Trau schau

Deiner Seele habe ich
keinen Abbruch getan.
Du bist meinetwegen,
wegen mir –
wegen dir –
deinetwegen –
wegen was,
(wegen dem doch nicht)
ein Gedicht geblieben.

Wegen dem Legen-zu-Mittag
liegen lassen,
verblassen.

Ein Gedicht bleiben können,
den Zeiten entgegen,
den Zeilen –
wegen Streben, wegen was,
wegen dem doch nicht…
reden, überreden,
streben zu reden:
reden lass.

Gedicht geblieben,
Gedicht bleiben
und Gesicht.
Dein Gesicht
in meinem Gesicht,
deine Gedichte
sind meine Gedichte,
meine Gedichte bleiben
wegen dir, deinetwegen.
Schweigen.
 
Wiegen, überwiegen,
liegend zu wiegend,
wiegen was…
wiegend liebend,
lieben zu lieben,
liebend, flehend,
stockend, stehend:
lieben lass.
 
Bloß der Regen fällt dein Haar.
 
Doch deiner Seele
hat das keinen Abbruch getan.
 
Und dann:
reise auf deine
stille Art und Weise
fort.
Liebend, flehend,
stockend, stehend:
lieben lass.
 
Was ist das:
pfeifend, reifend,
knochig betend:
Liebe lass.

Der Vergangenheitstreue

Dem Vergangenheitstreuen fällt es schwer, das Ticken von Uhren auszuhalten. Egal, wo er das gleichmäßige Geräusch vernimmt, ob auf Bahnhöfen, in Wohnzimmern oder Küchen, wird er unruhig und beginnt sich unwohl zu fühlen. Sieht er Mitarbeiter mit einer mechanischen Uhr am Handgelenk, geht er ihnen sofort aus dem Weg. Und muss er doch mit ihnen ein dringendes Fachgespräch führen, schätzt er die Lautstärke des Geräuschs der Uhrenmarke und stellt sich in sicherer Entfernung auf. In aller Kürze bespricht er mit ihnen das Notwendigste. Außerdem ist es dem Vergangenheitstreuen unangenehm Menschen zu beobachten, die immerzu in ihre dicken Kalender schauen, um nach etwaigen Terminen zu suchen, denn das Festlegen von Zeit ist ihm zuwider.

Kommt der Vergangenheitstreue auf Station, bitten ihn die Schwestern zum allmorgendlichen Kaffee um auch mit ihm private Erlebnisse ausführlich austauschen zu können. Da ihm dieses Angebot stets peinlich ist, lehnt er kopfschüttelnd und mit leiser Stimme ab. Noch nie soll es jemanden im Krankenhaus gelungen sein, dem Vergangenheitstreuen ein persönliches Gespräch zu entlocken, egal auf welcher Station er sich befand.

Vielmehr beginnt er nach der unangenehmen Frage unverzüglich mit der Arbeit, denn nur so ist er sich gewiss, dass er das Verstreichen von Zeit überhaupt nicht bemerkt. Dabei führt er routiniert jeden einzelnen Handgriff, den er während seiner Ausbildung erlernt hat, in Zeitlupengeschwindigkeit mit ein und derselben Genauigkeit Tag für Tag aus. Selbst Feiertage oder gar sein Geburtstag sind für ihn kein Grund irgendeinen seiner Handgriffe zu ändern. Neueste Arbeitsmethoden weiß er gekonnt zu umgehen. Und nur, wenn die Stationsschwester ihm mit Abmahnung oder gar Kündigung droht, benutzt er widerwillig und mit raschen Handbewegungen den modernen Infussiomanten, cremt die neue, unbekannte Wundsalbe auf die vereiterte Haut, verwendet die hochmoderne Antidekubitusmatratze und krakelt die Pflegedokumentation in die standardisierten Tabellen der Kurven. Hat hingegen die Stationsschwester über das Wochenende frei oder befindet sie sich auf einen ihrer unzähligen Auslandsreisen, nutzt er die Tage, um vergnügt seine alte Arbeitsweise anzuwenden.

Würde man den Pförtner des Krankenhauses an einem dieser Tage fragen, wie sich der Vergangenheitstreue in diesem Moment fühlt, würde er sein schönstes Lächeln aufsetzen und sagen, dass es diesem stillen, undurchschaubaren Jungen mit dem stets flüchtig-suchenden Blick, heute blendend gehe und er ihm viele solcher schönen Tage wünsche.

Hat die Mittagspause begonnen, geht der Vergangenheitstreue nicht wie andere Schwestern schwatzend in die Kantine, sondern schleicht in die abgedunkelten Patientenzimmer und bringt die welkenden Blumensträuße an sich. Seine Großmutter mochte nur frisch gepflückte. Unbemerkt wirft er die fast frischen Blumen in den Müll, geht in den kleinen Laden vor dem Krankenhaus, der ihn schon seit Jahren großzügig Rabatte gewährt und lässt vergleichbare Sträuße binden. Und nur wenn es die Blumensorte nicht gibt, kauft er einen bunten Strauß seiner Wahl und behauptet gegenüber den verschlafenen Patientinnen, dass ein sehr netter, unbekannter Besucher diesen Strauß abgegeben und den alten mitgenommen habe. Ist er mit dem Blumentausch fertig, fährt er zu seiner täglichen Runde ins Archiv der Anmeldung. Er nimmt den Nachschlüssel, den er sich durch ein vorgetäuschtes privates Gespräch mit der aufdringlichen Mitarbeiterin erschlichen hat und prüft akribisch die Aufnahmelisten der Patientinnen. Ist er damit fertig, geht er in den Garten und beobachtet das Goldfischpaar im Becken. Er holt die bunte Brotdose aus seinem Beutel und isst das dick bestrichene Butterbrot und den Riegel Vollmilchschokolade.

Kommt er nach dem Dienst nach Hause, legt er sich im Kinderzimmer auf sein Bett und betet ausführlich bis er für kurze Zeit einschlafen kann. Wacht er von einen seiner unschönen Träume auf, taumelt er erschöpft ins Schlafzimmer, um nach dem Bett seiner Großmutter zu sehen. Findet er ihr Bett unbenutzt, geht er in die Küche und greift aus dem defekten Kühlschrank die lauwarme Himbeerlimonade. Geräuschvoll trinkt er sie in einem Zuge aus. Mit verschlossenen Augen wartet er minutenlang auf ermahnende Worte. Bleiben auch an diesem Tage die geliebten Ermahnungen aus, setzt er sich an den weiß gestrichenen Holztisch, den der unbekannte Großvater seiner Großmutter zur Verlobung geschenkt haben soll und streichelt über das karierte Wachstuch. Aufmerksam nickt er dem weißen Stuhl mehrfach zu. Mit einem freudigen Lächeln springt er auf, stellt den Porzellanfilter auf die Kanne, steckt das Nylonsieb darauf und gibt vier gehäufte Löffel Kaffee hinein. Vom Emaillewaschbecken holt er Wasser und erhitzt es im verkrusteten Tauchsieder. In kleinen Schlucken brüht er kräftigen Kaffee. Wortlos stellt er die flache Teetasse mit dem blassen, goldverzierten Schnörkelmuster vor den Stuhl exakt auf den dunkelbraunen Kreis des Tischtuches. Er stellt die Keksdose, die Milch und die Zuckerschale neben den Kaffee. Von der Flurgarderobe holt er eilig die dicke Sonntagsausgabe der Tageszeitung, die er seit elf Jahren zusammengelegt im oberen Schubfach liegen hat. Er setzt sich neben den weißen Stuhl und liest langsam und deutlich alle Artikel der Zeitung laut vor, die er sich über die letzten elf Jahre eingeprägt hat.

Geht die Sonne unter, wäscht er im Halbdunkel das wenige Geschirr des Tages ab und erzählt vom Stationsalltag. Gründlich putzt er die Küche und die restlichen Räume der Wohnung. Ist er davon müde, geht er ins Kinderzimmer, legt sich auf das schmale Bett und schiebt die großen Kopfhörer auf die Ohren. Er schaltet die Hobby-Funkanlage ein und lauscht den Polizeifunk ab. Dabei versucht er nicht einzuschlafen. Bemerkt er, dass er müde wird, schlägt er zur Strafe mit der flachen Hand auf die Wangen. Und nur wenn die Wangenschläge seine Müdigkeit nicht beenden, piekt er mit der Kanüle in die Fingerkuppen.

Am Morgen zieht der Vergangenheitstreue die Kopfhörer von den Ohren. Übermüdet geht er in die Küche ans Waschbecken, rasiert sich gründlich ein Milchgesicht und wäscht widerwillig den Oberkörper ab. Er geht ins Schlafzimmer der Großmutter, greift wahllos im Wäscheschrank seine abgetragenen, unmodernen Sachen heraus und zieht sie schweigend an.

Auf der Fahrt in die Klinik beobachtet der Vergangenheitstreue aufmerksam alle Passantinnen, die ihr ähnlich sehen. Ab und zu fallen ihm für Sekunden die müden Augenlider zu und er träumt, dass er nach Feierabend einen frisch gepflückten Strauß Blumen auf dem Küchentisch vorfindet, den würzigen Duft von leckeren Kohlrouladen auf dem Absatz des Treppenhauses einatmet, mit ihr eine Riesenschüssel grüne Klöße formt und anschließend Puddingreste aus der alten Kristallschüssel lecken darf, während sie mit nicht ernst gemeinten Worten schimpft. Hat er den Kohlrouladenduft in der Nase, reißt er abrupt die Augen auf und gibt sich eine Ohrfeige. Hastig springt er vom Sitz auf, schaut unruhig aus dem Fenster und beobachtet wieder die Gehwege, Straßen und Kreuzungen. Und nur noch selten greift der Vergangenheitstreue nach der Notbremse.

Die Lebensrechnerin

Die Lebensrechnerin zählt aufmerksam die Jahre und es entgeht ihr kein einziger Tag dabei. Unermüdlich berechnet sie im Archiv des Krankenhauses das Leben der Nachbarn, der Kollegen und der Patienten und trägt jede noch so kleine Information in ihre persönliche Sterbeliste ein. Selbst Daten, die sie über deren Angehörige im Vorbeigehen aufschnappt, verarbeitet sie am Abend begierig.

Liest sie in der Zeitung vom Ableben eines geschätzten Mitarbeiters oder hört sie in den Krankenhausfluren vom plötzlichen Tod eines Patienten, zuckt sie erschrocken zusammen und irrt durch die neonbeleuchteten Gänge, bis sie glaubt, endlich einen Informanten gefunden zu haben. Sofort beginnt sie, ihn in ein Gespräch zu verwickeln. Dabei vermeidet sie es stets tagespolitische oder gar soziale Ereignisse zu kommentieren. Auch hütet sie sich, mit Mitarbeitern des Personalrates zu sprechen, um nicht in interne Arbeitsrechtsstreitereien oder eine mögliche Kandidatur gebracht zu werden. Stellt sich der Informant ihrer Meinung nach stur, verstrickt sie ihn in konstruierte Fallbesprechungen, neue Therapieverfahren oder unklare Krankheitsbilder. Und nur wenn er nach diesen Versuchen immer noch keine Information hervorbringt, fragt sie nach der Uhrzeit und läuft entsetzt mit wehendem Kittel davon.

Hat sie endlich einen Informanten gefunden, der ihr Details über den Tod des Kollegen oder Patienten geben kann, hört sie ihm mit zusammengekniffenen Augen zu, presst beide Hände an ihre Schläfen, und versucht sich das Portrait des Verstorbenen vorzustellen. Krampfhaft überlegt sie, ob er beim letzten Zusammentreffen bereits an einer Erkrankung litt oder sonstige Anzeichen eines frühen Todes mit sich trug. Ist sie mit den Überlegungen zur Ursache fertig, atmet sie erleichtert aus und öffnet wieder die Augen. Oft fragt sie mit leiser Stimme den Informanten, ob die Todesart häufig vorkomme und was der Verstorbene zur Verhinderung hätte tun können. Beschwichtigt der Informant, dass die Erkrankung selten sei, atmet sie für alle gut hörbar aus und schlendert hüftschwingend, die dicken Krankenakten auf den Kopf tragend durch die Flure. Und es bereitet ihr eine große Freude schon auf dem Stationsgang gedanklich die Anzeige akkurat an der schwarzen Umrandung herauszuschneiden. Nicht selten ertappt sie sich wie ihre Hand die Schneidbewegungen langsam imitiert. Und oft wird sie deswegen von ihren Informanten argwöhnisch beäugt oder daraufhin angesprochen. Gibt hingegen der Informant zu verstehen, dass die Krankheit häufig vorkäme, oder das sie so gut wie nie behandlungsfähig sei, sucht sie fluchtartig die nächste Toilette auf und lässt minutenlang kaltes Wasser über ihre Haare und ihr blasses Gesicht laufen. Und nicht selten passiert es, dass sie von ungläubigen Herren beim Händewaschen angesehen wird oder dass sie ihre Krankenakten auf der Fensterbank zurücklässt.

Kommt die Lebensrechnerin nach einer solchen Nachricht nach Hause, schafft sie es kaum ihre Schuhe auszuziehen. Sie erstellt ohne etwas gegessen oder den Hut abgenommen zu haben in ihrer Straßenkleidung eine ausführliche Kartei mit den Lebensdaten des Verstorbenen. Sie sucht die jeweiligen Tabellen hervor und trägt alle Informationen mit verschiedenen Farben sorgfältig ein. In Fachbüchern vergleicht sie die Diagnose, Therapien und Lebenszahlen, addiert sie mit zitternder Hand und dividiert sie durch die Anzahl der einzelnen Lebenserwartungen. Den Gesamtwert trägt sie hastig und bis auf die zehnte Zahl hinter dem Komma in die Tabelle ein. Häufig wird ihr dabei schwindlig, dass sie erschöpft zu Boden sinkt. Und nur, wenn es ihr gelingt, ihre Lebenserwartung höher als die des Verstorbenen hervorzurechnen, kann sie auf den sonst üblichen Telefonruf des Notarztes verzichten.

Die Lebensrechnerin mag weder Haustiere noch Grünpflanzen. Sie wohnt in einer Wohnung mit stets polierten Parkett und geputzten Fliesen. Freunde empfängt sie selten, da ihr die aufwendige Reinigung nach jedem Besuch zu beschwerlich erscheint. Die Lebensrechnerin isst am liebsten Essen aus der Assiette oder aus dem Einweckglas und verbringt die meiste Zeit mit dem Studium von medizinischer Fachliteratur. In ihren freien Tagen absolviert sie ihre unzähligen Arzttermine. Und Urlaubsorte, die außerhalb Deutschlands liegen, kommen für sie überhaupt nicht infrage. Selbst Feierlichkeiten, zu denen sie manchmal eingeladen wird, verlässt sie prinzipiell noch vor dem Festessen mit der immer gleichen Bemerkung, es gehe ihr heute gar nicht gut.

Bevor die Lebensrechnerin am Abend ins Bett geht, durchdenkt sie nochmals ihre vielen Tabellen. Dabei geht sie gründlich vor, denn sie weiß, all zu oft ist sie wegen einer fehlenden Berechnung in der darauf folgenden Nacht erwacht, hat ihren verschwitzten Körper unruhig auf der klimatisierten Matratze hin und her gewälzt und ist, wenn nötig, aus dem Bett gesprungen und hat hastig die verschobene Berechnung nachgeholt. Und nicht selten ist sie bei dem Zusammentragen der fehlenden Lebenszahlen am Schreibtisch eingeschlafen und am anderen Morgen viel zu spät auf Arbeit erschienen.

Die Lebensrechnerin kennt keine Tagträume. Nachts träumt sie schlecht. In den vielen Albtraumphasen, die sie durchlebt, schreit sie lauthals die Namen aller Krankenschwestern, die dringend eine Kinderfrau für ihre unbeaufsichtigten Sprösslinge suchen, in die Dunkelheit. Selbst bei geschlossenen Fenster sind die langen Namensreihen, die sie bei ihren Stationsbesuchen von den Dienstplänen heimlich fotografiert, noch im benachbarten Viertel zu hören. Und es kommt vor, dass besorgte Bewohner bei ihr klingeln oder die Feuerwehr rufen.

Die Lebensrechnerin geht gern in ihren freien Tagen auf Friedhöfe. Oft nimmt sie die Kinder der Krankenschwestern mit um ihnen die Vergänglichkeit ihres jungen Lebens vor Augen zu führen. Sie spaziert mit ihnen zwischen den Grabreihen hin und her und fordert sie auf, je nach Größe oder Farbe des Steines, die entsprechenden Lebensdaten zu notieren. Anschließend addieren oder dividieren sie die Ergebnisse in ihren Schulheften. Fragen die Kinder, woran die Menschen unter den dunklen Steinen verstorben sind, entsinnt sich die Lebensrechnerin ihrer erfolgreichen Aufführungen im Schultheater und spielt den Kindern ausführlich das Ableben der Verstorbenen vor. Dabei röchelt und jammert sie so laut, dass auch sie selbst in Todesangst gerät. Manchmal beschweren sich vorbeigehende Besucher empört bei ihr oder dem ungläubigen Friedhofspersonal. Und oft wird von den Eltern der Kinder nach solchen langen Spaziergängen erzählt, dass ihre quirligen Sprösslinge in den darauf folgenden Tagen besonders schweigsam gewesen wären.

Die Lebensrechnerin hat viele Fehltage. Oft meldet sie sich früh, kurz vor Dienstbeginn, krank. Auch beklagen sich Ärzte und Verwaltungsmitarbeiter immer wieder, dass einzelne Krankenblätter oder gar ganze Akten für Tage, manchmal sogar Wochen unauffindbar seien.