aufgeklebten Zettel auf dem Laptoprücken hattest du tagelang verstört angesehen: Ich kann das nicht. Es tut mir leid. T.
Du reißt ihn ab. Du reißt ihn in viele Stücke, bis er sich nicht mehr zerreißen lässt. Nichts mehr willst du davon lesen können. Du schlägst plötzlich im Wechsel mit beiden Fäusten auf deine Oberschenkel, immer schneller und schneller. Du pustest, so kräftig wie deine Wut es zulässt. Es regnet. Es regnet Konfetti.

mein fotografisches Gedächtnis


Während man im Radio jene beziffert, die auf der anderen Seite des Planeten bei der schlimmsten Überschwemmung ertrunken sind, tropft mir der Honig vom Brötchen in die Hand. Die Serviette löst sich in einzelne Lagen, als ich mich abputze, so dass die äußeren Schichten zu Knäueln verkleben, während das Innere unberührt bleibt. Ich lecke meinen Handballen, ausgiebig schmatzend, wie sich dein Hund seine Pfoten leckte, und freue mich über dein entsetztes Gesicht. Du zischst, was denn die Leute denken sollen, und ich setze an, dir „Was sie wollen.“ zu antworten, aber als es süß schmeckt und salzig erinnere ich mich.

Daran, wie du geschmeckt hast, gestern, als sich dein Schweiß mit dem Regen vermischte, der den Tag kurz vor seinem Ende achtlos in die Gullis spülte. An die Tropfen, die in deinen Haaren hingen, und den Widerwillen unserer Haut, als sich dein Hals von meinem löste. Du hast mich berührt, daran erinnere ich mich. Aber nicht an diesen Ort.

Rückwärts im Zug haben wir durch Fotos geblättert. Du hattest mich gebeten, nach ihnen zu suchen, als feststand, wohin die Reise ging. Bestimmt wäre da meine Mutter drauf, mein Lausbubenlächeln und die 80er Jahre und vieles, was du noch nicht weißt. Ich fand sie in einer Kiste im Keller zwischen Münzen und Marken in einem Album – halbvoll. Tatsächlich zeigen sie meine Mutter, meine Igelfrisur und die DDR. Vor allem aber vieles, was ich nicht mehr weiß.

Als du das Album aufschlägst, findest du, dass es nach Kleber riecht, nach fremdem Zuhause ein bisschen und nach vergangener Zeit. Ich rieche Keller, Feuchte und Schimmel, und greife schweigend nach dem ersten Seidenpapier.

Ein Junge lehnt an einem Geländer am Hafen.
Am Steg heißt ein Schiff „Völkerfreundschaft“.
Am anderen Ufer ein Campingplatz.

Ein Junge steht im Brunnen am Marktplatz.
Ein Hering aus Stahl speit auf seine dicklichen Waden.
Die Rathausuhr sagt, es sei dreiviertel drei.

Ein Junge sitzt auf einem Koffer am Bahnhof.
Am Kiosk hinter ihm gibt es Fischbrötchen
und Bockwurst mit Senf für 0,8 Mark.

Der Junge bin ich, du siehst das sofort. Du findest, dass ich süß bin. Ich frage dich, wann. Du zeigst mir den Stempel auf der Rückseite eines Fotos und sagst Juli Neunzehnsechsundachtzig. Ich frage nach heute. Du lachst und bist schön.

Wir blättern weiter:
Meine Mutter raucht in den Abendhimmel.
Ihre roten Lippen haben den Filter gefärbt.
Die hellgrünen Lider passen perfekt zum Blouson.

Meine Schwester schaukelt gegen das Licht.
Ihr Haar hat die Farbe von reifem Getreide,
ihr Kleid lacht über himmelblau.

Ihr Mann klettert in einen Kirschbaum.
Sein Bart maskiert ihn als Freiheitskämpfer.
Seine nackten Füße haben schwarze Sohlen.

Heute ist meine Mutter nicht mehr und meine Schwester geschieden. Aber nicht von diesem Mann, der ist in den Jahren verloren gegangen. Und ich? War schonmal hier. Und weiß es nicht mehr.

Das ist in Ordnung, sagst du, völlig normal. Und nicht wahr, versprichst du, es ist alles noch da. Finden wir die Orte, finden wir auch die Geschichten. Du wettest, ich zweifle. Wir wollen suchen gehen.

Du wickelst zwei Brötchen mit gelber Konfitüre in frische Servietten und nennst sie Proviant. Ich leere meinen Malzkaffee bis auf den Satz, um dich anzugrinsen mit schlammigen Zähnen. Und in dein Lachen auf das ich zählte, frage ich trotzig, was dieser Moment wert war, wenn er dir nicht bleibt. Momente bleiben nicht, dozierst du, nur die Geschichten, die aber für immer. Und weil ich das schön finde, aber nicht glaube, ziehen wir los, mit den Fotos und deiner Kamera und dem Proviant, die Orte zu finden, an denen ich in die Sonne blinzelte, fünfundzwanzig Jahre vor heute.

Den Schlüssel zu unserem Zimmer lässt du am Tresen in ein dunkles Fach hängen, damit er nicht verloren geht, wie manches. Währenddessen stecke ich meine Hand bis zum Gelenk ins Bonbonglas, um zwischen den Drops nach den Toffees zu angeln, die du so liebst. Du bist sehr erwachsen, aber ich kann manche deiner Traurigkeiten mit Bonbons vertreiben. Das hat im Frühling funktioniert als dein Hund weg ist, und du ihm nachwolltest. Wenn auch nur ein bisschen. Und heute muss es wieder funktionieren, denn ich werde mich nicht erinnern.

Bei unserer Ankunft gestern Abend, Gleis vier, hast du gesprochen, und ich geschwiegen. Du hast vom Garten deiner Oma erzählt, der auch an Gleise grenzte, so wie die Gärten, die wir gerade passierten. Einmal war der Bach so weit über seinen Lauf getreten, dass ihr Kinder, in einer Badewanne aus Holz durch die Sträucher geschippert seid, um die Aprikosen zu ernten.

Ich mochte die Geschichte, aber ich kannte sie schon, und so suchte ich still in der Umgebung nach Dornen, an denen ich meine Erinnerung hätte ritzten können.

Als wir uns vor dem Bahnhof wie durch einen Irrgarten, durch die parkenden Autos schlängelten, habe ich gesehen, dass dort kein Kiosk mehr steht. Fischbrötchen muss man heute bei Nordsee kaufen. Auf dem Weg zur Pension habe ich das Rathaus entdeckt, hinter Gerüsten und Planen, und den gepflasterten Platz mit seinen Geranien, und dem Wochenmarkt. Aber ohne Brunnen. Und als wir vor Mitternacht unten am Hafen das Gewitter grüßten, das wir aus dem Radio kannten, haben wir gespottet, dass die Schiffe heute „Sea Princess“ heißen. Als dann der Blitz einschlug, in dich und mich, war da kein Geländer.
Das weiß ich, denn ich hätte eines gebraucht.

Mit den Füßen im Wasser liegen wir am Ufer und ich mit meinen Haaren auf deinen, auf dass auch meine Haare nach Regen riechen. Wir sind erschöpft, weil du dich verrannt hast in alten Bildern, und ich mir in neuen Schuhen Blasen gelaufen habe.

Am Bahnhof gibt es keine Bockwurst mehr und auf dem Markplatz keine Wasserspiele. Der Campingplatz ist ein Einkaufszentrum und die Rathausuhr zeigt nicht mehr die Zeit. Du bist traurig, weil nichts mehr da ist, die Orte nicht und nicht die Geschichten und auch sonst nichts, an das ich mich erinnern könnte. Und ich streichle deine Wange und seufze
und bin da.

„Wenn doch alles verschwindet -“ fängst du an, als ich endlich einen Toffee zu fassen kriege und ihn sofort in deine Hand lege, damit du ruhig bist. Ich bin auch ruhig und sage dir nicht, dass du eine Wette verloren hast, denn ich habe nichts gewonnen. Und während auch ich ein Trosttoffee kaue, überlege ich, ob es ein Wort gibt für dieses Gegenteil eines Déjà-vu.

Da nimmt mir der Wind das Papier aus den Fingern und legt es aufs Wasser und trägt es davon. Und als ich das sehe, frage ich erst mich und dann dich, was uns trauriger macht: dass die Geschichten fehlen oder die Bilder noch da sind. Und weil du schweigst, setz‘ ich mich auf, nehme die Fotos aus dem Dunkel der Tasche und zerreiße das erste in zwölf kleine Quadrate. Da setzt du dich auf, schnappst dir neun Teile und fragst mich, ob ich denn von allen guten Geistern verlassen sei. Von dir nicht, flüstere ich und gebe dir kampflos die restlichen drei.

Und als ich das letzte Stück zurück ins Puzzle lege, küsst du mich und lobst mein fotografisches Gedächtnis. Wir lachen. „Bleib so!“, rufst du, greifst zur Kamera, legst deinen Arm um mich und nimmst ein Bild auf.

Kunstlederkoffer, weinrot, Reißverschluß defekt, Namensschild fehlt

darin:
1 Strickjacke, grün, stark abgetragen,
3 Blusen, weiß, rosa, grün, teilweise fleckig
5 Röcke, blau, grün, schwarz, grau, schwarz, verschmutzt
7 Paar Strumpfhosen, mehrfach gestopft
1 Strumpfhose, original verpackt
2 Paar Wollstrümpfe, getragen
1 Tagebuch, altrosa, samtbezogen, stark abgegriffen
2 Paar Ballettschuhe, weiß, purpurrot, unbenutzt
4 Paar Ballettschuhe, weiß, weiß, rosa, blau, löchrig
1 rechter Hausschuh, Kamelhaar, Sohle ausgetreten
1 rechter Straßenschuh, grünes Leder, Absatz fehlt
1 rechter Straßenschuh, ockerfarbenes Leder, mit Einlage, gut erhalten
1 goldfarbener Ehering mit Gravur „A M 12.1.44“ , stumpf
1 silberne Kette mit goldfarbenem Ehering mit Gravur „F M 12.1.44“, verbogen
1 goldfarbener Anhänger, grüner Stein, keine Abnutzungsspuren
53 Postkarten der Stadt Prag in Seidenpapier gehüllt, allesamt unbeschrieben
1 Reichskunstmedaille der Stadt Dresden, Verpackung fehlt, sehr gut erhalten
1 Medaille Held der Arbeit, Kunststoffetui, sehr gut erhalten
1 Ehrenmedaille der Stadt Leningrad, Holzkästchen mit Intarsien, sehr gut erhalten
1 Buch: Das Kapital, mit Textunterstreichungen, Randnotizen, Beschlagnahmevermerk, stark abgenutzt
1 Buch: Theorie des Ausdruckstanzes, Beschlagnahmevermerk, stark abgenutzt
12 Eintrittskarten, 32 Ballettkarten, 28 Opernkarten und 1 unbenutzte Kinokarte
1 hellbraunes Briefkuvert, DIN A5, darin:
1 Hochzeitsfotografie mit der Signatur 12.01.44
1 Kleinkindfoto, Rückseite Bleistiftvermerk „Ein lieber Gruß von der Landesheilanstalt Stadtroda“
1 ganzseitiger Zeitungsartikel, 1951, Uraufführung im Mariinskitheater, Leningrad, vergilbt
1 Aufführungsplakat, 1952 „Das Frühlingsopfer“ von Igor Strawinsky, Komische Oper, Ecken abgerissen
1 Stifte-Etui, braunes Kunstleder mit diversen Inhalt, abgenutzt
1 Damenbrille, Hornimitat, Bügel geklebt
1 Herrenbrille, goldfarben, gut erhalten
1 Brief an das Büro des Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker, handgeschrieben, 1973, gut erhalten
1 Antwortschreiben, schreibmaschinegeschrieben, 1973, zerknittert
1 Brief an das Büro des Petitionsausschusses des Deutschen Bundestages, handgeschrieben, 1991, gut erhalten
1 Antwortschreiben, maschinegeschrieben, 1991, zerrissen, mehrfach geklebt
1 Brief an das Büro der Entschädigungsstelle für die Opfer der NS Regimes, handgeschrieben 1992, gut erhalten
1 Klarsichthülle mit einem Entlassungsformular der Haftanstalt Ravensbrück, 1942, Knitterstellen
1 Klarsichtfolie mit einem Entlassungsformular der Haftanstalt Hohenschönhausen, 1953, sehr schlecht erhalten, viele Klebestellen
1 vierseitiges Urteil über die Aufhebung eines Entmündigungsverfahrens von 1943,
Siegel der sowjetischen Militärverwaltung und Unterschrift 1945, Stempel des Bezirksgerichtes Dresden mit Unterschrift, 1946, handschriftlicher Rücknahmevermerk, Bezirksgericht Berlin, 1953, gut erhalten
1 Kommentierung des Grundgesetzes der BRD, zwischen den Buchseiten DM 900.- in druckfrischen Scheinen
DM 29,73 Münzgeld in einer Nivea-Dose
1 Pass, Deutsches Reich, Visaeinträge, Polen, Sowjetunion, Iran, Türkei, Frankreich, Algerien, Beschlagnahmevermerk 1942, Ecken abgeschnitten
1 Personalausweis der DDR mit dem Aufdruck „ungültig“, 1953, gut erhalten
7 Vorläufige Personalausweise der DDR für einen „Eingezogen Personalausweis“ mit verschiedenen Aufenthaltsbeschränkungen, Schlüsselabgabevermerk, allesamt abgegriffen
1 Personalausweis der BRD, 1992, ohne Visavermerk, unbenutzt
1 Schwerbehindertenausweis des Amtes für Familie und Soziales der Stadt Dresden, 1995, mit dem Vermerk „unbefristet“, sehr gut erhalten
1 Mitgliedsausweis der KPD, Beschlagnahmevermerk 1938, Seiten fehlen, schlecht erhalten
1 Mitgliedsausweis der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes, mit Auflösungsanordnung, 1953, Stempel der Polizei Stadt Dresden, mehrfach geklebt
1 Schachtel Veronal, Inhalt vollständig, Verpackung sehr stark abgegriffen