Schaltsekunde – oder warum ich mit dem Meditieren anfangen werde um meinen Geist zu zähmen

Es ist grün, also fahr. Wenn erst wieder rot ist, stehst du ewig. Keine Ahnung, wer diese Ampelschaltung programmiert hat, aber man muss ihn bestrafen. Hart. Man sollte ihn zwingen, hier lang zu fahren, jeden Tag, zweimal. Und man sollte das Gesicht des Ampelprogrammieres auf diese Kreuzungsuhr da drüben plakatieren und fett drunter schreiben: Selbst Schuld! Dann kann er mal nachdenken, was er falsch gemacht hat, Hacker-Horst. Jeden Tag, zweimal.

Ampelprogrammierer, ist das eigentlich ein Beruf? Und? Was willst du mal werden, wenn du groß bist? Wer ist für die Dinger zuständig? Das Straßenverkehrsamt? Dann heißt der Job wahrscheinlich Lichtsignalanlagenintervallsfachwirt. Mit Binnen-s oder ohne? –intervallfachwirt oder –intervallsfachwirt? Interwalzfachwirt – einer, der professionell dazwischenwalzt. Aber wieso Wirt? Kein Fachwirt hat jemals irgendwen bewirtet. Vielleicht heißt der Job auch einfach Verkehrsplaner. Wobei Verkehrsplaner auch in der Kinderwunschklinik arbeiten könnten. Ob das geklappt hat inzwischen bei Claudia und Steve? Du hast vor Wochen versprochen, dass du sie anrufst.

Jetzt konzentrier dich bitte und tritt kräftiger. Noch ist grün, aber lange kann nicht mehr grün sein und wenn erst wieder rot ist: hundert Jahre. Wieviel Strom verbraucht eine Ampel? Dass die noch läuft, mitten in der Nacht, ist völlig sinnlos. Kein Mensch an der Kreuzung außer mir. Oder ist das ein Auto da vorn? Selbst wenn: Zwei Leute, weiß Gott wie viele Lichter. Sieht hübsch aus, wie sich der Regen da drüben vor der roten Ampel einfärbt. Nett vom Regen, dass er mir zeigt, dass da drüben rot ist. Fies vom Regen, dass er jetzt regnet. Hätte er damit noch zehn Minuten gewartet, hätte ich ihm vielleicht zuhause am offenen Fenster noch für eine Zigarettenlänge gelauscht. Jetzt gehe ich heiß Duschen, sobald ich rein bin; ich bin nass bis auf die Haut. Da kann er so kräftig und so romantisch regnen wie er will, der Regen, ich werde ihm jedwede Bewunderung verweigern. Das ist magisches Denken, Junge. Dem Regen ist scheißegal, was du von ihm denkst. Er regnet. Genau genommen weiß er das nicht einmal. Weder, dass er regnet, noch, dass es ihm egal ist, wie du das findest. Guck auf die Straße!

Immer noch grün. Schaffst du das noch? Komm schon! Willst du noch schnell ein fetziges Ja/Nein-Spiel draus machen? Na los. Wenn die Ampel noch grün ist, in der letzten Sekunde, bevor du an ihr vorbeifährst, dann, dann, dann läuft die Lesung nächste Woche gut. Springt die Ampel auf gelb wird’s öde. Ist sie rot, gehst du gar nicht erst hin. Fahr! Du denkst schon wieder magisch! Willst du nie erwachsen werden? Lass das ja niemanden hören; bestimmt gibt es eine psychologische Diagnose für diese pathologisch gamifizierte Vergewaltigung von Zufällen als Orakel. Omenophilie, Neuroorakleitis oder so. Neuroorakelitis, das einzige Wort mit r-o-o-r in der Mitte. Ro-or! Es ist egal. Nicht hingucken. Nicht hingucken!

Konzentriere dich auf die Straße, bitte, hier sind Straßenbahnschienen, hier ist Kopfsteinpflaster, es ist dunkel, es regnet und deine Fingerspitzen sind taub. Wieso muss es so früh im Herbst eigentlich schon so verdammt kalt sein? Ist das normal? Ich wette der kälteste Spätsommer/Frühherbst seit Beginn der Wetteraufzeichnungen. Wer hat sich jemals so gelangweilt, dass er begonnen hat, das Wetter aufzuzeichnen? Garantiert ein spießiger Junggeselle. Wie Paul. Dem würde ich zutrauen, dass er seit 1962 jeden Morgen vor dem Frühsport Bewölkung und Temperatur in ein kleines Büchlein einträgt.

Guck auf die Straße bitte, zack, über die erste Schiene, fein gemacht, Armraushalten vor dem Linksabbiegen kannst du dir sparen, halt lieber deinen Lenker fest, das ist ja kein Pflaster, das ist eine Frechheit und hier ist niemand außer dir. Obwohl, doch, da drüben. Tatsächlich ein Auto? Ist das ein Typ da drin? Wie ist der denn drauf? Hört der gregorianische Choräle? In der Lautstärke? Dem müssen die Ohren bluten! Gibt der Gas? Ernsthaft? Ist das sein Motor? Alter, der fährt! Hallo? Ich habe grün! Guckst du vielleicht mal, du Grützkopf? Geht mein Licht? Sicher. Frisch aufgeladen. Hinten auch? Bestimmt. Egal. Will der mich umbringen? Schwacher Trost für die Angehörigen: Für getragene Musik im Moment seines Ablebens war gesorgt.

Ich muss bremsen, ich muss bremsen, welcher Hebel ist für hinten? Wenn ich nur vorne bremse fliege ich übers Rad. Jetzt drück halt beide Hebel! Scheiße, es wird glatt sein. Nützt nichts. Wenn der dich umhaut war’s das! Ich muss lenken, lenken, aber wohin soll ich denn, hier sind überall Schienen – Schienen aus vier Richtungen! Ich eskaliere! Stell die Füße auf die Erde, bremse mit den Hebeln und mit deinen Sohlen! So fliegst du nur auf den Arsch, vielleicht! Obwohl, mit einem gebrochenen Steiß monatelang auf einem Schwimmring zu sitzen wie Christian: auch panne. Da ist eine gebrochene Schulter würdevoller. Verdammt, mach dich vom Rad, der überfährt dich! Shit, was denn jetzt? Wieso blockiert das? Bitte nicht! Ich klemme, ich hänge, die Schienen, ich raste aus! Kann ich mich festhalten? Hier? Nein, verdammt! Wohin? Wohin mit meinem Schwung, kann ich bitte wenigstens – oh, hallo: ich fliege.

Es ist verrückt, oder? Dieses Fliegen? Immer wieder faszinierend. Der Schwung ist weg, man schwebt – wie eine, ähm, Staubflocke. In dieser Untertassen-Kotzmaschine in Belantis fühlt man sich so ähnlich. Und diese Lichter, diese Streifen – hu! Hammer, wie sich das Ampelrot auf der nassen Straße spiegelt! So machen die Ampeln Sinn! Sinn machen! Anglizismus-Alarm! Und wenn schon. Ich habe keine Angst vor Anglizismen. Sprache ist ein lebendiges Konstrukt, dude. Früher waren Französismen en vogue – hihi, en vogue, merkst du selber, ne? Aber die hießen anders, oder? Was mit Gallien. Gallizismen? Oder wollen wir die linguistischen Dinge vielleicht später machen?

So, bitte rechten Fuß bisschen drehen, sonst bleibst du an der Mittelstange hängen – sehr gut, danke. Wohin fliegen wir? Kannst du irgendwie nach links steuern, rechts wäre schlecht, dieser Idiot in seinem scheiß Fiesta hat dich immer noch nicht gesehen. Was für ein Arschloch! Meditiert der zu seinem Mönchsgesinge? Hat der den Führerschein auf der Rolltreppe gemacht? Scheiße, der fährt dir über den Arm! Oder übers Bein! Oder über den – was wiegt so ein Fiesta? 700 Kilo? Das sind 0,7 Tonnen! Oder 0,07 Tonnen? Einheitenumrechnung machen wir auch später, ja? Versuche mit dem linken Bein nach vorn zu kommen – oh kacke, da ist schon das Pflaster. Lieber mit der Hand abstützen oder mit dem Ellenbogen? Oder mit der Schulter? Splitterbruch im Ellenbogen ist fies. Dauert Monate. Als sie Sven damals den Verband abgenommen haben, gehörte einer seiner Arme zu einem 35jährigen Sportler und der andere zu einem schwächlichen 12jährigen Jüngling. Sven ist aber auch ein Chaot. Splitterbruch im Handgelenk ist auch Mist. Musste bei Caro dreimal operiert werden. Dann lieber Schlüsselbein. Da kriegst du eine Platte rein und fertig. Martin kommt damit gut klar. Obwohl, diese Stufe, wenn man ihn da anfasst, ist schon eklig. Und am Flughafen immer die Diskussionen! Nützt nichts, einen Tod musst du sterben.

Fuck, Sterben! Wenn es das jetzt war, bist du zufrieden? Ach komm, das ist echt zu krass. Bitte nicht sterben! Bitte einen zündenden Einfall, bitte jetzt. Knie? Knie. Falle aufs Knie, das kann man operieren, da gibt es Prothesen. Frag Petra, alles ganz modern. Zuerst mit dem Knie aufkommen, um den Stoß abzufangen. Dann auf die Schulter abrollen, aber den Kopf unbedingt neigen. Nach rechts? Links? Rechts? Junge, wenn du mit dem Kopf auf dem Pflaster aufschlägst, hat sich’s! Wenn du Glück hast. Wenn du Pech hast bist du Gemüse. Was wärst du lieber: Ein Idiot oder tot? Irgendwas stimmt mit der Zeit nicht. Das ist wie in Pac-Man, wenn man eine dieser Früchte frisst und sich dann doppelt so schnell bewegt wie die Geister. Pac-Man? Alter, passt du bitte auf deinen Kopf auf? Ein Idiot bist du übrigens schon jetzt. Ist ja nicht so, dass du keinen Helm hättest, ne? Wo ist das Ding? Auf dem Schlafzimmerschrank? Nee, da sind die Kartons. Im Keller? Nee, der ist ausgemistet. Wer hat verfügt, dass Helme so hässlich sein müssen? Obwohl, der von Caren ist schick. Dezent jedenfalls. Ein Nicht-Helm, quasi. Sie hat dir auch gesagt, wo sie den – kannst du das bitte später zu Ende denken, kannst du bitte jetzt möglichst elegant stürzen? Ich meine: Abrollen? Knie, Schulter, Kopf. Knie, Schulter, Kopf. Ist schon der Knaller, wie schnell du denkst, wenn du fliegst. Ist das auf Koks auch so? Oder auf Meth? Alter, du könntest König der Welt sein, wenn du immer so schnell –

Geht’s, kommen Sie klar, geht’s, kommen Sie klar? Ob die bitte mal aufhören können wie beim Squaredance durcheinander zu trampeln, bis ich meine Brille gefunden habe? Mann, wo ist die? Das Scheißding hat vierhundert Euro gekostet und ich habe nur diese eine. Morgen ist der Termin mit Lehmann: wichtig! Ich habe keine Ahnung, wie ich ohne Brille zur Arbeit kommen soll, geschweige denn den Termin schaffen. Gott, ich bin so ein Maulwurf! Eines Tages muss ich bestimmt gelasert werden, weil die das mit normalen Linsen gar nicht mehr korrigieren können. Die lasern die Leute bei vollem Bewusstsein; wie pervers muss man sein! Was ist eigentlich mit meiner alten Brille passiert? Falls einer dieser Idioten auf meine neue latscht? Boah, ich höre es schon knacken. Da! Das ist sie doch, oder? Ja! Puh. Okay. Ins Gesicht damit. Funktioniert noch. Ja, ich weiß, dass ich aufstehen muss. Ich bin nicht aus einem Raumschiff auf die Straße gefallen, sondern nur von meinem Fahrrad. Apropos: Wo ist das? Da hinten? So weit? Meine Fresse. Sieht hübsch aus, wie die Speichen das Laternenlicht reflektieren. Sehr nett von meinem Hinterrad, dass es jetzt wieder so widerstandslos rotiert. Blöde Kuh! Was ist denn? Nein, ich will nicht zum Bushäuschen! Ich will zu meinem Rad! Was soll ich denn jetzt an dieser Bushaltestelle sitzen? Opfer-Ausstellung? Ist ja nett, das ihr mir helfen wollt, aber ich bin okay. Nix passiert. Kann die bitte aufhören mir ins Gesicht zu fassen? Ich kenne die nicht. Was will die denn? Aber Ihre Hände riechen gut. Und wie weich die sind! Eincrem-Junkie, hundert Pro. Scheiße, ist das Blut? Verdammt, das ist Blut! Doch, ich will mir aber jetzt da hin fassen. Das ist mein Körper, Sie werden entschuldigen. Verdammt, das suppt ja wie sau! Kann die mir das Taschentuch bitte geben, ich kann das selber halten! Wo ist der scheiß Mönchs-Fiesta? Ist der weitergefahren? Der ist weitergefahren! Habe ich mir das Kennzeichen – hat sich jemand das Kennzeichen? War ja klar. Was für ein Zombie! Das Rad ist Schrott! Von den 500 Euro hätte ich mir lieber ein Bett gekauft. Na gut. Es ging zehn Jahre ohne richtiges Bett, geht auch noch ein elftes. Ist ja gut, ich sitze doch! Ich weiß, dass ich einen Unfall hatte, ich war dabei. Nein ich habe kein Loch im Kopf, höchstens in meinen Klamotten. Hose sieht ganz aus. Moment: Ist das auch Blut? Da am Knie? Scheiße, ja. Voll klebrig. Loch drin? Nö! Was sind das für Hosen, Mann? Ey, ich werde Testimonial für Levi‘s und erzähle im Fernsehen, dass die Hosen so robust sind, dass man sich darin die Knie demolieren kann ohne die Hosen kaputt zu machen. Im Gegenzug bezahlen die mir ein neues Rad. Aber ein gutes! Und die Jacke? Kaputt. Arschklar. Einmal in zehn Jahren kaufe ich mir was Teures und dann kriege ich das in sechs Wochen ramponiert. Sinnlos. Naja, ist eben used look jetzt. Oder ich mache einen Smiley-Aufbügler drauf. Dann ist es retro. Kopfschmerzen? Nein. Wenn ihr nicht bald aufhört auf mich einzureden, kriege ich welche. Ja, ich weiß, dass ich mit dem Kopf aufgeschlagen bin, ich blute ja nicht spontan. Ist ja nett, dass ihr mir helfen wollt, aber ich bin nicht Rescue-Annie aus eurem Ersthelferkurs. Jetzt hört doch mal auf an mir rumzuzuppeln! Ich brauche keinen Krankenwagen, nein! Ich bin okay und werde jetzt nach Hause gehen. Ich habe es nicht mehr weit. Sag das doch einfach. Die können keine Gedanken lesen. „Ich bin okay und werde jetzt nach Hause gehen. Ich habe es nicht mehr weit.“ Geht doch. Geh doch.

Außerplanmäßige Unterbrechung

„Wenn ich die Uhr nur zurückdrehen könnte!“, rufst du. „Du klingst wie ein Schlagertext.“, sage ich. „Nur diesen Bruchteil einer Sekunde!“, rufst du. „Jetzt wie ein Actionfilm.“, sage ich. „Aber ich fühle mich wie ein Drama.“, schimpfst du und weinst. „Unsere einzige Chance ist, dass gar nichts passiert ist, weil wir nur träumen.“, sage ich. Aber selbst dann müssen wir etwas tun, denke ich weiter, denn ich kann deinen Knochen sehen und das ist nicht richtig.

„Tatsächlich! Blut ist dicker als Wein.“, schluchzt du, während es dir aus dem Finger aufs Bett spritzt. Nein, es heißt dicker als Wasser, denke ich, aber ich sage „Lass die Sprüche!“, denn ich muss nachdenken. Du läufst zurück zum Fenster, um zu verstehen, was passiert ist, mir genügt der Anblick deines Fingers, um das zu kapieren; ich laufe raus auf den Gang und rufe um Hilfe.

Wir treffen uns im Bad; du lässt Wasser über deine Wunde laufen und als ich das aus Blut und Wasser gemischte Rosa im Waschbecken strudeln sehe, denke ich, da fließt sie also dahin, unsere Reiseplanung. Ich reiße deine Hand aus dem Wasserstrahl, damit du nicht noch mehr Keime in die Wunde spülst und raunze dich an „Streck die Hand über deinen Kopf, dann lässt die Blutung nach!“. Du taumelst, ich gebe dir einen Schups, der Toilettendeckel stößt in deine Kniekehlen, deine Knie beugen sich, du sitzt. Gut, denke ich, wie weiter? Das Blut lenkt mich ab, wie es aus deinem Finger läuft und die Haut auf deinem Unterarm in einzelne Felder zerteilt, so wie Flüsse Länder in Schollen zerteilen. Vorgestern haben wir das aus dem Flugzeug gesehen, aber in Rot sehen die Flüsse viel dramatischer aus.

Du schreist unentwegt Flüche und endlich platzt Linda in den Raum um zu fragen, was zur Hölle passiert ist. „Das Fenster!“, stotterst du und ich gehe hin und zeige es ihr. Linda stürzt zum Telefon um einen Arzt zu rufen, ich lasse mich in den Sessel fallen und atme ein bisschen, du musterst noch einige Sekunden lang schimpfend die roten Klekse auf dem Fliesenboden. An der Rezeption sagt man Linda, sie soll das Management anrufen, beim Management sagt man ihr, sie soll das mit der Rezeption klären und an der Rezeption verweist man sie ans Management. „Two – oh – nine, two – oh – nine!“, ruft Linda. Du kommst aus dem Bad und kannst dir nicht verkneifen, sie mit „Tu! Oh, nein!“ nachzuäffen. Dann wird Linda ganz laut und wir werden ganz leise. „Urgent heißt dringend.“, flüstere ich noch, aber Linda macht das schon.

Du lässt dich neben mich in den Sessel fallen. Deine Augen treiben haltlos in ihren Höhlen umher, du sagst: „Mir ist schwindlig.“ Ich sage: „Reiß dich zusammen!“ Du sagst: „Es geht nicht.“ Ich sage: „Diese umherschwimmenden Augen sehen gruselig aus! Außerdem musst du noch ins Krankenhaus heute und ich nicht weiß, wie ich dich dort hinbekommen soll, wenn du ohnmächtig bist.“ Ich sage: „Du musst dich zusammenreißen!“ Du sagst: „Ich versuch’s ja.“

Ein junger Mann stürmt herein. Er trägt ein hübsches kariertes Sakko und auf dem Schild an seinem Revers steht Carl. Carl wirft sein Aluköfferchen aufs Bett. Gut, denkst du, so sieht er die Blutspritzer auf der Bettwäsche nicht und wir müssen die Reinigung nicht bezahlen. Wir bezahlen hier gar nichts, denke ich und bitte denke du jetzt nicht an Geld. Carl fragt, was passiert ist und während ich es ihm erkläre, unterbrichst du mich und entschuldigst dich: „Ich wollte nur kurz lüften.“ Aber Carl hört sowieso nicht zu; lieber legt er deine Hand in seine und reißt erschrocken die Augen auf. Und obwohl er sonst nichts weiter tut, entspannt sich die Falte über deiner Nase, als hätte er dir schon geholfen. Linda sieht mich fragend an, ich nicke ihr zu, sie nickt zurück. Sie schnappt sich Carls Köfferchen, öffnet es und schüttet seinen Inhalt aufs Bett. Dann zerrt sie ihre Reiseapotheke aus dem Rucksack und schüttet sie daneben. Ausrüstungsvergleich, Carl gewinnt. „Wir brauchen ein Desinfektionsmittel.“, sage ich. „Das in meinem Koffer ist leer.“, sagt Carl. „In meinem Beutel war gar keins.“, sagt Linda. Sie greift wieder zum Telefon.

Ein weiterer junger Mann springt herein. Er hat kein Sakko an, aber eine schmucke gestreifte Weste, auf seinem Namensschild steht Morten. Wie der süße Sänger von a-ha, denkst du. Nein, wie morden mit t, denke ich. Morten ruft „Wo ist der Finger? Wo ist der Finger?“ und klappert aufgeregt mit den Eiswürfeln in dem großen Glas in seiner Hand. Ich überlege kurz „Keine Ahnung. Im Garten?“ zu antworten, weil mich die Vorstellung, Morten auf Knien durch den Garten robben zu sehen sehr fröhlich macht. Aber du sagst schon: „Hier, an meiner Hand!“ und schiebst ein paar Sekunden später „Noch.“ nach und dann ist es schon vorbei mit meiner Fröhlichkeit. Morten wischt sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn, geht zum Waschbecken, füllt das Eis mit Wasser auf und serviert es als Drink. Wir trinken.

Du sagst: „Mir ist nicht mehr schwindelig. Dafür ist mir jetzt schwarz vor Augen.“ Ich sage: „Das ist von der Panik, du musst dich beruhigen!“ Dann muss ich an diese Komödie denken, neulich; die, in der diese blasse Frau zum ersten Mal in eine große Stadt kommt und immerzu in eine Chipstüte atmen muss, um nicht bei jedem vorbeifahrenden LKW zu hyperventilieren. „Du musst in eine Tüte atmen.“, sage ich, aber die einzige Tüte, die wir griffbereit haben ist die von Lindas Reiseapotheke. Sie ist aus fester Folie, hat einen Zipper und könnte nicht ungeeigneter sein. Zum Glück bemerkst du das nicht; vielleicht denkst auch an diese Komödie, dort hat es ja geholfen.

Morten zeigt uns seinen rechten Zeigefinger und ruft: „Ich hatte das auch, seht nur, es ist alles gut geworden, es wir alles gut werden!“ Ich frage ihn, ob es auch an diesem Fenster passiert sei. „Nein“, sagt er, „bei mir war es eine Tür und mit einer Tür geht das genauso gut.“ Anerkennend sagst du: „Schöner Finger.“ Morton lacht, ich mache das schmatzende Geräusch, das du so hasst.

Die Frau von der Rezeption kommt ins Zimmer gerannt. Sie trägt ein geblümtes Tuch und auf dem Schild, das sie daran festgemacht hat, steht Diane. Diane ist die Göttin der Jagd, denkst du. Ja und der Name eines hässlichen Silberbestecks, das mir meine Oma einst löffelchenweise schenkte, denke ich, aber da schlägt sich Diane schon theatralisch eine Hand vor die Augen und erklärt, sie könne kein Blut sehen. In der anderen Hand hält sie eine Sprühflasche, die sie nun wortlos in den Raum streckt. „Desinfektionsmittel?“, fragte Morton. „Gute Idee.“, sage ich, „Na endlich!“, ruft Carl. Linda greift zu.

Du hast inzwischen bemerkt, dass es nichts bringt, in diese Tüte zu atmen, lässt sie fallen und verkündest: „Jetzt sehe ich Sterne.“ Wir müssen dich ablenken, denke ich, das hilft bestimmt, aber ich weiß nicht, womit. „Schöne Turnschuhe!“, sagst du plötzlich, und ich ärgere mich, dass dir das zuerst aufgefallen ist, denn Carls blau-weiß gestreifte Schuhe mit den roten Sohlen sind wirklich der Knaller. „Wo hast du die gekauft?“, frage ich, damit Carl nicht sofort wieder die Klappe hält, nachdem er sich brav für das Kompliment bedankt hat. „Was sollen die Schuhe bedeuten?“, fragst du und weil Carl noch weniger als ich versteht, was du durch diese Frage zu erfahren hoffst, erklärt er uns den Weg zu diesem kleinen Laden in Hexham, in dem es die ausgefallensten Sneaker des Landes zu kaufen gibt.

Als Linda sieht, dass Carl nichts anderes tut, als deinen Finger wieder und wieder mit Desinfektionsmittel einzureiben und uns die Schuhmoden Englands zu erläutern, schlägt sie vor, doch lieber einen Arzt zu rufen. „Heute ist Bankfeiertag“, sagt Morten, „da haben die Ambulanzen viel zu tun. Man wartet besser nicht auf einen Krankenwagen, sondern fährt selber zum Krankenhaus.“ „Aber ihr fahrt alle auf der falschen Seite! Wir haben keine Chance, das Krankenhaus lebend zu erreichen.“, maulst du. „Hat jemand von Ihnen einen Wagen und kann uns fahren?“, frage ich. „Ich habe Ihnen ein Taxi gerufen.“, gibt Diane bekannt, „Mehr kann ich nicht tun.“ Weil ihr räumliches Sehen durch die Hand vor ihren Augen eingeschränkt ist, muss sie dreimal nach der Türklinke greifen.

„Warum brauchen Ambulanzen so lange an Bankfeiertagen?“, fragst du. „Weil viele Unfälle passieren.“, antwortet Carl und fängt an, eine Binde um deinen Finger zu wickeln. „Und warum?“, fragst du. „Weil viele betrunken sind.“ „Aber warum?“ „Weil Bankfeiertag ist.“ „Und was bedeutet Bankfeiertag?“, frage ich, damit du nicht „Warum?“ fragen kannst. „Dass alle Büros geschlossen bleiben und die Leute frei haben.“ „Und was wird gefeiert?“, fragst du. „Dass Mai ist.“ Carl zuckt mit den Schultern und macht endlich einen Knoten in die Binde. Wir nicken.

Das Taxi hupt und ich springe auf. „Jemand muss dir deine Schuhe anziehen!“ „Bitte nicht die Wanderschuhe, die sind voller Kuhmist!“, rufst du. „Füße her.“, sagt Linda und bevor du dich für deine Schweißfüße entschuldigen kannst, sage ich „Danke!“ und Linda bindet deine Schnürsenkel.

Die Taxifahrerin trägt kein Schild, aber sie stellt sich vor; sie heißt Amanda. So hieß eine Schildkröte, die dir als Kind gehört hat, denkst du. Ja, denke ich, auch das Auto passt dazu; es sieht aus, als hätte es den Kopf eingezogen. Linda steigt vorn ein, damit wir hinten nebeneinander sitzen können. Im Radio läuft klassische Musik. Uns regt das auf, aber Linda mag es. Amanda gibt zu, dass sie immer klassische Musik laufen lässt, wenn sie Touren ins Krankenhaus fährt. „Man weiß nie, wie schlimm es ist.“

Entweder ist es Amandas Ausstrahlung oder die auf 14 Grad eingestellte Klimaanlage, jedenfalls beruhigst du dich, hörst aber nicht auf, komische Fragen zu stellen. Zum Beispiel danach, was denn „eco“ sei an ihrem Eco-Taxi oder was dieser Aufkleber bedeutet, da vorn in der Scheibe. Der Sticker zeigt einen Stern, in dessen Zacken die Symbole aller großen Religionen gestopft sind. Das ist Bahai, sagt Amanda. „Aha.“, sagst du zufrieden und ich denke, was aha, du bist kein bisschen schlauer als vorher. „Ist Bahai auch eine Religion?“, fragt Linda. „Genau. Ich bin eine Bahai.“, sagt Amanda und erklärt, dass ihrer Meinung nach jeder Glaube den gleichen wahren Kern hat, der nur immer wieder anders verpackt ist, damit ihn die Leute am Ort und zum Zeitpunkt seiner Entstehung mögen können. „Also remixt sich jeder selber, was er glaubt?“, fragst du. „Es gibt Grundsätze, die in allen Religionen gelten.“, sagt Amanda. „Zum Beispiel?“, frage ich. „Zum Beispiel den, dass man sich lieber dem hingibt, was ist, anstatt Plänen nachzutrauern, die vom Schicksal durchkreuzt sind.“ Amanda fährt zwei Runden im Kreisverkehr, Linda runzelt die Stirn, ich rolle mit den Augen und du zeigst uns leise grinsend deinen weiß bandagierten Mittelfinger.