In Gedanken

Bist du da?

Ja. Hey!

Ich wollte nur Bescheid geben, dass ich unsere Freundschaft jetzt beende.

Was?

Oder was immer das ist. War.

Es tut mir leid, dass ich mich so lange nicht gemeldet habe. Es war viel los.

Es ist immer viel los.

Ja. Aber es war wirklich viel los.

Ich will keine Entschuldigungen.

Aber du sollst wissen, warum du so lange nichts gehört hast von mir.

Es ist okay. Ich will es nicht wissen.

Ich hatte einen riesigen Auftrag für ein GPS-basiertes Fahrradverleih-System auf Mallorca. Ich habe nur programmiert.

Drei Monate? Warst du dort?

Nein, das war nicht nötig. Und ich hatte die Gürtelrose. Dieses Jucken und Brennen! Ich bin fast durchgedreht.

Das tut mir leid.

Ja. Und ein befreundetes Pärchen hat sich getrennt. Die Frau war völlig aufgelöst. Ich kenne sie noch aus Schulzeiten. Für sie war ich viel da, jetzt.

Wart ihr zusammen aus?

Wir haben geschrieben.

Natürlich.

Ich habe oft an dich gedacht.

Lass das.

Aber es stimmt.

Mein Telefon hat nicht geklingelt. Und meine Türklingel erst recht nicht. Seit einem Jahr willst du mich besuchen. Sagst du.

Ich hatte dir eine Nachricht geschrieben. Ist die nicht angekommen?

Nein.

Komisch.

Kein bisschen. Auch nicht originell. Eine Frechheit.

Was?

Deine Ausreden. Ich will keine Ausreden. Ich sage, dass ich keine Ausreden will. Ich bekomme: Ausreden.

Das sind keine Ausreden. Es sind Erklärungsversuche! Bitten um Entschuldigung.

Ich entschuldige aber nicht. Ich habe im letzten Jahr alle möglichen Entschuldigungen gehört von dir. Und akzeptiert. Sie langweilen mich. Außerdem geht es nicht um Schuld. Es geht um Enttäuschung.

Ich bin nicht gut im Kontakthalten.

Sag bloß.

Ich konnte das noch nie. Aber ich arbeite daran.

Du arbeitest daran? Wie arbeitet man an so etwas? Übst du Telefonate vor dem Spiegel? Belegst du einen VHS-Kurs zur Eingabe von Telefonnummern? Bei welcher Lektion bist du?

Hab bitte noch ein bisschen Geduld mit mir.

Nein. Ich habe lange genug auf dich gewartet. Ich hasse warten. Ich rufe dich an und warte auf deinen Rückruf. Ich weiß inzwischen, an welchen Stellen deiner Mailbox-Ansage du Luft holst. Ich schreibe eine Nachricht und warte auf deine Antwort. Mittlerweile lasse ich mir Sendeprotokolle schicken. Ich schreibe eine Mail und warte. Sogar eine Postkarte habe ich dir geschrieben.

Ich habe keine Mail bekommen.

Hör auf damit. Ich habe Jahreszeiten vergehen sehen, während ich auf dich wartete. Du wusstest, dass ich warte. Wenn du an mich gedacht hast.

Es tut mir leid.

Das glaube ich dir sogar. Mit einem schlechten Gewissen kann ich dich wecken. Das hat beim letzten Mal schon funktioniert.

Ich war so beschäftigt mit anderen Dingen. Ich habe das gar nicht gemerkt.

Ich weiß. Irgendwas ist immer. Alles um dich herum ist wahnsinnig dicht. Hundertfünfzig Kilometer sind zu weit weg um dich zu erreichen. Neunzig Minuten Zugfahrt sind dir zu lang.

Ich will mir mehr Mühe geben in Zukunft.

Bitte nicht. Du hast dir schon mehr Mühe gegeben nach dem letzten Gespräch zum Thema. Ich weiß ja nicht, ob du dich erinnerst.

Du lässt mir keine Chance.

Was denn für eine Chance?

Ein zweiter Versuch.

Es wäre der dritte. Aber das ist keine Talentshow, bei der du dich vor Aufregung versungen hast. Das sollte eine Freundschaft werden.

Stichwort Talent: Dir liegt der dramatische Abgang.

Ich wollte mich nur verabschieden.

Was soll das? Du hättest mich einfach von deiner Freundesliste werfen können. Fertig.

Stimmt. Das wäre weniger unangenehm für dich gewesen. Keine Diskussion – kein schlechtes Gefühl. Wahrscheinlich hättest du das erst in zwei Monaten gemerkt. Oder nie.

Hätte dir ja egal sein können. Jetzt habe ich eine Diskussion und ein schlechtes Gefühl und keine Lösung.
Jetzt hast du einen Abschied. Ich kann offene Enden nicht ausstehen.

Ich gratuliere: Das von dir inszenierte Gegenteil eines Happy Ends ist hinreißend. Kleine dramaturgische Schwäche: Meine Figur darf die ganze Zeit nur „Nein, bitte nicht!“ und „So, entschuldige doch!“ rufen. Aber es ist deine Show. Ich lasse mich geduldig weiter runterputzen, bis du das Gefühl hast, dass wir quitt sind. So sieht das dein Drehbuch vor, oder?

Wie schwer du es hast, weil ich so gemein zu dir bin! Weißt du, mein Drehbuch – um in deinem ausgefeilten Bild zu bleiben – hat deinen Einsatz vorgesehen. Ungefähr hundertmal in den letzten Monaten. Ungefähr tausend Zeilen Text. Die du nie gesprochen hast. Auf die ich gewartet habe.

Ich bin keine Figur in deiner Geschichte.

Aber der beste Schauspieler, den ich kenne.

Obwohl ich immer meinen Einsatz verpasse? Metaphern sind nicht deins.

Deine Leistung besteht darin, dass du überhaupt für die Rolle besetzt wurdest.

Für welche Rolle?

Du hast gesagt, dass wir im Herbst durch die Laubhaufen hüpfen würden. Dass wir rodeln gehen würden im Winter. Dass du mich besuchen würdest, wenn das Wetter wieder besser ist, damit wir auf meinem Motorrad zum Wannsee fahren. Ich wollte dir die besten Falafel der Stadt grillen. Wir wollten auf dem Balkon schlafen. Jetzt wird wieder Frühling. Du warst nicht hier.

Tut mir leid.

Du hast es versprochen.

Ich habe nichts versprochen.

Ich habe dir von meinem Unfall erzählt, so ausführlich wie noch niemandem. Wie komme ich dazu? Ich habe dir erzählt, wie ich allein im Straßengraben lag und meinen Körper nicht spürte und nichts hörte und nur den Himmel sah. Und wie sich diese vier Minuten wie für immer anfühlten. Ich habe dir erzählt, von meiner Befürchtung, dass da nichts kommt, wenn man stirbt, kein Tunnel und kein Licht und kein gütig grinsendes Empfangskomitee und niemand. Und wie ich mich fürchte vor diesem Nichts und vor diesem Niemand. Warum habe ich dir das erzählt?

Ich weiß nicht.

Weil es Dir gelingt, mir in einem Dating-Netzwerk ein Gefühl von Wärme zu vermitteln. Deshalb. Aber dann bist du verschwunden.

Ich wurde fortgetragen.

Wie ein Blatt im Wind. Stimmt’s?

Ich mag dich. Aber ich habe ein Leben neben dir.

Sicher, dass du mich magst? Woran machst du das fest?

An dem Gefühl, das ich habe, wenn ich an dich denke.

Brauchst du mich für dieses Gefühl?

Wie meinst du das?

Ist es notwendig, dass ich existiere? Für dich bin ich der lustige, dicke Kaninchenpapa mit den Motorrad-Klamotten und dem Nahtoderlebnis. Der sich für dich interessiert und deine Profilfotos mag. Der ein bisschen anstrengend ist und ein bisschen mysteriös. Den du anrufen könntest. Oder besuchen. Mit dem du mal knutschen könntest. Theoretisch. Du magst mich als Idee. Das reicht dir. Dir reichen die Dinge in Gedanken. Dir reichen Fotos.

Ja, es reicht mir. Kannst du bitte mal in deinem Drehbuch nachschauen? Was sage ich jetzt? Lebwohl, oder so?

Ich habe gute Erfahrungen damit gemacht, auszusprechen, was ich denke.

Ich habe gute Erfahrungen damit gemacht, erst fertig zu denken und dann zu sprechen. Mir ist immer noch nicht klar, warum wir dieses Gespräch führen.

Damit klare Verhältnisse herrschen. Damit du aufhörst an mich zu denken, falls du das tatsächlich tust. Und damit du aufhörst, dich zu fürchten.

Ich fürchte mich?

So sehr. Du unterwirfst dich deiner Furcht und verpasst dein Leben.

Huch, ein Psychogramm! Wovor fürchte ich mich denn?

Vor allem was dir passieren könnte.

Konkreter hast du es wohl gerade nicht?

Du fürchtest dich davor, berührt zu werden. Und vor der Liebe.

Schöner Schluss. Bisschen pathetisch, vielleicht. Aber schön.

Und dein Zynismus ist auch nur eine Rüstung.

Du hättest mich wohl gern nackt gesehen?

Ich hätte dich gern berührt.

Letzte Nacht

„Willst du auch einen?“ Simon kramt in der Nachttischschublade.
„Was?“ Mitri deckt sich zu.
„Kaugummi. Wir können noch einen zusammen kauen, bevor wir auseinandergehen.“
„Keine Zigaretten, wie im Film?“
„Ich rauche nicht mehr.“
„Steht aber noch in deinem Profil.“
„Echt? Ich habe hier noch irgendwo Zigaretten, wenn du magst.“
Simon will aufstehen. Mitri erwischt seine Schulter in der Dunkelheit und hält ihn zurück.
„Ich rauche nicht.“
„Steht aber in deinem Profil.“
„Ich weiß.“
„Und da steht auch, du würdest 90 Kilo wiegen.“
„Du magst kräftige Männer.“
„Aber du bist spindeldürr!“
„Liegen wir deshalb im Stockdunklen? Bin ich hässlich?“
„Nein! Aber warum machst du dich dicker als du bist?“
„If it makes you happy, it can’t be that bad.”
Simon schmatzt. Es riecht nach Pfefferminz.

„Auch das steht anders in deinem Profil, aber:“, Simons Stimme brummt etwas in Mitris Ohren, „Du machst das nicht so oft, oder?“ Simon tastet nach Mitris Kopf und legt ihn auf seine Schulter. „Du warst total aufgeregt. Deine Finger waren eiskalt, dein Mund ganz fest und deine Hüften völlig verkrampft.“
„War ich schlecht?“
„Du warst süß.“ Simon streichelt Mitris Schulter. „Später hat es dir gefallen, oder?“
„Ich war unkonzentriert, anfangs.“
Simon kichert. Mitri legt seine Hand auf Simons Bauch.

„Ich musste an die Meteoriten denken.“
„An was?“
„Heute Nacht wird ein unikaler Meteoritenschauer über Deutschland niedergehen.“
„Unikal? Und das macht dich an?“
Simon legt ein Bein zwischen Mitris Schenkel.

„In Tschebarkul sind im Februar drei Menschen bei Meteoriteneinschlägen drauf gegangen.“
„Drei.“
„Eintausendundvier wurden verletzt.“
„Beulen am Kopf? Blaue Flecken?“
„Den Meisten wurden durch herumschießende Glasscherben die Körper zerschnitten.“

„Und du wolltest es noch einmal krachen lassen, bevor du zerfetzt wirst?“
„Ich wollte meinen Körper benutzen.“
„Fremdbild als Gummipuppe. Wie schmeichelhaft.“
Simon zieht sein Bein zurück und legt seine Hände auf die Decke. Mitri hebt seinen Kopf und schaut dorthin, wo er Simons Gesicht vermutet.

„Ich habe das noch nie gemacht.“
„Noch nie? Wieso jetzt?“
„Ein einziger Meteorit reicht, um diese Stadt dem Erdboden gleich zu machen.“
„Wie in diesen amerikanischen Katastrophenfilmen? Hoffentlich ist mein Kameraakku geladen.“
„Das ist nicht witzig.“

Simon stützt sich auf seine Ellenbogen und wendet Mitri den Kopf zu.
„Die Meteoriten verglühen doch in der Atmosphäre!“ Er singt. „Voila: Sternschnuppen!“
„Eben nicht. Sternschnuppen sind Meteore. Meteore verglühen. Meteoriten sind viel größer. Sie schaffen den Weg durch die Atmosphäre. Heute Nacht kommen Meteoriten. Riesige.“
„Und schlagen ausgerechnet hier ein?“
Mitri zuckt mit den Schultern. „Ich weiß nicht.“
„Du tust aber so, als wüsstest du es.“
„Je nach Temperatur und Dichte verändert sich beim Eintritt in die Atmosphäre der Winkel ihrer Flugbahn. Niemand kann berechnen, wo sie einschlagen.“
„Haben Sie dich in der Schule oft gehänselt?“
„Wieso?“
Simon lässt sich wieder auf den Rücken fallen. Mitri räuspert sich.

„Die hätten doch Bescheid gesagt, wenn die gefährlich wären.“
„Damit sich die Leute im Keller einschließen?“
„Ja. Zum Beispiel.“
„Das sind keine Hagelkörner. Das sind Meteoriten. Die reißen Krater von mehreren Kilometern. Druckwelle, Staubwolke, tagelange Dunkelheit. Sowas.“
„Aber dann hätten die uns evakuieren müssen!“
„Wohin denn?“
Simon macht eine Kaugummiblase, die ihm klatschend aufs Kinn fällt.

„Die hätten uns trotzdem gewarnt.“ Er kaut wieder.
„Die haben uns gewarnt.“
„Wer?“
„Die ESA. Du liest keine Nachrichten, oder?“
Simon schlägt die Decke zurück und stolpert in die Dunkelheit. Einige Sekunden später erscheint sein Gesicht auf dem Sofa in einem bläulichen Licht.

„Krass.“
„Du vertraust mir nicht.“
„Noch drei Stunden Zeit.“
Ein Metallarmband klappert. „Drei Stunden und sieben Minuten.“
„Deswegen hast du deine Uhr nicht abgelegt.“
„Hat sie dich gestört?“
„Uhren stören immer.“
Simon klappt den Rechner zu. Einige Schritte später zeichnen sich am Fenster über der Stadt die tiefschwarzen Umrisse seines Körpers vor der fastschwarzen Nacht ab.

„Müsste man die nicht schon sehen?“
„Wenn sie in drei Stunden hier sind und mit vierzig Kilometer pro Sekunde auf uns zu rasen, dann sind sie –“, Mitri zählt seine Finger, „Dann sind sie noch circa vierhunderttausend Kilometer entfernt. Soweit reicht dein Auge nicht.“
Simon lacht. „Hast du das jetzt ausgerechnet?“
Mitri setzt sich auf. „Ja. Stimmt es nicht?“
„Keine Ahnung.“

Mitri faltet die Beine zum Schneidersitz und lehnt seinen Kopf an die Wand.
Simon dreht sich um und starrt ins dunkle Zimmer.
„Was machen wir jetzt?“
Mitri zögert. „Noch einmal miteinander schlafen?“
„Spinnst du?“
„Hat es dir nicht gefallen?“
„Nein! Doch!“ Simon zögert. „Ich will nicht, dass du deinen Körper an meinem benutzt.“
„Das war schlecht formuliert, entschuldige.“
„Ich habe auch schlecht formuliert: Ich möchte nicht mit einem Fremden Sex haben, wenn die Apokalypse hereinbricht.“
Simon setzt sich aufs Fensterbrett und zieht die Beine an.

Mitri spricht vom Bett her leise. „Ich bin kein Fremder.“
„Wir sehen uns zum ersten Mal.“
„Aber wir chatten seit mehr als zwei Wochen.“
„Trotzdem.“
„Ich habe deine Handynummer seit neun Tagen!“
„Trotzdem.“
„Du hast mir von deiner Trennung erzählt.“
„Na und?“
„Und dass du viel getrunken hast, danach.“
„Ja, es ging mir schlecht! Ich trinke nicht mehr!“
„Dafür chattest du.“
„Was hat das damit zu tun?“
„Du hast mir Fotos geschickt, von früher. Mit Ex-Mann und Ex-Hund.“
„Ja! Und du hast mir viel von dir erzählt! Deine Jugend in Tscheljabinsk oder –blinsk oder wie auch immer, die Reise hierher, der Typ, der dich dann doch hat Sitzenlassen. Man erzählt sich voneinander, wenn man chattet.“ Simon springt vom Fensterbrett. „Aber das macht uns noch lange nicht zu“, eine Gürtelschnalle klimpert, „Das macht uns noch lange nicht zu Gefährten.“

Simon stürzt im Zimmer umher.
„Was tust du?“
„Ich ziehe mich an.“
„Warum?“
„Ich werde nicht hier sein, wenn ein riesiger Felsbrocken ins Haus kracht. Du übrigens auch nicht.“
„Wo gehst du hin?“
„Ich werde nicht allein auf die Katastrophe warten.“
„Ich bin doch da.“
„Du gehst jetzt.“
Statt aufzustehen greift Mitri nach der Decke und legt sie sich um.

„Wo willst du denn hin?“
„Keine Ahnung.“
„Du musst doch wissen, wo du hin willst!“
„Ich weiß es aber nicht! Raus.“
„Zu deinen Eltern ins Kinderzimmer? Zu deinen Pärchenfreunden in die Besucherritze?“
„Nein.“
„Zu deinen traurigen Singlefreunden auf die Couch? Zur perfekten Familie deiner Schwester?“
„Mann, nein!“
„In die Arme deines Ex‘? Zwischen ihn und den Neuen? In eine Bar?“
Simon schreit: „Ist ja gut!“

Simon tritt dicht ans Bett. Mitri spürt die Wärme seines Bauchs auf den Wangen.
„Und du? Wo willst du sein?“
Mitri flüstert. „Hier.“
„Warum ausgerechnet hier?“
„Ich will nicht alleine sein.“
„Warum ausgerechnet bei mir?“
„Zufall.“
„Lüg mich nicht an.“
„Du warst der einzige, der Zeit hatte.“
„Lüg mich nicht an!“
„Du erinnerst mich an Kostya.“
„Wer ist Kostya?“
„Kostya.“ Mitri schnieft. „Kostya war gut zu mir.“
„Ich bin nicht Kostya!“
„Ich liebe dich.“
Simon stürzt zur Tür und machte Licht. Beide sind geblendet.

„Du kennst mich überhaupt nicht!“
„Das ist egal.“
„Das ist nicht egal. Ich will jetzt bei meinen Leuten sein.“
„Wer sind deine Leute?“
„Menschen, die ich liebe. Menschen, die mich lieben.“
„Ich bin hier.“
Simon setzt sich auch aufs Bett, Mitri gegenüber.
„Aber uns verbindet keine Liebe, kapierst du das?“
„Wo sind deine Leute? Deine Leute sind sonstwo. Ich bin hier.“
„Du bist so schräg!“

„Es ist ganz einfach: Du hast dich gezeigt, ich habe mich gezeigt. Wir haben uns verbunden. Wir sind jetzt, hier, beieinander. Wir wissen nicht, wie viel Zeit bleibt. Wir wissen nicht, was passiert, wenn wir raus gehen. Oder was morgen ist. Aber wir wissen, dass es gut ist, wenn du dich zu mir legst und ich mich an dich schmiege. Bis es wieder hell wird. Falls es wieder hell wird.“
Simon springt wieder auf.

„Ich weiß nicht, was das für dich ist, Stardust – verdammt, ich kenne nicht einmal deinen Namen!“
„Mitri.“
„Dimitri?“
„Mitri.“
„Wie?“
„Egal.“
„Ja es ist egal. Für mich war das ein Sexdate. Kein Wir-werden-eng-umschlungen-von-der-Sonne wachgeküsst, kein Wir-geben-uns-knutschend-dem-Tod-hin, nicht der Anfang einer mehrjährigen Beziehung.“ Simon läuft unruhig im Zimmer auf und ab. Mitri schließt die Augen.
„Trotzdem Liebe.“
Simon schreit. „Du kennst mich nicht. Du liebst mich nicht!“
Mitris Augen bleiben geschlossen. „Wie soll ich dich kennen? Dein Profil ist voller Lügen.“
Simon tritt zum Bett. „Ja! Eben! Und?“
„Deine Nachrichten waren es auch. Von wegen, du schwärmst für Sheryl Crow, wie ich.“
„Tu ich.“
„Du hast vorhin nicht einmal die Top-Zeile aus ihrem Top-Hit erkannt.“
„Wann?“
„Sogar deine Wohnung ist drappiert.“
„Meine Wohnung?“
„In deinem Bücherregal im Flur sind Lücken, in denen kein Staub liegt. Und die Bücher, die du hast stehen lassen, hast du nicht gelesen.“
„Natürlich habe ich das.“
„Niemand hat Ulysses gelesen. Du trägst eine Maske. Und darunter noch eine. Und noch eine.“
Simon packt Mitri an den Schultern „Wie du!“
Mitris Decke rutscht herunter. „Natürlich.“
Simon tritt zurück und kratzt sich am Kopf. „Also?“
„Du bist wie ich.“ Mitri öffnet die Augen. „Darunter.“
„Du bist verrückt!“
„Und du?“
„Ich?“

Mitri legt sich hin und atmet aus.
„Du bist verloren, ich bin verloren.“
Simon steht und schweigt.
„Mach das Licht aus und leg dich zu mir.“
Es donnert in der Ferne.
„Muss ja nicht für immer sein.“

Jonathan hat ein Foto zu seinem Album hinzugefügt

S: In diese Einöde? Mit Sack und Pack?

J: Jawohl. Und mehr als einen Koffer werde ich nicht mitnehmen.

S: Du machst Witze!

J: Nein. Ich mache Ernst. Neue Kleider kriege ich dort. Ich werde nur ein paar Fotos und ein Tagebuch behalten.

S: Und dein Rechner?

J: Bräuchte Strom.

S: Und dein ganzes Zeug?

J: Kannst du haben, wenn du willst.

S: Okay, nehme ich.

J: Wirklich?

S: Klar, weißt du,  ich leihe mir den Transporter von Andreas und komme nächste Woche einfach mal vorbei.  Wenn ich in meinem Zimmer eine Zwischendecke einziehe, kann ich deine Möbel auch noch stellen…

J: Tolle Idee. Ich fliege aber schon am Sonntag.

S: Du hast die Tickets schon?

J: Das Ticket. Ja.

Sarah scheibt.

Sarah ist online.

Sarah scheibt.

Sarah ist online.

J: Ich lasse alles hier. Du kannst dir holen, was du magst. Was übrig bleibt, fährt Jens irgendwann zum Sperrmüll.

S: Nichts dabei, woran dein Herz hängt?

J: Doch. Aber ich will ein freies Herz.

Sarah ist online.

S: Hast du noch mehr Bilder?

J: Natürlich. Sekunde.

Ziehe Fotos, Musikstücke oder Videos auf diese Fläche, um sie mit Sarah zu  teilen.

S: Herrje, gibt es außer dieser Hütte noch irgendetwas anderes dort?

Klicke hier, um die Ortsmarkierung an einen Freund zu senden.

S: Jonathan, dieses Nichts wird dich auffressen! Du wirst umkommen vor Langeweile!

J: Ganz im Gegenteil: Man führt dort ein sehr geregeltes Leben, wenn man sich erst einmal daran gewöhnt hat.

S: Du verarschst mich doch!

J: Wieso?

S: Man führt dort ein sehr geregeltes Leben, wenn man sich erst einmal daran gewöhnt hat? Ganz ehrlich: Schreib diesen Satz auf einen Zettel und wenn du wieder nüchtern bist, lachen wir gemeinsam darüber.

J: Was meinst du?

S: Was meinst DU? Jonathan, wer ist „man“? Du? Du willst „man“ sein? Das ist lächerlich!

J: Kapiere ich nicht.

S: Ist ganz einfach: Du bist nicht „man“. Du bist Jonathan. Der, der im Sommer Strickmützen trägt und im Winter Sneakers. Der, der sich rasiert, weil alle Jungs Bart tragen.  Der, der sich eine Fee auf den Oberarm tätowieren lässt, weil das sonst keiner hat. Seit ich dich kenne, tust du alles um Jonathan zu sein! Und bloß nicht „man“!

J: Sind doch alles Äußerlichkeiten.

S: Ah, verstehe! Äußerlichkeiten spielen keine Rolle mehr, plötzlich?

J: Genau.

S: Moment:  Als ich dich zum letzten Mal besucht habe, standen zwei  Riesendosen Muskelaufbau-Eiweißpulver neben der Hantelbank in deinem Zimmer. Was ist DANN passiert?

J: Nur die Hütte ist passiert. Seitdem ich dort war ändert sich alles.

S: Das merke ich. Gefällt mir nicht.

Jonathan ist online.

S: Und die Wahrheit ist: Ich glaube dir nicht! Du hasst Alltag! Du willst kein geregeltes Leben führen! Das bist nicht du!

J: Das bin nicht ich. Gefällt mir. Doch, ich will ein geregeltes Leben. Mit fester Struktur und klaren Notwendigkeiten.

S: Mit Müssen? Jonny, du bist allergisch auf Müssen! Sehr.

J: Ich meine nicht Müssen.

S: Dinge, die notwendig sind, muss man.

J: Ich werde eine klare Rolle haben. Eine Aufgabe. Mit Bedeutung für andere.

S: Weißt du schon welche?

J: Sie brauchen einen Wasserträger.

S: Nee, is klar.

J: Um das Wasser vom Brunnen in die Hütte zu bringen.

S: Und dafür hast du studiert? Um hauptberuflich Wasser für Grüntee ranzuschleppen?

J: Nicht nur für den Tee. Auch für die Waschungen. Und die Speisen.

S: Oh, das sehe ich ein! Bei so viel Wasser braucht man ein abgeschlossenes Studium.

J: Natürlich nicht. Ich brauche kein Studium mehr.

S: Außer Selbststudium, nehme ich an.

J: Das stimmt. Achtsamkeit, Konzentration, Meditation, Beten.

S: Gerade gefiel dir noch Nicht-Ich-Sein. Jetzt willst du dich selbst studieren. Ich sag’s nur.

J: Ich will endlich zu mir kommen.

S: Mir wäre ja lieber, du würdest zu mir kommen.

Sarah lächelt.

Jonathan lächelt.

S: Und dann? Wenn du bei dir bist?

J: Dann will ich mich überwinden.

Sarah lacht laut.

J: Man MUSS zu sich kommen, um sich zu überwinden. Ich glaube das!

S: Und warum? Und was soll das bedeuten?

Jonathan ist online.

J: Ich selbst sein hat jedenfalls nicht funktioniert.

S: Weil du dich nie getraut hast!

J: Und du so?

S: Es geht um dich, gerade.

J: Es geht immer um mich, Sarah! Das ist ja, was so nervt!

S: Häh?

J: Mein Leben ist ein Hoppserlauf von Strohfeuer zu Strohfeuer. Deine Worte.

S: Hab ich gesagt, ich weiß. Sehe ich immer noch so. Finde ich mittlerweile aber völlig in Ordnung. Solange. Du. Brennst.

J: Ich brenne nur nieder. Ich entfache nichts.

S: Das ist esoterisches Geschwurbel, Jonathan! Was soll das heißen?

J: Ich weiß nicht, wozu ich hier bin.

S: Und da dachtest du dir: Mensch, auf der anderen Seite des Planeten suchen sie einen Wasserträger, das wär‘ doch was für mich!

J: Die brauchen einen Wasserträger. Er fehlt dort. Ich bin hier zu viel.

S: Schaff dir Kinder an, wenn du zu viel Zeit hast!

J: Ich will keine Kinder, bevor ich weiß, worum es geht.

S: Es GEHT um Kinder, Jonathan! Es geht immer um Fortpflanzung! Überall!

J: Das ist sinnlos.

S: Und wenn schon. Es funktioniert.

J: Nicht für mich.

S: Jonny, Sinn ist eine Erfindung der Menschheit. Juckt die Natur kein bisschen, wenn der fehlt.

Jonathan ist online.

S: Bei Wikipedia steht, dass die nur miteinander sprechen, wenn es unbedingt nötig ist. Übst du wohl schon?

Jonathan lächelt.

J: Ich habe jedenfalls nichts zu sagen, gerade.

S: Du wirst das nicht aushalten, wenn du dich erst einmal daran gewöhnt hast. Alles, an das du dich jemals gewöhnt hast, hast du aufgegeben.

J: Ich weiß. Aber diesmal –

S: Mich auch.

J: Ja.

Jonathan küsst Sarah.

Jonathan ist offline.