Das Gerücht


Ich bin dein Gerücht.

Deine Nervenbahnen sind von mir zersetzt. Ich befinde mich in jedem Winkel deines Gebeins und kenne kein Erbarmen. Dies entspricht nicht meinem Tun. Vielmehr bin ich gerecht, denn ich strafe jede Reputation ohne Ansehen der Person: ich bestrafe alt wie jung, krank wie gesund und schön wie hässlich. Meinem Urteil kannst du nicht entkommen, egal an welchem Ort du dich versteckst. Weder heute noch morgen. Das hat in den letzten Jahrtausenden noch keiner geschafft. Dies entspricht mir nicht. Bis jetzt hat jeder vor mir kapituliert, zwang es die Menschen und selbst Staaten vor mir in die Knie. (Mir entkommt niemand!) Denn mein Gesetz ist höchstes Gesetz. Das war es seitjeher und wird auch in (ferner) Zukunft so bleiben. Denn ich gestalte nur das, was du zu mir gesprochen. Du befiehlst mir das Wort und ich gehorche.

Dieb befiehlst du und ich erschaffe dir einen Dieb.

Lass diesen Hand anlegen an: den Tisch, den Stuhl, die Feder, das Blatt, den Namen. An der Wand ein Bett. Betrachte das weiße Laken, die Bügelfalten, die geradlinig ihre Linien ziehen. Breite eine Daunendecke darüber aus. Neben dem Bett ein Nachttisch. Darauf zwei Gläser.  Entscheide dich stets für Rotwein.  Nimm mindestens zwanzigjährigen Château Mouton Rothschild. Schwenke den Wein. Rieche an dem Wein. Befülle die Gläser zur Hälfte. Wirf eines von beiden um.  Die Phantasie des Betrachters beflügelst du, indem du ein paar Tropfen über die Bettdecke träufelst. Dort, wo das Laken blitzt, gib die übrigen Tropfen dazu.  Schieb die Bettdecke zurück. Die Bügelfalten brichst du, indem du dich ausgiebig befriedigst. Jetzt überlasse ich dir den Raum. Befülle den Raum wahlweise mit Parfüm, Musik oder Körpern. Hast du dir gründlich Gedanken gemacht. Sei dir bewusst: verschiede Hauttypen verlangen unterschiedliche Haartypen. Deine Finger winden sich in Leidenschaft um Locken, um dunkles, langes und kurzes, helles und gewelltes Haar. Graue Haare lege über schwarzes. Im Bett allein liegt kein Haar. Hast du einmal eine Strähne gefasst, lass deine Hand unter das Bett gleiten und befreie dich davon.

Gib mir Substanz und hinterlege deine Zeichen: auf dem Fensterbrett ein Taschentuch, an der Wand Lippenstift, auf dem Stuhl Schweiß. Mächtig werde ich werden, wenn der Name zu tragen hat. Befülle meine Gestalt mit Küssen, Bisswunden, Flecken, Kratzern. Gibt es Kleidung im Raum? Lass darin Stadtpläne wandern, nimm sie nicht weg, auch die fernen Münzen lass fallen. Man bezahlt so schnell für eine Nacht. Darum lass die Nächte wachsen über den Münzen: mit Tränen, Schweiß und Dreck.

Damit steigerst du die Lust des Betrachters ins Unermessliche.

Kraft verleihst du mir in allen Dingen. Justine von de Sade in drei Sprachen, Eselsohren und Fettflecken in der französischen Ausgabe. Weise mir eine Zeit zu, indem du die Mittel deiner fortschrittlichen Zeit wählst und hinterlässt. Jedes Mittel ist mir recht. Ich esse alles. Ich trinke alles. Mein Gewand schwingt in der Bewegung, im Tanz. In allen Elementen bin ich daheim. Willst du mich wandeln? Ich bin flüssig, fest und gasförmig. Ich wechsele die Aggregate und beherrsche die Sprachen des Geschreis, Gestöhns, der Rede. Worte fülle ich mit Gift und Arznei. Allmacht ist die Allmacht des Namens, den ich zerstöre.

Am wohlsten fühle ich mich in der Liebe. Dort werde ich schnell fündig. Staatsmänner schwinden, denn mit einem Fingerzeig sind sie entleert, entehrt und auf ewig verdammt.

In meinem Namen schwören die Menschen. Gericht ist gerecht. Schmeichele mir. Regale und Archive sammeln meine Würde.  Siegel auf den Akten sind geprägte Wirklichkeit.

Präge nun den Raum!

von Michael Elias Graul und Eileen Mätzold

Veröffentlicht von

Eileen Mätzold

Seit Eileen Mätzold von ihrer Schwippschwägerschaft mit Rainer Maria Rilke, Heiner Müller und Ingeborg Bachmann erfuhr, hat sie eine große Verantwortung zu tragen. Die Jahre zogen rauschend ins Land. Doch unverändert ist seit dem: sie schreibt des Tags und des Nachts, schreibt und schreibt...

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