Die Eismutter (I/II)

Sie ist 10. Ihr Bruder wurde geboren. Die Eltern freuen sich und haben weniger Zeit.

Sie ist jetzt immer so traurig. Die Tage sind irgendwie anders, nicht mehr wie früher. Das Spielzeug läßt sie oft liegen. Sie kann nicht schlafen und sie hat Angst sie könnte vergessen werden. Manchmal ist sie verzweifelt.

Ihre Eltern sind stolz auf ihren Bruder. Er sitzt auf Muttis Schoß. Er lacht und schmatzt und knetet Muttis Nase. Vati zieht dabei Grimassen. Auch er lacht und spricht mit ihm in der Kindersprache. Sie will auch gestreichelt werden und streckt ihre Arme weit hoch, zu den Eltern, so wie früher.

Die Eltern sind fleißige Leute. Das wissen alle im Dorf. Immer öfter kommen die Eltern zu anderen Zeiten nach Hause, manchmal ganz spät. Abendbrot isst sie entweder mit Vati oder Mutti, manchmal auch allein. Dann muß alles schnell gehen und es wird auch nicht mehr so viel erzählt. Das fehlt ihr besonders. Deswegen unterhält sie sich oft mit ihren Händen. Und wenn sie im Bett liegt und ihre Hausaufgaben vergessen hat, schimpfen die Eltern viel. Mutti holt sie aus dem Bett und sie muß die Aufgaben erledigen. Das passiert oft. Wenn das geschieht, schleicht sie heimlich in die Küche und isst das ganze Nutella auf. Das gibt es seit neuesten im Konsum.

Sie ist 13. Sie hat immer mehr Probleme den Lehrer zu verstehen. Sie ist müde und hat Kopfschmerzen. Irgendwie fehlt ihr Kraft dem Lehrer zu antworten. Sie behält die Antworten einfach für sich: in solchen Momenten packt sie wortlos die Einträge und schlechten Zensuren in ihren Ranzen und zeigt sie ihren Eltern, abends vor dem Fernseher. Wenn sie Stubenarrest bekommt versucht sie besonders lieb zu sein. Und auch in der Schule gibt sie sich besonders viel Mühe. Doch dann, dann ist alles so wie vorher. Sie geht wortlos in ihr Zimmer und legt sich auf ihr Bett und zieht die Decke über den Kopf: Sie träumt, wie ihr schwarzes Haar im Wind weht, wie sie ertrinkt und hofft das alle Kinder und auch die Eltern traurig sind. Sie träumt wie Mich Bucannon sie aus dem Wasser trägt, wie sie sich an ihn schmiegt, wie er sie anlächelt und sanft umarmt. Sie spürt wie er in ihr Ohr flüstert. Bei diesem Gedanken drückt sie immer die Hände fest vor die Augen. Und gemeinsam laufen sie am Strand entlang bis die Sonne untergeht. Sie denkt viel an ihn, manchmal auch nachts, bis sie endlich wieder einschlafen kann. Gemeinsam fährt sie mit Michael Knight und KITT davon, ganz schnell: vorbei am Haus der Eltern mit dem Garten und dem kleinen Bruder der darin spielt, vorbei an der Schule mit den Lehrern und den Schülern die erstaunt ihr zuwinken. Und wenn sie aufwacht, dann ist sie irgendwie vergnügt.

Sie ist 17. Und sie ist glücklich! Er schaut sie an. Dann spricht er mit ihr. Sie sieht wie er ruhig und sicher sein Bier trinkt. Sie findet es gut, wie er raucht und wie er mit seinen starken Armen den Kellner zu sich herüberwinkt. Sie lächelt. Er lächelt. Sie tanzt mit ihm fast alle Lieder an diesem Abend. Er umarmt sie, er küßt sie, er umfasst sie, ganz fest. Dann flüstert er ihr ins Ohr. Sie versteht ihn nicht. Er zieht sie vom Festzelt weg, zieht sie hinter sich her, hinter das Schulgebäude, hinter den Appellplatz, zu den Bänken, neben die Mülleimer.

Sie hat ihn gefunden. Sie ist ganz aufgeregt. Die Nächte sind nicht mehr wie früher. Sie kann nicht schlafen. Das stört sie jetzt nicht mehr. Er hat es ihr gleich am ersten Tag gesagt, das mit der Liebe.

Sie ist 18. Und sie ist schwanger. Das ging alles so schnell. Sie hat das ja nur ganz selten gemacht, das hinter dem Appellplatz an den Mülleimern. Die Ausbildung will sie beenden. Sie braucht viel Zeit für das Kind. Sie will heiraten. Ihre Eltern sind dagegen. Die wollen ihren Freund nicht. Das Ungeborene, das auch nicht. Und sie, sie will ihn nicht verlieren. Er gehört ihr, ihr ganz allein. Sie liebt ihn, und seinen silbernen Lastwagen auch.

Sie ist 19. Sie heiratet. Ihre Ausbildung bricht sie ab. Zuviel hat sie mit dem Kind zu tun. Sie streichelt es liebevoll und sie spricht mit ihm liebevoll in der Kindersprache. Ihr Mann hat wenig Zeit. Er muss viel arbeiten. Er ist fleißig. Das wissen alle Leute im Dorf. Und wenn er da ist, geht er manchmal zur Feuerwehr ein Bier trinken. Das geht in Ordnung. Andere Männer machen das auch.

Sie ist 20. Sie wird wieder schwanger. Auch dieses Mal ging alles sehr schnell. Sie mag es wenn der Große sie in die Nase kneift. Dann spricht sie mit ihm in der Kindersprache. Der Mann fährt immer noch einen Lastwagen, jetzt einen blau-weißen. Und wenn er wie immer sein Bier trinkt, geht das fast immer in Ordnung. Nur manchmal, wenn er mit seinen starken Armen sie sehr fest hält, ist sie traurig. Danach bringt er ihr viele Blumen mit und spricht mit ihr. Und zärtlich ist er auch, nachts, meistens jedenfalls. In solchen Momenten ist es wunderbar schön! Er liebt sie. Sie weiß es genau.

Sie ist 21. Sie erinnert sich an den Großvater. Er hat vom Klapperstorch erzählt, wenn eine Familie im Dorf ein Kind bekam. Daran muss sie jetzt denken. Und an die Hände die er ihr immer so lieb in die Haare schob, bis sie kicherte, auch. Und dann, dann war er einfach tot, obwohl er sagte: „bis Samstag, Kleine!“ Und auch die Hände waren weg. Das ist lange her. Sie streichelt sich über den Bauch. Das Kind soll seinen Namen bekommen.

Sie ist ganz aufgeregt. Abends vorm Fernseher will sie es ihm sagen. Sie stellt ausreichend Bier in den Kühlschrank und kocht eine doppelte Potion von seinem Lieblingsgericht. Und er, er wird plötzlich laut, schreit sie an. Erst will er sie und dann die Kinder „alle machen“. Er steht auf und geht sein Bier woanders trinken. Sie weiß was danach passiert.

Sie sitzt am Küchentisch und malt Kreise auf die Decke. Sie weiß, dass Männer so etwas tun, überlegt sie. Sie hat es im Fernsehen gesehen. Die bringen so etwas immer in den Nachrichten. Auch in ihrer Zeitung sieht sie die Mütter mit den Kindern lachen, obwohl sie doch schon tot sind. Die Kinder, denkt sie, die können doch gar nichts dafür. Und warum nur machen Männer so etwas? Sie weiß nicht mit wem sie reden soll. Sie weiß nicht, was sie fragen soll, wo er sie doch liebt, sie und die Kinder auch. Sie ist verzweifelt. Und gegen das Gefühl von früher kann sie einfach nichts machen.

Die Eltern kommen die Enkel besuchen wenn er nicht da ist, sonst gibt es zuviel Streit. An solchen Abenden hören die Nachbarn die Streitereien, und die anderen Dinge auch. Das will sie nicht. Mit ihnen kann sie nicht reden, überlegt sie. Die Kinder leben auf dieser Erde. Das andere, das nicht. Die Kinder sprechen mit ihr in der Kindersprache. Das andere, das nicht. Sie kann sich ihr Leben ohne ihren Mann und ohne ihre Kinder einfach nicht vorstellen. Was wissen die Nachbarn schon von ihr. Die reden über jeden.

Sie ist 21. Es ist Nacht. Der Mann war Bier trinken. Heute hat er ihr nichts getan. Die Kinder hat sie zeitiger ins Bett gebracht. Sie liegt im Bad auf den weißen, kalten Fliesen; neben ihr die Nachgeburt. Es muß alles schnell gehen, denkt sie. In der Hand hält sie den Körper; die Nabelschnur fest um den Hals. Es ist kalt. So viel Blut. Sie muss das alles wegwischen. Sie friert. Und sie ist müde. Jetzt darf keiner ins Bad kommen. Und wohin mit dem Kind, überlegt sie. Sie schaut in den Wäschekorb. Weg von der Erde hat er gemeint. Sie ist zu kraftlos um noch weiter suchen zu können, um noch graben zu können.

(Fortsetzung folgt am 25.Nov. um 10 Uhr.)

Ein kaputter Topf und ein kaputter Deckel

Es ist fünf Uhr morgens und du horchst wie der Wecker tickt. Du weißt, du müsstest dich auf den Bauch drehen, den einen Arm unter das Kopfkissen legen und die Augen würden dir zufallen. Stattdessen stehst du auf und tappst barfuß in die Küche. Du suchst eine Mülltüte. Die Küchenlampe knipst du nicht an, der bärtige Mann aus der Wohnung gegenüber wirft dir oft Blicke über die Fenster hinweg, dass dich ein kleiner Schauer erfasst − so als bekäme man Gänsehaut. Das hochgestapelte Geschirr erkennst du schemenhaft und der Geruch, der davon ausgeht, verrät, dass du es gestern schon hättest abwaschen sollen. Dir fällt ein, dass du die Mülltüten vergessen hattest, beim Einkauf letzte Woche. Du nimmst dir stattdessen eine Einkaufstüte vom Küchenstuhl, die Moritz dort achtlos hingeworfen hatte.
Er war bestimmt gerade erst aus dem Club zurück. Die Zimmerwände sind nicht dicker als die Hartfaserrückwände eines Schranks. Und so kennt ihr euch besser, als euch manchmal lieb ist. Ihr hört die Lieblingssongs des Anderen genausooft mit, bringt einander Salbeitee, wenn die Hustenanfälle unerträglich werden und die nächtlichen Begegnungen des Anderen versucht ihr mit Oropax so intim wie möglich zu halten und grinst euch dann am Frühstückstisch an: „Na, ne tolle Nacht gehabt?“ „Hmm.“
Du drückst die Zimmertür leise zu. Der Laptop läuft noch. Du hast Sigur Ros´ gehört die ganze Nacht. Damit hatte alles begonnen. Ihr wart beide auf einer Informationsveranstaltung der Jusos. Du warst neu. Er war neu. Resi war neu. Resi mit ihren seltsamen Weltansichten, dass doch durch das Abschalten von Atomkraftwerken Arbeitsplätze verloren gängen, ließ euch beide die Augen verdrehen. Ihr habt darüber diskutiert bei Salzstangen und Bier. Du mochtest ihn sofort. Er war genau dein Typ. Lockige braune Haare, Bart und politisch interessiert. Du fragtest ihn, ob er dir vielleicht seinen Schlafsack borgen könnte. Warum, fragte er zurück. Du würdest nächste Woche nach Berlin zu einem Konzert von Sigur Ros´ fahren und müsstest dir noch einen Schlafplatz besorgen. Klar, kriegst du meinen Schlafsack, sagte er, aber nur, wenn du mich mitnimmst. Ihr wart also gemeinsam zum Konzert gefahren. Ihr habt euch Bandnamen hin- und hergeworfen und ward erstaunt gewesen, wie ähnlich doch euer Musikgeschmack war. Ihr seid spazieren gewesen am Spreeufer, habt Enten mit Pistazienschalen beworfen und seit Hand in Hand vor ihnen davon gelaufen, als sie euch mit ihren Schnäbeln in Rücken und Arme pickten. Ihr seid zum Flughafen gefahren und du hast das erste Mal ein Flugzeug von so nah gesehen. Ihr habt euch auf den buntbekreisten Sitzen der BVG aneinandergelehnt und auf einem unbefahrenen Bahnhofsgleis Kürbiskernbrötchen gegessen und mit einem großen Pappbecher Kaffee auf den Sonnenaufgang gewartet. Ihr nahmt den ersten Zug nach Leipzig. Ihr ward verknallt.
Du schaltest die Nachttischlampe an, obwohl es schon langsam hell wird draußen. Du öffnest die Tüte und wirfst die ausgebrannten Teelichter hinein, die vertrockneten Gänseblümchen, das Silberpapier von der Bio-Schokolade neben deinem Bett. Du frierst und eine Träne rinnt dir die Wange hinunter. Du musst an die erste gemeinsame Nacht denken, als er ein Porträt von dir malte. Zwei Stunden hattest du dich bemüht, still zu sitzen und hübsch auszusehen. Als Belohnung gab´s Spagetthi Bolognese. Die Teller habt ihr auf den Boden gestellt und „Dogville“ angeschaltet. Ihr seid eingeschlafen auf dem furchtbaren Sitzsack. Schlafen konnte man das auch nicht nennen, eher genießen einander nahe zu sein, egal wie unbequem es auch war. Als der Soundtrack zum hundertsten Male lief, bist du aufgestanden und hast den Laptop auf Standby geschalten. Er stand plötzlich hinter dir. Er legte seine Arme um deine Hüften und du hast dich umgedreht. Ihr habt euch geküsst.
Du hockst auf dem Bett und suchst nach einer Packung Taschentücher. Du kannst nicht aufhören zu weinen. Seine Paper liegen noch auf dem Nachttisch. Du hattest ein Kuli-Herz auf die Innenseite gemalt, als er sie neu gekauft hatte und du hattest am Abwaschbecken gestanden und dich verstohlen auf sein überraschtes Gesicht gefreut, als er sich eine Zigarette drehen wollte. Du schmeißt das Päckchen wütend in die Tüte. Und diese tausend Klebezettel, die hier im ganzen Zimmer verteilt sind, willst du ebenfalls reinschmeißen. Du reißt sie von der Wand über deinem Schreibtisch, vom Nachttisch, einen vom Radio und drei von der Tür. Dein Blick bleibt am Hocker hängen, auf dem sein blaues T-shirt liegt. Das hatte er einmal zum Trocknen bei dir gelassen, als ihr im strömenden Regen vom See nach Hause geradelt ward. Wenn du ehrlich warst, hattest du nie vor, ihm dieses Shirt zurückzugeben. Es roch nach seinem Aftershave und Sommerregen. Als er eine Woche paddeln war mit seinen Freunden, hattest du das Shirt über ein Kissen bezogen und dir vorgestellt, er würde jetzt neben dir liegen. Das hatte dich beruhigt. Sein Geruch und seine Wärme hatten dich immer beruhigt. Und wenn du Alpträume hattest und im Schlaf zu sprechen und zu weinen anfingst, dann hatte er dich geweckt und geküsst und dir die Haare aus dem Gesicht gestrichen.
Du läufst in die Küche. Die Kirchenglocke müsste gleich sechs schlagen. Du schaltest den Wasserkocher an. Ein Tee wäre gut. Hunger hast du nicht. Du kramst im Regal und die Schachtel Pfefferminztee fällt dir entgegen. Es gab Tage an denen er depressiv war und du wusstest nicht, wie du damit umgehen solltest. Du hattest dann gesagt: Komm, wir gehen spazieren und ihr lieft stundenlang schweigend Hand-in-Hand durch die ganze Stadt. Manchmal hast du ihm einen Gummi-Schlumpf gekauft und er hatte lächeln müssen. Manchmal aber hast du ihm einfach nur eine große Kanne Pfefferminztee gekocht und ans Bett gebracht. Du wirfst die Schachtel mit in die Einkaufstüte. Du mochtest ihn nie.
Du rufst E-Mails ab. Keine neuen Nachrichten. Du klappst den Laptop zu. Den aufgeklebten Zettel auf dem Laptoprücken hattest du tagelang verstört angesehen: Ich kann das nicht. Es tut mir leid. T.
Du reißt ihn ab. Du reißt ihn in viele Stücke, bis er sich nicht mehr zerreißen lässt. Nichts mehr willst du davon lesen können. Du schlägst plötzlich im Wechsel mit beiden Fäusten auf deine Oberschenkel, immer schneller und schneller. Du pustest, so kräftig wie deine Wut es zulässt. Es regnet. Es regnet Konfetti.

Grauzone

„Man führt dort ein sehr geregeltes Leben, wenn man sich erst einmal daran gewöhnt hat.“ C. Hein

 

I.

Guten Tag Frau Taubert. Hier ist Frau Ahrend – die Klassenlehrerin von Stefan. Ich wollte mich erkundigen, wie es ihrem Sohn geht? Er hat Bauchschmerzen, sagt er? Waren Sie denn gestern nicht beim Arzt? — Hat er Ihnen nichts von der Prügelei gestern Nachmittag erzählt? — Er wurde von zehn Schülern aus der Parallelklasse zusammengeschlagen. —  Ja, er scheint große Angst zu haben. Bitte gehen Sie unbedingt zum Arzt. — Nein, nicht erst wenn ihr Mann von der Frühschicht kommt, bitte gehen Sie sofort. — Und bitte rufen Sie mich zurück, sobald Sie etwas Neues wissen. Sagen Sie Stefan gute Besserung! — Ja, auf Wiederhören.

II.

Wissen Sie, Sie dürfen nicht nur das Schlechte an diesem Beruf sehen. Sie haben geregelte Arbeitszeiten. Sie haben immer frei an den Feiertagen. Ferien. Sie verdienen gutes Geld. Das ist doch etwas.

III.

Ey, wenn ich dich erwische, du Spasti, deine Mutter, Alter. Bleib gefälligst stehen. Hey, du hast es wohl nicht verstanden, was, willste Stress, oder was? Einfach die Tür vor der Nase zuschlagen. Das kannste bei deinen Alten bringen, aber bei mir nich Junge. Ja,ja, jetzt haste wohln Arsch voll, wa?  Komm hier mal raus aus der Penne, du Assi, nachher biste dran!

IV.

„Stopp, hier ist das Klassenzimmer der Klasse 5 und ihr gehört mit Sicherheit nicht hier rein.“ „ Alte Fotze, Sie haben uns gar nichts zu sagen.“ „O doch, stopp- geht zurück in eurer Klassenzimmer.“ „Sie können uns mal am Arsch lecken, Sie sind doch Niemand, kommen aus ihrem feinen Elternhaus und  kriegen alles in den Arsch geblasen. Nüscht wissen Sie. Gar nüscht.“

V.

Guten Tag, Ahrend am Apparat. Aaah, Frau Bräuner, sind Sie die Anwohnerin, die sich gestern schützend vor Stefan gestellt hat? — Nein, ich weiß leider nicht, wie es ihm geht. Wurden Sie dabei verletzt? — Zum Glück. Ich muss Ihnen ehrlich sagen, dass ich Ihre Reaktion sehr mutig finde. — Ja, ich melde mich bei Ihnen. Auf Wiederhören.

VI.

„Ich muss heute mit euch über ein sehr ernstes Thema sprechen. Euer Mitschüler Stefan wurde gestern Nachmittag von der kompletten Parallelklasse so verprügelt, dass er heute mit inneren Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert wurde. — Es ist noch nicht sicher, ob er bleibende Schäden davontragen wird. Wusstet ihr von diesem geplanten Überfall?“ „Na, der Stefan hat dem Tony wohl zwei Euro geschuldet. Und er hat dann rumerzählt, jetzt wären es fünfzig Euro – mit Zinsen und so.“ „Hat noch jemand etwas anderes bemerkt? — Wie findet ihr das denn, was da passiert ist.“ „Nicht so gut. Der hätte auch umkommen können. Im Ernst der Tony hätte den abgestochen, wenn die Alte da nicht dazwischengegangen wär.“ „Was denkt ihr, wie sich Stefan wohl in der Situation gefühlt hat?“ „Scheiße, hat der sich gefühlt.“ „Jetzt geht’s mir an den Kragen.“ „Der hat gar nüscht mehr gedacht, dem hamse doch aufn Nüschel gedroschen.“ „Der dachte, der stirbt jetzt.“ „Was denkt ihr, können wir tun, um Stefan jetzt zu helfen? „Keene Ahnung, de Ärzte solln den erstmal wieder grade biegen, würdsch sagen.“

VII.

In was für einer Gesellschaft leben wir denn heutzutage? Das kann doch nicht sein, dass die Wänster die Mülltonnen anzünden. Und vorige Woche haben Sie die Autotüren zerkratzt. Ich habe genau gesehen, dass das der Riese mit den Locken war, der immer so ein gelbes Basecape und ne schwarze Lederjacke trägt. Die haben doch keinen Anstand mehr. Wegsperren sollte man die, da muss man ja selbst schon Angst haben aus dem Haus zu gehen. Ich werde zur Polizei gehen. Und überhaupt alle ins Gefängnis sollte man die stecken. Sie unterrichten ja potentielle Mörder, wie halten Sie das eigentlich aus?

VIII.

Meldung des Tages

Kuckmarsdorf

In der Erziehungshilfeschule Martin-Schubert wurde gestern Nachmittag ein 11-Jähriger Schüler von zehn Mitschülern brutal zusammenschlagen. Der Polizeisprecher Horst Müller gab in der Pressemeldung bekannt, dass ohne das spontane Eingreifen einer Anwohnerin, ein tödlicher Ausgang nicht auszuschließen gewesen wäre. Gegen die Täter wurde Strafanzeige erhoben.

 

mein fotografisches Gedächtnis


Während man im Radio jene beziffert, die auf der anderen Seite des Planeten bei der schlimmsten Überschwemmung ertrunken sind, tropft mir der Honig vom Brötchen in die Hand. Die Serviette löst sich in einzelne Lagen, als ich mich abputze, so dass die äußeren Schichten zu Knäueln verkleben, während das Innere unberührt bleibt. Ich lecke meinen Handballen, ausgiebig schmatzend, wie sich dein Hund seine Pfoten leckte, und freue mich über dein entsetztes Gesicht. Du zischst, was denn die Leute denken sollen, und ich setze an, dir „Was sie wollen.“ zu antworten, aber als es süß schmeckt und salzig erinnere ich mich.

Daran, wie du geschmeckt hast, gestern, als sich dein Schweiß mit dem Regen vermischte, der den Tag kurz vor seinem Ende achtlos in die Gullis spülte. An die Tropfen, die in deinen Haaren hingen, und den Widerwillen unserer Haut, als sich dein Hals von meinem löste. Du hast mich berührt, daran erinnere ich mich. Aber nicht an diesen Ort.

Rückwärts im Zug haben wir durch Fotos geblättert. Du hattest mich gebeten, nach ihnen zu suchen, als feststand, wohin die Reise ging. Bestimmt wäre da meine Mutter drauf, mein Lausbubenlächeln und die 80er Jahre und vieles, was du noch nicht weißt. Ich fand sie in einer Kiste im Keller zwischen Münzen und Marken in einem Album – halbvoll. Tatsächlich zeigen sie meine Mutter, meine Igelfrisur und die DDR. Vor allem aber vieles, was ich nicht mehr weiß.

Als du das Album aufschlägst, findest du, dass es nach Kleber riecht, nach fremdem Zuhause ein bisschen und nach vergangener Zeit. Ich rieche Keller, Feuchte und Schimmel, und greife schweigend nach dem ersten Seidenpapier.

Ein Junge lehnt an einem Geländer am Hafen.
Am Steg heißt ein Schiff „Völkerfreundschaft“.
Am anderen Ufer ein Campingplatz.

Ein Junge steht im Brunnen am Marktplatz.
Ein Hering aus Stahl speit auf seine dicklichen Waden.
Die Rathausuhr sagt, es sei dreiviertel drei.

Ein Junge sitzt auf einem Koffer am Bahnhof.
Am Kiosk hinter ihm gibt es Fischbrötchen
und Bockwurst mit Senf für 0,8 Mark.

Der Junge bin ich, du siehst das sofort. Du findest, dass ich süß bin. Ich frage dich, wann. Du zeigst mir den Stempel auf der Rückseite eines Fotos und sagst Juli Neunzehnsechsundachtzig. Ich frage nach heute. Du lachst und bist schön.

Wir blättern weiter:
Meine Mutter raucht in den Abendhimmel.
Ihre roten Lippen haben den Filter gefärbt.
Die hellgrünen Lider passen perfekt zum Blouson.

Meine Schwester schaukelt gegen das Licht.
Ihr Haar hat die Farbe von reifem Getreide,
ihr Kleid lacht über himmelblau.

Ihr Mann klettert in einen Kirschbaum.
Sein Bart maskiert ihn als Freiheitskämpfer.
Seine nackten Füße haben schwarze Sohlen.

Heute ist meine Mutter nicht mehr und meine Schwester geschieden. Aber nicht von diesem Mann, der ist in den Jahren verloren gegangen. Und ich? War schonmal hier. Und weiß es nicht mehr.

Das ist in Ordnung, sagst du, völlig normal. Und nicht wahr, versprichst du, es ist alles noch da. Finden wir die Orte, finden wir auch die Geschichten. Du wettest, ich zweifle. Wir wollen suchen gehen.

Du wickelst zwei Brötchen mit gelber Konfitüre in frische Servietten und nennst sie Proviant. Ich leere meinen Malzkaffee bis auf den Satz, um dich anzugrinsen mit schlammigen Zähnen. Und in dein Lachen auf das ich zählte, frage ich trotzig, was dieser Moment wert war, wenn er dir nicht bleibt. Momente bleiben nicht, dozierst du, nur die Geschichten, die aber für immer. Und weil ich das schön finde, aber nicht glaube, ziehen wir los, mit den Fotos und deiner Kamera und dem Proviant, die Orte zu finden, an denen ich in die Sonne blinzelte, fünfundzwanzig Jahre vor heute.

Den Schlüssel zu unserem Zimmer lässt du am Tresen in ein dunkles Fach hängen, damit er nicht verloren geht, wie manches. Währenddessen stecke ich meine Hand bis zum Gelenk ins Bonbonglas, um zwischen den Drops nach den Toffees zu angeln, die du so liebst. Du bist sehr erwachsen, aber ich kann manche deiner Traurigkeiten mit Bonbons vertreiben. Das hat im Frühling funktioniert als dein Hund weg ist, und du ihm nachwolltest. Wenn auch nur ein bisschen. Und heute muss es wieder funktionieren, denn ich werde mich nicht erinnern.

Bei unserer Ankunft gestern Abend, Gleis vier, hast du gesprochen, und ich geschwiegen. Du hast vom Garten deiner Oma erzählt, der auch an Gleise grenzte, so wie die Gärten, die wir gerade passierten. Einmal war der Bach so weit über seinen Lauf getreten, dass ihr Kinder, in einer Badewanne aus Holz durch die Sträucher geschippert seid, um die Aprikosen zu ernten.

Ich mochte die Geschichte, aber ich kannte sie schon, und so suchte ich still in der Umgebung nach Dornen, an denen ich meine Erinnerung hätte ritzten können.

Als wir uns vor dem Bahnhof wie durch einen Irrgarten, durch die parkenden Autos schlängelten, habe ich gesehen, dass dort kein Kiosk mehr steht. Fischbrötchen muss man heute bei Nordsee kaufen. Auf dem Weg zur Pension habe ich das Rathaus entdeckt, hinter Gerüsten und Planen, und den gepflasterten Platz mit seinen Geranien, und dem Wochenmarkt. Aber ohne Brunnen. Und als wir vor Mitternacht unten am Hafen das Gewitter grüßten, das wir aus dem Radio kannten, haben wir gespottet, dass die Schiffe heute „Sea Princess“ heißen. Als dann der Blitz einschlug, in dich und mich, war da kein Geländer.
Das weiß ich, denn ich hätte eines gebraucht.

Mit den Füßen im Wasser liegen wir am Ufer und ich mit meinen Haaren auf deinen, auf dass auch meine Haare nach Regen riechen. Wir sind erschöpft, weil du dich verrannt hast in alten Bildern, und ich mir in neuen Schuhen Blasen gelaufen habe.

Am Bahnhof gibt es keine Bockwurst mehr und auf dem Markplatz keine Wasserspiele. Der Campingplatz ist ein Einkaufszentrum und die Rathausuhr zeigt nicht mehr die Zeit. Du bist traurig, weil nichts mehr da ist, die Orte nicht und nicht die Geschichten und auch sonst nichts, an das ich mich erinnern könnte. Und ich streichle deine Wange und seufze
und bin da.

„Wenn doch alles verschwindet -“ fängst du an, als ich endlich einen Toffee zu fassen kriege und ihn sofort in deine Hand lege, damit du ruhig bist. Ich bin auch ruhig und sage dir nicht, dass du eine Wette verloren hast, denn ich habe nichts gewonnen. Und während auch ich ein Trosttoffee kaue, überlege ich, ob es ein Wort gibt für dieses Gegenteil eines Déjà-vu.

Da nimmt mir der Wind das Papier aus den Fingern und legt es aufs Wasser und trägt es davon. Und als ich das sehe, frage ich erst mich und dann dich, was uns trauriger macht: dass die Geschichten fehlen oder die Bilder noch da sind. Und weil du schweigst, setz‘ ich mich auf, nehme die Fotos aus dem Dunkel der Tasche und zerreiße das erste in zwölf kleine Quadrate. Da setzt du dich auf, schnappst dir neun Teile und fragst mich, ob ich denn von allen guten Geistern verlassen sei. Von dir nicht, flüstere ich und gebe dir kampflos die restlichen drei.

Und als ich das letzte Stück zurück ins Puzzle lege, küsst du mich und lobst mein fotografisches Gedächtnis. Wir lachen. „Bleib so!“, rufst du, greifst zur Kamera, legst deinen Arm um mich und nimmst ein Bild auf.

Kunstlederkoffer, weinrot, Reißverschluß defekt, Namensschild fehlt

darin:
1 Strickjacke, grün, stark abgetragen,
3 Blusen, weiß, rosa, grün, teilweise fleckig
5 Röcke, blau, grün, schwarz, grau, schwarz, verschmutzt
7 Paar Strumpfhosen, mehrfach gestopft
1 Strumpfhose, original verpackt
2 Paar Wollstrümpfe, getragen
1 Tagebuch, altrosa, samtbezogen, stark abgegriffen
2 Paar Ballettschuhe, weiß, purpurrot, unbenutzt
4 Paar Ballettschuhe, weiß, weiß, rosa, blau, löchrig
1 rechter Hausschuh, Kamelhaar, Sohle ausgetreten
1 rechter Straßenschuh, grünes Leder, Absatz fehlt
1 rechter Straßenschuh, ockerfarbenes Leder, mit Einlage, gut erhalten
1 goldfarbener Ehering mit Gravur „A M 12.1.44“ , stumpf
1 silberne Kette mit goldfarbenem Ehering mit Gravur „F M 12.1.44“, verbogen
1 goldfarbener Anhänger, grüner Stein, keine Abnutzungsspuren
53 Postkarten der Stadt Prag in Seidenpapier gehüllt, allesamt unbeschrieben
1 Reichskunstmedaille der Stadt Dresden, Verpackung fehlt, sehr gut erhalten
1 Medaille Held der Arbeit, Kunststoffetui, sehr gut erhalten
1 Ehrenmedaille der Stadt Leningrad, Holzkästchen mit Intarsien, sehr gut erhalten
1 Buch: Das Kapital, mit Textunterstreichungen, Randnotizen, Beschlagnahmevermerk, stark abgenutzt
1 Buch: Theorie des Ausdruckstanzes, Beschlagnahmevermerk, stark abgenutzt
12 Eintrittskarten, 32 Ballettkarten, 28 Opernkarten und 1 unbenutzte Kinokarte
1 hellbraunes Briefkuvert, DIN A5, darin:
1 Hochzeitsfotografie mit der Signatur 12.01.44
1 Kleinkindfoto, Rückseite Bleistiftvermerk „Ein lieber Gruß von der Landesheilanstalt Stadtroda“
1 ganzseitiger Zeitungsartikel, 1951, Uraufführung im Mariinskitheater, Leningrad, vergilbt
1 Aufführungsplakat, 1952 „Das Frühlingsopfer“ von Igor Strawinsky, Komische Oper, Ecken abgerissen
1 Stifte-Etui, braunes Kunstleder mit diversen Inhalt, abgenutzt
1 Damenbrille, Hornimitat, Bügel geklebt
1 Herrenbrille, goldfarben, gut erhalten
1 Brief an das Büro des Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker, handgeschrieben, 1973, gut erhalten
1 Antwortschreiben, schreibmaschinegeschrieben, 1973, zerknittert
1 Brief an das Büro des Petitionsausschusses des Deutschen Bundestages, handgeschrieben, 1991, gut erhalten
1 Antwortschreiben, maschinegeschrieben, 1991, zerrissen, mehrfach geklebt
1 Brief an das Büro der Entschädigungsstelle für die Opfer der NS Regimes, handgeschrieben 1992, gut erhalten
1 Klarsichthülle mit einem Entlassungsformular der Haftanstalt Ravensbrück, 1942, Knitterstellen
1 Klarsichtfolie mit einem Entlassungsformular der Haftanstalt Hohenschönhausen, 1953, sehr schlecht erhalten, viele Klebestellen
1 vierseitiges Urteil über die Aufhebung eines Entmündigungsverfahrens von 1943,
Siegel der sowjetischen Militärverwaltung und Unterschrift 1945, Stempel des Bezirksgerichtes Dresden mit Unterschrift, 1946, handschriftlicher Rücknahmevermerk, Bezirksgericht Berlin, 1953, gut erhalten
1 Kommentierung des Grundgesetzes der BRD, zwischen den Buchseiten DM 900.- in druckfrischen Scheinen
DM 29,73 Münzgeld in einer Nivea-Dose
1 Pass, Deutsches Reich, Visaeinträge, Polen, Sowjetunion, Iran, Türkei, Frankreich, Algerien, Beschlagnahmevermerk 1942, Ecken abgeschnitten
1 Personalausweis der DDR mit dem Aufdruck „ungültig“, 1953, gut erhalten
7 Vorläufige Personalausweise der DDR für einen „Eingezogen Personalausweis“ mit verschiedenen Aufenthaltsbeschränkungen, Schlüsselabgabevermerk, allesamt abgegriffen
1 Personalausweis der BRD, 1992, ohne Visavermerk, unbenutzt
1 Schwerbehindertenausweis des Amtes für Familie und Soziales der Stadt Dresden, 1995, mit dem Vermerk „unbefristet“, sehr gut erhalten
1 Mitgliedsausweis der KPD, Beschlagnahmevermerk 1938, Seiten fehlen, schlecht erhalten
1 Mitgliedsausweis der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes, mit Auflösungsanordnung, 1953, Stempel der Polizei Stadt Dresden, mehrfach geklebt
1 Schachtel Veronal, Inhalt vollständig, Verpackung sehr stark abgegriffen

Erschossen haben sich schon so viele.

„Wir sind alle Sternenstaub. Weißt du das?“
„Das stimmt nicht. Es gibt keinen Sternenstaub. Sterne sind aus Gas.“
„Dann eben Planetenstaub. Alles ist Planetenstaub!“
„Von mir aus.“

Die vier sechsgeschossigen Neubaublöcke, die sie umgeben sind wie Wände.
Der abgesteckte Würfel Luft ist ihr Raum.
In der Mitte steht eine Tischtennisplatte aus Beton.
Darauf liegen sie und starren in den Himmel.
Die einzige Richtung, in der ihr Blick nicht an einer Mauer endet, ist himmelwärts.

„Aber das ist doch toll! Wir sind aus dem gleichen Stoff, wie das Funkeln dort oben!“
„Nein. Was du siehst sind Sterne. Wir sind aus Planeten. Aber Planeten leuchten nicht.“
„Doch, die Venus leuchtet. Du hast sie mir gezeigt! Da, rechts neben der Antenne der blassgelbe Punkt.“
„Die Venus leuchtet nicht. Sie reflektiert nur. Weil sie von der Sonne angestrahlt wird!“
„Ist mir egal, warum die leuchtet. Hauptsache, sie tut‘s. Was ist denn los mit dir?“

Mit lautem Hauch lässt Mathias den Rauch aus seinen Lungen entweichen. Weil die Luft still ist, schwebt die Wolke noch lange über ihnen.
Achtlos aber gekonnt schnippt er den Zigarettenstummel ins Gebüsch.
Er räuspert sich.

„Wenn du dich umbringen wolltest: Wie würdest du es anstellen?“
„Ich will mich nicht umbringen.“
„Ja, aber wenn du wolltest, wie würdest du es machen?“
„Keine Ahnung. Ich will leben.“
„Los jetzt, gib dir mal Mühe!“
„Geht doch alles erst los gerade. — Schlafmittel?“
„Funktioniert nicht mehr. Die mischen mittlerweile irgendwelches Zeug unter die Tabletten. Du musst kotzen, wenn du zu viele nimmst.“
„Mofa gegen Baum setzen?“
„Zu gefährlich. Wenn das schief geht, endest du als Krüppel im Rollstuhl. Ist beim Aufhängen das Gleiche.“
„Pulsadern aufschneiden?“
„Dauert ewig. Und am Ende rufst du dir doch einen Krankenwagen.“
„Vor einen Zug würde ich mich jedenfalls nicht werfen. Der Lokführer kann ja nichts dafür. Wofür eigentlich? Wieso willst du dich umbringen?“
„Ich will mich nicht umbringen.“
„Und worüber reden wir dann?“
„Darüber, wie ich es tun würde, wenn ich wollte.“
„Aha. Und wie würdest du es tun?“
„Ich würde von einem Hochhaus springen.“

Es war ein heißer Tag.
Inzwischen ist die Luft soweit abgekühlt, dass sie sich wie ein feuchtes Tuch auf die Körper der Jungen legt.
Der Stein der Tischtennisplatte hat noch Wärme.
Bereitwillig gibt er sie in ihre Rücken ab.

„Ich stelle mir das toll vor. Der Moment, wenn du an der Kante stehst, mit den Zehen schon darüber. Dein T-Shirt flattert im Wind und deine Haare. Und dann breitest du die Arme aus, holst tief Luft – zum letzten Mal – und lässt dich ganz langsam nach vorn fallen.“
„Und dann bist du tot.“
„Nein! Erst fliegt der Horizont nach oben aus deinem Blick, dann merkst du, wie die Gravitation dich anzieht und du immer, immer schneller wirst. Dann dröhnt der Fallwind in deinen Ohren. Dein Gesicht fängt an zu schlabbern. Und dann siehst du keine Bäume, Autos, Menschen mehr sondern nur noch Streifen und dann – Bamm! – ist es dunkel.“
„Aber dann bist du tot.“
„Ja. Kann aber sein, dass ich das gar nicht mehr mitkriege, weil ich schon im Flug ohnmächtig geworden bin. Wegen dem Schock und dem Adrenalin und so. “
„Wenn du tot bist, kriegst du sowieso nichts mehr mit. Ist doch scheiße.“
„Aber vielleicht kriege ich den Aufprall noch mit. Wie meine Knochen brechen und mein Schädel.“
„Auch scheiße.“
„Aber ein cooler Abgang.“
„Was ist denn daran cool?“
„Keiner traut mir so etwas zu. Riesending. Alle werden von mir reden.“
„Werden?“
„Würden.“
„Du spinnst doch!“
„Alle würden kapieren, dass ich doch mutig bin und – krass.“
„Aber daran zweifelt doch niemand!“
„Und alle würden kapieren, dass sie mir gar nichts zu sagen haben. Dass sie mich am Arsch lecken können, weil ich mein eigenes Ding mache.“
„Du machst gar nichts mehr!“
„Und dann würde ich ihnen fehlen und es würde ihnen leid tun, dass sie so scheiße zu mir waren und sie würden mich vermissen.“
„Wer?“
„Was?“
„Wer war scheiße zu dir?“
„Weiß nicht. Alle eben.“
„Sag mir, wenn jemand scheiße zu dir ist.“
„Und dann?“
„Dann kriegt er paar aufs Maul.“
„Von dir!“

Simon tastet nach seinem Rucksack auf dem Boden.
Er angelt eine Dose Bier heraus und öffnet sie.
Es zischt. Mathias kann ihn trinken hören.
Dann reicht ihm Simon die Dose herüber.

„Es ist wegen Steffi, oder?“
„Merkt man das?“
„Ich bin doch nicht doof.“
„Wissen es die anderen?“
„Keine Ahnung. Ich weiß es.“
„Ich liebe sie.“
„Mann!“
„Was denn?“
„Sie liebt dich nicht. Die merkt nicht mal, dass es dich gibt.“
„Aber warum nicht?“
„Weil sie eine eingebildete Ziege ist?“
„Sie ist toll!“
„Nein, sie ist dämlich.“
„Wieso denn?“
„Weil sie dich nicht will.“

Der Blick ins Weltall wird nicht erwidert.
Der Mond klebt am Himmel, wie eine Mandrinenspalte.
Es riecht nach Gewitter, aber es sieht nicht danach aus.

„Ich habe ihr einen Brief geschrieben.“
„Wann?“
„Vor zwei Wochen.“
„Was stand drin?“
„Na, dass ich sie mag und ob wir mal zusammen klettern gehen wollen.“
„Und?“
„Was und?“
„Was hat sie geantwortet?“
„Gar nichts.“
„Ich sag’s doch: Das ist eine blöde Ziege.“
„Ja, vielleicht.“

Mathias setzt sich auf und trinkt.
Er zielt auf den Mülleimer am Sandkasten.
Er versenkt die Dose scheppernd.
Als er sich wieder niederlegt, landet sein Kopf auf Simons Arm.

„Wir können ja zusammen klettern gehen.“
„Aber du hast doch Höhenangst.“
„Ja. Aber da sind doch Seile und Gurte und so. Oder?“
„Da! Hast du das gesehen? Eine Sternschnuppe!“
„Jetzt dürfen wir uns was wünschen.“

Jonathan hat ein Foto zu seinem Album hinzugefügt

S: In diese Einöde? Mit Sack und Pack?

J: Jawohl. Und mehr als einen Koffer werde ich nicht mitnehmen.

S: Du machst Witze!

J: Nein. Ich mache Ernst. Neue Kleider kriege ich dort. Ich werde nur ein paar Fotos und ein Tagebuch behalten.

S: Und dein Rechner?

J: Bräuchte Strom.

S: Und dein ganzes Zeug?

J: Kannst du haben, wenn du willst.

S: Okay, nehme ich.

J: Wirklich?

S: Klar, weißt du,  ich leihe mir den Transporter von Andreas und komme nächste Woche einfach mal vorbei.  Wenn ich in meinem Zimmer eine Zwischendecke einziehe, kann ich deine Möbel auch noch stellen…

J: Tolle Idee. Ich fliege aber schon am Sonntag.

S: Du hast die Tickets schon?

J: Das Ticket. Ja.

Sarah scheibt.

Sarah ist online.

Sarah scheibt.

Sarah ist online.

J: Ich lasse alles hier. Du kannst dir holen, was du magst. Was übrig bleibt, fährt Jens irgendwann zum Sperrmüll.

S: Nichts dabei, woran dein Herz hängt?

J: Doch. Aber ich will ein freies Herz.

Sarah ist online.

S: Hast du noch mehr Bilder?

J: Natürlich. Sekunde.

Ziehe Fotos, Musikstücke oder Videos auf diese Fläche, um sie mit Sarah zu  teilen.

S: Herrje, gibt es außer dieser Hütte noch irgendetwas anderes dort?

Klicke hier, um die Ortsmarkierung an einen Freund zu senden.

S: Jonathan, dieses Nichts wird dich auffressen! Du wirst umkommen vor Langeweile!

J: Ganz im Gegenteil: Man führt dort ein sehr geregeltes Leben, wenn man sich erst einmal daran gewöhnt hat.

S: Du verarschst mich doch!

J: Wieso?

S: Man führt dort ein sehr geregeltes Leben, wenn man sich erst einmal daran gewöhnt hat? Ganz ehrlich: Schreib diesen Satz auf einen Zettel und wenn du wieder nüchtern bist, lachen wir gemeinsam darüber.

J: Was meinst du?

S: Was meinst DU? Jonathan, wer ist „man“? Du? Du willst „man“ sein? Das ist lächerlich!

J: Kapiere ich nicht.

S: Ist ganz einfach: Du bist nicht „man“. Du bist Jonathan. Der, der im Sommer Strickmützen trägt und im Winter Sneakers. Der, der sich rasiert, weil alle Jungs Bart tragen.  Der, der sich eine Fee auf den Oberarm tätowieren lässt, weil das sonst keiner hat. Seit ich dich kenne, tust du alles um Jonathan zu sein! Und bloß nicht „man“!

J: Sind doch alles Äußerlichkeiten.

S: Ah, verstehe! Äußerlichkeiten spielen keine Rolle mehr, plötzlich?

J: Genau.

S: Moment:  Als ich dich zum letzten Mal besucht habe, standen zwei  Riesendosen Muskelaufbau-Eiweißpulver neben der Hantelbank in deinem Zimmer. Was ist DANN passiert?

J: Nur die Hütte ist passiert. Seitdem ich dort war ändert sich alles.

S: Das merke ich. Gefällt mir nicht.

Jonathan ist online.

S: Und die Wahrheit ist: Ich glaube dir nicht! Du hasst Alltag! Du willst kein geregeltes Leben führen! Das bist nicht du!

J: Das bin nicht ich. Gefällt mir. Doch, ich will ein geregeltes Leben. Mit fester Struktur und klaren Notwendigkeiten.

S: Mit Müssen? Jonny, du bist allergisch auf Müssen! Sehr.

J: Ich meine nicht Müssen.

S: Dinge, die notwendig sind, muss man.

J: Ich werde eine klare Rolle haben. Eine Aufgabe. Mit Bedeutung für andere.

S: Weißt du schon welche?

J: Sie brauchen einen Wasserträger.

S: Nee, is klar.

J: Um das Wasser vom Brunnen in die Hütte zu bringen.

S: Und dafür hast du studiert? Um hauptberuflich Wasser für Grüntee ranzuschleppen?

J: Nicht nur für den Tee. Auch für die Waschungen. Und die Speisen.

S: Oh, das sehe ich ein! Bei so viel Wasser braucht man ein abgeschlossenes Studium.

J: Natürlich nicht. Ich brauche kein Studium mehr.

S: Außer Selbststudium, nehme ich an.

J: Das stimmt. Achtsamkeit, Konzentration, Meditation, Beten.

S: Gerade gefiel dir noch Nicht-Ich-Sein. Jetzt willst du dich selbst studieren. Ich sag’s nur.

J: Ich will endlich zu mir kommen.

S: Mir wäre ja lieber, du würdest zu mir kommen.

Sarah lächelt.

Jonathan lächelt.

S: Und dann? Wenn du bei dir bist?

J: Dann will ich mich überwinden.

Sarah lacht laut.

J: Man MUSS zu sich kommen, um sich zu überwinden. Ich glaube das!

S: Und warum? Und was soll das bedeuten?

Jonathan ist online.

J: Ich selbst sein hat jedenfalls nicht funktioniert.

S: Weil du dich nie getraut hast!

J: Und du so?

S: Es geht um dich, gerade.

J: Es geht immer um mich, Sarah! Das ist ja, was so nervt!

S: Häh?

J: Mein Leben ist ein Hoppserlauf von Strohfeuer zu Strohfeuer. Deine Worte.

S: Hab ich gesagt, ich weiß. Sehe ich immer noch so. Finde ich mittlerweile aber völlig in Ordnung. Solange. Du. Brennst.

J: Ich brenne nur nieder. Ich entfache nichts.

S: Das ist esoterisches Geschwurbel, Jonathan! Was soll das heißen?

J: Ich weiß nicht, wozu ich hier bin.

S: Und da dachtest du dir: Mensch, auf der anderen Seite des Planeten suchen sie einen Wasserträger, das wär‘ doch was für mich!

J: Die brauchen einen Wasserträger. Er fehlt dort. Ich bin hier zu viel.

S: Schaff dir Kinder an, wenn du zu viel Zeit hast!

J: Ich will keine Kinder, bevor ich weiß, worum es geht.

S: Es GEHT um Kinder, Jonathan! Es geht immer um Fortpflanzung! Überall!

J: Das ist sinnlos.

S: Und wenn schon. Es funktioniert.

J: Nicht für mich.

S: Jonny, Sinn ist eine Erfindung der Menschheit. Juckt die Natur kein bisschen, wenn der fehlt.

Jonathan ist online.

S: Bei Wikipedia steht, dass die nur miteinander sprechen, wenn es unbedingt nötig ist. Übst du wohl schon?

Jonathan lächelt.

J: Ich habe jedenfalls nichts zu sagen, gerade.

S: Du wirst das nicht aushalten, wenn du dich erst einmal daran gewöhnt hast. Alles, an das du dich jemals gewöhnt hast, hast du aufgegeben.

J: Ich weiß. Aber diesmal –

S: Mich auch.

J: Ja.

Jonathan küsst Sarah.

Jonathan ist offline.

Graufahrer

„Guten Abend, ein Ticket bitte.“
„Es gibt keine Tickets mehr.“
„Aber am Automaten gibt es doch Tickets?“
„Normalerweise ja.“
„Aber?“
„Der Automat ist kaputt.“
„Aber wenn der Automat kaputt ist, verkaufen Sie doch die Tickets.“
„Das stimmt.“
„Also dann hätte ich gern eins.“

„Ich verkaufe keine Tickets mehr.“
„Aber wieso?“
„Weil der Automat kaputt ist und deshalb alle ihre Tickets bei mir gekauft haben.“
„Aber warum kann ich dann keins bei Ihnen kaufen?“
„Weil sie alle sind.“
„Ich bin alle?“
„Die Tickets.“

„Aber wo kaufe ich jetzt ein Ticket?“
„Sie können kein Ticket kaufen.“
„Aber was mache ich denn dann?“
„Na was schlagen Sie denn vor?“
„Ich fahre ohne Ticket mit?“
„Ja.“
„Gut!“
„Oder haben Sie eine bessere Idee?“

„Ich könnte Sie bezahlen und Sie merken sich mein Gesicht.“
„Sie wollen mich dafür bezahlen, dass ich mir ihr Gesicht merke?“
„Nur für den Fall, das eine Kontrolle kommt.“
„Und dann?“
„Dann sollen Sie sich an mich erinnern und sagen, dass ich bezahlt habe.“
„Sie wollen mich dafür bezahlen, dass ich sage, was sie wünschen?“
„Ich würde sie dafür bezahlen, dass sie die Wahrheit sagen.“
„Seltenes Angebot.“

„Also was jetzt?“
„Ich kann nicht einfach so Geld in die Kasse stecken. Und in meine Taschen schon gar nicht. Oder wollen Sie mich bestechen?“
„Ich will keine 40 Euro bezahlen müssen, wenn eine Kontrolle kommt.“
„Es kommt keine Kontrolle.“
„Sind Sie sich sicher?“
„Ja, weil ich die Kontrolle bin. Und ich will keine Gesichtskontrolle sein.“

„Stimmt was nicht mit meinem Gesicht?“
„So vermummt wie Sie sind, kann ich das nicht sagen.“
„Entschuldigung, es ist kalt.“
„Wenn Sie endlich richtig ein- oder richtig aussteigen würden könnte ich die Tür zu machen und es würde wieder wärmer.“
„Gut. Danke.“

„Sie könnten wenigstens Bitte sagen.“
„Was?“
„Bitte!“
„Was?“
„Verstehen Sie das nicht? Sie wollen nett sein. Aber Sie sind nicht nett.“
„Ich werde fürs Busfahren bezahlt.“
„Aber nicht von mir, heute.“
„Und fürs Nettsein hätten Sie was gegeben?“