Babett


Lieben. Begehren. Anfassen. Atmen. An Lust saugen, tauchen und verschwinden.

Fliegen wollen, töten mit Verrat und getötet haben (mittels Gefühls).

Er telefonierte wie wild, um sein Geld zu verdienen. Verdiente er es? Er wusste es nicht, zum Schluss stumpfte er ab, als lebe er ewig, habe schon ewig gelebt. Vielleicht hatte er sie alle erlebt, jede einzelne, verführt in einem Traum auf dem weißen Pferd. Verdient hatte er das Geld für die Frauen. Bezahlte: mit einem Scheck, mit einer Rechnung, einem Telefonat. Eines Morgens wach: die Frist sei vorbei. Schluss mit lustig. Ende im Gelände.

Er ertug seinen Körper in Creme, trug seine Hosen in Schweiß und zerfraß seine Fragen ohne Würde.

Babett, er hatte sie geliebt… schwarzes Haar, dicklich, oder vielleicht nicht dicklich, rund, weiblich, ja feminin und schön, für ihn war sie schön, sehr schön, doch er hatte sie auch nur ein Jahr gekannt. Ein Jahr ist lang genug, um sich daran zu erinnern. Nach einem Streit, es kann sein, vielleicht hätte er sie nicht mehr so schön gefunden, oder er hätte sie noch mehr begehrt und dann… ganz einfach, von einem Tag auf den anderen, Schluss, das war’s, du bist mir zu nah… er hatte es sich einfach gemacht. Liebe schon einmal vor, ich liebe dann nach. Oder brauche mich schon mal warm, ich bleibe dann gebraucht und brauche dich in einem Jahr umso mehr. DANN schrien sie: dann und dann und dann. Sie wusste nicht, dass der Held am Ende stets glorreich seine Beute erlegt. Ein funkelnder Star, ein Massen verzaubernder ( wie eine schöne grelle Werbetafel).

Trotz der müden Augen geliebt werden wärmt, rettet… nicht? Liebe rettet!

Er stopfte seine Erinnerungen in den Staub seiner Asche links neben den Taschentüchern. Und Gott war er schön. Immer schon. Vor allem in dem Jahr mit der Babett. Er war schön, cool, elegant, männlich. Unnahbar wie Marlboro-Pferde-Reiter.

Babett. Mit Babett war es komisch anders. Diese mollige Traumfrau in spe, mit der konnte man wirklich mehr haben. So sagt man ja, in der Liebe will man alles vom andern. Und viel war sie. Sie liebte ihn, dachte aus ihm heraus und fragte für ihn nach ihm alles. Wer warst du, warum warst du wie du warst? Aber merk dir das.

Einmal Sex und die Liebe ist vorbei.

hier welkt nichts

es gibt kein entrinnen.

nicht heute. nicht morgen.

auch übermorgen, stößt es mich

blindlings die straße hinunter.

vergangen sind stunden,

vergangen sind tage,

monate, sogar zwei jahre.

linkes bein, rechtes bein, kann so schwer nicht sein.

und doch ist der weg voller steine, untiefen.

es blöken die schafe und trübt sich der blick,

rosten die mohnblumen mitten im feldesschutt.

kornblumen, die garben, es nicken die disteln.

butter bei die blumen. es wiegen die quecken sich hier und da.

die mauer bröckelt.

die kannen sind leer.

doch mein herz ist noch voller

tränen. heute. morgen.

über-

Schuhe

Anderweitig vertan sind die Schuhe.
Selbst Strümpfe frieren, denn es bleibt Winter.
So frieren die Schuhe mit den Menschen
– ein. Man möchte im Leben
wirklich kein Schuh sein.

Erstens wäre man geteilt (denn was
ist einer ohne den anderen),
dann das Stolzieren und dann
das Wandern.
Das nützt doch keinem!

Niemandes Schuh möchte man sein.
Ginge kaputt und dann gen Müll,
in Tüll aber schlafen die Frauen nackt
– darunter…
Doch einen Schuh wirtschaftet
man herunter.

Undankbar und ohne Schuhfett
nässt man, schwitzt man, stinkt.
Überhitzt man überhitzig,
unvollzählig und traurig.

Trauern muss der Schuh:
denn ohne ein Schuh Ich
ist kein Schuh Du.

21.08.2019

´s wurzelt dich

die stricknadeln tanzen in ihren händen
als wurzelten sie der wolle an,
großvater steht wieder vor dem haus und fegt
die blätter vom fenstersims, die nächsten nachbarn
die apfelbäume am feldrand, schon fast kahl,
an den ersten kalten abenden im oktober,
schlägst du dir den schweiß in den hackstock und
kehrst das holz tief in die nase
bis der schornstein raucht, flattern die gebleichten
gardinen auf der wäscheleine, während ihr beide still
körner ausstreut für die vögel, die durchzufüttern sind,
wie einst eure kinder.

verweilen

so geschieht es dir an einem septembermorgen im fenster
splitternackt, drüben die kronen der fichten,
die tauben auf dem dach, irgendwo hinter gardinen,
siehst du dich hüpfen auf asphalt, himmel und holla,
die knie blutig, ins gesicht steht dir der apache geschrieben.
kein strauch, den du nicht kennst, alle blätter getrocknet, alle stämme erklommen,
alle früchte gelesen, latzhosen mit großen flicken.
nachbars tiere umhalsend, auch die mütterchen im dorf,
denen du manchmal die beutel trugst für ein stück schokolade oder heißen kakao.
heuschrecken fangen, schnecken verekeln mit kalk auf dem kopf,
blümchen pflücken für mutti oder nur so
als dekor für den sandkuchen, nebst grasnudeln und schlammkloß.
noch ist sommer und das gewimmel der asseln unterm gestapelten holz,
du weißst, du kennst es.

klopfzeichen

da hockst du im gras, dem meterhohen
und schaust verstohlen hervor.
den mund ganz voll mit heidelbeeren,
die zähne blau, und auch der rock.
einen strauß frisch gepflücktes, in der hand,
margeriten vom feld,
für die mutter, da hockst du im gras, dem meterhohen
und wartest auf
klopfzeichen.
den mund ganz voll mit heidelbeeren,
gehst du zum grab, erzählst ihr von tintenklecksen
in deinem buch, tomaten, die reifen
und vom blau auf deinen zähnen, deinem rock und
dem himmel.
einen strauß frisch gepflücktes, legst du auf die noch
feuchte erde. margeriten. die magst du doch,
sagst du und wartest auf
klopfzeichen.

barrikaden

was kommt,
wenn wir nicht mehr demonstrieren fünfzehntausend zu fünf-.
grob geschätzt, der frieden
eine schmale meterware in der lose vernähten menschenmenge.
es gibt dichte minuten, schwer wie schlagstock, leer wie kopf-
los, flüssig wie tränen & gas.
die anderen ziehen den hut und ihre fahne an solch´ schwarzen tagen,
sie wohnen hier – ihnen gehört die luft, die erde,
die welt. nur wachs-
figuren in panzerumhängen, die trennen und der nachbar
schreit PEACE, ehe er rennt auf eigenen wegen.

Niemandsland

Zehn vor Zwei. Er faltet die Zeitung zusammen. Gleich wird sie von der Schule kommen. Sie wird einen roten Kopf haben und ganz außer Atem den Lockenschopf durch die Tür stecken. Er schiebt die Gardine ein wenig zur Seite und blickt auf die Straße.

Behutsam betritt sie die Diele und klopft an die Küchentür. Großvater, ich bin wieder da, ruft sie. Großvater sitzt auf dem Canapé. Sorgsam nimmt er sich die Brille von der Nase, steckt sie in das abgenutzte Lederetui und legt die Zeitung ganz oben auf den Stapel voller Reiseberichte und -kataloge. Sie schmunzelt. Längst hat sie bemerkt, dass er Tag für Tag, hinter der Gardine versteckt, auf die Straße blickt und auf ihr Nachhausekommen wartet. Und spätestens wenn sie über den Hof läuft, setzt er sich wieder auf sein Canapé, die Brille auf die Nase und tut so, als wäre er gerade ganz zufällig fertig mit Zeitunglesen. Sie setzt ihren Ranzen ab und wäscht sich die Hände mit Kernseife.

Er fragt sie, wie es in der Schule war. Sie erzählt vom Musikunterricht und dass es über das Wochenende keine Hausaufgaben aufgäbe. Sie fragt, ob sie noch ein wenig raus dürfe. Er streichelt ihr über den Kopf und nickt. Aber zum Tee bist du wieder da!

Die Bagger sind auf den Ladeflächen der LKW´s verstaut. Die Baustellenfahrzeuge räumen das Gelände. Sie klettert durch die undichte Stelle des Stacheldrahtes und blickt der immer kleiner werdenden Staubwolke nach. Heute ist Freitag. Drei Tage hat sie nun Ruhe vor dem Lärm und der Angst entdeckt zu werden. Vorgestern erst hatte sie nach einer Stunde Fußmarsch ein Schild am Ende des Geländes gesehen − Betreten verboten. Eltern haften für ihre Kinder. Sie war erschrocken, hatte aber gleich versucht, sich wieder zu beruhigen. Ihr Eingang war ein anderer und das Verbot damit für sie nicht gültig. Die Angst blieb. Schneller als an den anderen Tagen hatte sie sich auf den Heimweg gemacht. Bei jedem Geräusch war sie zusammengezuckt. Ihr Herz hatte gepocht − laut. Sie hatte gedacht, man könnte es hören − sie entdecken. Als sie durch das Loch im Zaun gekrabbelt war und sich damit außerhalb der Gefahrenstelle befunden hatte, schwor sie sich, niemals zurückzukehren. Zwei Tage nur hatte sie es ausgehalten. Heute steht sie erneut hier, umhüllt von einer dichten Staubwolke, mitten auf dem Gelände einer stillgelegten Kaserne.

Sie erzählt ihm nichts von ihren Entdeckungsgängen durch die Kaserne. Aber er kann sich denken, dass sie sich dort herumtreibt. Immer wieder will sie die alten Geschichten hören, vom Dorf und seinen Bewohnern und von der Kaserne. Er hatte ihr erzählt, dass es ein Kartoffel- und Rübenfeld gewesen war. Seine Eltern hatten ein Stückchen bestellt. Sie hatten gesät, gejätet, geerntet. 1933 waren sie das letzte Mal mit der Egge hindurch gefahren. Eine Autobahn sollte gebaut werden. Es war abgesteckt, betoniert und der Stacheldraht aufgezogen worden. Erst als die Ziegelsteine bis zum Dach gereicht und die Mauer vor dem Schlafzimmerfenster die Sicht versperrt hatte, war ihnen bewusst geworden, dass ein Autobahnbau solche Maßnahmen nicht erfordert hätte. Als die Wachposten ihre Straße zur Sackgasse deklariert hatten, verstand sie, was die Kommandorufe, die der Wind zu ihnen trug, bedeuteten. Sie waren nun das letzte Haus im Dorf, hinter ihnen − Niemandsland.

Sie klettert auf den frisch aufgeworfenen Erdhügel. Von hier hat sie einen guten Überblick. Die Schweineställe sind zur Hälfte und die Mauer vor ihrem Haus fast vollständig abgerissen. Wenn Großvater am Schlafzimmerfenster stehen würde, könnte sie ihm jetzt winken, denkt sie. Er hatte ihr erzählt, dass sie Glück gehabt hätten. Die Flieger hätten ihr Ziel knapp verfehlt und stattdessen die Teppichfabrik zerstört. Doch mit dem Einzug der Russen, wären harte Zeiten auf sie zugekommen. Sie waren aus dem Haus geflüchtet und hatten notdürftig Unterschlupf gefunden − in der benachbarten Porzelline, der Porzellanfabrik in der das halbe Dorf eine sichere und verhältnismäßig gut bezahlte Arbeit gefunden hatte. Ein Bürozimmer hatte als Wohn- und Schlafstätte gedient. Die Russen waren abgezogen. Nach nebenan gezogen. Und vom Haus hatten nur noch die Grundmauern gestanden. Die Dielen, die Fensterrahmen und Möbel waren verfeuert, das Besteck und die Bettwäsche verhökert, die Tiere geschlachtet worden.

Er schlurft in die Wohnstube. Ihn friert es. Spätestens morgen wird er einheizen müssen. Der Winter soll hart werden, sagen sie. Er kann sich noch gut erinnern, an den Winter ´86. Es hatten Unmengen an Schnee gelegen, noch bis in den März hinein als der Kohlenkeller längst leer war. Er war auf dem Weg in den Schuppen gewesen, um nachzusehen, wie viel Holz er noch in der eisernen Reserve hatte. Das Schloss war aufgebrochen und sein Vorrat bis auf den letzten Scheit ausgeräumt worden. Ein Wunder, dass sie nicht noch den Schuppen zerlegen, hatte er damals gedacht. Er war wütend gewesen, und als ihm war, als würde ein Augenpaar durch die Sträucher blicken, hatte er so laut er konnte geschrien: Lasst uns in Ruhe, nun habt ihr uns auch noch das letzte Holz genommen, ihr Schweine!

Sie wohnen im letzten Haus im Dorf. Und es scheint, als wäre allein diese Tatsache etwas Besonderes. Wenn sie früher mit Großvater im Konsum war, war es ihr vorgekommen als hätten alle anderen Dorfbewohner Respekt vor ihnen. Sie hatte gewusst, dass sie Großvater achten, aber das alleine war es nicht. Nach dem üblichen Guten Tag. Wie geht’s heute? folgten immer Fragen wie: Was gibt’s Neues von den Russen? Haben Sie heute wieder geschossen? Gestern sind die Panzer durchs Dorf gefahren, habt ihr das gesehen? Haben Sie bei euch auch um Brot gebettelt? Und so sehr getratscht wurde in diesem Laden, so sehr sie sich bemüht hatten, diese Fragen achtlos in den Raum zu werfen, so sehr waren sie mit einer Anspannung verbunden und mit einem Zittern in der Stimme der Fragenden. Es war, als gebühre Großvater Respekt, weil sein Grundstück unmittelbar an die Kaserne grenzt. Großvater aber hatte dazu nichts gesagt, er hielt es für nichts Besonderes, an der Grenze zum Niemandsland zu wohnen. Sie hatte es schießen gehört und die Panzer die Dorfstraße hinauffahren gesehen und einen Soldaten, als er ihre Johannisbeeren vom Strauch gepflückt hatte, aber gefürchtet hatte sie sich nicht. Auch jetzt nicht auf dem leeren, unheimlichen Gelände. Großvater achtet ja auf sie.

Angst hatte er nicht vor ihnen gehabt, nur um die Kleine war er immer in Sorge gewesen. Sie war naiv. Gleichzeitig hatte ihn das beruhigt, denn Kindern würden sie nichts tun, da war er sich sicher gewesen. Er hatte zu niemandem von seiner Sorge gesprochen, wie er die Stube in der nächsten Zeit beheizen sollte. Er hatte die alten Handwagen auseinander gebaut und ein paar Stühle. Als sie Fragen gestellt hatte, hatte er gegrummelt, die hätten alle den Holzwurm und würden im Sommer sowieso auseinanderfallen. Zum Glück war zwei Wochen später der Frühling gekommen und geblieben. Im Sommer hatten sie ihm noch die gesamte Apfelernte gestohlen und die Beeren. Aber daran hatte er sich nicht so sehr gestört, er wusste selbst, wie es war, Hunger zu leiden. Wenn sie schon nichts mehr zu essen hatten, musste es schlimm um sie stehen, hatte er gedacht und war ein um das andere Mal froh gewesen, dass die Mauer ihnen diesen Anblick verwehrte. Vor zwei Monaten war es dann soweit gewesen − die Truppen zogen ab. Er setzt das Teewasser auf.

Sie läuft am Schießstand vorbei, hinab auf den breiten Pfad. Es war der Versorgungsweg gewesen, der direkt ins Dorf führte. Sie erinnert sich, wie sie die Soldaten durchs Dorf marschieren gesehen hatte. Sie hatte das Feuer gerochen. Sie hatte die Tiere gehört, die quiekten und brüllten, wie sie es aus der Vorweihnachtszeit kannte, wenn sie den Festtagsbraten abholte, beim Bauern Müller. Sie hatte Großvater gesehen, wie er eine Woche lang torkelnd durch Haus und Hof irrte. Sie hatte sich gewundert, über die eingekehrte Stille. Seit zwei Monaten steht die Kaserne nun leer.

Dass Veränderungen anstanden, hatte er täglich in den Nachrichten sehen können, aber vielmehr hatte er es gehört. Die Rufe der Soldaten, das Brüllen der Tiere, die Gewehre − die Geräusche hatten sich überschlagen und mit ihnen die Ereignisse im gesamten Land. Immer hatte er seinen eigenen Standpunkt vertreten, auch wenn er nach außen neutral erschienen war. Er hatte sich und seine Familie nie politisch verkauft, aber immer gewusst, wohin er gehörte. Er hatte gedacht, mit dem Abzug der Truppen würde, wenn auch mit Verspätung, eine Wende ins Dorf kommen und davor hatte er sich gefürchtet. Das Teewasser kocht. Er nimmt das Tee-Ei aus der Schublade.

Die Sonne geht unter und sie macht sich auf den Heimweg. Ihr Blick schweift über das Gelände. Die niedergerissenen Holzbaracken und der asphaltierte Auffahrtsweg, umgeben von Wänden aus Beton und Stacheldraht. Rechter Hand der Schießstand und die alten Schweineställe. Im Abendlicht ist alles friedlich anzusehen, denkt sie. Aber sie liebt diesen Ort, auch an Tagen, an denen er ihr Angst einflößt. Hier entdeckt sie die vergangene Welt neu. Einen Schweineknochen, Essbesteck aus Aluminium, grüne Knöpfe, Patronen aus dem Schießgewehr, einen Helm und ein Taschenmesser mit den Initialien „A.“ und „M.“ hält sie vor Großvater versteckt in einem Karton unter ihrem Bett. Je weiter die Abrissbagger vordringen, umso mehr schmückt sie ihre Geschichten aus − von den Soldaten und deren Leben auf dem Kasernengelände. Es ist, als fände die Vergangenheit zunehmend Platz in ihrer Fantasie, als lebe sie fort in ihrer Traumwelt und als würde erst dadurch Platz geschaffen, für einen Neuanfang. Sie muss sich beeilen, Großvater würde schon mit dem Tee auf sie warten!

Unter dir (Teil V)

Der Schmerz am Hinterkopf lässt nach und ich versuche zu der Stelle zu schauen, in der das Samtbeutelchen steckt. Ich sehe zur Stuhllehne und zu der pinkfarbenen Jacke, die ich vorhin ausversehen achtlos darauf abgelegt habe und in deren linker Tasche sich der rote Samtbeutel befindet. Langsam sehe ich wieder alle Umrisse des Zimmers, höre die Tür aufgehen und das Schlüsselgeklapper, sehe verschwommen das Licht vom Korridor ins Zimmer blenden und den schnellen Schatten im Türrahmen, der die Deckenbeleuchtung anschaltet. Damit mich die Schwester nicht sieht, drücke ich mich an die Wand heran und versuche auf der Seite liegend, etwaige Blutflecken auf dem Fußboden, meiner Kleidung oder meiner Haut zu entdecken. Auf keinen Fall will ich den Vorfall vom letzten Mal nochmal erleben, als die Schwestern Blut auf deinem Bettzeug entdeckten, rumschrien und dich in die Notaufnahme schieben wollten. In diesem Moment hatte ich gedacht, dass es mit uns beiden aus und vorbei ist. Denn meinen Körper an das Unterteil deines Bettes zu heften, habe ich zwar schon mehrfach geübt, jedoch nur an stehenden und niemals an einem fahrenden Bett. Vielmehr befürchte ich, dass es mich an dem Untergestell deines Bettes, das allernaselang an irgendwelchen Kanten und Wänden aneckt, derart durchschüttelt, dass ich früher oder später abgeworfen und entdeckt worden wäre. Glücklicherweise waren es Schwestern, die lieber über Männergeschichten quatschten als dich in die Notaufnahme zu karren. Die eine hatte ständig neue Männerstorys auf Lager, die sie jeder Schwester anders erzählte und die von Woche zu Woche versauter wurden. Ich bin mir sicher, dass sie die untreueste Frau war, deren Stimme ich jemals hier unten mit anhören musste. Untreue kann ich auf keinen Fall leiden. Sie hätte es wirklich verdient, von einem ihrer vielen Liebhaber erschlagen und zerstückelt zu werden. Bei so etwas, kenn ich wirklich kein Pardon.

Ich reibe mir den Hinterkopf und weiß, dass ich eine mordsmäßige Beule bekommen werde, sehe auf die Schrammen an Arm und Schulter und sage, dass das Mist ist und ich ab morgen wieder bei knapp 40° eine geschlossene Bluse tragen darf und ich schon jetzt wieder die Kollegen lästern höre, dass ich zu den verstaubten Gouvernanten übergewechselt bin. Mein ehemaliger Chef hatte mich einmal besorgt gefragt, ob ich überfallen worden sei, oder ob mein Freund mich geschlagen hätte. In diesen Fällen, hatte er gemeint, könnte ich mich vertrauensvoll an ihn wenden. Dann hat er mir die Nummer eines nahe gelegenen Frauenhauses in die Hand gedrückt und gesagt: „Sehr verehrtes Fräulein Büttner, Sie können mich jederzeit, zur Not auch in der Nacht, anrufen!“ Ich hatte mit hochrotem Kopf vor Herrn Doktor Kalbe gestanden und ihm versucht zu erklären, dass ich mich nur beim Putzen unter dem Bett gestoßen hatte. Eigentlich war er ein toller Mann und trotz seiner knapp 60 Jahre noch attraktiv. Warum er sich so brennend für mich interessierte und wie er mein Geheimnis herausgefunden hatte, weiß ich nicht und werde ich wohl auch nie herausfinden. Du kannst dir denken, dass ich das auf keinen Fall gut fand. Nun bin ich auch nicht viel besser dran und habe dafür die meckernde Chefin am Hals. Wenn ich das nur vorher gewusst hätte. Ich glaube, bei ihr kann ich total zerkratzt und blutig ins Büro torkeln, das stört die nicht im Geringsten.

Die Schwester geht an dein Bett, kniet sich auf die Stuhlsitzfläche, um die Infusion abzustellen. Sie nimmt die alte Flasche und stellt sie auf den Stuhl. Dabei fällt ihr die Flasche herunter. Mit aller Kraft presse ich mich an die Wand und sehe wie sie blind nach der Flasche schnappt und zu dir sagt, dass sie heute sehr, sehr ungeschickt ist. Sie stellt die leere Flasche auf den Stuhl und schließt die neue an und sagt, dass ihr heute die Beine wehtun und sie sich in den nächsten Tagen ein paar neue Schuhe zulegen muss, da die alten völlig ausgetreten sind. Sie nimmt die leere Flasche von der Sitzfläche, schiebt den Stuhl vor, lässt sich darauf fallen und schiebt die Füße unter das Bett. Abwechselnd wippt sie mit den Füßen und sagt, dass ihr das jetzt wirklich guttut. Mit der letzten Kraft versuche ich das Unglück zu verhindern, drücke meinen Körper an die Wand und halte die Luft an. Sie wippt mit dem rechten Fuß in mein Gesicht hinein und mit dem linken gegen meiner Hand, mit der ich mich mit aller Kraft gegen die Wand presse. Sie sagt, dass du es auf keinen Fall mit deiner Traumfrau aus gesundheitlichen Gründen übertreiben darfst und sie dich ansonsten melden muss. Sie zieht die Beine zurück und steht mit einem „Na dann will ich mal wieder die anderen Patienten stören!“ auf. Sie hebt den Stuhl an und stellt ihn an den Tisch. Mit einem ungläubigen Blick greift sie die Jacke von der Lehne, sieht sich im Zimmer um, wirbelt die Jacke durch die Luft, riecht an dem pinken Stoff und lobt das kräftige Parfüm. Ich merke wie mir unter deinem Bett der Magen beginnt zu brennen. Sie gleitet mit ihren Armen in die Jackenärmel, sagt, dass sie an ihr auch sehr aussehen würde, dreht sich um die eigene Achse und greift in die Jackentaschen und tastet hinein. Sie nimmt den Samtbeutel heraus. Ich sehe ihr zu, will sie anschreien, dass sie das nicht machen soll, kann aber nicht schreien und spüre stattdessen auf einmal das gleiche Herzrasen, das ich immer verspürte, wenn ich dich wegen einer Frauensache zu Rede stellen wollte. Sie macht das Samtbeutelchen auf und ich trete mit den Fersen gegen die Wand. Sie sieht hinein, schüttelt den Kopf und schnürt es wieder zu. Um nicht in Ohnmacht zu fallen, beiße ich in meinen Daumennagel. Lachend stellt sie sich vor den Spiegel, gibt sich einen Luftkuss und dreht sich noch einmal um die eigene Achse. Sie zieht die Jacke wieder aus, wirbelt sie durch die Luft, legt sie über die Stuhllehne und streichelt über den Stoff. Sie geht zur Tür macht das Licht aus, dreht sich zu euch drei, macht einen ihrer üblichen Luftküsse und wirft vergnügt die Zimmertür zu.

Ich stoße meine angestaute Luft heraus, lege meinen Kopf auf das Linoleum und ringe nach Atem. Zum ersten Mal, seit ich hier unten liege, verspüre ich keine Kraft mehr und fühle mich völlig leer und unfähig unter dir hervor zu krabbeln. Mit dem Gesicht auf dem Linoleum bleibe ich liegen und rieche wie ekelhaft das Reinigungsmittel ist und dass ihr drei das Zeug für den Rest eures Lebens riechen müsst. Ich versuche mich auf den Rücken zu drehen, spüre aber, dass mir die dazu notwendige Kraft fehlt. Ich bleibe liegen und versuche Arme und Beine zu strecken, um wieder ein Gefühl für meinen Körper zu bekommen. Wäre ich wie meine Freundin christlich, würde ich jetzt zu Gott beten und ihn bitten, mir die Kraft zu geben von hier weg zu laufen. Außer der Ehelosigkeit und dem Kloster würde ich ihm so ziemlich alles versprechen, aus dieser Gefangenschaft zu entkommen. Zum allerersten Mal empfinde ich dein Bett als Enge, um nicht zu sagen als Gefängnis.

Wieder versuche ich unter dem Bett hervor zu kommen, merke aber, dass mir die Kraft dazu immer noch fehlt. Deswegen umgreife ich die Räder des Bettes und ziehe mich mit den Armen hervor und stoße mich mit den Beinen an der Wand ab. Auf allen Vieren sortierte ich meine Kleidung und die Tasche unter dem Bett hervor, stützte mich auf meine Knie, mache die Taschenlampe an und kontrolliere deinen Katheterbeutel. Damit sie dich in dieser Nacht nicht doch noch einem Arzt vorstellt, robbe ich zum Waschbecken, hole in einem Becher Wasser, robbe zurück und drücke dir mit der Spritze, die die Schwester auf dem Nachtisch liegen gelassen hat, Wasser über die Abflussöffnung in den Katheterbeutel. Ich ziehe mich am Bettgestell hoch, schüttle den Krampf aus den Waden und merke wie mir schwindlig wird. Mit beiden Händen halte mich am Nachttisch fest, falle aber auf das Bett deines Nachbarn und entschuldige mich bei ihm. Ich richte von ihm auf, gehe zum Stuhl und hole das Samtbeutelchen hervor. Ich knülle die Jacke zusammen, packe sie in die vorgeholte Tasche und bin froh, dass ich mir über die Zeit angewöhnt habe, dünne, knitterfeste Jacken zu kaufen, damit sie problemlos in die Tasche passen ohne viel Platz wegzunehmen. Erschöpft setzte ich mich auf den Stuhl, hole Luft und sage, dass das heute sehr, sehr knapp war, ich den verflixten Tag habe kommen sehen, ich überhaupt nicht verstehe, dass sie mich nicht erwischt hat und ich erleichtert bin, dass sie meine Jacke nicht ins Schwesternzimmer geschleppt hat, so wie im letzten Winter, wo ich bei Minus 17 Grad in einer Bluse aus der Klinik verschwinden musste und mich die Leute auf der Straße blöd angegafft haben. Ich frage dich, was wir beide gemacht hätten, wenn sie die Jacke mitgenommen hätte und bekomme von dir wieder einmal keine Antwort. Mit einem Seufzen umgreife ich das Samtbeutelchen, küsse es und merke wie ich auf den Stoff weine. Ich strecke dir den roten Beutel entgegen und sage dir, dass sich unsere gemeinsame Erlösung darin befindet und du wie ich schon lange auf diesen Moment gewartet hast. Taumelnd stehe ich vom Stuhl auf, halte das Beutelchen in die Luft und sage dir, dass wir unbedingt jetzt anfangen müssen, damit wir rechtzeitig fertig sind, bevor die Nacht zu Ende geht. Denn nach dieser Nacht kann uns keiner mehr trennen.

klabautern

augen zu und durch
die nacht der dämonen.

wir schippern gott weiß wohin
auf dem offenen meer.
rotbart und weißbart mit plautze und pickeln
auf der riesennase drei warzen dazu,
sie gröhlen, sie bechern, sie rülpsen,
sie lachen, sie lästern, sie lieben,
mich zu drangsalieren, mit schlägen,
mit stock, mit stein, mit stiefel.
alle glühbirnen an, so bunt
toben sie mit mir durchs hirn.

wir driften gott weiß wohin,
mitten hinein in den sturm,
bis das segel reißt, das steuer bricht,
wir kreischen, wir klammern uns an wimpeln fest.
gekentert übe ich kopfstand
mitten im meer, umspült von blut, unbeschuht.
niemand hier, mich zu retten,
mein rufen verschluckt vom zerwühlenden meer.
augen zu und auf.

die nacht der dämonen,
die wiederkehren in einer selbst-verständlichkeit,
als hätten sie anspruch darauf,
hausen sich ein & genügen sich selbst.

Unter dir (Teil III)

Im ersten Teil legt sich die Freundin (wie jede Nacht) unter sein Bett und wartet, dass die Nachtschwester ihren Rundgang durch die Zimmer unternimmt. Diese Zeit nutzt sie, um über diese und andere Krankenschwester und ihre Mühen, unter das Bett zu gelangen, nachzudenken.

Im zweiten Teil „beschäftigt“ sie sich mit ihrem Freund, der im Bett liegt und „bereitet“ ihn für das „Ereignis “ vor, wobei sie (wie auch im folgenden Teil) von der Nachtschwester gestört wird.

Ich lege mein Ohr auf deinen Körper, höre dein Herz schlagen und schließe zufrieden die Augen. Ich zähle laut deine Herzschläge und wiederhole jeden einzelnen mit meinen Fingerkuppen auf deiner Wange. Im Rhythmus deines Herzens puste ich auf deine Brustwarzen, bis ich spüre, dass sie hart werden. Weil mir das Gepuste zu anstrengend wird und weil ich auch weiß, dass es dir als Linkshänder wichtig war, schiebe ich vorsichtig meine Zungenspitze heraus und betupfe zuerst deine linke und danach deine rechte Brustwarze. Als ich keine Lust mehr darauf habe, gebe ich dir einen Schmatzer auf dein glatt rasiertes Babygesicht und sage, dass ich ganz genau weiß, dass du mich wahnsinnig liebst und ich auch heute wieder deine versteckte Morse-Botschaft aus deinem Herzschlag herausgehört habe. Ich streichle zwischen deinen Brustwarzen über den ovalen Leberfleck, sehe dich an und flüstere „Schokopudding mit Vanille“.
Plötzlich höre ich Schlüsselgeklapper auf dem Flur. Ich fluche, ob das jetzt unbedingt sein muss und bin der Schwester wieder dankbar, dass sie mit ihrem Geklapper meilenweit zu hören ist und mir somit ausreichend Zeit gibt, mich schnell unter dein Bett zu verkrümeln. Nur bei dieser Schwester kann ich mich auf die Uhrzeit verlassen und auf ihr pünktliches Schlüsselgeklapper. Meiner Meinung nach ist sie die lauteste, aber auch die zuverlässigste aller Schwestern. Ich ziehe dein Hemd zurecht, lege die Bettdecke glatt, gebe dir einen Klaps auf die Wange, rolle mich unter das Bett und überlege, ob ich ihr nicht ein Glöckchen für das Schlüsselbund wichteln sollte. Meinen Rücken schiebe ich so lange auf dem gebohnerten Boden zurecht, bis ich die passende Position unter deinem Körper gefunden habe. Denn nur so habe ich ein Gefühl dafür, ob das, was die Schwestern mit dir tun, auch wirklich gut für uns beide ist. Wenn ich hier unten liegend die leise Vermutung bekomme, dass mich die pflegerische Anordnung stört, mache ich sie, wenn die Schwester gegangen ist, sofort rückgängig. Bei ihr hatte ich jedoch noch nie Bedenken und weiß, dass sie alle ärztlichen Verordnungen gewissenhaft ausführt. Vor ein paar Wochen wollte ich sie sogar loben. Aber dann hatte ich Angst, sie könnten sie zur Stationsschwester ausbilden und dann hätte ich keine pünktlich klappernde Schwester mehr gehabt. Bei den anderen Schwestern habe ich manchmal meine Schwierigkeiten, rechtzeitig unter das verflixte Bett zu kommen. Und das geht dann meist nicht ohne blaue Flecken und Schrammen. Es gibt Nächte, die knapp an der Katastrophe vorbei gehen und am nächsten Tag sehe ich zerkratzt aus und meine Kleidung ist eingerissen oder an einem meiner hohen Schuhe fehlt der Absatz.

Ich lausche. Wie üblich erklärt sie dir alle Handgriffe bis ins Detail. Übertrieben laut erläutert sie dir, welche medizinische Verordnungen sie machen muss und warum, und fragt immerzu, ob du damit einverstanden bist. Du bist doch nicht schwerhörig. Ständig habe ich das Gefühl, dass die hier alle Selbstgespräche führen. Bei einigen Schwestern habe ich sogar Mühe, nicht lachen zu müssen. Im Allgemeinen finde ich ihre Erklärungen aber wichtig. Nur manchmal, wenn die Schwestern zu persönlich werden, wenn sie, irgendetwas von Schatz, Liebling, oder schöner Mann faseln, wenn sie beim Waschen meinen, dass sie dich nicht von der Bettkante stoßen würden, dann werde ich fuchsteufelswild und muss mir vor Wut in die Hand beißen. Am liebsten würde ich in diesen Momenten hervorkriechen und alle ordentlich verdreschen. Diese Schwester hingegen hielt sich von Anfang an mit solcherlei Sprüchen zurück. Trotzdem oder vielleicht deswegen muss ich auch bei ihr höllisch aufpassen.

Sie geht zur Tür, dreht sich zu dir um, haucht dir einen ihrer Luftküsse entgegen und löscht das Licht. Langsam schiebe ich mich unter dem Bett hervor, krame im Dunkeln die Taschenlampe aus der Tasche, knipse sie an und kontrolliere, ob sie die von ihr aufgezählten Verordnungen richtig ausgeführt hat. Einige der Schwestern sind nämlich unzuverlässig, um nicht zu sagen schlampig. Auch diese Schwester arbeitet an manchen Tagen ungenau. Damit ich die Schwestern überprüfen kann, habe ich mir Fachbücher gekauft und lese, wenn meine meckernde Chefin nicht da ist, stundenlang im Internet und arbeite alle über Nacht angestauten medizinischen Problemfälle, die dich betreffen, in Foren nach und nach ab. Mit der Zeit kenne ich die Foren und kann sehr gut mitdiskutieren. Und werden neue Heilmethoden besprochen, flechte ich sie beharrlich in die Arztgespräche, die ich einmal pro Woche führe, ein. Einer der Assistenzärzte hat doch wirklich mal gedacht, ich sei Medizinstudentin. Und nur wenn ich früher überhaupt nicht weiter wusste, ging ich zu meinem Hausarzt und gab die Beschwerden an, die mich interessierten. Den Termin beim Psychologen nahm ich aber nur einmal war. Seitdem wechsle ich die Fachärzte nach deinen jeweiligen Beschwerdegruppen. Mein Lieber, es gibt Tage, da überlege ich, ob ich meine Arbeit für dich hinschmeiße und ein Medizinstudium beginnen sollte. Spätestens seitdem mein Chef gegen eine Chefin ausgetauscht wurde, denke ich fast täglich diesen wunderschönen Gedanken. Dann könnte ich nach dem Studium ganz offiziell bei dir arbeiten und den Schwestern jede Menge Anweisungen in einem wehenden weißen Kittel erteilen. Leider habe ich aber nicht die Superabiturnoten wie du dafür. Vielleicht sollte ich dein Zeugnis fälschen und meinen Namen eintragen. Dann bekäme ich auf jeden Fall den Studienplatz, den du partout nicht wolltest. Du weißt, für dich mache ich alles.

Damit du mich gut sehen kannst, hebe ich dein Kopfende nach oben. Ich lege die Taschenlampe auf den Nachttisch, stelle mich in die Mitte des Lichtkegels, beuge mich zu dir und zu deinen beiden Mitpatienten und applaudiere. Ich strecke die Arme zur Zimmerecke, lasse sie langsam auf meinen Busen sinken und knöpfe die Bluse auf. Vorsichtig löse ich die Schnallen der Glitzerschuhe und sammle die Schuhe mit dem Mund auf. Da meine tollen Glitzerschuhe im Taschenlampenlicht blenden, kneife ich die Augen zu und versuche die schweren Dinger blind auf dein Bett zu zielen. Nachdem ich das geschafft habe, öffne ich meine Hose mit dem Ringelmuster, die ich bei unserem ersten Kennenlernen anhatte und die du von jeher so furchtbar gefunden hattest. Ich beuge mich nach vorn, ziehe sie herunter und schieße das Ringelding mit dem großen Zeh im hohen Bogen zu dir hinüber. Mit den Füßen ziehe ich abwechselnd meine Socken aus, sammele auch sie mit dem Mund auf, hänge sie mir über meine beiden Ohren und schüttle den Kopf, bis sie runterfallen. Ich hebe sie auf, knülle sie zusammen und werfe sie dir genau ins Gesicht. Weil ich dich getroffen habe, strecke ich meine Arme aus und schlage ein Rad. Ich gehe an dein Bett und ziehe endlich meine Bluse aus und lege alle Kleidungsstücke, die du noch nie an mir gemocht hattest, auf deiner Bettdecke aus, als hättest du sie allesamt an. Ich zupfe die Klamotten faltenfrei und flüstere dir ins Ohr, dass du ein tolles Mädchen in den klamotten abgeben würdest. Ich richte die Taschenlampe auf dein Bett, hole mein Handy mit dem neuen Kameratyp und der Videofunktion und mache Fotos von dir und den Klamotten. Ich schiebe die Lampe zurück, tipple auf meinen Zehenspitzen in den Lichtkegel, lächle euch drei stummen Zuschauern zu, drehe mich einmal um die eigene Achse, öffne mein hochgestecktes Haar und halte es für euch ins Licht. Wie wild schüttle ich es auseinander und sehe durch die Strähnen zu euch hindurch. Mit beiden Händen umfasse ich zwei Haarbüschel und winke dir zu. Ich verbeuge mich vor euch, schlage, weil es mir vorhin so gut gefallen hat und weil ich merke, dass ich davon endlich wach werde, noch einmal ein Rad und komme vor deinem Bettgiebel zum Stehen. Ich umwickele das glänzende Metall mit meinen langen Haaren und sage dir, dass ich die völlig durchgeknallte Rapunzel aus einem deiner unzähligen geliebten Märchenbücher bin, und dass ich dich jetzt mitnehmen will. Ich sage dir, dass ich vorher aber noch meinen Prinzen vernaschen muss. Plötzlich höre ich ein Alarmsignal aus einem deiner vielen Geräte. Ich schnappe die Bluse, die Hose, die Socken, die Schuhe von der Bettdecke, greife mir die Taschenlampe und rolle mich unter das Bett. Dabei stoße ich mich zuerst am Fuß und dann an der Schulter, dass die frisch verheilte Schürfwunde wieder aufplatzt. Die Tür geht auf und die Schwester kommt ohne zu klappern ins Zimmer gerannt. Sie macht Licht, hantiert an den Geräten, streichelt über dein Haar und fragt, was heute mit dir los ist. Sie sieht zum Katheterbeutel und sagt zu den anderen Patienten, dass dein Urin verdächtig trübe aussieht, sie einen Harnwegsinfekt vermutet und dass sie das nach dem Wochenende unbedingt dem Stationsarzt vorstellen wird. Muss der Infekt heute sein, denke ich und spüre einen stechenden Schmerz im Fuß und in der Schulter. Zu gern würde ich ihr zurufen, dass ich verblute und auch mal dringend einen Arzt bräuchte. dabei spüre ich, dass ich mit meinem Rücken am Linoleum festklebe. Sie geht zurück zur Tür, zwinkert dir den üblichen Luftkram zu, macht das Licht aus und ruft beim Rausgehen, dass du heute besonders wilde Träume mit deiner Geliebten haben wirst, sie dir viel Spaß wünscht und sie deinen Katheter wechselt, wenn du dich ordentlich ausgetobt hast. Ich schüttle den Kopf über ihre Sprüche, äffe sie nach und weiß, dass ich gleich morgen früh alle Foren zum Thema Urin, Katheter, Infekt und Komplikation durchforsten werde. Zur Not lasse ich mich am Montag krankschreiben, gehe zu meinem Urologen und sage, dass mir die Blase höllisch wehtut und der Urin verdächtig aussieht. Und vielleicht sollte ich die Krankschreibung auch nutzen, um dein Einser-Abiturzeugnis zu kopieren und mit meinem Namen zu versehen.

Unter dir (Teil 2)

Wenn ich dir früher einen Knutschfleck an jeder Seite deines Halses verpasste, meckertest du, dass du dir markiert vorkamst und bandest dir eines deiner albernen Tücher um. Aber diese gemeine Bemerkung verzieh ich dir meist schon in der darauffolgenden Nacht. Ich streichle über die feucht glänzende Stelle, die ich dir soeben gemacht habe und sage, na dann eben nicht. Ich bin mir auch nicht sicher, ob ich das Risiko eines Knutschflecks heute eingehen sollte. Heute Abend darf uns auf keinen Fall irgendwer stören; zulange habe ich mich auf diese alles entscheidende Nacht vorbereitet. Beim letzten Knutschfleck haben sie gedacht, du hättest eine innere Blutung und dich übergründlich untersucht. Für mich war das grausam, da ich die ganze Nacht hinter dem dussligen Vorhang stehen musste. Der Gedanke daran macht mir schon wieder Angst.

Da meine Füße schmerzen, ziehe ich die Schuhe mit den vielen Glitzersteinen, die ich extra für Heute angezogen habe und die du von jeher besonders albern findest, aus. Ich sage, von Schuhmode hast du keine Ahnung und werfe sie unter das Bett. Ich gehe zum aufgeräumten Nachttisch, dessen Sauberkeit die Schwester soeben ausgiebig gelobt hat und sortiere die darauf liegenden Dinge zusammen. Was ich für unnütz halte, werfe ich in den leeren Eimer. Weil das Desinfektionsmittel in der Nase juckt, pople ich und schnipse ab und zu einen der rausgeholten Popel durch den Raum. Misstrauisch lese ich die Handschriften der Briefe deiner vielen Freunde und rieche an den Absendern die mir unbekannt sind. Die Briefe mit den Handschriften, die mir besonders verdächtig vorkommen oder die ich nicht kenne oder von denen ich meine einen mir fremden Parfümduft zu erriechen, zerrreiße ich in klitzekleine Schnipsel und streue sie zufrieden in das Seitenfach meiner Handtasche. Die ungefährlichen lege ich gut sichtbar in den Nachttisch zu den Stapeln der anderen. Ich schiebe das Nachttischfach zu, gähne in die Länge gezogen und spüre den anstrengenden Tag in meinen Beinen. Um mich fit für die Nacht zu machen, beuge ich mich nach vorn, strecke beide Arme zu den lackierten Zehen und danach zur Lampe der Zimmerdecke. Ich halte mich am Nachttischgriff fest, schiebe das linke Bein langsam in Augenhöhe, lasse vorsichtig den Nachttischgriff los und drehe mich ballarinamäßig einmal um die eigene Achse. Ich tipple an das Bett deines linken Mitpatienten, strecke ihm das Bein und den Fuß entgegen, ziele über den großen Zeh und sage laut Peng, Peng, jetzt bist du tot. Ich tipple zum rechten Mitpatienten, strecke das rechte Bein und erschieße auch ihn. Nachdem ich sie beiden zur Strecke gebracht habe, klatsche ich in die Hände, mache einen Sprung in die Luft, verbeuge mich vor den drei Betten, bedanke mich für den Applaus und fühle mich bereit für die Nacht.

Ich lege mich zu dir ins Bett, rolle mich zusammen und kuschle mich an dich heran. Ich betrachte dein wunderschönes schlafendes Gesicht mit den starken Wangenknochen. Ich nehme den kleinen Zeigefinger und ziehe eine Linie von dem Haaransatz, über die hohe Stirn, zum schnurgeraden Nasenrücken zu den Nasenflügeln mit den kleinen Härchen. Dabei stecke ich meinen Fingernagel in jedes Nasenloch und hole deine Popel raus und schnipse sie im hohen Bogen durch den Raum. Ich sehe wieder in dein Gesicht. Ich öffne deine Lippen, schiebe den Zeigefinger in den Mund, ziehe ihn heraus, schiebe ihn wieder rein und raus und sage vorwurfsvoll, ehe du mich beißt. Mit dem kleinen Finger umrunde ich das breite Kinn, den Hals bis zum Adamsapfel, bleibe dort stehen und pikse mit der roten Fingernagelkuppe in den Apfel und zähle die kleinen schwarzen Härchen die dort aus der Haut wachsen und überlege, wie lange es brauchen wird, bis die Härchen sich krümmen und die von mir geliebte Form des Kopfhaares annehmen. Als ich früher in dein Gesicht schaute und deine Barthaare zählte, wunderte ich mich wie schnell die dicken schwarzen Haare dir aus der gebräunten Haut wuchsen. Schon damals schob ich meine knallrot lackierten Finger durch dein Haar und zirbelte den Bart. Die Kombination von Knallrot, Schwarz und Braun machte mich wild, auch wenn dir meine rot angepinselten Krallen, wie du sie abfällig nanntest, nie wirklich gefielen. Hier rasieren die Schwestern dich, bevor ich deinen Bart zu sehen bekomme. Außerdem, mein Lieber, ist deine Haut wie weiße Babyhaut geworden. Dass sie weiß ist, stört mich nicht wirklich, das habe ich dir schon oft ins Ohr geflüstert. Ich finde, dass sie mich sogar anmacht. Aber dass sie dein Kinn und deinen Hals babyglatt rasieren, bringt mich auf die Palme. Deswegen habe ich auch ab und zu Lust Haare mitzubringen, die ich zuhause heimlich in den Kartons unter deinem durchgelegenen Jugendbett aufbewahre, um sie dir zu einem Bart anzukleben. Oder, dass ich wenigstens ab und zu ein paar Haare mit meinem schwarzen Filzstift, mit dem ich täglich die pflegerischen Anordnungen der Schwestern auf den Karteikarten unter dem Bett benote, anmalen zu dürfen. Aber das geht nun wirklich nicht, das sehe ich ein. Dann denken die womöglich hier, dass ich völlig durchgeknallt bin. Ich seufze, schließe die Augen, reibe blind über deinen rasierten Kehlkopf mit den Stoppeln und stelle mir vor, dass dort ganz viele schwarze, gelockte Haare wären. Ich streichle um den surrenden Schlauch, der aus deinem Hals ragt und flüstere dir zu, dass es mir leidtut, was die vergesslichen Schwestern mit dir hier alles anstellen. Ich verspreche dir, heute wird das Alles für dich und mich ein Ende haben.

Ich richte mich aus meiner Embryonalhaltung auf, küsse deinen glatten Kehlkopf und lasse die nasse Zunge darüber gleiten. Mit dem Daumen massiere ich die glänzende Stelle und sage, dass gefällt dir, mein Lieber? Stimmt. Ich schaue kurz auf die Leuchtanzeige meiner Uhr und horche, ob vom Gang her ein Geräusch zu hören ist und mache, nachdem ich nichts höre, weiter. Ich umgreife deine Ohren und schiebe dein Gesicht auf dem Kopfkissen unter mein Gesicht. Ich stütze meine Hände auf deine Schultern und bewege meine Hüften, als ob ich tief in dich eindringen würde. Als du noch nicht hier lagst, tat ich das nämlich immer, weißt du das noch. Wie damals ärgere ich mich auch jetzt, dass ich kein Mann bin und in dich eindringen kann. Ich mochte es, wenn du dir auf mir zu schaffen machtest. Ich mochte es, wenn du mit deinen langsamen, tiefen Stößen in mich eindrangst und ich dein langes, dickes und schneeweißes Ding in mir spürte. Und ich mochte es wenn dein schwarzes Kopfhaar im Rhythmus über deine Schultern mitschwang. Ich umklammerte erst deinen muskulösen Hintern mit meinen Beinen und danach mit den Händen und klopfte dabei so lange und so heftig auf deine Arsch, bis alles aus dir raus war. Mach weiter, mach weiter, du kleine Hexe, hattest du mir zugeflüstert. Oft habe ich danach meine rot lackierten Finger genommen und sie an deinen Hüften entlanggekratzt. Ich kneife mich links und rechts in meinen Hintern, öffne die Augen und sehe zu deinen beiden Mitpatienten, die wie immer still daliegen. Ich hebe deine Bettdecke an und schaue mit einem prüfenden Blick, ob noch alles an dir dran ist. Es hat sich nichts geändert, genau wie der Rest deines Körpers. Nur, dass er jetzt komplett weiß ist. Dein ganzer schöner zwei Meter und einen Zentimeter langer Körper. Früher konnte ich mich an dem weißen Streifen, der an dem braunen Körper herunterbaumelte, nicht sattsehen. Pinsel hab ich zu deinem Ding gesagt. Quast hast du geantwortet. Das ist ein Quast. Dein Ding war so weiß, dass ich damals dachte, dass es nur deswegen so weiß war, weil du es in mich reinschobst, weil ich ja innen auch weiß war wie eine Farbdose. Aber das war quatsch. Dein Hintern war ja auch weiß. Wie du deinen Hintern damals anhobst, im Rhythmus immerzu im Rhythmus anhobst, immer und immer wieder. Ich weiß warum ich auf Musiker stehe. Ich schließe die Augen und flüstere, schön, das war damals wunderschön. Manchmal zählte ich deine Haare während du in mich eindrangst. Weit war ich damit aber nie gekommen. Gleich kriegst deine Narkose, hattest du gesagt, warte, gleich kriegst du, du kleine Hexe. Du sagtest das, wenn du merktest, das ich über deine Schulter sah und deine Haare an den zuckenden Gesäßmuskeln zu zählen begann. Und weil ich damit nie sehr weit gekommen war, hatte mich das laute Zählen deiner Gesäßhaare irgendwann an meine Narkose erinnert. Die Anzahl deiner Haare hatte ich dabei jedes Mal genauso vergessen, wie die Zahl bei der Narkose. Und dann ärgerte ich mich wieder, dass ich kein Mann war. Wenn du fertig warst und tief Luft holtest, fragte ich dich, wie das ist, was für ein Gefühl das ist und ob du mir dieses Gefühl erklären kannst, ob du mir Beispiele nennen kannst, damit ich dich besser verstehe, wenn du es in mir treibst. Schließlich wollte ich alles wissen, was du machst. Alles. Meist lächeltest du und sagtest in die Länge gezogen, geil, einfach nur affentittenobergeil. Ich war mir sicher, dass du damit meinen Körper meintest, fragte dich aber vorsichtshalber, ob das Gefühl bei allen Mädchen gleich geil war. Du sagtest ja, ja, und deutetest mit weit aufgerissenen Augen einen Orgasmus an. Es machte mich jedes Mal wütend, das du mir nicht sagen wolltest, wieviel Mädels du nun vor mir hattest. Und wenn ich deswegen in Wut geriet, konnte ich dir sogar mit voller Wucht auf deinen steifen Penis schlagen. So sehr ich mich bemühte, ich konnte mich bei dem Thema einfach nicht beherrschen. Und wenn ich merken würde, dass du wegen einer der Schwestern einen Steifen bekommst, dann würde ich, glaube ich, es wieder tun. Mein Gott, wie ich dich in diesen Momenten abgrundtief gehasst habe. Da ich aber jetzt nicht schon wieder an die blöden Missverständnisse denken will, schiebe ich mich weiter auf deinem Körper hin und her. Meine Haare lasse ich dabei in deinem Rhythmus über meine Schulter herunterschwingen. Mit den Haarspitzen reibe ich deine Nase, bis du schnaubst. Empört sage ich, das passt dir wohl nicht. Ich ziehe eine Schnute, knicke deinen Schlauch zusammen und beobachte wie lange es dieses Mal dauert, bis du endlich reagierst. Ich öffne dein albernes Krankenhaushemd. Typisch, die Schwestern haben dir wieder eines aus ihren Beständen verpasst. Ich lege mein Ohr an deine Brust, reibe über deine Haut und flüstere, dass ich dir dein Geschnaube verzeihe. Wie zu Beginn, macht mich deine warme Haut an meinem Ohr wieder etwas schläfrig und ich gähne. Ich weiß, sage ich, ich muss aufpassen, dass ich nicht auf dir einschlafe. Wenn mir das jetzt passiert, flüstere ich dir ins Ohr und die mich erwischen, sind alle Vorbereitungen umsonst gewesen und ich bin geliefert und die schmeißen mich im hohen Bogen raus. Deswegen habe ich mir etwas einfallen lassen. Heute Nacht, mein Schatz, heute Nacht ist es endlich soweit.

Fotocollage

Ich sitze auf dem Fensterbrett. Der Wind ist kühl. Die ausgesäten Blumen sind aufgegangen. Ich träume und schieße Fotos. Ein Foto bleibt. Die Blumen leuchten auf der Fensterbank, ich blicke zur Straße, die Haare sind kurz. Im Kopf ein ständiges Klicken. Erinnerungen. Bilder. Eine Polaroid-Fotostrecke in meinem Kopf, ähnlich jener, die Großvater vergilbt und ausgeblichen auch noch vor acht Jahren präsentierte.

Der Tag an dem andere heiraten, wird auch mein besonderer sein. Ein halbes Jahr stumm in Kopfkissen geweint, bis keine Tränen mehr kamen. Heute die Einweisung. Ich komme mit Tasche und meiner Patientenverfügung. Der Arzt weist mich auf mögliche Behinderungen hin, die ich davontragen könne. Er nimmt es ernst. Ich auch. Welche Wahl bleibt? Die Vermessung beginnt. Wiegen. Bluten. Schwitzen. Das Mittagessen verpasst. Meine Bettnachbarin ist kahlrasiert, lächelt und lenkt mich ab, mit Geschichten, die mir Angst machen und für sie keine sind. Sieben Hirntumore operiert und morgen ein achter. Die Hoffnung sterbe zuletzt, sagt sie. Wie makaber. Die dicken Socken wärmen mich nicht. Ich flüchte mich auf den Gang. Überall Kahlrasierte. Sie klingeln, sie rufen, sie schleichen. Mitleid will wohl keiner von ihnen. Ich auch nicht. Ich bekomme Panik. Auch das Gespräch per Münztelefon lenkt mich nicht ab. Ich trinke drei Kaffee hintereinander aus dem Kaffeeautomaten für 80 Cent den Becher. Ich kugele mich ein, auf der Couch im Aufenthaltsraum. Da kommst du. Nimmst mich in den Arm und bist da. Also lachen wir gemeinsam über meinen Jogginghosen-Nachthemd-Mix und die bunten Ringelsocken, die aus den Sandalen quellen. Die Besuchszeit endet. Das Abendbrot fällt aus, um nüchtern zu bleiben. Ich schaue seit Jahren mal wieder GZSZ. Folgen kann ich nicht. Um neun knipse ich das Licht aus und kann doch nicht schlafen. Eine Schlaftablette möchte ich nicht, notiert die Nachtschwester.
Ich habe keinen Wecker, aber laut Bettnachbarin ist es kurz nach fünf Uhr, als uns die Schwestern wecken. Wir springen aus dem Bett, völlig schlaftrunken, stellen uns am Fenster auf und lassen uns die Kissen aufschütteln. Ich möchte noch mein Taschentuch unter dem Kissen hervorholen und zaubere so der Schwester ein Lächeln auf die Lippen.
Ich trage nur noch ein Hemdchen. Das Warten macht mich verrückt. Ich bekomme Beruhigungstabletten gegen meinen Willen eingeflößt. Zwei Männer holen mich. Sie grüßen nicht, sie rollen mich einfach mit dem Bett hinaus. Wir fahren Fahrstuhl. Sie erzählen über das Fußballspiel gestern Abend. Ich starre an die Neonleuchten der Fahrstuhldecke. Im Keller lassen sie mich zurück. Ein anderer Mann, ein jüngerer spricht zu mir. Ich kann ihn nicht gut erkennen. Keine Kontaktlinsen mehr. Keinen Schmuck, keine Unterhose. Nur noch mein bloßer Körper. Bekleidet mit diesem lächerlichen Hemdchen, knapp unter dem Schambereich endend und meinem Patientenbändchen ums Handgelenk. Der junge Mann sagt, er werde mich jetzt auf eine andere Liege legen. Ich will aufstehen. Er drückt mich zurück. Um mich herum sind überall Liegen. Solche wie meine mit Planen darüber. Vielleicht liegen auch Tote darunter, überlege ich. Die Anästhesistin legt Kanülen und fragt interessiert nach meinem Studienfach. Geantwortet habe ich ihr nicht mehr.
Ein monotones Piepen weckt mich. Ein Mann sitzt neben meinem Bett. Es ist alles gut gegangen. Wir haben den Tumor erfolgreich entfernt. Er drückt meine Hand, ich lächle und schlafe sofort wieder ein. Wieder weckt mich das Piepen. Mein Puls ist zu hoch, erklärt die Schwester. Ich bekomme eine Spritze gegen die Schmerzen in den Oberschenkel. Ich schreie laut, als sich der Wirkstoff verteilt. Von nun an verweigere ich weitere Schmerzmittel. Den Schieber will ich auch verweigern, muss ihn dann aber doch einmal notdürftig benutzen. Ich darf kurz telefonieren. Hallo. Ich bin´s. Mir geht’s gut. Ja, ich ruhe mich aus. Tschüss. Ich schlafe ein. Ich darf Wasser trinken. Ich schlafe. Wie spät ist es? Ich schlafe. Zwei Männer holen mich. Sie tragen mich auf die Liege. Sicher können sie alles von meinem Körper sehen, bis auf die Brust, die ist verdeckt vom Hemdchen. Es ist mir egal. Es mir sowas von scheißegal. Ich werde zur Kontrolle in die Röhre geschoben. Das Ergebnis ist gut. Ich werde verlegt auf die Normalstation. Das erste Essen drei Löffel Kartoffelbrei und ich habe nie etwas Köstlicheres gegessen seit dem. Ich darf endlich wieder Unterwäsche anziehen, Socken, ein T-Shirt. Ich darf auf die Toilette. Ich bemerke die pochenden Kopfschmerzen nicht, weil meine Freude überwiegt. Ich ertrage die neue nervige Bettnachbarin grinsend, indem ich sie mir als Kohlkopf vorstelle.
Ich werde entlassen. Du stehst in der Tür, wolltest mich besuchen und bestaunst meinen kahlen Hinterkopf. Nun trägst du meine Tasche und schiebst dein Fahrrad nebenher. Wir trinken einen Kaffee und fallen uns in die Arme.

Ein Foto. Der Auslöser für viele. Die Blumen leuchten auf der Fensterbank, ich blicke zur Straße, meine Haare sind wieder kurz. Das Kopftuch trage ich um den Hals.

Deutschlandhalle

Sie öffnete den Mund, streckte ihre Zunge heraus, legte die Tablette auf die Zungenspitze und spülte sie mit einem Glas Wein herunter. Sie atmete tief ein, nahm die zweite, der in Reihe gelegten Tabletten vom Tisch und schluckte auch diese. Sie mochte weder den Weißwein, den sie im letzten Jahr zu ihrem Geburtstag vom Zivi geschenkt bekommen hatte und den sie anfangs vereinzelt vor dem Zubettgehen, später beim Mittagessen und seit einigen Wochen regelmäßig auch zum Frühstück trank, noch die Tabletten die sie unter dem Bett ihres Sohnes im Jugendzimmer gefunden hatte und die sie seit seiner Flucht fast täglich probierte. Sie öffnete wieder den Mund, schluckte eine weitere Tablette herunter und hoffte, das die Wirkung des Weines und die beruhigende Wirkung der Tabletten heute besonders schnell einsetzten. Sie nahm die Geburtstagskarte vom Küchentisch, drehte sie auf den Kopf und flüsterte: “Jetzt bin ich einundachtzig Jahre und einen Tag alt!“. Sie legte die Karte zurück auf den Tisch, griff die schwere Armbanduhr ihres Schwiegervaters und hob sie vor ihre Augen. Sie küsste auf das beschädigte Glas und lächelte. Sie streichelte mit beiden Daumen über die zerkratzte Oberfläche, roch an ihr und glaubte die wohlriechende Haut ihres Schwiegervaters zu spüren. „Elf Jahre“, flüsterte sie auf das Glas,“ Elf Jahre hast Du jeden Handgriff, den ich hier in der Küche gemacht habe, von dem hohen Sofa unter dem Fenster mit vielen Komplimenten beobachtet. Elf Jahre habe ich Dich dafür bekocht und gepflegt!“ Sie verglich die Zeit auf der goldenen Uhr, auf dem bunten Küchenwecker und dem weißen Zifferblatt des Kirchturmes: es war viertel Zwölf. Sie knöpfte die gemusterten Dederonschürze auf, zog sie aus und faltete sie über die Stuhllehne. Sie streifte ihre beiden dünnen Eheringe vom Finger, hielt sie vor ihre Augen, überflog die kaum lesbaren Gravuren und legte sie auf das Kopfkissen des Sofas. Seit der Schwiegervater auf diesem Sofa verstorben war, vermied sie, sich darauf zu setzen oder wenn sie von ihren Hausarbeiten müde wurde, darauf zu legen. Sie saß viel lieber auf der hellblauen Sitzfläche des Küchenstuhles, an dessen Griffen lederne Handtaschen und Plastikbeutel klemmten und über dessen Lehne sich in den Jahren Schürzen aufgetürmt hatten. Sie konnte auf diesem Stuhl stundenlang zu den drei Kinderbildern im Buffet schauen. Sie konnte, wenn es dabei dunkel geworden war, ohne ein einziges Wort an dem Tag gesprochen zu haben aufstehen und ins Bett gehen. Sie öffnete wieder die Augen und sah sich prüfend in der Küche um: der Mülleimer war geleert, der Fußboden gewischt und gebohnert, die Gardine gewaschen und gestärt, die Gläser poliert und zu exakten Reihen in den Schränken verstaut, das Gas abgestellt, die Wohnungstür verschlossen. Sie stand auf, ging zum Buffet und schob den Stecker des Radios in die Steckdose. Seit Jahren schaltete sie mit diesem Trick den Kasten mit den vielen Knöpfen an und aus. Sie hörte Applaus aus dem Lautsprecher. Sie stellte das Radio leise. Seit sie in einer Dokumentation sich als HJ-Mädchen in der Deutschlandhalle wild applaudierend wiedererkannt hatte, mochte sie weder politische Reden noch das widerliche Geräusch des Applauses zu Partei-oder Brigadeveranstaltungen. Sie fühlte sich seit diesem Tag um ihre wunderbaren Erinnerungen von Damals betrogen und konnte bis heute nicht verstehen, dass er das, was die über ihn behaupteten, zugelassen hatte. „Wir haben viel erreicht, meine sehr verehrten Damen und Herren“ klang die Frauenstimme zur Festtagsrede zum 65. Jahrestag der Republik. „Angela“, sprach sie zur Skala des Radios schauend, “Angela“, so hätte meine Tochter ursprünglich heißen sollen. Sie strich sich die nicht vorhandenen Falten aus ihrem Kleid und ging zurück zum Tisch. Sie sah auf das vergilbte Weiß der Tapete und hörte für Sekunden wieder die schrille Stimme ihres verstorbenen Ehemannes, der beim Einzug in diese Wohnung auf dem Weiß aller Decken und Wände bestanden hatte. Sie zuckte zusammen, beugte sich für einen Moment nach vorn und sah aus dem Fenster zu jener Stelle am Haus, an der er über die Jahre ihre Dinge zerschlagen hatte. Sie stand auf und ging ins Schlafzimmer. Sie stellte sich an das Fußende der Betten, streckte die Händen auf die frisch bezogene Wäsche und streichelte über das Lieblingsmuster ihres Ehemannes, das sie am Morgen aufgezogen hatte: weißer Stoff mit blauen Wolken. Sie ging an sein Kopfkissen, betrachtete das Wolkenmuster und verließ, wie er es von ihr stets gefordert hatte und wie sie es seit jeher gewohnt war, auf Zehenspitzen das Schlafzimmer. Sie schloss mit einem Zeigefinger, den sie zwischen Türblatt und Rahmen schob, die Tür und ging zurück in die Küche. „Unsere Republik hat sehr viel erreicht, meine sehr verehrten Damen und Herren“, klang die freundliche Frauenstimme aus dem Lautsprecher. „Wir leben in einem Land, das jedem Wohlstand und Sicherheit garantiert!“ Applaus! Sie schlich noch einmal zur Schlafzimmertür, öffnete sie leise und warf sie mit einem Krachen zu. Sie ging zurück in die Küche und hörte wie der Applaus verstummte. „Im Namen der Bundesrepublik gratuliere ich Ihnen allen, meine sehr verehrten Damen und Herren“ Sie stellte das Radio, aus der die freundliche Frauenstimme klang, laut und sah in die Kindergesichter, die aufgereiht im Küchenbuffet abgelichtet standen. Sie zog die Schublade auf und holte die rote Wäscheleine mit dem Seemannsknoten heraus. Sie tastete über den Knoten den sie von ihrem Großen gelernt hatte und den sie seit Monaten vor dem Buffet stehend fast täglich übte. Sie hatte dabei sehr oft an die denen schönen Abende denken müssen, an denen der Große Seemannsgeschichten erzählte, die damals alle bezweifelten und die sie gegen jeden Zweifler heftig verteidigte. Sie erzählte noch Jahre danach ihrem Mann, der wenige Wochen nach seiner Pensionierung eines Morgens im Bett liegen geblieben war, diese wunderschönen Geschichten. Sie erzählte diesem Ehemann, der keine dunklen Farben ertrug, der stets eine Schaufel, eine Flasche Wasser, etwas Essen und eine Taschenlampe unter dem Bett liegen hatte, an jeden Morgen und an jeden Abend diese Geschichten, um ihn endlich wieder zum Aufstehen zu bewegen. Selbst mit dem Tag, an dem sie allein in dem Bett  lag, erzählte sie sich diese Geschichten und ertappte sich, wie sie diese oder jene Begebenheit durch neue Inhalte variierte. Sie erzählte die Geschichten ihres ältesten Sohnes, wenn sie im Bett liegend an diesen denken musste, manchmal so oft und so laut, dass sie glaubte, dieses lachende Gesicht im Küchenbuffet aus dem Schiff herausholen zu können. Sie legte die rote Wäscheleine in die Schublade zurück und schob die Lade zu. Sie ging zum Tisch, setzte sich auf den Stuhl, seufzte und wischte mit der flachen Hand über die giftgrüne Wachsdecke mit den pinkfarbenen Pusteblumen. Sie mochte weder die Farben noch die neumodischen Formen. Sie hatte anfangs kleine, später große Einrichtungsgegenstände in den Farben und Formen, die ihre Tochter liebte, gekauft, um, wenn sie endlich einmal käme, sie damit beeindrucken zu können. Sie schob eine weitere Tablette, die das letzte Kinderbild tütenweise unter der Matratze zurückgelassen hatte auf die Zungenspitze,  goss mit einen kräftigen Schwung Weißwein in ihr Glas, spülte die Tablette herunter und hoffte wieder, dass die wohltuende Wirkung der letzten Wochen und Monate heute besonders schnell einsetze. Sie lachte. „Wie beim Arzt“, sprach sie belustigt zu den Kinderbildern! Sie sah zu dem dritten Kinderbild und war sich immer noch nicht sicher, ob sich der Jüngste noch auf der Flucht vor den schlechten Freunden befand, ob er eine Offizierskarriere wie der Große begonnen hatte, oder ob er…. Sie lallte: „Ein guter Junge bist du, ein Guter, du bist der Beste von allen. Bestimmt bist du auch Offizier geworden, wie der Große!“ Sie öffnete das Kuvert mit den vielen Geldscheinen die sie über die Jahre von ihrem ältesten Sohn geschickt bekommen hatte und war sich für einen Moment nicht sicher, ob es für ein ordentliches Begräbnis reichen würde. Sie spürte wie die Tabletten des Jüngsten endlich zu wirken begannen. Sie griff nach den verbliebenen zwei Tabletten, drehte die Zunge heraus und warf belustigt eine der beiden in den Mund. Sie hob die zweite in die Luft, küsste sie laut, schob sie zwischen ihre Zähne und biss darauf. Sie schlürfte mit offenem Mund Weißwein. Sie würgte und brach die beiden Tabletten wieder heraus. Sie beugte sich nach vorn und tastete nach den Tabletten. Sie nahm sie in die Hand, wischte sie trocken, schob sie wieder in den Mund und schluckte sie mit dem Rest Wein herunter. Sie hörte wie die Kinderbilder im Buffet zu sprechen begannen: Das erste Bild rief: Mama, wo ist mein Lexikon; Das zweite weinte: Mama, meine Farben sind alle; Das dritte rief: Mama, ich habe wieder eine Fünf und einen Eintrag bekommen. Sie hielt sich die Ohren zu und sah wie die lachenden Kinderbilder sich übereinander schoben. Sie hörte wie die Bilder durch ihre verschlossenen Ohren im Kinderchor sangen: „Mama, wir haben Hunger, Hunger, Hunger; wir haben Hunger, Hunger, Hunger; wir haben Hunger, Hunger, Hunger; wir haben Durst!“ Sie riss die Hände von den Ohren und drückte sie vor ihre Augen. „Wir haben aus unserer Vergangenheit gelernt und sind jetzt ein in aller Welt geachteter Staat, meine sehr verehrten Damen und Herren“, hörte sie die freundlich klingende Frauenstimme aus dem Lautsprecher sagen. Applaus! Sie hob ihren Arm. Sie schüttelte den Kopf. Sie presste beide Hände wieder auf ihre Ohren. Sie starrte auf den grauen Fliesenboden und sah ihren Ehemann aus einer der Fliesen mit einer Schaufel herausklettern. Sie drehte den Kopf ruckartig zur Seite, blickte hinüber zum hohen Sofa unter dem Fenster und sah den Schwiegervater in seiner hochdekoriert Uniform. Sie ging zum Fenster, setzte sich auf das Sofa und fühlte wie er seine weiche, wohlriechende Hand mit der schweren, goldenen Armbanduhr, die er aus dem Krieg mitgebracht hatte unter ihr Sommerkleid schob. Applaus! Sie stand auf und ging zurück zum Tisch. Sie hörte aus dem Applaus eine kräftige Stimme rufen “Mein Sohn, mein Sohn ist ein jämmerlicher Versager. Applaus. Wir Deutschen lassen uns vom Iwan nicht unterkriegen. Applaus. Wollt ihr den totalen Krieg? Stürmischer Applaus. Du hättest mich, mich und nicht diesen elenden Volksverräter heiraten sollen!“ Sie hörte den Applaus verstummen und die Hymne in der Deutschlandhalle erklingen. Sie stand auf, hob noch einmal die Hand nach oben und winkte. Sie öffnete die Augen und verglich die Zeiger auf der Kirchturmuhr, auf dem Küchenwecker und der Armbanduhr. Sie spürte zwei kräftige Glockenschläge auf ihrer Stirn; sie spürte den Sekundentakt in ihren Ohren; sie spürte das Armband um ihrer Brust. Sie nahm die Hand herunter und ließ sich auf die hellblaue Sitzfläche des Stuhles zurückfallen. Sie beugte sich über die grüne Wachsdecke, griff die Armbanduhr und presste sie wie den Orden, den sie damals von ihm bekommen hatte, zwischen ihre Handinnenflächen. Sie formte ihre Lippen zu einem Kuss. Sie holte tief Luft und atmete zufrieden aus.

Der Vergangenheitstreue

Dem Vergangenheitstreuen fällt es schwer, das Ticken von Uhren auszuhalten. Egal, wo er das gleichmäßige Geräusch vernimmt, ob auf Bahnhöfen, in Wohnzimmern oder Küchen, wird er unruhig und beginnt sich unwohl zu fühlen. Sieht er Mitarbeiter mit einer mechanischen Uhr am Handgelenk, geht er ihnen sofort aus dem Weg. Und muss er doch mit ihnen ein dringendes Fachgespräch führen, schätzt er die Lautstärke des Geräuschs der Uhrenmarke und stellt sich in sicherer Entfernung auf. In aller Kürze bespricht er mit ihnen das Notwendigste. Außerdem ist es dem Vergangenheitstreuen unangenehm Menschen zu beobachten, die immerzu in ihre dicken Kalender schauen, um nach etwaigen Terminen zu suchen, denn das Festlegen von Zeit ist ihm zuwider.

Kommt der Vergangenheitstreue auf Station, bitten ihn die Schwestern zum allmorgendlichen Kaffee um auch mit ihm private Erlebnisse ausführlich austauschen zu können. Da ihm dieses Angebot stets peinlich ist, lehnt er kopfschüttelnd und mit leiser Stimme ab. Noch nie soll es jemanden im Krankenhaus gelungen sein, dem Vergangenheitstreuen ein persönliches Gespräch zu entlocken, egal auf welcher Station er sich befand.

Vielmehr beginnt er nach der unangenehmen Frage unverzüglich mit der Arbeit, denn nur so ist er sich gewiss, dass er das Verstreichen von Zeit überhaupt nicht bemerkt. Dabei führt er routiniert jeden einzelnen Handgriff, den er während seiner Ausbildung erlernt hat, in Zeitlupengeschwindigkeit mit ein und derselben Genauigkeit Tag für Tag aus. Selbst Feiertage oder gar sein Geburtstag sind für ihn kein Grund irgendeinen seiner Handgriffe zu ändern. Neueste Arbeitsmethoden weiß er gekonnt zu umgehen. Und nur, wenn die Stationsschwester ihm mit Abmahnung oder gar Kündigung droht, benutzt er widerwillig und mit raschen Handbewegungen den modernen Infussiomanten, cremt die neue, unbekannte Wundsalbe auf die vereiterte Haut, verwendet die hochmoderne Antidekubitusmatratze und krakelt die Pflegedokumentation in die standardisierten Tabellen der Kurven. Hat hingegen die Stationsschwester über das Wochenende frei oder befindet sie sich auf einen ihrer unzähligen Auslandsreisen, nutzt er die Tage, um vergnügt seine alte Arbeitsweise anzuwenden.

Würde man den Pförtner des Krankenhauses an einem dieser Tage fragen, wie sich der Vergangenheitstreue in diesem Moment fühlt, würde er sein schönstes Lächeln aufsetzen und sagen, dass es diesem stillen, undurchschaubaren Jungen mit dem stets flüchtig-suchenden Blick, heute blendend gehe und er ihm viele solcher schönen Tage wünsche.

Hat die Mittagspause begonnen, geht der Vergangenheitstreue nicht wie andere Schwestern schwatzend in die Kantine, sondern schleicht in die abgedunkelten Patientenzimmer und bringt die welkenden Blumensträuße an sich. Seine Großmutter mochte nur frisch gepflückte. Unbemerkt wirft er die fast frischen Blumen in den Müll, geht in den kleinen Laden vor dem Krankenhaus, der ihn schon seit Jahren großzügig Rabatte gewährt und lässt vergleichbare Sträuße binden. Und nur wenn es die Blumensorte nicht gibt, kauft er einen bunten Strauß seiner Wahl und behauptet gegenüber den verschlafenen Patientinnen, dass ein sehr netter, unbekannter Besucher diesen Strauß abgegeben und den alten mitgenommen habe. Ist er mit dem Blumentausch fertig, fährt er zu seiner täglichen Runde ins Archiv der Anmeldung. Er nimmt den Nachschlüssel, den er sich durch ein vorgetäuschtes privates Gespräch mit der aufdringlichen Mitarbeiterin erschlichen hat und prüft akribisch die Aufnahmelisten der Patientinnen. Ist er damit fertig, geht er in den Garten und beobachtet das Goldfischpaar im Becken. Er holt die bunte Brotdose aus seinem Beutel und isst das dick bestrichene Butterbrot und den Riegel Vollmilchschokolade.

Kommt er nach dem Dienst nach Hause, legt er sich im Kinderzimmer auf sein Bett und betet ausführlich bis er für kurze Zeit einschlafen kann. Wacht er von einen seiner unschönen Träume auf, taumelt er erschöpft ins Schlafzimmer, um nach dem Bett seiner Großmutter zu sehen. Findet er ihr Bett unbenutzt, geht er in die Küche und greift aus dem defekten Kühlschrank die lauwarme Himbeerlimonade. Geräuschvoll trinkt er sie in einem Zuge aus. Mit verschlossenen Augen wartet er minutenlang auf ermahnende Worte. Bleiben auch an diesem Tage die geliebten Ermahnungen aus, setzt er sich an den weiß gestrichenen Holztisch, den der unbekannte Großvater seiner Großmutter zur Verlobung geschenkt haben soll und streichelt über das karierte Wachstuch. Aufmerksam nickt er dem weißen Stuhl mehrfach zu. Mit einem freudigen Lächeln springt er auf, stellt den Porzellanfilter auf die Kanne, steckt das Nylonsieb darauf und gibt vier gehäufte Löffel Kaffee hinein. Vom Emaillewaschbecken holt er Wasser und erhitzt es im verkrusteten Tauchsieder. In kleinen Schlucken brüht er kräftigen Kaffee. Wortlos stellt er die flache Teetasse mit dem blassen, goldverzierten Schnörkelmuster vor den Stuhl exakt auf den dunkelbraunen Kreis des Tischtuches. Er stellt die Keksdose, die Milch und die Zuckerschale neben den Kaffee. Von der Flurgarderobe holt er eilig die dicke Sonntagsausgabe der Tageszeitung, die er seit elf Jahren zusammengelegt im oberen Schubfach liegen hat. Er setzt sich neben den weißen Stuhl und liest langsam und deutlich alle Artikel der Zeitung laut vor, die er sich über die letzten elf Jahre eingeprägt hat.

Geht die Sonne unter, wäscht er im Halbdunkel das wenige Geschirr des Tages ab und erzählt vom Stationsalltag. Gründlich putzt er die Küche und die restlichen Räume der Wohnung. Ist er davon müde, geht er ins Kinderzimmer, legt sich auf das schmale Bett und schiebt die großen Kopfhörer auf die Ohren. Er schaltet die Hobby-Funkanlage ein und lauscht den Polizeifunk ab. Dabei versucht er nicht einzuschlafen. Bemerkt er, dass er müde wird, schlägt er zur Strafe mit der flachen Hand auf die Wangen. Und nur wenn die Wangenschläge seine Müdigkeit nicht beenden, piekt er mit der Kanüle in die Fingerkuppen.

Am Morgen zieht der Vergangenheitstreue die Kopfhörer von den Ohren. Übermüdet geht er in die Küche ans Waschbecken, rasiert sich gründlich ein Milchgesicht und wäscht widerwillig den Oberkörper ab. Er geht ins Schlafzimmer der Großmutter, greift wahllos im Wäscheschrank seine abgetragenen, unmodernen Sachen heraus und zieht sie schweigend an.

Auf der Fahrt in die Klinik beobachtet der Vergangenheitstreue aufmerksam alle Passantinnen, die ihr ähnlich sehen. Ab und zu fallen ihm für Sekunden die müden Augenlider zu und er träumt, dass er nach Feierabend einen frisch gepflückten Strauß Blumen auf dem Küchentisch vorfindet, den würzigen Duft von leckeren Kohlrouladen auf dem Absatz des Treppenhauses einatmet, mit ihr eine Riesenschüssel grüne Klöße formt und anschließend Puddingreste aus der alten Kristallschüssel lecken darf, während sie mit nicht ernst gemeinten Worten schimpft. Hat er den Kohlrouladenduft in der Nase, reißt er abrupt die Augen auf und gibt sich eine Ohrfeige. Hastig springt er vom Sitz auf, schaut unruhig aus dem Fenster und beobachtet wieder die Gehwege, Straßen und Kreuzungen. Und nur noch selten greift der Vergangenheitstreue nach der Notbremse.

wrocław.

kaum über den fluss hinüber
tauschen wir das wort gegen hand & fuß wie euro gegen zloty.
der wind bläst uns die köpfe frei,
zwischen den schiebetüren läuft der schaffner auf & ab,
locht uns ein in schneelandschaft und ruhige tage.

kilometerweit die spaziergänge am ufer des flusses,
hinweg über stege und zurück auf den asphalt,
stets im ohr das gemurmel der passanten,
das uns fremdsprachig nicht bekümmert und unbeirrt sorglos sein lässt.

sherry (selbstgebrannt), der gelbbraune kachelofen
und so manche hitzige gedanken wärmen unsere durchfrorenen körper.
wir kichern bei polnischenglischen unterredungen mit den einheimischen
& den ansässigen bronzegnomen der stadt.

tag um tag mit piroggen gefüllt unsere bäuche,
die glucksen, wenn wir erschöpft beieinanderliegen & überlegungen anstellen einfach zu bleiben,
hier in wrocław.

Das Mädchen aus der Fremde

Niemand wusste, wo sie herkam. Sie ging die Straßen des Dorfes entlang, als würde sie schon immer auf ihnen wandeln. Jede Gasse, jedes Schild, jeder Stein, jedes Haus, nichts schien ihr fremd zu sein, kein Baum und kein Mensch. Ihr Kleid flatterte im Wind und der Saum umspielte ihre Knie. Sie setzte behutsam einen Fuß vor den anderen. Sie trug keine Schuhe und lief doch nicht zu langsam. Ihre langen, weißen Arme schlenkerten neben ihrem schmalen Oberkörper hin und her. Den kleinen Lederkoffer, den sie bei sich hatte, trug sie einmal in der linken, einmal in der rechten Hand. Der große Filzhut saß scheinbar zur Zierde auf ihrem gelockten Schopfe. Alle paar Minuten rückte sie ihn zurecht und zog ihn sich noch tiefer ins Gesicht. Ihre Augen waren so grün wie der Hut.

Die Leute hatten sich viel zu erzählen. Ein jeder wusste etwas anderes zu berichten. Sie wäre fortgelaufen vor dem Krieg, sie wäre fortgelaufen vor der Armut, sie wäre fortgelaufen vor der prügelnden Mutter. Sie hätte kein Geld für neue Schuhe, sie wäre ein trotziges Mädchen, das ihre Eltern nur grämen wolle, sie hätte noch nie Schuhe getragen. Sie suche ihren Vater bei ihnen, sie suche ihr Glück, sie suche sich selbst.

Die Leute wunderten sich. Sie war höflich. Immer gerade so, um anderen gegenüber nicht ablehnend zu sein, und immer gerade so, dass niemand ihr freundschaftliche Empfindungen hätte entgegenbringen können. Und auch sonst war es, als nähme sie von allem das rechte Maß. Es war als bräuchte sie keinen Schlaf und es war als hätte sie keinen Hunger. Niemand sah sie je lachen und niemand sie weinen.

Jeden Morgen lief sie durch das Gewirr der Gassen und kam immer auf verschiedensten Wegen, punkt zwölf, wenn die Kirchenglocke schlug und die Sonne am höchsten stand, unter einem alten Eichenbaum zum Sitzen. Dieser Baum stand auf einem unbewirtschafteten Feld und hätten die Kinder sie vom alten Forststand im nebenanliegenden Wald nicht entdeckt, wüsste es niemand, dass sie hier täglich eintraf. Sie setzte sich unter die beschützende Baumkrone auf ihren kleinen Koffer, den sie stets mit sich führte und über den die Leute im Dorf munkelten, dass sie ihn auch im Schlaf immer dabei habe, weil sie ihn dann anstelle des Kopfkissens benutzen würde. Sobald sie es sich auf dem Koffer bequem gemacht hatte, sang sie. Aber sie sang nicht so, wie jeder im Dorf hätte singen können. Sie sang ganz außergewöhnlich. Niemand hatte bisher so eine Stimme vernommen und nicht nur die Kinder waren entzückt darüber, sondern auch die Bewohner des Dorfes lauschten andächtig der fremden Melodie, wenn der Wind sie zu ihnen trug. Bis zum Untergang der Sonne konnte man sie noch singen hören.

Und so kam es, dass ein jeder auf sie wartete. Ein jeder wartete Tag für Tag auf das Mädchen. Niemand hätte es vor dem Anderen zugegeben, aber jeder wartete auf das Mädchen, das immer barfuß ging, auf das Mädchen mit dem kleinen Koffer in der Hand. Ein jeder wartete punkt zwölf auf ihren Gesang unter dem alten Eichenbaum.

Und wie verstört waren die Leute im Dorf, als eines Tages ihre Stimme ausblieb. Alle stürmten aus ihren Häusern. Die Kinder rannten vorneweg, die Männer kamen mit den Gewehren hinterdrein, die Frauen schluchzten in ihre umhäkelten Taschentücher. Niemand wusste, wo sie hingegangen war.

mein fotografisches Gedächtnis


Während man im Radio jene beziffert, die auf der anderen Seite des Planeten bei der schlimmsten Überschwemmung ertrunken sind, tropft mir der Honig vom Brötchen in die Hand. Die Serviette löst sich in einzelne Lagen, als ich mich abputze, so dass die äußeren Schichten zu Knäueln verkleben, während das Innere unberührt bleibt. Ich lecke meinen Handballen, ausgiebig schmatzend, wie sich dein Hund seine Pfoten leckte, und freue mich über dein entsetztes Gesicht. Du zischst, was denn die Leute denken sollen, und ich setze an, dir „Was sie wollen.“ zu antworten, aber als es süß schmeckt und salzig erinnere ich mich.

Daran, wie du geschmeckt hast, gestern, als sich dein Schweiß mit dem Regen vermischte, der den Tag kurz vor seinem Ende achtlos in die Gullis spülte. An die Tropfen, die in deinen Haaren hingen, und den Widerwillen unserer Haut, als sich dein Hals von meinem löste. Du hast mich berührt, daran erinnere ich mich. Aber nicht an diesen Ort.

Rückwärts im Zug haben wir durch Fotos geblättert. Du hattest mich gebeten, nach ihnen zu suchen, als feststand, wohin die Reise ging. Bestimmt wäre da meine Mutter drauf, mein Lausbubenlächeln und die 80er Jahre und vieles, was du noch nicht weißt. Ich fand sie in einer Kiste im Keller zwischen Münzen und Marken in einem Album – halbvoll. Tatsächlich zeigen sie meine Mutter, meine Igelfrisur und die DDR. Vor allem aber vieles, was ich nicht mehr weiß.

Als du das Album aufschlägst, findest du, dass es nach Kleber riecht, nach fremdem Zuhause ein bisschen und nach vergangener Zeit. Ich rieche Keller, Feuchte und Schimmel, und greife schweigend nach dem ersten Seidenpapier.

Ein Junge lehnt an einem Geländer am Hafen.
Am Steg heißt ein Schiff „Völkerfreundschaft“.
Am anderen Ufer ein Campingplatz.

Ein Junge steht im Brunnen am Marktplatz.
Ein Hering aus Stahl speit auf seine dicklichen Waden.
Die Rathausuhr sagt, es sei dreiviertel drei.

Ein Junge sitzt auf einem Koffer am Bahnhof.
Am Kiosk hinter ihm gibt es Fischbrötchen
und Bockwurst mit Senf für 0,8 Mark.

Der Junge bin ich, du siehst das sofort. Du findest, dass ich süß bin. Ich frage dich, wann. Du zeigst mir den Stempel auf der Rückseite eines Fotos und sagst Juli Neunzehnsechsundachtzig. Ich frage nach heute. Du lachst und bist schön.

Wir blättern weiter:
Meine Mutter raucht in den Abendhimmel.
Ihre roten Lippen haben den Filter gefärbt.
Die hellgrünen Lider passen perfekt zum Blouson.

Meine Schwester schaukelt gegen das Licht.
Ihr Haar hat die Farbe von reifem Getreide,
ihr Kleid lacht über himmelblau.

Ihr Mann klettert in einen Kirschbaum.
Sein Bart maskiert ihn als Freiheitskämpfer.
Seine nackten Füße haben schwarze Sohlen.

Heute ist meine Mutter nicht mehr und meine Schwester geschieden. Aber nicht von diesem Mann, der ist in den Jahren verloren gegangen. Und ich? War schonmal hier. Und weiß es nicht mehr.

Das ist in Ordnung, sagst du, völlig normal. Und nicht wahr, versprichst du, es ist alles noch da. Finden wir die Orte, finden wir auch die Geschichten. Du wettest, ich zweifle. Wir wollen suchen gehen.

Du wickelst zwei Brötchen mit gelber Konfitüre in frische Servietten und nennst sie Proviant. Ich leere meinen Malzkaffee bis auf den Satz, um dich anzugrinsen mit schlammigen Zähnen. Und in dein Lachen auf das ich zählte, frage ich trotzig, was dieser Moment wert war, wenn er dir nicht bleibt. Momente bleiben nicht, dozierst du, nur die Geschichten, die aber für immer. Und weil ich das schön finde, aber nicht glaube, ziehen wir los, mit den Fotos und deiner Kamera und dem Proviant, die Orte zu finden, an denen ich in die Sonne blinzelte, fünfundzwanzig Jahre vor heute.

Den Schlüssel zu unserem Zimmer lässt du am Tresen in ein dunkles Fach hängen, damit er nicht verloren geht, wie manches. Währenddessen stecke ich meine Hand bis zum Gelenk ins Bonbonglas, um zwischen den Drops nach den Toffees zu angeln, die du so liebst. Du bist sehr erwachsen, aber ich kann manche deiner Traurigkeiten mit Bonbons vertreiben. Das hat im Frühling funktioniert als dein Hund weg ist, und du ihm nachwolltest. Wenn auch nur ein bisschen. Und heute muss es wieder funktionieren, denn ich werde mich nicht erinnern.

Bei unserer Ankunft gestern Abend, Gleis vier, hast du gesprochen, und ich geschwiegen. Du hast vom Garten deiner Oma erzählt, der auch an Gleise grenzte, so wie die Gärten, die wir gerade passierten. Einmal war der Bach so weit über seinen Lauf getreten, dass ihr Kinder, in einer Badewanne aus Holz durch die Sträucher geschippert seid, um die Aprikosen zu ernten.

Ich mochte die Geschichte, aber ich kannte sie schon, und so suchte ich still in der Umgebung nach Dornen, an denen ich meine Erinnerung hätte ritzten können.

Als wir uns vor dem Bahnhof wie durch einen Irrgarten, durch die parkenden Autos schlängelten, habe ich gesehen, dass dort kein Kiosk mehr steht. Fischbrötchen muss man heute bei Nordsee kaufen. Auf dem Weg zur Pension habe ich das Rathaus entdeckt, hinter Gerüsten und Planen, und den gepflasterten Platz mit seinen Geranien, und dem Wochenmarkt. Aber ohne Brunnen. Und als wir vor Mitternacht unten am Hafen das Gewitter grüßten, das wir aus dem Radio kannten, haben wir gespottet, dass die Schiffe heute „Sea Princess“ heißen. Als dann der Blitz einschlug, in dich und mich, war da kein Geländer.
Das weiß ich, denn ich hätte eines gebraucht.

Mit den Füßen im Wasser liegen wir am Ufer und ich mit meinen Haaren auf deinen, auf dass auch meine Haare nach Regen riechen. Wir sind erschöpft, weil du dich verrannt hast in alten Bildern, und ich mir in neuen Schuhen Blasen gelaufen habe.

Am Bahnhof gibt es keine Bockwurst mehr und auf dem Markplatz keine Wasserspiele. Der Campingplatz ist ein Einkaufszentrum und die Rathausuhr zeigt nicht mehr die Zeit. Du bist traurig, weil nichts mehr da ist, die Orte nicht und nicht die Geschichten und auch sonst nichts, an das ich mich erinnern könnte. Und ich streichle deine Wange und seufze
und bin da.

„Wenn doch alles verschwindet -“ fängst du an, als ich endlich einen Toffee zu fassen kriege und ihn sofort in deine Hand lege, damit du ruhig bist. Ich bin auch ruhig und sage dir nicht, dass du eine Wette verloren hast, denn ich habe nichts gewonnen. Und während auch ich ein Trosttoffee kaue, überlege ich, ob es ein Wort gibt für dieses Gegenteil eines Déjà-vu.

Da nimmt mir der Wind das Papier aus den Fingern und legt es aufs Wasser und trägt es davon. Und als ich das sehe, frage ich erst mich und dann dich, was uns trauriger macht: dass die Geschichten fehlen oder die Bilder noch da sind. Und weil du schweigst, setz‘ ich mich auf, nehme die Fotos aus dem Dunkel der Tasche und zerreiße das erste in zwölf kleine Quadrate. Da setzt du dich auf, schnappst dir neun Teile und fragst mich, ob ich denn von allen guten Geistern verlassen sei. Von dir nicht, flüstere ich und gebe dir kampflos die restlichen drei.

Und als ich das letzte Stück zurück ins Puzzle lege, küsst du mich und lobst mein fotografisches Gedächtnis. Wir lachen. „Bleib so!“, rufst du, greifst zur Kamera, legst deinen Arm um mich und nimmst ein Bild auf.

Kunstlederkoffer, weinrot, Reißverschluß defekt, Namensschild fehlt

darin:
1 Strickjacke, grün, stark abgetragen,
3 Blusen, weiß, rosa, grün, teilweise fleckig
5 Röcke, blau, grün, schwarz, grau, schwarz, verschmutzt
7 Paar Strumpfhosen, mehrfach gestopft
1 Strumpfhose, original verpackt
2 Paar Wollstrümpfe, getragen
1 Tagebuch, altrosa, samtbezogen, stark abgegriffen
2 Paar Ballettschuhe, weiß, purpurrot, unbenutzt
4 Paar Ballettschuhe, weiß, weiß, rosa, blau, löchrig
1 rechter Hausschuh, Kamelhaar, Sohle ausgetreten
1 rechter Straßenschuh, grünes Leder, Absatz fehlt
1 rechter Straßenschuh, ockerfarbenes Leder, mit Einlage, gut erhalten
1 goldfarbener Ehering mit Gravur „A M 12.1.44“ , stumpf
1 silberne Kette mit goldfarbenem Ehering mit Gravur „F M 12.1.44“, verbogen
1 goldfarbener Anhänger, grüner Stein, keine Abnutzungsspuren
53 Postkarten der Stadt Prag in Seidenpapier gehüllt, allesamt unbeschrieben
1 Reichskunstmedaille der Stadt Dresden, Verpackung fehlt, sehr gut erhalten
1 Medaille Held der Arbeit, Kunststoffetui, sehr gut erhalten
1 Ehrenmedaille der Stadt Leningrad, Holzkästchen mit Intarsien, sehr gut erhalten
1 Buch: Das Kapital, mit Textunterstreichungen, Randnotizen, Beschlagnahmevermerk, stark abgenutzt
1 Buch: Theorie des Ausdruckstanzes, Beschlagnahmevermerk, stark abgenutzt
12 Eintrittskarten, 32 Ballettkarten, 28 Opernkarten und 1 unbenutzte Kinokarte
1 hellbraunes Briefkuvert, DIN A5, darin:
1 Hochzeitsfotografie mit der Signatur 12.01.44
1 Kleinkindfoto, Rückseite Bleistiftvermerk „Ein lieber Gruß von der Landesheilanstalt Stadtroda“
1 ganzseitiger Zeitungsartikel, 1951, Uraufführung im Mariinskitheater, Leningrad, vergilbt
1 Aufführungsplakat, 1952 „Das Frühlingsopfer“ von Igor Strawinsky, Komische Oper, Ecken abgerissen
1 Stifte-Etui, braunes Kunstleder mit diversen Inhalt, abgenutzt
1 Damenbrille, Hornimitat, Bügel geklebt
1 Herrenbrille, goldfarben, gut erhalten
1 Brief an das Büro des Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker, handgeschrieben, 1973, gut erhalten
1 Antwortschreiben, schreibmaschinegeschrieben, 1973, zerknittert
1 Brief an das Büro des Petitionsausschusses des Deutschen Bundestages, handgeschrieben, 1991, gut erhalten
1 Antwortschreiben, maschinegeschrieben, 1991, zerrissen, mehrfach geklebt
1 Brief an das Büro der Entschädigungsstelle für die Opfer der NS Regimes, handgeschrieben 1992, gut erhalten
1 Klarsichthülle mit einem Entlassungsformular der Haftanstalt Ravensbrück, 1942, Knitterstellen
1 Klarsichtfolie mit einem Entlassungsformular der Haftanstalt Hohenschönhausen, 1953, sehr schlecht erhalten, viele Klebestellen
1 vierseitiges Urteil über die Aufhebung eines Entmündigungsverfahrens von 1943,
Siegel der sowjetischen Militärverwaltung und Unterschrift 1945, Stempel des Bezirksgerichtes Dresden mit Unterschrift, 1946, handschriftlicher Rücknahmevermerk, Bezirksgericht Berlin, 1953, gut erhalten
1 Kommentierung des Grundgesetzes der BRD, zwischen den Buchseiten DM 900.- in druckfrischen Scheinen
DM 29,73 Münzgeld in einer Nivea-Dose
1 Pass, Deutsches Reich, Visaeinträge, Polen, Sowjetunion, Iran, Türkei, Frankreich, Algerien, Beschlagnahmevermerk 1942, Ecken abgeschnitten
1 Personalausweis der DDR mit dem Aufdruck „ungültig“, 1953, gut erhalten
7 Vorläufige Personalausweise der DDR für einen „Eingezogen Personalausweis“ mit verschiedenen Aufenthaltsbeschränkungen, Schlüsselabgabevermerk, allesamt abgegriffen
1 Personalausweis der BRD, 1992, ohne Visavermerk, unbenutzt
1 Schwerbehindertenausweis des Amtes für Familie und Soziales der Stadt Dresden, 1995, mit dem Vermerk „unbefristet“, sehr gut erhalten
1 Mitgliedsausweis der KPD, Beschlagnahmevermerk 1938, Seiten fehlen, schlecht erhalten
1 Mitgliedsausweis der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes, mit Auflösungsanordnung, 1953, Stempel der Polizei Stadt Dresden, mehrfach geklebt
1 Schachtel Veronal, Inhalt vollständig, Verpackung sehr stark abgegriffen