Schuhe

Anderweitig vertan sind die Schuhe.
Selbst Strümpfe frieren, denn es bleibt Winter.
So frieren die Schuhe mit den Menschen
– ein. Man möchte im Leben
wirklich kein Schuh sein.

Erstens wäre man geteilt (denn was
ist einer ohne den anderen),
dann das Stolzieren und dann
das Wandern.
Das nützt doch keinem!

Niemandes Schuh möchte man sein.
Ginge kaputt und dann gen Müll,
in Tüll aber schlafen die Frauen nackt
– darunter…
Doch einen Schuh wirtschaftet
man herunter.

Undankbar und ohne Schuhfett
nässt man, schwitzt man, stinkt.
Überhitzt man überhitzig,
unvollzählig und traurig.

Trauern muss der Schuh:
denn ohne ein Schuh Ich
ist kein Schuh Du.

21.08.2019

Unter dir (Teil 1)

Mit einem Schwung, den ich mir mühsam über die letzten Jahre antrainiert habe, rutsche ich unter das Bett. Ich schiebe meinen Hintern auf dem glänzenden Linoleum hin und her, bis ich das Gefühl habe, genau unter deinem Körper zu liegen. Ich schließe die Augen, achte auf das surrende Geräusch deiner Atemanlage und höre einen ungewohnten Ton heraus. Sofort versuche ich anhand deines Atems herauszufinden, was dir in den letzten 24 Stunden passiert sein könnte. Damit ich deine passende Frequenz schneller finde, halte ich meine Atmung an. Meist gelingt es mir so, schnell in deinen Rhythmus einzudringen. Nur manchmal bockst du. Aber gegen meine Yogaübungen, die ich nur für unseren gemeinsamen Rhythmus zu Hause übe, bist du völlig machtlos. Warum es mir diesmal nicht gelingt, kann ich nicht sagen, bringe es aber zum einen mit meiner Chefin in Zusammenhang. Zum anderen damit, dass wir beide heute unseren besonderen Tag haben und ich seit dem Morgen aufgeregt bin. Bei dem Gedanken an unsere besondere Nacht, schiebe ich meinen Körper unruhig auf dem gebohnerten Fußboden hin und her und stoße mich mit dem Knie an einer der Querstreben des Bettes. Ich fluche. Um mich von dem Schmerz abzulenken, klopfe ich mit den Fingern abwechselnd Morsezeichen an das blöde Metallgestell. Dabei fällt mir ein, dass du es warst, der mich damals auf die Idee mit dem Morsen gebracht hatte. Immer wenn ich dich fragte, mit wem du bei den Pfadfindern morst und ob auch Mädchen mitmachen, fühltest du dich genervt. Und das brachte mich auf die Idee, mich ebenfalls dort anzumelden, um dich bei deinem Schweinskram mit den anderen Mädels auf frischer Tat zu ertappen.
Ich werde müde und klopfe lauter und schneller an das Metallgestell. Manchmal fange ich unter dem Bett liegend, zu Schnarchen an. Vor deinem Unfall hattest du mir in unseren Nächten oft vorgeworfen, zu schnarchen. Alte Schnarchguste, hattest du zu mir gesagt. Du schnarchst wie meine Oma. Beleidigt gab ich dir jedes Mal einen Klaps auf deinen muskulösen Hintern und sagte, dass deine Oma tot ist und ich lebe. In manchen Nächten werde ich von der eintönigen Büroarbeit schlagartig müde und muss hier unten aufpassen, nicht doch einzuschlafen. Dann frage ich mich jedes Mal, wie das alles enden soll, wenn wir beiden irgendwann ein altes Ehepaar sind.
Ich gähne und baue dir meine heutigen Tageserlebnisse vorsichtig in den Rhythmus des Atems hinein, den ich vorgebe. Ich sage dir, dass ich glaube, dass meine Chefin ahnt, dass ich jede Nacht zu dir gehe. Glücklicherweise kann sie es aber nicht beweisen. Deswegen, glaube ich, gibt sie mir in der letzten Zeit zum Feierabend neue Aufgaben. Ich hoffe sehr, dass sie schwanger wird. Wenn es geht Zwillinge oder gleich Drillinge. Dann hat sie massig Scherereien und lässt mich in endlich Ruhe.

Das Schlüsselgeklapper beendet meine Unterhaltung an dich und schiebe mich näher an die Wand. Dabei stoße ich mich an der Schulter. Die Tür geht auf und eine Stimme erzählt überlaut, dass sie jetzt hier wäre und du dich jederzeit melden könntest, wenn du etwas benötigt. Sie sagt das Wort jederzeit in einem vertraulichen Ton, der mir einfach nicht gefällt. Trotzdem bin ich froh, dass die Schwester mit der überlauten Stimme und dem Schlüsselgeklapper heute Nachtdienst hat. Sie steht über das Bett gebeugt und scheint dich zu streicheln, zumindest kommt es mir hier unten an meiner linken Wange und auf der Stirn so vor. Es krabbelt. Mit einem lobenden Satz über den sauberen Nachttisch geht sie zur Tür zurück und dimmt das Licht. Lobende Worte spricht nur diese Schwester. Das gefällt mir an ihr. Auf einmal habe ich den Wunsch, sie näher kennen lernen zu wollen. Früher, als ich begann, mich unter das Bett zu dir zu legen, um nicht mehr in den Nächten allein zu Hause zu sein, hatte ich sie wie alle anderen Schwestern gründlich beobachtet und viele Notizen in meine Karteikarten eingetragen. Tagsüber war ich ihr müde hinterhergelaufen und wusste recht schnell wie sie heißt, wo sie wohnte, was sie alles einkaufte, mit wem sie rumlungerte und wohin sie in den Urlaub fuhr. Bei keiner anderen Schwester habe ich jemals soviel Mühe aufgewandt. Ich weiß auch, dass sie, wie ich, keine Geschwister hat und allein bei ihrer Mutter lebt und manchmal deren teures Auto fährt. Und ich weiß, dass sie immer noch keinen Freund hat. Eine Zeit lang hatte ich überlegt, ob ich ihr einen Freund suchen sollte. Ich hatte für sie Annoncen aufgegeben und ihr über Wochen hinweg die Briefe unter den Scheibenwischer geschoben, in der Manteltasche oder einem ihrer fremdsprachigen Reiseführer versteckt. Genützt hatte es aber nichts. Soweit ich weiß, hat sie nie einem der vielen Bewerber zurück geschrieben. Da hatte ich ihr dann die Liebesbriefe, die ich dir in der Schule geschrieben und in deiner Schultasche versteckt hatte, einfach abgeschrieben. Zum einen um sie endlich mit einem netten Mann zusammenzubringen, denn unbemannte Schwestern sind so ziemlich das Gefährlichste was es gibt. Und zum anderen, weil sie doch immer so lieb zu dir ist. Aber nachdem sie in der Kantine allen erzählt hatte, dass ihr eine unnachgiebige Lesbe Liebesbriefe schriebe, lies ich die Schreiberei bleiben. Ich vermute, meine Handschrift hatte mich damals verraten. Im Verstellen war ich leider noch nie gut. Von jeher mag ich keinen Fasching, kein Ostereiersuchen und auch kein `Ich-sehe-was, -was-du-nicht-siehst`.
Was macht sie da bloß? Sie hantiert immer noch am Bett. Das dauert heute länger als sonst. Ich sehe auf ihre Schuhe, sie hat immer noch ihre alten Birkenstockdinger an. Seit ich ihre Füße hier unten sehe, trägt sie diese alten ausgelatschten Dinger. Vielleicht sollte ich ihr zu Weihnachten ein paar neue Wichteln. Das gäbe eine schöne Verwirrung. So etwas kann ich gut. Verwirrungen stiften, ja das mag ich sehr. Welche Größe sie hat, habe ich in meinem Merkbuch eingetragen. Es ist ca. die 40. Beim Gedanken ans Wichteln, sehe ich, dass sie die Fußnägel knallrot lackiert hat. Ich schüttle den Kopf und bin mir sicher, dass ich ihr doch noch einen Mann besorgen muss. Dich bekommt sie jedenfalls nicht!
Endlich öffnet sie die Krankenzimmertür. Sie dreht sich nochmal um, hält dir die ausgestreckte Hand entgegen und macht einen ihren üblichen Luftküsse. Früher machten mich ihre Luftküsse rasend und ich wollte in die Verwaltung gehen und protestieren oder ihr zumindest in die Waden treten. Aber dann hatte ich mir gedacht, dass sie es sowieso abstreiten würde und ich es ja auch nicht beweisen könnte ohne mich dabei zu verraten. Schließlich hatte mich die Angst abgehalten, sie könnte dir etwas antun, oder zumindest nicht mehr so freundlich zu dir sein. Und das wollte ich dir auf keinen Fall zumuten. Manchmal empfand ich ihre Luftküsse auch als eine Art Liebenswürdigkeit und ich war mir nicht sicher, ob sie diese Luftknutscherei auch mit anderen Patienten machte, denn dann wäre sie ein Miststück, oder ob sie diese Liebelei nur mit dir machte, dann war es ihre Art von liebenswürdiger Aufmerksamkeit für dich. Durch meine jahrelange Beobachtung war ich eher der Meinung, dass es Aufmerksamkeit ist. Egal. Ich wusste vom allerersten Tag unserer Beziehung, dass ich höllisch auf dich aufpassen muss. In der Schule, wenn du halb angezogen vom Sport kamst, drängelten sich unsere Klassenkameradinnen um dich, trugen dir die Sporttasche und den Rest deiner Kleidung hinterher oder wollten mit dir ins Schwimmbad gehen. Am Schlimmsten war es, wenn du aus dem Musikunterricht kamst und verträumt vor dich hinschautest. Die Mädchen wollten dann von dir wissen, was du im Unterricht gespielt hattest, was für ein Instrument sich im Beutel befand und ob sie mit dir mal am Abend ein paar Stücke üben durften. Seit ich das mitbekam, wartete ich vor der Schule und begrüßte dich vor allen Mädchen der oberen Klassen, in dem ich dich umarmte. Anschließend ging ich mit dir Hand in Hand Eis essen oder nach Hause.

Mit einem Schwung kullere ich mich unter dem Bett hervor. Ich ziehe mich langsam am Gitter hoch und begrüße dich mit einem überlauten Kuss. Ich mag dieses schmatzende Geräusch, das die Stille in dem wenig beleuchteten Raum beendet und mich unmissverständlich bei euch drei Patienten ankündigt. Manchmal küsse ich dich so oft und so laut und verlängere dabei die Geräusche, bis ich keine Luft mehr bekomme oder Angst habe, du könntest davon aufwachen oder die Schwestern könnten ins Zimmer kommen.
Ich öffne den Nachttisch und krame den großen Silberkamm, den ich mir von dir von unserer ersten gemeinsam besuchten Haushaltauflösung erbettelt hatte und mit dem ich stundenlang alle Haare deines Körpers kämmen konnte, aus dem unteren Fach. Weil du es wahnsinnig geliebt hast, stelle ich mich vor dir auf und kämme mit dem Silberkamm in Zeitlupe durch meine Haare. Dabei drehe ich dir den Rücken zu, schaue über die Schulter und binde die durchgekämmten Haare zu einem Dutt zusammen. Ich strecke meinen Po zu einem Entenhintern heraus, wackle im Watschelschritt eine Runde um den Nachttisch herum und mache dabei das Geräusch einer Ente. Ich stelle mich wieder vor dir auf, schüttle den Kopf und wühle mit einer wischenden Handbewegung deine brave Frisur durcheinander. Ich mag sie nicht. Ich mag die langweiligen Frisuren, die sie dir hier kämmen, überhaupt nicht. Stundenlang habe ich den Schwestern erklärt, dass ich keinen Mittelscheitel, Seitenscheitel oder sonst so einen Opakram haben will; aber keine hat jemals auf mich gehört. Vor Wut frisiere ich dein schwarzes, lockiges Haar wild durcheinander, kämme dir sexy Haarsträhnen über die Augen bis zur Nase und kitzle dich mit deinen eigenen Haarspitzen. Irgendwie bekomme ich jetzt, wo du wieder die tolle, wilde Frisur aus unserer Campingzeit hast, den Wunsch, dir einen megafetten Knutschfleck zu verpassen. Ich beginne exakt an der Stelle unter deiner sichelförmigen Narbe meine Lippen aufzulegen und zu saugen, an der ich mich früher gern zu schaffen gemacht habe. Ich finde deine Haut riecht heute wieder nach Krankenhaus. Sicherlich hat dich am Morgen die ältere Schwester gewaschen. Sie nimmt ständig die Krankenhauskosmetik, obwohl ich es ihr hundertmal verboten habe. Ich rieche noch einmal über deine Krankenhaushaut und öffne mein kleines Fläschchen, das ich mir eigens für diese Momente zugelegt habe und am Hals in einer deiner vielen handgefertigten Lederhüllen unter dem T-Shirt trage. Vorsichtig schiebe ich die Bettdecke und dein Hemd um die Schläuche herum. Ich tropfe einzelne Tropfen aus dem Fläschchen zuerst auf deine Stirn, auf deine Augenlider, auf deine beiden Brustwarzen, in deinen Bauchnabel, auf die beiden Hoden, die Armbeugen, auf jeden Finger, auf deine Oberschenkel, die beiden Knie und zum Schluss auf jede deiner Zehen. Ich tropfe, bis das kleine Fläschchen völlig leer ist. Mit den Fingerspitzen verreibe ich die Flüssigkeit auf deinem immer noch schönen Körper. Ich schließe die Augen, lege mein Ohr auf deine linke Brustwarze und lausche dem Rhythmus deines Herzschlages. Zufrieden atme ich tief ein und rieche an deiner weißen und nun gut duftenden Haut. Da ich mich auch heute nicht benehmen kann, strecke ich die Zunge heraus, lecke an deiner Haut und habe Lust dir endlich den überfälligen Knutschfleck zu verpassen. Knutschflecke konnte ich schon immer schöne machen. Die wurden bei mir besonders bunt und blieben lange bestehen. Dafür war ich in der Schule berühmt. Ich glaube, mein erster Freund hatte sich deswegen geschämt und ist auch deswegen weggerannt. Ich hole noch einmal tief Luft und sauge an der Stelle, an der ich für gewöhnlich früher meine Knutschflecke hinknutschte. Ich weiß, dass du Küsse magst und dass du auch das Machen der Knutschflecke liebt. Und ich weiß, dass du früher dabei eine Erektion hattest und vorschnell kamst. Manchmal schob ich meine Hand vor dein Glied und wartete bis es bei dir losging und alles auf meiner Hand landete. Ich wusste vom ersten Tag an, dass wir uns lieben und für immer zusammengehören. Und vom allerersten Tag an, wusste ich auch, dass ich es niemals zulassen würde, dass uns irgendwer ungestraft auseinanderbringt.
Ende Teil I

Lieber Kai,

was passiert ist, siehst Du. Wenn es Dich überrascht, war es richtig. Wenn nicht, erst recht. Kai: Ich verlasse Dich.

Auf der Heimfahrt von Svenjas Taufe habe ich Dich gefragt. Ob mein Gefühl mich täuscht, dass Du mich nicht mehr willst. Ob es wahr ist, dass ich Dir auf die Nerven gehe, sobald ich spreche. Ob es stimmt, dass Du meine Nähe suchst, aber doch nur deine Ruhe willst. Alles Blödsinn, hast du geantwortet. Wie ich darauf komme und was das soll! Dann bist du eingeschlafen. Ich spüre es, Kai. Ich spüre, dass Du zuhause sein willst bei mir. Dass du zu mir gehören willst. Dass Du Dich führen lassen willst, wann immer Du meine Hand greifst. Ich will Dich aber nicht führen. Ich kenne Deinen Weg nicht. Und unser Weg ist lange zu Ende.

Du machst mich nicht mehr glücklich. Und Du bist es nicht mehr. Dein wacher Blick ist ganz schmal geworden, deine Haare kommen mir wie Stroh vor und deine Hände sind kalt. Wann hast Du das letzte Mal mit mir geschlafen? Zählen die fünf Minuten nach meiner Geburtstagsparty? Wann hast Du mich das letzte Mal geliebt? Auf dem Zimmer nach Martins Hochzeit? Du warst betrunken! Wann hast Du mich zum letzten Mal angesehen? Mir einen Kuss gegeben, kein Küsschen?

Wenn Du sprichst, wünsche ich mir, dass Du Dich räusperst, um das Fisteln von deinen Bändern zu wischen. Ich wünsche mir, dass Du etwas sagst. Du sprichst über bedingungsloses Grundeinkommen, über strukturellen Sexismus, über grüne Energie. Je weiter ein Thema von Dir weg ist, umso leidenschaftlicher sprichst Du. Über Dich sprichst Du nicht. Über mich immer nur gut. Wenn ich frage, streiten wir. Das heißt: Ich streite. Du schweigst.

Was hat Dich so grau gemacht? So schwach? So müde? Wir mieten kein Wohnmobil. Wir gehen nicht tanzen. Wir kochen nicht. Wir gehen nicht paddeln, weil dir übel wird. Du grölst nicht mehr mit, wenn sie im Radio einen Ärzte-Song spielen. Du magst Die Ärzte nicht mehr. Funktioniert Dein Lachen noch? Ich erinnere mich kaum.

Ich habe mich verliebt in das, was Du könntest. In Deine Träume, in Deine Ideale und in Deine Klarheit. Du willst einen Roman schreiben, aber du bist seit zwei Jahren auf Seite 34. Du hast eine flache Windenergie-Turbine erfunden, aber der Prototyp verstaubt halbfertig im Keller. Das alte Segelboot hat dein Vater inzwischen verschrotten lassen. Du bewachst dein Potential wie einen Schatz. Du überhöhst Dich mit Deiner Intelligenz. Du behauptest, jeden übertrumpfen zu können, aber du trumpfst nicht auf. Wenn andere scheitern, sagst Du, Dir wäre das nicht passiert. Dir kann nichts passieren, wenn du nichts tust. Du pokerst im Internet. Du guckst Filme. Du verplemperst Dich.

Du verachtest Deine Chefin, aber Du dienst ihr treu. Du verabscheust die Dunkelheit dieser Wohnung, aber wir ziehen nicht um. Nachts drehst Du Dich weg von mir aber Du bleibst in meinem Bett. Warum, Kai? Jede Spinne rettest Du aus dem Bad in die Freiheit. Aber Dich befreist du nicht. Ich auch nicht. Ich habe es lange versucht. Ich glaube, du willst, dass ich dich gefangen halte, weil du dich vorm Freisein fürchtest. Ich bin Deine Ausrede für alles, was Du nicht tust.

Du fürchtest Dich, Kai. Vor dem Kämpfen, vor dem Scheitern und vor dem Gewinnen auch. Mir aber graut vor dem Stillhalten. Erinnerst Du Dich an den furchtbaren Abend beim Italiener? Unser Jahrestag? Die Bilanz und die Diskussion über eine Paartherapie? Du leugnest. Du wiegelst ab. Du spielst Zufriedenheit. Du bittest um Geduld. Alles wird sich fügen. Nichts fügt sich! Warum sollte sich jemals etwas fügen? Du bist unglücklich, ich bin unglücklich!

Ich bin eine tolle Frau, hast Du mir an die Akademie geschrieben. Eine starke, wache, kluge! Ich sei makellos, sinnlich, warm. Warum schreibst Du das in E-Mails, Kai? Warum sagst Du, wir können alles schaffen? Wir schaffen nichts!

Wir sind jung! Wir sind schön! Das hier sind unsere besten Jahre. Wir dürfen die verschwenden, ja! Aber wir müssen glücklich dabei sein. Wir dürfen sie nicht an uns vorbeiziehen lassen, während wir auf richtige Momente warten. Wenn Du wirklich Kinder willst, dann ist jetzt die Zeit dafür. Ich will Kinder. Ich werde Kinder haben. Aber Du bist selbst ein Kind und ich werde keine Zeit mehr verlieren. Du wirst nicht ihr Vater sein.

Siehst Du nicht, wie uns alle überholen? Wie Sven und Caro eine Familie werden? Wie Toni und Anja das Haus ihrer Oma umbauen? Wie Luise Karriere macht? Und Katja? Liest Du die Karten, die uns Enzo aus Indien schreibt? Wie nennt man dieses Vakuum, das wir leben? Wir lügen uns an. Wir spielen diese Rollen, weil wir wissen, dass sie sicher sind. Weil nichts passieren kann. Es muss aber was passieren.
Wer bist Du, Kai? Was willst Du? Leben mit mir? Warum hast Du es dann nie fest gemacht? Mich nie geheiratet? Nie einen neuen Bus mit mir finanziert? Kein Haus mit mir gekauft? Das ist spießig, wir brauchen das nicht. Ich höre, wie Du das sagst! Kai: Warum haben wir kein Kind?

Du bist dir nicht sicher. Du weißt nicht, ob Du das willst. Ich weiß, dass du es nicht willst. Du hast es mir gesagt. Deine Augenbrauen. Wie sie zusammengerutscht sind, als ich Dich auf dem Flohmarkt gefragt habe, ob wir diesen Stubenwagen kaufen wollen. Du warst so irritiert. So erschrocken. Der Gedanke war Dir so fremd. Ich weiß nicht, was du willst. Du weißt es auch nicht. Ein Kind jedenfalls nicht. Du bist feige. Ich auch.

Schon in diesem Moment, da ich diese Zeilen an Dich schreibe, weiß ich dass ich feige bin. Es wäre aufrichtiger gewesen, Dir das alles zu sagen, während Du mir an diesem Tisch gegenüber sitzt und die Nachbarn zum Fenster rein glotzen, weil wir immer noch keine Gardinen haben. Aber das ging nicht. Ich habe mir dieses Gespräch in den letzten Tagen oft vorgestellt. Ich bin Argument und Gegenargument, Rede und Widerrede durchgegangen und immer endete es in der gleichen Katastrophe. Einige Sätze, die ich Dir hier schreibe, habe ich vor dem Badspiegel einstudiert. Ich wollte sicher sein, dass an ihren Rändern nicht doch das eine Gefühl zu Dir herüberblitzt, das ich Dir so gern ersparen möchte. Mitleid.

Du hättest versucht mich zu halten, Kai. Das weiß ich. Warum, weiß ich nicht. Du hättest Zugeständnisse gemacht, Einsicht gezeigt und Besserung versprochen. Du hättest Pläne geschmiedet, Termine vereinbart und Farben zum Renovieren gekauft. Du hättest geweint und gefleht und gebettelt, dass ich bleibe. Du hättest vor mir auf den Fliesen gekniet und deine Würde verloren. Ich will Deine Würde nicht, Kai. Du brauchst sie, das Bisschen, das Du hast.

Es gibt nichts, das Du hättest tun können, um mich umzustimmen. Es gibt nichts, dass Du hättest sagen können, um mich zu überzeugen. Es gibt überhaupt nichts mehr zu sagen, Kai. Meine Entscheidung steht. Ich will sie Dir mitteilen, auch ihre Hintergründe. Aber ich will sie nicht diskutieren. Du findest das arrogant und egozentrisch. Du findest, ich sollte mir auch Deinen Teil der Geschichte anhören. Ich sollte wissen, was meine Worte in Dir auslösen. Womit ich vielleicht recht habe, vor allem aber, womit ich falsch liege. Aber ich bin fertig, Kai. Jede Diskussion wäre Schauspiel meinerseits.

Bitte suche mich nicht. Du würdest mich nicht wiederfinden auch wenn Du mich fändest. Ich möchte nicht länger die sein, die ich in deiner Gegenwart bin. Und ich will, dass Du frei bist. Wozu auch immer. Bitte rufe mich nicht an. Bitte hole mich nicht von der Arbeit ab. Ich will, dass Du kämpfst, ja. Aber nicht um mich.

Lebe wohl, Kai.
Und ich meine das: Lebe wohl!

Mira

Durch eine mit einer rot-weiß-gestreiften Plastikhülle überzogene Büroklammer ist ein weiterer Bogen Papier an dem Brief befestigt. Darauf:

Dinge, die ich Dir lasse, obwohl sie uns beiden gehören:
– Vorräte
– Polstergarnitur
– Messerblock und Induktionstöpfe

Dinge, die ich mitgenommen habe, obwohl sie uns beiden gehören:
– Stehlampe im Wohnzimmer
– iPad
– das gute Geschirr
Das Besteck habe ich geteilt.

Dinge, die ich die hier lasse, obwohl sie mir gehören
– Lavalampe
– Schaukelstuhl
– Orchideen

Dinge, die ich mitnehme, obwohl sie Dir gehören
– Nudelmaschine
– Schmale graue Kunstlederkrawatte
– Heizdecke

Dinge, die ich verkauft habe, obwohl sie Dir gehören:
– Mikrowelle
– Playstation
– Model-Lokomotvien
Das Geld ist im Umschlag. Kauf Dir was Schönes.

M.

Einsvierzig mal zwei Meter

Deine Fingerspitzen zucken, deine Nägel kratzen über meine Haut. Du machst eine Faust: ich bin wach. Deine Faust liegt auf meiner Brust, sie ist schwerer als deine Hand war. Ich spüre meinen Puls und höre deinen Atem. Ich drehe meinen Kopf, aber um den Wecker zu sehen, müsste ich meinen Körper drehen. Das wage ich nicht: du schläfst. Erfahrungsgemäß ist es kurz nach drei und es wird kurz vor vier sein, bevor ich wieder einschlafe. Dem Beben deines Körpers zufolge dauern deine Träume sieben bis neun Minuten. Einmal hat ein Traum vierzig Minuten gedauert; darin ging es um einen Einbrecher, der alles in deiner Wohnung fotografierte, während du dich im Schrank versteckt hieltest. Genau konntest du dich nicht erinnern; woran hättest du dich erinnern sollen, im Schrank war es dunkel. Trotzdem darf ich dich nicht mehr fotografieren, seitdem.

Ich drehe den Kopf in die andere Richtung, ich wende mich dir zu. Ich beobachte das Zucken deiner Mundwinkel und wie sich deine Kiefer gegeneinander verschieben. Ich hoffe, dass sich deine Lippen öffnen, damit ich von ihnen lesen kann. Ein einziges Mal hast du im Schlaf gesprochen; du hast „Nein. Mein.“, gesagt. Ich bin mir sicher, denn damals lag meine Hand auf deiner Brust und ich spüre noch, wie sie bei den N´s vibrierte. Ich habe dich zugedeckt, weil ich dachte, du frierst. Du bist aufgewacht, hast „Weg, weg!“ gerufen, dir die Decke über den Kopf gezogen und mir den Rücken zugewandt. Am nächsten Morgen konntest du dich nicht erinnern; ich glaube, du wolltest nicht. Sich nicht erinnern können ist deine Art, ohne eine Diskussion Nein zu sagen.

Ich studiere das Zucken deiner Wimpern. Ich verfolge deinen Blick, dessen Richtung sich unter deinen Lidern erahnen lässt. Deine Lider sind nur dünne Häutchen, aber sie trennen uns. Ich will wissen, was du siehst; ich will von dir wissen. Ein einziges Mal ist mir das bisher gelungen, da habe ich Furcht in deinem Gesicht gelesen; Furcht, vor etwas, das sich langsam nähert und dann Verzweiflung, weil du nicht wusstest, wohin. Ich wollte ein Ausweg sein und habe dir meine Hand auf die Wange gelegt; da hast du nach mir gebissen, schließlich hättest du mir angedroht, mich zu beißen, nächstes Mal. Als ich dich fragte, wann du das gesagt haben willst, hast du die Brauen zusammen geschoben, dir die Decke über den Kopf gezogen und mir den Rücken zugewandt. Am nächsten Morgen zeigte ich dir die Bissmale; du warst erschrocken, dann hast du mit den Schultern gezuckt und mich daran erinnert, dass man schlafende Hunde besser nicht weckt. Ich habe dir nicht widersprochen, denn du hast keine Ahnung von Hunden. Wenn es aber einen Hund gibt in unserer Beziehung, dann bin das ich.

Im Winter haben wir deine Mutter im Gebirge besucht. Sie sagte, sie mag keinen Besuch über Nacht, dabei hat sie drei leer stehende Schlafzimmer, die sie als Gästezimmer bezeichnet. Ich glaube, sie mag nur mich nicht über Nacht; ich glaube, sie mag mich nicht, und dass es damit zu tun hat, dass du jetzt bei mir wohnst. Manchmal schüttelte sie sich kaum merklich, bevor sie mir antwortete; als ich wissen will, wer ihr Gesellschaft leistet, antwortete sie mir gar nicht; niemals fragt sie mich zurück.

Wir schliefen also nicht in einem der Gästezimmer, sondern in einer kleinen Hütte, die dir dein Vater zum 13. Geburtstag gezimmert hatte, auf der äußersten Ecke des Grundstückes, fast schon im Wald. In jener Nacht hast du zum ersten Mal geträumt und als du aufwachtest, war die Nacht zu Ende, obwohl es lange noch nicht dämmerte. Du warst dir sicher, es sei jemand in deiner Hütte gewesen; ich war mir sicher, dass du nur geträumt hattest. Das sei unmöglich, du erinnertest dich sehr klar an jemanden und an deine Träume würdest du dich nie erinnern. Diesmal erinnerst du dich eben, hielt ich dagegen, denn ich war vor dir wach und außer uns beiden war niemand hier. Die Fußspuren im Schnee fielen dir erst auf, nachdem ich zu deiner Beruhigung eine Runde um die Hütte gedreht hatte; es waren meine Spuren, aber das entspannte dich nicht. Die kleine Pfütze auf der Türschwelle entdecktest du erst, nachdem ich meinen Mantel zurück in den Schrank gehängt hatte; es war meine Pfütze, vom Schnee, der aus meinen Sohlen geschmolzen war; aber das war keine Erleichterung für dich. Du hast dich unter unseren Decken verkrochen und ich habe auf dein Geheiß die Hütte durchsucht, auch, wenn du mir nicht verraten wolltest, nach wem. In der Schublade fand ich einen Handspiegel, der weder dir, noch mir, noch deiner Mutter gehörte. Er hatte blinde Flecken, wahrscheinlich wollte ihn deshalb niemand mehr; mein Gesicht war voller dunkler Male, als ich hineinsah. Der Spiegel war kein Indiz für mich, für dich aber war er ein Beweis, auch, wenn du nicht sagen konntest, wofür.

Seit dieser Nacht träumst du und ich schlafe nicht mehr neben dir; ich döse nur, wie ein Hund, dessen Augen nie ganz geschlossen sind, dessen Augen sich unwillkürlich öffnen, sobald sich etwas tut in seinem Revier. Mein Revier bist du, auch wenn du das bestreitest; du bist eine Katze und willst niemandes Revier sein, dabei brauchst du es warm und sicher und dabei brauchst du seit dieser Nacht jemanden, der die Wohnungstür zwei Mal abschließt vor dem Schlafengehen. Du brauchst jemanden, der neben dir wacht, wenn du träumst, auch wenn du das nicht zugeben würdest.

Du wirfst den Kopf hin und her, auf deiner Stirn hat sich ein glänzender Schweißfilm gebildet. Du ächzt, aber du sagst nichts. Ich darf dich nicht wecken, dabei wäre dich zu wecken das Einzige, was ich für dich tun könnte. Dann aber wärest du den ganzen Tag wütend auf mich. Du würdest mich darüber belehren, dass du deinen Schlaf bräuchtest und dass dein Schlaf dir gehöre und einem geheimen Rhythmus folge, den ich nicht zu stören habe. Du würdest so weit gehen, zu erklären, dass es ein Privileg für mich sei, meinen Schlaf an deiner Seite verbringen zu dürfen, dass ich die Grenzen dieses Privilegs jedoch überschritt, wenn ich deinen Schlaf mit meinem Wachen störte. Das alles hast du schon einmal gesagt, und ich glaube, du hast es gesagt, um dich zu rächen für die Sekunde deines Erwachens; die Sekunde, in der ich deine Irritation und deinen Unmut gesehen habe, in der ich dein Wesen frei von Höflichkeit gesehen habe; in der ich gesehen habe, dass dein Wesen, dem eines Tieres gleicht, dem einer Katze, die sich den Rest des Tages auf dem Schrank verkriecht, nachdem man mit Blitzlicht ein Foto von ihr aufgenommen hat.

Ich möchte geweckt werden, wenn ich schlecht träume; ich träume immer das Gleiche und das quält mich. Ich habe dich gebeten, auf mich zu achten, wenn ich schlafe – es würde mich nicht stören, wenn du mich dabei in meinem Wesen erkennen würdest – aber du hast das Kinn nach vorn geschoben. gefragt, wie du auf mich achten sollst: du schläfst. Das Kinn nach vorn schieben und eine Frage stellen, ist deine Art ohne eine Diskussion Nein zu sagen. Damit war bewiesen, dass du die Katze bist und ich der Hund, denn ich kann auf dich achten, selbst wenn ich schlafe.

Wenn ich schlecht träume, träume ich, dass mein Telefon klingelt. Ich befinde mich in wechselnden alltäglichen Situationen, plötzlich klingelt mein Telefon. Ich nehme es aus der Tasche; auf dem Bildschirm wird eine Nummer angezeigt, die ich nicht kenne. Das ist alles. Ich wache schweißgebadet auf; manchmal wache ich schreiend auf, dann bist du auch wach. Du fragst nicht, was ich geträumt habe, sondern wer dran war; du kennst meinen Traum. Du küsst mich auf die Stirn, wenn ich zugeben muss, wieder nicht rangegangen zu sein. Routiniert analysierst du, dass ich zu sehr an dir hinge, und dass das nicht gut für mich wäre. Noch nie war etwas so gut für mich wie du, an was soll ich mich sonst hängen? Du willst mich lieben, weil du mich lieben willst, und nicht, weil dich zu verlieren die größte Katastrophe wäre, die mir zustoßen könnte. Ich nicke, du wendest mir den Rücken zu. Während du schon wieder eingeschlafen bist, liege ich noch wach und grüble, wie ich die Katastrophe verhindern kann: Eines Tages wird dir etwas zustoßen und dann wird man mich anrufen, um mir zu sagen, was. Sobald ich meine Augen schließe, sehe ich den Handybildschirm vor mir. Aus der Erinnerung versuche ich, die Nummer zu rekonstruieren; ich möchte die Nummer anrufen und fragen, was passieren wird, damit ich es verhindern kann. So kann ich nur vermuten: ich habe dich gebeten, nicht mehr mit dem Rad ins Büro zu fahren, sondern mit dem Bus, das ist sicherer. Du hast mir übers Haar gestrichen und gelacht. Mir übers Haar streichen und lachen, ist deine Art, ohne eine Diskussion Nein zu sagen.

Deine Lippen öffnen sich trocken und langsam, jetzt atmest du durch den Mund. Wenn deine Lippen so klebrig aufspringen, dauert es meistens nicht mehr lange, bis du ruckartig einatmest und dann nicht mehr. Ich bin mir nicht sicher, ob das der Höhepunkt deines Albtraumes ist. Ich weiß nicht, ob du gleich anfangen würdest zu schreien, ob du in einer Minute selbst wachwerden würdest oder in zwei Minuten zurück in einen tiefen Schlaf fielest. Ich weiß es nicht, weil ich es weiter noch nie geschafft habe. Wenn du so ruckartig einatmest, dass deine Stimmbänder schwingen und wenn du danach ganz und gar verstummst, muss ich dich wecken, weil ich überzeugt bin, dass du in Gefahr bist; im Traum vielleicht, bestimmt aber in Wirklichkeit: Du musst atmen, ich will es so.

Ich hoffe, dass du vorher aufwachst, dass du von selbst aufwachst, aufschreckst, dich aufsetzt, vielleicht aufschreist. Ich will dann da sein. Ich stelle mir vor, dass du brüllst und um dich schlägst, damit ich einen Grund habe, dich an den Handgelenken zu packen und sanft zurück in die Kissen zu drücken. Ich stelle mir vor, wie ich dir in die Augen sehe, fest und ruhig, und „Alles ist gut.“ sage. Tonlos forme ich die Worte, sie fühlen sich gut an auf meinen Lippen, ich will sie zu dir sagen dürfen; ich will sie sagen dürfen, in einer Situation wie dieser, in der „Alles ist gut“ so sehr stimmt, wie niemals sonst. Ich will, dass du keinen Grund hast, mir zu widersprechen.

Und dann will ich mit meinen Händen fühlen, wie die Spannung aus deinen Händen weicht und ich will mit meinen Augen sehen, wie die Furcht aus deinen Augen verschwindet. Ich werde nicht blinzeln, ich werde nicht riskieren, die Sekunde zu verpassen, in der du mich erkennst; du erkennst mich manchmal und das sind die schönsten Sekunden. Ich werde meinen Griff lockern, damit du deine Arme um mein Genick legen und deinen Körper an meinen ziehen kannst. Und wenn meine Lippen deinem Ohr am nächsten sind, werde ich dich fragen, wer in der Hütte war und was passiert ist und „Ach, du!“ werde ich nicht als Antwort akzeptieren. Ich glaube dir nicht, dass du dich nie an deine Träume erinnern kannst; aber so kurz nachdem du aus einem Albtraum aufgewacht bist, könnte ich es dir so wenig glauben, dass ich mit dir streiten müsste.

Deine Lippen schließen sich wieder und du machst „Mm“. Dein Kopf fällt zur Seite und deine Lippen schürzen sich kurz. Ich atme ruckartig ein und halte die Luft an. Das ist der Moment, an dem ich in deinem Traum vorkomme. Mein Name beginnt mit M und du hast deine Lippen geschürzt. Ich stelle mir vor, wie ich dich im Traum küsse und dann küsse ich dich. Ich muss es ganz sanft machen, um dich nicht zu wecken, diesmal.

Du streckst dich und lässt alle Luft aus deinen Lungen entweichen. Dann öffnest du kurz deine Augen und steckst deinen Kopf unter mein Kinn.
Wir schlafen.

Briefe & Falten

Aus dem Briefkasten fällt ein Umschlag. Ich klemme meine Einkäufe unter den Arm, bücke mich und erwische ihn zwischen Zeigefinger und Mittelfinger. Ich wundere mich darüber, wie dick und weich er sich anfühlt. Ich lese meine Adresse und versuche von der Handschrift auf den Verfasser zu schließen. Meine Hausnummer wurde ausgebessert, aber wer sie falsch hin schrieb und dann korrigierte, erkenne ich nicht. Auf der Rückseite des Umschlags steht ein Wort. Ich kann nicht entziffern, welches. Es besteht aus unterschiedlich hohen Spitzen und Haken, es hat keine Ösen, keine Schlaufen, keine Kringel. Der Handschrift nach eine aggressive Person, denke ich und komme mir albern vor. Ich reiße das Kuvert auf, vorsichtig, an der Seite, damit das Wort auf dem Rücken keinen Schaden nimmt. Ohne den Brief auseinander zu falten erkenne ich an den sich auffächernden Rändern, dass er aus drei Bögen besteht, die von vorn und hinten beschrieben sind.

Ich freue mich darüber, einen Brief erhalten zu haben, zumal einen handgeschriebenen. Während ich die Treppen zu meiner Wohnung nach oben steige, versuche ich mich zu erinnern, wann ich zum letzten Mal einen handgeschriebenen Brief erhielt. Bis zum zweiten Stock fallen mir nur Postkarten ein. Bis zum dritten Stock bin ich frustriert darüber, dass nur Rechnungen und Reklame in meinem Briefkasten landen. Dann denke ich wieder an die Postkarten und ärgere mich über meinen gewohnheitsmäßigen Frust. Bis zum vierten Stock nehme ich mir vor, mehr Postkarten zu schreiben, um im Gegenzug häufiger welche zu empfangen. Aber woher denn, denke ich im Fünften,  ich verreise doch so selten. Und an wen denn, denke ich dann, aber da erreiche ich meine Tür.

Ich schließe meine Wohnung auf und werfe meine Schlüssel in den Korb. Den Brief lege ich auf den Schuhschrank, mit der Anrede nach oben, das ist Zufall, wirklich. Die Einkäufe stelle ich auf den Boden und während ich meine Jacke ausziehe, erkenne ich, dass die Anrede auf meinen Namen endet und meinem Namen nur eine sehr kurze Grußformel vorangestellt ist. Als ich meine Schnürsenkel öffne, entschlüsselt mein Gehirn das kurze Wort. „Ach“, sage ich. „Ach“ und mein Name steht da, denke ich, und dann weiß ich, der Brief ist von dir. Niemandes Namen besteht aus so vielen Spitzen und Haken wie deiner: Vinzent.

Ohne mir vorher die Hände zu waschen gehe ich ins Arbeitszimmer und setzte mich an meinen Schreibtisch. Während mein Rechner hochfährt, überlege ich wegen einer passenden Anrede. Ich finde „Ach“ sehr treffend, aber „Ach“ hast Du verwendet und außerdem ist es wehleidig. Während ich ein leeres Dokument öffne, frage ich mich, wie du darauf kommst, dass das bei mir ziehen könnte. Ich schreibe nur „Vinzent,“ und dann warte ich, bis mein Herz wieder langsamer schlägt als die Eingabemarkierung auf dem Bildschirm blinkt.

Ich schreibe:

„danke für Deinen Brief. Ich habe lange keinen Brief mehr erhalten, zumal keinen handgeschriebenen. Vielleicht wünschst Du dir eine handgeschriebene Antwort, aber die schreibe ich nicht. Weil ich es nicht gewohnt bin mit der Hand zu schreiben, bereitet es mir Schmerzen. Außerdem habe ich keine schöne Schrift. Deine Schrift ist auch nicht schön.“

Diesen Satz lösche ich wieder. Es geht nicht um Schönheit. Nicht mehr.

„Es ist komisch, dass ich mich über deinen Brief freue. Ich habe nämlich beschlossen, ihn nicht zu lesen.

In den letzten Tagen ist es mir einige Male gelungen, auf dem Nachhauseweg an Deinem Haus vorbei zu radeln, ohne dabei zu Deinem Fenster hinauf starren zu müssen, um zu sehen, ob du rauchst. Das ist ein Erfolg, denn ich nehme auf dem Nachhauseweg am Straßenverkehr teil und kann mir eine solche Unaufmerksamkeit nicht erlauben. Einmal wäre ich beinahe auf ein ausparkendes Auto aufgefahren und musste mich als Hans-guck-in-die-Luft beschimpfen lassen. Gestern habe ich zum ersten Mal fast nicht an Dich denken müssen. Es ist gemein von Dir, dass Du mir heute schreibst.

Ich habe mich wegen meines neuen Geruchs oft wie von einem Fremden bedrängt gefühlt in den letzten Wochen. Aber ich sah mich gezwungen, mein Deo zu wechseln, nachdem ich jahrelang ohne Erklärung geduldet hatte, dass Du das gleiche verwendest wie ich. Jetzt habe ich mich daran gewöhnt und werde dabei bleiben.

In den letzten Wochen habe ich viel gefroren. Bis auf zwei Paar waren alle dicken Socken, die ich besaß von Dir gestrickt, weshalb ich mir verboten hatte, sie anzuziehen. Am nächsten Dienstag wird der Wäschekorb für die Kleidersammlung vor der Haustür stehen, dort werde ich sie hineingeben, der Sack ist gepackt und verknotet. Ich habe neue Socken inzwischen, die sind zwar nicht so schön bunt aber dafür kann ich sie auch im Büro tragen.

Wenn ich Deinen Brief lese und Du darin endlich erklärst, warum es ausgerechnet Konrad sein musste, könnte es sein, dass wir uns wieder vertragen. Dann wirst du mir vielleicht neue Socken stricken oder Schals. Eines Tages werde ich dann wieder frieren, das ist mir zu riskant. Abgesehen davon habe ich eine Aufstellung gemacht, die ergeben hat, dass die Vorteile des Endes unserer Freundschaft die Nachteile bei weitem überwiegen: Ich habe mehr Zeit zum Lesen. Und ich habe mehr Zeit zum Schreiben. Zum Beispiel fürs Tagebuchschreiben. Anders als Du merkt sich mein Tagebuch die Dinge, die ich ihm erzähle. Und es verwendet sie nicht gegen mich. Weder verschweigt es mir etwas noch erfindet es etwas dazu, das ich nie gesagt habe. Ich werde wieder an Dich denken müssen, wenn ich Deinen Brief lese, dabei gibt es so viel anderes, über das ich dringend nachdenken müsste, zum Beispiel darüber, was ich nun an Weihnachten mache. Wenn ich Deinen Brief lese, werde ich mich wahrscheinlich ärgern, weil Du mir wieder versuchen wirst weiszumachen, dass ich nicht erwähnt hätte, wie schön ich Konrad finde und ich will keinen krummen Mund vom Ärger. Am Schlimmsten wäre, wenn Du „Entschuldigung“ sagen würdest. Man kann nicht einfach so „Entschuldigung“ sagen. Man kann nur darum bitten.

Nach wie vor stört mich, dass Du in die gleiche Wohnung in der gleichen Etage auf der gleichen Seite wie ich gezogen bist, wenn auch sechs Häuser weiter. Aber ich werde Deinetwegen nicht umziehen.

Wenn ich Deinen Brief nicht lese, wird das Ende unserer Freundschaft meine Schuld sein. Wenn wir in einigen Jahren darauf zurückblicken – Du in deiner Wohnung und ich in meiner – werde ich derjenige sein, der die letzte Chance zur Versöhnung ungenutzt hat verstreichen lassen. Ich werde nicht wissen können, ob Du immer noch behauptest, das bisschen Mitdenken wäre zu viel verlangt gewesen. Ob Du mir wieder vorwirfst, dass ich Dir auch viel angetan hätte, ohne aber zu benennen, was. Vielleicht verpasse ich aber auch den historischen Moment in dem Dir eine Einsicht über die Lippen kommt. Ich habe schon manches verpasst, Konrad zum Beispiel, ich bin immer noch da, das halte ich aus.

Bestimmt, findest Du es feige und faul von mir, deinen Brief nicht zu lesen, aber feige und faul sein ist eine Überlebensstrategie, die sich in der Tierwelt sehr bewährt hat und ich mag Tiere. Außerdem war ich sehr fleißig, das Loch, dass Du hinterlassen hast, irgendwie zu stopfen. In den Lücken in meinen Bücherregalen leben jetzt beispielsweise Schwäne und Giraffen aus Papier. Aus deinem Brief ließe sich eine Schildkröte oder einen Fuchs falten, aber das kann ich noch nicht.

Jedenfalls kannst Du jetzt nicht einfach so zurückkommen. Und überhaupt kannst Du nicht zurückkommen. Weil es Dich, wie ich Dich dachte ja nie gegeben hat. Es wäre deshalb besser gewesen, Du hättest Deinen Brief an mich nicht abgeschickt. Den Fehler, der Dir mit der Hausnummer passiert ist, hättest Du als Zeichen lesen sollen. Ich kenne Deine Hausnummer leider noch genau. Aber meine Druckerpatrone ist leer, und ich werte das als eindeutiges Zeichen.

Als ich gefragt werde ob ich speichern möchte, klicke ich auf „Beenden ohne speichern“. Während ich meine Einkäufe ins Regal räume, beneide ich meinen Computer.

Letzte Nacht

„Willst du auch einen?“ Simon kramt in der Nachttischschublade.
„Was?“ Mitri deckt sich zu.
„Kaugummi. Wir können noch einen zusammen kauen, bevor wir auseinandergehen.“
„Keine Zigaretten, wie im Film?“
„Ich rauche nicht mehr.“
„Steht aber noch in deinem Profil.“
„Echt? Ich habe hier noch irgendwo Zigaretten, wenn du magst.“
Simon will aufstehen. Mitri erwischt seine Schulter in der Dunkelheit und hält ihn zurück.
„Ich rauche nicht.“
„Steht aber in deinem Profil.“
„Ich weiß.“
„Und da steht auch, du würdest 90 Kilo wiegen.“
„Du magst kräftige Männer.“
„Aber du bist spindeldürr!“
„Liegen wir deshalb im Stockdunklen? Bin ich hässlich?“
„Nein! Aber warum machst du dich dicker als du bist?“
„If it makes you happy, it can’t be that bad.”
Simon schmatzt. Es riecht nach Pfefferminz.

„Auch das steht anders in deinem Profil, aber:“, Simons Stimme brummt etwas in Mitris Ohren, „Du machst das nicht so oft, oder?“ Simon tastet nach Mitris Kopf und legt ihn auf seine Schulter. „Du warst total aufgeregt. Deine Finger waren eiskalt, dein Mund ganz fest und deine Hüften völlig verkrampft.“
„War ich schlecht?“
„Du warst süß.“ Simon streichelt Mitris Schulter. „Später hat es dir gefallen, oder?“
„Ich war unkonzentriert, anfangs.“
Simon kichert. Mitri legt seine Hand auf Simons Bauch.

„Ich musste an die Meteoriten denken.“
„An was?“
„Heute Nacht wird ein unikaler Meteoritenschauer über Deutschland niedergehen.“
„Unikal? Und das macht dich an?“
Simon legt ein Bein zwischen Mitris Schenkel.

„In Tschebarkul sind im Februar drei Menschen bei Meteoriteneinschlägen drauf gegangen.“
„Drei.“
„Eintausendundvier wurden verletzt.“
„Beulen am Kopf? Blaue Flecken?“
„Den Meisten wurden durch herumschießende Glasscherben die Körper zerschnitten.“

„Und du wolltest es noch einmal krachen lassen, bevor du zerfetzt wirst?“
„Ich wollte meinen Körper benutzen.“
„Fremdbild als Gummipuppe. Wie schmeichelhaft.“
Simon zieht sein Bein zurück und legt seine Hände auf die Decke. Mitri hebt seinen Kopf und schaut dorthin, wo er Simons Gesicht vermutet.

„Ich habe das noch nie gemacht.“
„Noch nie? Wieso jetzt?“
„Ein einziger Meteorit reicht, um diese Stadt dem Erdboden gleich zu machen.“
„Wie in diesen amerikanischen Katastrophenfilmen? Hoffentlich ist mein Kameraakku geladen.“
„Das ist nicht witzig.“

Simon stützt sich auf seine Ellenbogen und wendet Mitri den Kopf zu.
„Die Meteoriten verglühen doch in der Atmosphäre!“ Er singt. „Voila: Sternschnuppen!“
„Eben nicht. Sternschnuppen sind Meteore. Meteore verglühen. Meteoriten sind viel größer. Sie schaffen den Weg durch die Atmosphäre. Heute Nacht kommen Meteoriten. Riesige.“
„Und schlagen ausgerechnet hier ein?“
Mitri zuckt mit den Schultern. „Ich weiß nicht.“
„Du tust aber so, als wüsstest du es.“
„Je nach Temperatur und Dichte verändert sich beim Eintritt in die Atmosphäre der Winkel ihrer Flugbahn. Niemand kann berechnen, wo sie einschlagen.“
„Haben Sie dich in der Schule oft gehänselt?“
„Wieso?“
Simon lässt sich wieder auf den Rücken fallen. Mitri räuspert sich.

„Die hätten doch Bescheid gesagt, wenn die gefährlich wären.“
„Damit sich die Leute im Keller einschließen?“
„Ja. Zum Beispiel.“
„Das sind keine Hagelkörner. Das sind Meteoriten. Die reißen Krater von mehreren Kilometern. Druckwelle, Staubwolke, tagelange Dunkelheit. Sowas.“
„Aber dann hätten die uns evakuieren müssen!“
„Wohin denn?“
Simon macht eine Kaugummiblase, die ihm klatschend aufs Kinn fällt.

„Die hätten uns trotzdem gewarnt.“ Er kaut wieder.
„Die haben uns gewarnt.“
„Wer?“
„Die ESA. Du liest keine Nachrichten, oder?“
Simon schlägt die Decke zurück und stolpert in die Dunkelheit. Einige Sekunden später erscheint sein Gesicht auf dem Sofa in einem bläulichen Licht.

„Krass.“
„Du vertraust mir nicht.“
„Noch drei Stunden Zeit.“
Ein Metallarmband klappert. „Drei Stunden und sieben Minuten.“
„Deswegen hast du deine Uhr nicht abgelegt.“
„Hat sie dich gestört?“
„Uhren stören immer.“
Simon klappt den Rechner zu. Einige Schritte später zeichnen sich am Fenster über der Stadt die tiefschwarzen Umrisse seines Körpers vor der fastschwarzen Nacht ab.

„Müsste man die nicht schon sehen?“
„Wenn sie in drei Stunden hier sind und mit vierzig Kilometer pro Sekunde auf uns zu rasen, dann sind sie –“, Mitri zählt seine Finger, „Dann sind sie noch circa vierhunderttausend Kilometer entfernt. Soweit reicht dein Auge nicht.“
Simon lacht. „Hast du das jetzt ausgerechnet?“
Mitri setzt sich auf. „Ja. Stimmt es nicht?“
„Keine Ahnung.“

Mitri faltet die Beine zum Schneidersitz und lehnt seinen Kopf an die Wand.
Simon dreht sich um und starrt ins dunkle Zimmer.
„Was machen wir jetzt?“
Mitri zögert. „Noch einmal miteinander schlafen?“
„Spinnst du?“
„Hat es dir nicht gefallen?“
„Nein! Doch!“ Simon zögert. „Ich will nicht, dass du deinen Körper an meinem benutzt.“
„Das war schlecht formuliert, entschuldige.“
„Ich habe auch schlecht formuliert: Ich möchte nicht mit einem Fremden Sex haben, wenn die Apokalypse hereinbricht.“
Simon setzt sich aufs Fensterbrett und zieht die Beine an.

Mitri spricht vom Bett her leise. „Ich bin kein Fremder.“
„Wir sehen uns zum ersten Mal.“
„Aber wir chatten seit mehr als zwei Wochen.“
„Trotzdem.“
„Ich habe deine Handynummer seit neun Tagen!“
„Trotzdem.“
„Du hast mir von deiner Trennung erzählt.“
„Na und?“
„Und dass du viel getrunken hast, danach.“
„Ja, es ging mir schlecht! Ich trinke nicht mehr!“
„Dafür chattest du.“
„Was hat das damit zu tun?“
„Du hast mir Fotos geschickt, von früher. Mit Ex-Mann und Ex-Hund.“
„Ja! Und du hast mir viel von dir erzählt! Deine Jugend in Tscheljabinsk oder –blinsk oder wie auch immer, die Reise hierher, der Typ, der dich dann doch hat Sitzenlassen. Man erzählt sich voneinander, wenn man chattet.“ Simon springt vom Fensterbrett. „Aber das macht uns noch lange nicht zu“, eine Gürtelschnalle klimpert, „Das macht uns noch lange nicht zu Gefährten.“

Simon stürzt im Zimmer umher.
„Was tust du?“
„Ich ziehe mich an.“
„Warum?“
„Ich werde nicht hier sein, wenn ein riesiger Felsbrocken ins Haus kracht. Du übrigens auch nicht.“
„Wo gehst du hin?“
„Ich werde nicht allein auf die Katastrophe warten.“
„Ich bin doch da.“
„Du gehst jetzt.“
Statt aufzustehen greift Mitri nach der Decke und legt sie sich um.

„Wo willst du denn hin?“
„Keine Ahnung.“
„Du musst doch wissen, wo du hin willst!“
„Ich weiß es aber nicht! Raus.“
„Zu deinen Eltern ins Kinderzimmer? Zu deinen Pärchenfreunden in die Besucherritze?“
„Nein.“
„Zu deinen traurigen Singlefreunden auf die Couch? Zur perfekten Familie deiner Schwester?“
„Mann, nein!“
„In die Arme deines Ex‘? Zwischen ihn und den Neuen? In eine Bar?“
Simon schreit: „Ist ja gut!“

Simon tritt dicht ans Bett. Mitri spürt die Wärme seines Bauchs auf den Wangen.
„Und du? Wo willst du sein?“
Mitri flüstert. „Hier.“
„Warum ausgerechnet hier?“
„Ich will nicht alleine sein.“
„Warum ausgerechnet bei mir?“
„Zufall.“
„Lüg mich nicht an.“
„Du warst der einzige, der Zeit hatte.“
„Lüg mich nicht an!“
„Du erinnerst mich an Kostya.“
„Wer ist Kostya?“
„Kostya.“ Mitri schnieft. „Kostya war gut zu mir.“
„Ich bin nicht Kostya!“
„Ich liebe dich.“
Simon stürzt zur Tür und machte Licht. Beide sind geblendet.

„Du kennst mich überhaupt nicht!“
„Das ist egal.“
„Das ist nicht egal. Ich will jetzt bei meinen Leuten sein.“
„Wer sind deine Leute?“
„Menschen, die ich liebe. Menschen, die mich lieben.“
„Ich bin hier.“
Simon setzt sich auch aufs Bett, Mitri gegenüber.
„Aber uns verbindet keine Liebe, kapierst du das?“
„Wo sind deine Leute? Deine Leute sind sonstwo. Ich bin hier.“
„Du bist so schräg!“

„Es ist ganz einfach: Du hast dich gezeigt, ich habe mich gezeigt. Wir haben uns verbunden. Wir sind jetzt, hier, beieinander. Wir wissen nicht, wie viel Zeit bleibt. Wir wissen nicht, was passiert, wenn wir raus gehen. Oder was morgen ist. Aber wir wissen, dass es gut ist, wenn du dich zu mir legst und ich mich an dich schmiege. Bis es wieder hell wird. Falls es wieder hell wird.“
Simon springt wieder auf.

„Ich weiß nicht, was das für dich ist, Stardust – verdammt, ich kenne nicht einmal deinen Namen!“
„Mitri.“
„Dimitri?“
„Mitri.“
„Wie?“
„Egal.“
„Ja es ist egal. Für mich war das ein Sexdate. Kein Wir-werden-eng-umschlungen-von-der-Sonne wachgeküsst, kein Wir-geben-uns-knutschend-dem-Tod-hin, nicht der Anfang einer mehrjährigen Beziehung.“ Simon läuft unruhig im Zimmer auf und ab. Mitri schließt die Augen.
„Trotzdem Liebe.“
Simon schreit. „Du kennst mich nicht. Du liebst mich nicht!“
Mitris Augen bleiben geschlossen. „Wie soll ich dich kennen? Dein Profil ist voller Lügen.“
Simon tritt zum Bett. „Ja! Eben! Und?“
„Deine Nachrichten waren es auch. Von wegen, du schwärmst für Sheryl Crow, wie ich.“
„Tu ich.“
„Du hast vorhin nicht einmal die Top-Zeile aus ihrem Top-Hit erkannt.“
„Wann?“
„Sogar deine Wohnung ist drappiert.“
„Meine Wohnung?“
„In deinem Bücherregal im Flur sind Lücken, in denen kein Staub liegt. Und die Bücher, die du hast stehen lassen, hast du nicht gelesen.“
„Natürlich habe ich das.“
„Niemand hat Ulysses gelesen. Du trägst eine Maske. Und darunter noch eine. Und noch eine.“
Simon packt Mitri an den Schultern „Wie du!“
Mitris Decke rutscht herunter. „Natürlich.“
Simon tritt zurück und kratzt sich am Kopf. „Also?“
„Du bist wie ich.“ Mitri öffnet die Augen. „Darunter.“
„Du bist verrückt!“
„Und du?“
„Ich?“

Mitri legt sich hin und atmet aus.
„Du bist verloren, ich bin verloren.“
Simon steht und schweigt.
„Mach das Licht aus und leg dich zu mir.“
Es donnert in der Ferne.
„Muss ja nicht für immer sein.“