Die Hauselfe

Die Hauselfe fliegt nicht, sie schwirrt umher. Jeden Tag ab fünf treibt sie sich emsig im Haus herum und flitzt die Treppen hinauf und hinab, den Wischmopp in der einen und den Staubwedel in der anderen Hand. Sie saust wie der Wind in die Zimmer, wirbelt die Staubkörner eifrig in die Luft, zieht Betten ab und auf, schrubbt Badewannen und poliert die Klinken. Die Hauselfe ist tüchtig. Kein Gast konnte sich bisher über sie beschweren, denn keine Hauselfe ist so gründlich wie sie. Sie kennt jeden Winkel des Hauses, ihr bleibt nichts verborgen, nein, denn sie kennt jeden Gast persönlich. Sie weiß von seinem Leiden, wenn sie die Haare büschelweise im Waschbecken findet. Sie weiß von seinen Vorlieben, wenn sie die sieben Flakons anhebt, um die Fliesen darunter gründlich zu reinigen und ihr jedes Mal ein anderer Duft entgegenschlägt. Und sie weiß sogar von seinen unzähligen Krawatten, die sie farblich sortiert im Schrank vorfindet. Aber all das behält die Hauselfe für sich, sie verrät niemanden, so ist sie nicht. So schnell wie sie gekommen ist, saust sie auch schon wieder aus dem Zimmer und schwirrt ins nächste, jeden Tag, treppauf, treppab, den Wischmopp in der einen und den Staubwedel in der anderen Hand.

Das ist Politik

Sie entschuldigen, Sie haben da eine witzige Tätowierung am Arm. Eine Mickey Mouse habe ich ja noch nie als Tätowierungen gesehen.

Ach, das, das ist gar nichts. Schau mal, hier hab´ ich Popeye und hier ist Donald Duck. Und guck mal, hier über dem Rücken, da hab ich ´ne Frau drauf, ganz groß, mit hammermäßigen, naja, du weißt schon. Tja, ich war schon immer einer, der mit Frauen gut kann. Weißt du, ich weiß wie man die richtig flach legt.

Waren Tätowierungen zu DDR-Zeiten überhaupt erlaubt? Ich kannte einen, dessen Tätowierungen wurden fotografiert und katalogisiert und der hatte deswegen Scherereien.

Ja, ja, das war aber erst wenn du in den Knast reinkamst. Da haben die bei mir dann auch mit dem Kram angefangen. Die drei haben sie am Anfang nicht fotografiert, denn die habe ich mir schon mit elf machen lassen, da hatten die Bullen noch nichts zu sagen. Popeye war meine erste Tätowierung, denn den fand ich saukomisch. Und Mickey war ´ne Idee von meinem Kumpel.

Mit elf? Da macht man doch andere Sachen, ich meine…

…Och nö, nö, da habe ich mit `nem Kumpel lieber sowas gemacht. Wir zwei waren schon immer kreativ. Und mit ein bissel Tinte und ner angefeilten Feder von ´nem geklauten Füller kriegste alles hin. Uns konnten sie ja nicht belangen. Ich war elf und mein Kumpel war zehn.

Zehn?

Tja, warum nicht. Alles andere war mir zu langweilig. Meine Mutter hat zwar gebrüllt, aber was wollte sie machen. Wieder eine in die Fresse hauen? Irgendwann ist das auch durch und dann wirkt´s nicht mehr, weißt du.

Also, der den ich kenne, der hat mir gesagt, dass sie ihn bestraft haben, wenn er sich wieder eine neue Tätowierung hat stechen lassen. Wie war das bei Ihnen?

Ja, weißt du, das hat mich irgendwann nicht mehr gestört. Die haben mir sowieso immer eine in die Fresse gehauen, die Bullen. Ich hab die mal gefragt, warum sie mir immer eine reinkloppen, wenn ich die Wahrheit sage und warum sie mir ´ne Zigarette geben, wenn ich lüge. Da haben die mir gleich noch eine reingedroschen. Die waren schon komisch die Bullen. Ich hab die nie verstanden.

Der, den ich kenne, der meinte, dass die Gefangenen untereinander oftmals brutaler waren.

Ach, bei mir nicht, die kannten mich ja irgendwann alle. Ich hab am Fenster geschlafen und meine Ruhe gehabt.

Aber, der den ich kenne, meint, am Fenster durfte nicht jeder schlafen. Das waren die begehrtesten Plätze. Wie sind Sie denn an das Fensterbett gekommen?

Weißt du, wenn ich kam verscheuchte der Stubenälteste den Typen aus dem Nest, der grad drin lag. Und dann war das wieder mein Platz. Nö, nö, Probleme hatte ich nicht. Weißt du, und meinen Arsch haben ´se auch in Ruhe gelassen. Am Anfang war´s schwer, da konntest du keine Nacht ruhig schlafen. Weißt du, da habe ich jede Nacht höllisch aufpassen müssen. Aber dann, dann war´s geklärt. Und so einer, der im Knast erst mit den Kerlen rummacht und dann draußen wieder mit den Weibern anbändelt, nö, nö, so einer war ich nicht. Der Stecher von meiner Mutter, der war so einer. Den hatte ich im Knast kennen gelernt und irgendwann mit nach Hause geschleppt. Warum meine Mutter sich mit dem eingelassen hat, das hab´ ich nie verstanden. Meine Mutter war schon irgendwie krass. Die schickte mich vor der Schule immer Klauen. Weißt du, ich war der Älteste von uns fünfen. Und Hunger, Hunger hatten wir fünf immer. Wenn ich nicht genug mitgebrachte hatte, kriegte ich eine. Wollte mich aber einer ihrer Männer verdreschen, stellte sie sich vor mich hin und ließ nichts auf mich kommen. Das fand ich dann Spitze. Meine Mutter war schon krass. Seit ein paar Jahren telefoniere ich sogar einmal die Woche mit ihr. Weißt du, ihr geht’s nicht mehr so gut. Und außer mir hat sie niemanden. Die anderen Geschwister wollen mit ihr nichts mehr zu tun haben. Ich bin doch der Große, weißt du, ihr Großer.

Also, der, den ich kenne, der meinte, die wären im Bautzenknast untereinander besonders brutal gewesen. Erst im Stasiknast hatte er etwas Ruhe.

Nö, nö, bei mir war´s andersrum. Die haben gleich Stunk gemacht. Deswegen hab´ ich´s ja auch mit die Nerven, bin wegen die Psyche in die Rente geschrieben. Die haben mich geärgert und ich hab´s wieder mal nicht verstanden, was die eigentlich von mir wollen. Die Bullen waren schon immer komisch. Irgendwann war mir das dann alles zu viel, weißt du. Das habe ich dann nicht mehr geschafft und versucht mich zu vernichten. Da haben die von der Stasi dann Schiss bekommen, mich entlassen und mir sogar ´ne Bude besorgt. Aber das hat mir dann auch nichts mehr genützt. Das erste, was ich gemacht habe, als ich in der Bude saß, ich hab wieder versucht mich zu vernichten. Naja, seit der Wende leb ich mit ´nem Hooligan und Nazi zusammen. Da bin ich wenigstens nicht mehr ganz allein. Die gucken ab und zu nach mir ins Zimmer und erledigen ein paar Wege, die ich nicht mehr kann, weiß du. Hat schon was, wenn einer mal nach dir guckt.

Sie haben eine WG? Sind die beiden Mitbewohner nicht… anstrengend?

Nö, nö, weißt du, die habe ich im Griff. Bei mir wird nicht gekloppt. Ich mach das nicht mehr. Und deswegen will ich es auch nicht mehr bei die Demos haben. Ich bin jetzt politisch geworden, weißt du, so richtig politisch. Mir kann keiner mehr was.

Politisch? Sie engagieren sich… politisch? Das, das find ich… vom Prinzip her gut.

Weißt, du, die haben gerade heute im Fernseher gebracht, dass immer mehr Leute politisch mitmachen, weil sie die Schnauze vollhaben von allem. Mehr als 10 Prozent machen jetzt mit, und es werden immer mehr.

Wie meinen Sie das? Es gibt doch mehr Menschen die sich politisch engagieren und…

…sag ich doch. Es werden immer mehr. Ich bin jetzt auch dabei seit der Politische bei mir wohnt.

Ähm, Sie sagten doch, Sie wohnen mit einem Hooligan und einem… einem Nazi…

…einem Politischen zusammen. Der wird verfolgt weil er in der NPD ist. Versteh´ ich nicht. Der kloppt sich nicht mehr rum, ist friedlich, geht arbeiten, macht jetzt in Politik mit. Und seit ich den kenne und wir uns angefreundet haben, kloppe ich nicht mehr und bin jetzt auch politisch. Der hat mich überzeugt. Deswegen wohnt er auch bei mir. Weißt du, bei mir sind die friedlich obwohl die beiden sich nicht ausstehen können. Hoolis wollen kloppen und Nazis wollen das alles politisch klären. Die Nazis sind zu Unrecht verschrien. Die haben mit Hitler auch nichts am Hut. Ich auch nicht. Das war ein Riesenarschloch. Der hat unserer Sache nur geschadet.

Aber wenn Sie mir jetzt hier während unseres Armbades erzählen, dass Sie eine Rente beziehen, wo liegt ihr Ziel bei den Demos, ich meine, was machen Sie auf den Demos?

Du meinst meinen Rollstuhl?

Ach so, Sie fahren, ähm, Sie haben einen, einen Rollstuhl. Ich dachte, Sie sind wegen einer Herzerkrankung hier…

…und wegen der Bandscheiben und wegen meiner Wirbelsäule und wegen dem Knie und wegen dem anderem Knie auch. Alles vom Kloppen. Das geht nun nicht mehr. Deswegen bin jetzt politisch, weißt du.

Sagten Sie nicht soeben, dass Sie im Stasiknast waren?

Ja, weißt du, ich hab das nie begriffen, ich war immer ein Politischer, schon früher, ob ich wollte oder nicht. Und jedes Mal habe ich Ärger bekommen, wenn ich erzählt habe, dass wir zu Hause nichts zu Fressen haben, dass wir arm sind und ich Futter klauen muss. Ich versteh´ nicht, warum die Bullen was dagegen hatten, dass ich das überall rumerzählt habe. Ich hab doch nicht gelogen. Ich kapier´s selbst heute noch nicht. Jetzt wollen die Bullen wieder was von mir, jetzt wollen die mir ´ne Volksverhetzung dranhängen. Versteh ich auch nicht. Ich will doch nur, dass die Ausländer genauso ihre Steuern zahlen wie wir Deutschen. Ich muss doch auch meine Steuern zahlen. Weißt du, wenn die arbeiten gehen, sich benehmen, unsere Kultur achten und nicht ständig ein Haufen Kinder machen und überall ihren Scheiß hinschmeißen, dann sind sie mir völlig egal. Ich kauf auch bei meinem Türken um die Ecke. Der weiß, dass ich ihn so nenne und lacht nur. Ich ess´ gern auch mal ´nen Döner oder so. Also Steuern zahle ich dabei immer, das hat mir der Politische erklärt. Der Türke muss meine Steuern nur an den Staat ordentlich abgeben wie sich´s gehört und nicht ins letzte Kaff nach Anatolien schmuggeln, sagt der Politische. Weißt du, mehr will ich doch nicht.

Aber was hat das mit Politik zu tun?

Weißt du, der Nazi bei mir in der Wohnung, der sich um mich kümmert, der hat mir das mit der Politik mal so richtig erklärt. Und seitdem er mir das ganz genau erklärt hat, versteh ich, wie Politik geht. Weißt du, wenn ein Bulle einem Ausländer eine ordentlich auf´s Maul haut, dann ist das politisch. Und Bullen dürfen nicht politsch sein, die müssen unpolitsch bleiben. Deswegen kloppen die auch keinen Ausländer mehr eine auf´s Maul. Wenn der hingegen einem Deutschen eine auf die Fresse kloppt, dann zählt das nicht als Politik, dann bleibt er unpolitisch. Und weil der Bulle nur den Deutschen eine aufs Maul haut, haut der Hool dem Bullen eine auf´s Maul. Und dann kommen die Bullen zu uns, stören unsere Demo und hauen uns wiederum eine rein. Weißt du, ich kann doch nicht mehr richtig wegen meinem Rollstuhl, deswegen will ich meine Ruhe haben. Wenn die aber Stunk machen, dann schnapp ich mir zur Strafe so ´nen kleinen verkackten Hool und hau ihm eine rein, weißt du, so richtig eine rein und frag ihn dabei, was der Scheiß eigentlich soll. Wir sind jetzt politisch. Wir machen ab jetzt nichts Verbotenes mehr. Uns kann keiner was. Weißt du, das ist Politik. Ich find Politik gut, richtig gut. Aber jetzt muss ich erst mal hier meine zwei Infarkte kurieren. Weißt du, ich bin das erste Mal zur Kur. Warst du schon mal in Kur?

Ja.

Und waren da auch so viele Ausländerärzte wie hier?

Meinen Sie die Ärztin von der Inneren? Bei der Aufnahmeuntersuchung erzählte sie mir, dass sie in den nächsten zehn Jahren keine Stelle in Serbien bekommen wird und sich eher zufällig hier beworben hatte. Wissen Sie, Kureinrichtungen scheinen nicht unbedingt das zu sein, was deutsche Ärzte suchen.

Sag ich doch. Die verdrängen unsere deutschen Ärzte. Und dann musst du dir von so einer, die kaum Deutsch reden kann, helfen lassen. Weißt, du, ich hab nix gegen die. Aber wenn ich krank werde, dann will ich auch unbedingt deutsch behandelt werden. Im Moment komme ich hier nicht weg. Du siehst doch, ich kann nicht mehr richtig laufen und komme früh kaum aus dem Bett. Und die verfluchte Pumpe, die macht nun schon das zweite Mal schlapp. Deswegen muss ich mir die Ausländerärztin auch gefallen lassen. So, ich muss jetzt zur nächsten Anwendung. Aber vorher, vorher da will ich schnell noch eine Durchziehen. Wir sehen uns beim Essen im Speisesall. Und dann können wir uns weiter über Politik unterhalten.

Hat man Ihnen nicht erklärt, dass nach frischen Infarkten eine einzige Zigarette reicht, um einen neuen Infarkt auszulösen.

Weißt du, den Quatsch wollte mir die Ausländertussi heut´ Morgen auch einreden.

Der Büchernarr

Der Büchernarr ist ein Besessener. Kein Tag vergeht, an dem er nicht ein Buch herbeischleppt. Er kauft sie sich, er leiht sie sich, er stiehlt sie sich. Der Büchernarr liest seine Bücher aber nicht, nein, so viele Jahre würden ihm gar nicht bleiben, ihnen auf diese Weise gerecht zu werden. Der Büchernarr häuft die Bücher lediglich an und sorgt sich um sie. Sobald er ein neues Exemplar ausfindig machen konnte, ergreift er es freudig mit seinen schwitzenden Händen. Er umstreicht es zärtlich einmal von vorn und einmal von hinten. Er schlägt es auf und atmet den Geruch des Buches tief ein. Das liebt er, ein jedes Buch hätte seinen ganz eigenen Duft, behauptet er. Es riecht nach Druckerschwärze, Papier und vor allem nach seinen Vorbesitzern. Hocherfreut ist der Büchernarr, wenn das Buch nach vielen Besitzern riecht. Denn dann glaubt er, seinem Buch einen besonderen Gefallen getan zu haben, er hätte es dann errettet, und es dürfe nun bei ihm, dem Büchernarr unbehelligt seinen Lebensabend verbringen. Einmal im Jahr unternimmt er eine große Reise. Er begibt sich weltweit auf die Suche nach vielgelesenen Büchern und sichert sich alle Bestände der Stadtbibliotheken und Schulen.
Entzückt über seinen Fund packt der Büchernarr die Koffer und lässt die empörten Wirtsleute zurück. Schon wieder wäre aus jedem Zimmer das Gottesbuch entfernt worden. Eine Unverschämtheit wäre das. Aber der Büchernarr ist besessen und deshalb eilt er seinem Nachruf auch schon voraus.

Die Schläfrige

Die Schläfrige kann den Tag nur schwer ertragen. Kaum ist sie erwacht, ist sie auch schon von Müdigkeit geplagt. Mühsam öffnet sie ihre verklebten Augen und schließt sie beunruhigt wieder, als sie die Lichtstrahlen blenden. Es ist noch viel zu früh, sagt sie und dreht sich auf die andere Seite. Doch die Sonnenstrahlen kitzeln sie in der Nase und mit einem lauten Hatschi sitzt sie plötzlich aufrecht in ihrem Bett. Nun, dann wird sie aufstehen. Langsam hebt sie ihre müden Beine aus dem Bett, streckt sich gemächlich und gähnt. Aber erneut nickt sie auf der Bettkante sitzend ein. Kurz bevor sie herunterzufallen droht, öffnet sie ihre Lider. Sie schüttelt das Kissen auf und begibt sich schlurfenden Schrittes in den nebenan liegenden Frühstücksraum. Noch im Nachthemd gekleidet, sitzt sie nun zwischen all den anderen Gästen und schmiert sich ein Marmeladenbrot. Doch bereits als sie den ersten Bissen hinunterschluckt, überkommt sie der Schlaf. Erst als ihr Tischnachbar sie unsanft am Ärmel zupft und nach der Butter fragt, erhebt sie sich träge. Das Marmeladenbrot noch in der Hand, sucht sie mit schon geschlossenen Augen ihr Zimmer auf. Gerade noch rechtzeitig erreicht sie ihr Bett und sinkt erschöpft nieder.

Überposis

Halt, Stopp! Ey, Schaffnerin! Gut, dass ich sie gleich erwische! Ich muss erstmal durchatmen. Ich bin den ganzen Weg vom Flughafen-Shuttle – puh! Ich komme gerade aus New York! Ich war die ganze Nacht im Flieger. Bin total drüber. Ich weiß nicht, ob das das Jetlag ist oder die Medikamente. Ich hatte gestern eine Zahn-OP. Mit Zahn ziehen, Eiter ausspülen und nähen und so. Fies. Jedenfalls musste ich bar bezahlen. Ich hab‘s vorm Start nicht mehr zum Automaten geschafft. Und nach der Landung auch nicht. Kann ich trotzdem mitfahren? Geht das? Ich meine, ohne Geld?

Wir machen das so: Ich fahre mit bis Leipzig. Dort steige ich aus und flitze zur Western Union. Da hebe ich das Geld aus New York ab. Dann komm ich zurück und bezahle das Ticket. Okay? Ich lasse ihnen bis dahin meinen Pass da. Als Pfand. Sie geben ihn mir zurück, wenn wir quitt sind. Keine Tricks. Und keine Sorge: Ich brauche meinen Pass. Ohne Pass bin ich erledigt.

Machen Sie doch mal eine Ausnahme! Kommen Sie schon! Bitte! Das wäre super, wenn wir das so machen könnten. Echt? Sie sind richtig cool. Ich setze mich da vorn hin, dann habe ich es nachher nicht so weit zur Tür. Ist doch frei bei dir, oder? Super! Kann ich die Tasche unter deinen Sitz stopfen? Hilfst du mir? Dann packe ich die andere hier hoch! Wehe du illerst mir unters Shirt! Jetzt guck nicht so erschrocken. Spaß!

Du, ich hoffe, ich stinke nicht. Ich bin total durchgeschwitzt. Eigentlich müsste ich mein T-Shirt wechseln. Guck mal, das sind Schweißflecken und das hier sind Schampusränder. Sehen genauso aus. Einen Fächer könnte ich jetzt gut gebrauchen. Wie der Lagerfeld. Naja, der OP-Bericht hier wird es auch tun. Ist der auch mal zu was gut. Alter Schwede: 2.500 Dollar für das bisschen Zahn ziehen. Hat das jetzt wieder zu bluten angefangen? Es schmeckt so süßlich, irgendwie. Die haben das zwar genäht, aber das ist ja nicht blutdicht. Blutdicht – gibt es das Wort? Kannst du mal gucken, ob du da was siehst? Hinten rechts unten. Da wo der Zahn fehlt. Siehst du die Naht? Blutet das? Jetzt guck mich mal an. Nee, frontal. Ist das noch geschwollen? Fass mal an, das ist total heiß! Alter, mit so einer Beule im Gesicht kriege ich nie wieder einen Job! Keine Ahnung, was passiert ist. Gestern früh bin ich mit Zahnschmerzen aufgewacht und gestern Abend sah ich aus, als hätte ich eine aufs Maul gekriegt. In der Klinik haben die den Zahn sofort rausgemacht. Das hat übelst geknirscht! Die haben gesagt: No sports! I mean it: No sports! Aber wenn ich jetzt nicht geflitzt wäre, hätte ich den Zug verpasst. Klar, ich hätte auch den ICE nehmen können, aber im ICE kommt man mit so einer Nummer nicht durch.

Ist dir auch so heiß? Boah, guck mal, in meinem Bauchnabel kocht das Wasser! Hier! Ein Schweißtropfen-Rennen! Schluss jetzt, ich zieh mir was Frisches an. Halt das mal. Fuchsia oder Pistazie? Fuchsia, oder? Weißt du, alle denken immer, ich trainiere wahnsinnig hart. Aber das stimmt null. Ich habe fünf Jahre Fußball gespielt. Ewig her. Mein Körper hat sich das irgendwie gemerkt. Also, dass ich Sportler bin. Der sieht einfach weiterhin so aus. Du hast da bisschen Pech, aber mach dir nichts draus. Dafür ist dein Gesicht gut. Das sind die Gene. Ich mache überhaupt keinen Sport. Ich darf nicht trainieren, die haben mir das regelrecht verboten. Ich habe mal ein paar Wochen gepumpt, aber ich kann ja zugucken, wie bei mir die Muckis wachsen. Die von der Agentur haben dann gesagt, ich soll aufhören, sonst passe ich nicht mehr in die Slim-Fit-Hemden. Ist ja alles Slim Fit. Wenn du zu fett bist, bist du zu fett. 65 Kilo ist das Limit. Ich könnte höchstens Joggen gehen. Aber da habe ich gar keine Zeit für. Ich würde mich ja auch nur verlaufen.

Na gut, ich esse nicht so viel. Aber das ist auch nur wegen dem Stress. Denn wenn ich was esse, Alter, esse ich echt nur Fastfood. Am Liebsten die Schinken-Ananas mit der Mozarellakruste von Pizza Hut. Ey, Pizza Hut gibt es überall: in Mailand, London, Kopenhagen, New York, Moskau, überall. Die Pizza heißt natürlich immer anders. Ananas prosciutto in Mailand, zum Beispiel. Aber das hast du schnell raus. Schmecken tut sie überall gleich. Ich fühl mich immer zuhause, wenn ich die esse.

Dabei war ich jetzt wochenlang nicht zuhause. Voll fies, dass die Modewochen so kurz hintereinander sind. Manchmal weiß ich gar nicht, in welcher Stadt ich bin. Ist auch egal. Von den Städten kriege ich sowieso nichts mit. Früher haben meine Freunde gefragt Wo ist es denn am Schönsten? Keine Ahnung, Mann. Ich bin da nicht zum Sightseeing! Jetzt komme ich aus NYC. Fashion Week. Bin drei Shows gelaufen. Donna Karan, Issey Miyake und Hermès, das wird wie Hermes geschrieben, ist aber Französisch, deswegen spricht man das H nicht. Hermès.

Drei Shows in einer Woche. Klingt nicht viel, ne? Ich weiß nicht, was du arbeitest, aber nur an drei Tagen die Woche ins Büro, klingt bestimmt wie Urlaub für dich. Stimmt ja auch. Also ich habe abends jedenfalls keinen Muskelkater von der Schufterei, oder so. In Wirklichkeit ist das Business ja nur Warten, ne? Manchmal sitzt du vier Stunden rum und es passiert gar nichts. Dann kommt jemand und schminkt dich drei Stunden. Dann guckst du in den Spiegel und denkst: Krass, wer ist das? Oder vier Design-Studentinnen ziehen dich den ganzen Tag an und aus und zuppeln an dir rum. Manchmal musst du sechs Stunden vor so einer Show da sein. Und wenn du dann raus gehst und läufst, dauert das 30 Sekunden. Echt ey, sechs Stunden wegen 30 Sekunden. Hammer. Aber Arbeit ist das eigentlich nicht. Obwohl, letztes Jahr in Mailand hatte ich mal vier Shows an einem Tag. Da geisterst du bei 40 Grad 12 Stunden durch Mailand, das schlaucht wie Sau. Und trotzdem ist das Gewarte natürlich langweilig. Deswegen wird auch viel gekokst. Ey, wenn du nichts von der Stadt weißt, ne, wo die Dealer stehen, weißt du. Dann geht einer los, kauft bisschen Puder und dann wird Party gemacht. Die Partys sind geil, aber du musst immer aufpassen, dass kein Typ anfängt, dich zu befummeln oder sich mit dir rumzubeißen. Gibt halt viele Homos in dem Business, weißt du ja.

Klar kannst du auch ohne Puder Party machen, aber du kennst ja niemanden, dort. Das sind nicht deine Freunde. Ich dachte immer: Models, Fotografen, Designer, das ist doch eine Familie. Aber Models sind für die der letzte Dreck, wie Putzfrauen für dich. Jeder will modeln, und wer rumzickt, fliegt eben raus, draußen warten schon drei Neue. Du kannst dich nicht darauf verlassen, jemals jemanden wiederzutreffen. Also feierst du einmal schön mit denen und dann verschwindest du.

Krass ist, wenn die Party vorbei ist. Dann sitzt du in einem Raum mit zwei Dutzend Leuten und bist trotzdem allein. Du kannst dich ja auch nicht unterhalten mit denen, weil die alle kein Deutsch können. Und mein Englisch ist echt panne, besonders, wenn ich drauf bin. Hat mich nie interessiert, Englisch. Naja, ewig kannst du das nicht machen. Aber ich bin froh, dass ich es überhaupt machen kann.

Ich habe ja keine Ausbildung oder so. Bin mit der 8. Klasse von der Schule, weil ich keinen Bock mehr hatte. Gab nur Beef mit den Lehrern. Und war halt öde. Naja, mein Elternhaus war nicht das Beste, da gab es nicht so viel Support. Ich habe dann bisschen Fight Club gemacht, um Kohle zu verdienen und gedealt. Eigentlich war ich immer blank.

Und dann war ich eines Tages bei einem Kumpel in Berlin. Wir waren fett feiern und am nächsten Morgen, also eigentlich schon Nachmittag, gehe ich zum Bäcker und da werde ich von so einem Typen angesprochen. Das war ein Scout. Der hat krudes Zeug gefragt. Was ich so mache und ob ich Bock hätte, dass er mal eine Sedcard mit mir fotografiert. Ich hatte keinen Plan, was das ist, aber es klang nach Kohle und ich brauchte Kohle. War goldrichtig, ey.

Kennst du Heidi Klum? Ich bin jetzt bei der gleichen Agentur. Mal kucken, wie lange. Ich bin schon 25. Aber ich sage immer, ich bin 21. Kann ich doch machen, oder? Ich sehe halt jünger aus. Naja, ein paar Jahre wird das schon noch laufen. Die Opis in der Branche sind so 35. Danach kommt nur noch der Otto-Katalog oder die Apotheken-Umschau. Da musst du vorher den Absprung schaffen. Ich will zum Film. Wie Mark Wahlberg. Schaffen nicht viele. Die meisten stürzen total ab. Deswegen: Jetzt schön Kohle scheffeln. Noch geht‘s.

Sagt meine Freundin auch immer. Die macht irgendetwas mit Marketing für eine Pharmabude, aber kriegt nur Dreizehnhundert im Monat. Raus. Das mache ich in einer Show! Da hab ich zu ihr gesagt, zieh‘ doch bei mir ein und spar die die 500 Tacken Miete. Kauf dir lieber was Schönes. Keine Ahnung, schickes Auto oder so. Hat sie gemacht. Jetzt wohnt sie bei mir in Delitzsch. Ja, ich weiß, Delitzsch, krass. Aber ich bin dort geboren und ich will nicht weg. Da sind ja auch meine ganzen Leute. Theoretisch.

Boah, ich freu mich so, die heute Abend zu sehen. Ich habe ihr bisschen Bling-Bling gekauft. Die wird sich freuen. Wobei ich aufpassen muss, dass ich die nicht so verwöhne. Ich will keine verwöhnte Zicke. Ich brauche eine echte Frau. Weißt du, wenn ich meiner Süßen auf den Arsch haue, dann wackelt der noch in drei Monaten. Darauf stehe ich. Und das weiß die auch. Deswegen ist die auch nicht eifersüchtig. Die verhungerten Kokshühner interessieren mich nicht. Ich brauche was zum Anfassen, weißt du. Aber die Hühner dürfen ja nichts essen und trösten sich dann mit Nasen voller Puder. Was willst du mit so einer? Aber klar, es ist hart eine Beziehung zu führen, wenn deine Süße dich nie sieht. Das letzte Mal war ich vor neun Wochen zuhause. Deswegen bringe ich ihr immer was Schönes mit, wenn ich komme. Dann hat sie was an mich zu denken hat, wenn ich weg bin. Kohle ist ja da.

Wenn ich zwanzig Shows mache in einer Woche, sind das 25 Scheine. Im Moment muss ich die Hälfte an die Agentur abgeben. Aber das ist okay. Der Trick ist ja, eine Kampagne zu bekommen. Also Plakate, Anzeigen, Spots und so. Dafür kriegt man 180.000 Tacken im ersten Jahr und für jedes weitere Jahr der Kampagne nochmal 70 Scheine. Also 70 Tausend. Das wäre natürlich der Knaller. Aber ich bin schon zufrieden, wie es jetzt läuft.

Am Anfang war es heftig. Ständig musste ich zu Castings oder Previews und hab dafür keinen Cent gesehen. Jedes Mal habe ich mir fast in die Hosen geschissen. Ich wusste ja nicht, was die von mir wollen. Aber die wollen immer das gleiche: Den Rowdy. Bisschen böse gucken, bisschen Fresse ziehen, bloß nicht lachen. Das war’s. Hatte ich schnell drauf. Andauernd haben die Tussis von der Agentur angerufen, damit ich irgendwo hin fahre. Oder fliege. Ich so zu denen: Ey Leute, ich buttere hier nur rein. Und die so: Ey, chill mal, die große Kohle kommt schon noch! War dann auch so. Läuft.

Ich bin halt der Exotentyp für die. So viele Tattoos wie ich habe. Guck mal hier, sogar meine Geheimratsecken sind tätowiert, da gehen die total drauf ab. Und hier, meine Arme. Das ist meine Mama, hier ein Piratenschiff, da kommen aber noch Wellen hin und so. Der Knaller ist natürlich das Kreuz mit den Engelsflügeln auf meiner Brust. Soll ich das Shirt nochmal ausziehen? Hast du den Drachen auf meinem Rücken gesehen? Ist voll der Kontrast zu den feinen Klamotten. Das zieht den Fotografen total den Stecker.

Manche Klamotten darf ich behalten, wenn sie mir gefallen. Besonders, wenn die voller Schminke sind. Aber dann wäscht man die, und dann sind die wieder cool. Die Hose hier zum Beispiel. Sag mal, findest du auch, dass die am Arsch zu locker sitzt? Meine Agentin in New York sagt das. Und du?

Die meisten Kollegen sind total glatt. Manchmal machen die sich dann so Abziehbildchen-Tattoos drauf. Voll arm. Aber die sind eben derbe jung und haben null Lebenserfahrung. Die finanzieren sich ihr Studium mit dem Modeln, mehr ist das für die nicht. Für mich ist es mein Job. Mein einziger.

Echt, du steigst hier aus? Schade. Tja, dann: Hat mich echt gefreut, dich kennenzulernen. Weißt du, ich texte ja nicht jeden so zu. Aber bei Leuten, bei denen ich Interesse spüre, erzähle ich halt gern mal. Achso, ich heiße übrigens Norman.

Niemandsland

Zehn vor Zwei. Er faltet die Zeitung zusammen. Gleich wird sie von der Schule kommen. Sie wird einen roten Kopf haben und ganz außer Atem den Lockenschopf durch die Tür stecken. Er schiebt die Gardine ein wenig zur Seite und blickt auf die Straße.

Behutsam betritt sie die Diele und klopft an die Küchentür. Großvater, ich bin wieder da, ruft sie. Großvater sitzt auf dem Canapé. Sorgsam nimmt er sich die Brille von der Nase, steckt sie in das abgenutzte Lederetui und legt die Zeitung ganz oben auf den Stapel voller Reiseberichte und -kataloge. Sie schmunzelt. Längst hat sie bemerkt, dass er Tag für Tag, hinter der Gardine versteckt, auf die Straße blickt und auf ihr Nachhausekommen wartet. Und spätestens wenn sie über den Hof läuft, setzt er sich wieder auf sein Canapé, die Brille auf die Nase und tut so, als wäre er gerade ganz zufällig fertig mit Zeitunglesen. Sie setzt ihren Ranzen ab und wäscht sich die Hände mit Kernseife.

Er fragt sie, wie es in der Schule war. Sie erzählt vom Musikunterricht und dass es über das Wochenende keine Hausaufgaben aufgäbe. Sie fragt, ob sie noch ein wenig raus dürfe. Er streichelt ihr über den Kopf und nickt. Aber zum Tee bist du wieder da!

Die Bagger sind auf den Ladeflächen der LKW´s verstaut. Die Baustellenfahrzeuge räumen das Gelände. Sie klettert durch die undichte Stelle des Stacheldrahtes und blickt der immer kleiner werdenden Staubwolke nach. Heute ist Freitag. Drei Tage hat sie nun Ruhe vor dem Lärm und der Angst entdeckt zu werden. Vorgestern erst hatte sie nach einer Stunde Fußmarsch ein Schild am Ende des Geländes gesehen − Betreten verboten. Eltern haften für ihre Kinder. Sie war erschrocken, hatte aber gleich versucht, sich wieder zu beruhigen. Ihr Eingang war ein anderer und das Verbot damit für sie nicht gültig. Die Angst blieb. Schneller als an den anderen Tagen hatte sie sich auf den Heimweg gemacht. Bei jedem Geräusch war sie zusammengezuckt. Ihr Herz hatte gepocht − laut. Sie hatte gedacht, man könnte es hören − sie entdecken. Als sie durch das Loch im Zaun gekrabbelt war und sich damit außerhalb der Gefahrenstelle befunden hatte, schwor sie sich, niemals zurückzukehren. Zwei Tage nur hatte sie es ausgehalten. Heute steht sie erneut hier, umhüllt von einer dichten Staubwolke, mitten auf dem Gelände einer stillgelegten Kaserne.

Sie erzählt ihm nichts von ihren Entdeckungsgängen durch die Kaserne. Aber er kann sich denken, dass sie sich dort herumtreibt. Immer wieder will sie die alten Geschichten hören, vom Dorf und seinen Bewohnern und von der Kaserne. Er hatte ihr erzählt, dass es ein Kartoffel- und Rübenfeld gewesen war. Seine Eltern hatten ein Stückchen bestellt. Sie hatten gesät, gejätet, geerntet. 1933 waren sie das letzte Mal mit der Egge hindurch gefahren. Eine Autobahn sollte gebaut werden. Es war abgesteckt, betoniert und der Stacheldraht aufgezogen worden. Erst als die Ziegelsteine bis zum Dach gereicht und die Mauer vor dem Schlafzimmerfenster die Sicht versperrt hatte, war ihnen bewusst geworden, dass ein Autobahnbau solche Maßnahmen nicht erfordert hätte. Als die Wachposten ihre Straße zur Sackgasse deklariert hatten, verstand sie, was die Kommandorufe, die der Wind zu ihnen trug, bedeuteten. Sie waren nun das letzte Haus im Dorf, hinter ihnen − Niemandsland.

Sie klettert auf den frisch aufgeworfenen Erdhügel. Von hier hat sie einen guten Überblick. Die Schweineställe sind zur Hälfte und die Mauer vor ihrem Haus fast vollständig abgerissen. Wenn Großvater am Schlafzimmerfenster stehen würde, könnte sie ihm jetzt winken, denkt sie. Er hatte ihr erzählt, dass sie Glück gehabt hätten. Die Flieger hätten ihr Ziel knapp verfehlt und stattdessen die Teppichfabrik zerstört. Doch mit dem Einzug der Russen, wären harte Zeiten auf sie zugekommen. Sie waren aus dem Haus geflüchtet und hatten notdürftig Unterschlupf gefunden − in der benachbarten Porzelline, der Porzellanfabrik in der das halbe Dorf eine sichere und verhältnismäßig gut bezahlte Arbeit gefunden hatte. Ein Bürozimmer hatte als Wohn- und Schlafstätte gedient. Die Russen waren abgezogen. Nach nebenan gezogen. Und vom Haus hatten nur noch die Grundmauern gestanden. Die Dielen, die Fensterrahmen und Möbel waren verfeuert, das Besteck und die Bettwäsche verhökert, die Tiere geschlachtet worden.

Er schlurft in die Wohnstube. Ihn friert es. Spätestens morgen wird er einheizen müssen. Der Winter soll hart werden, sagen sie. Er kann sich noch gut erinnern, an den Winter ´86. Es hatten Unmengen an Schnee gelegen, noch bis in den März hinein als der Kohlenkeller längst leer war. Er war auf dem Weg in den Schuppen gewesen, um nachzusehen, wie viel Holz er noch in der eisernen Reserve hatte. Das Schloss war aufgebrochen und sein Vorrat bis auf den letzten Scheit ausgeräumt worden. Ein Wunder, dass sie nicht noch den Schuppen zerlegen, hatte er damals gedacht. Er war wütend gewesen, und als ihm war, als würde ein Augenpaar durch die Sträucher blicken, hatte er so laut er konnte geschrien: Lasst uns in Ruhe, nun habt ihr uns auch noch das letzte Holz genommen, ihr Schweine!

Sie wohnen im letzten Haus im Dorf. Und es scheint, als wäre allein diese Tatsache etwas Besonderes. Wenn sie früher mit Großvater im Konsum war, war es ihr vorgekommen als hätten alle anderen Dorfbewohner Respekt vor ihnen. Sie hatte gewusst, dass sie Großvater achten, aber das alleine war es nicht. Nach dem üblichen Guten Tag. Wie geht’s heute? folgten immer Fragen wie: Was gibt’s Neues von den Russen? Haben Sie heute wieder geschossen? Gestern sind die Panzer durchs Dorf gefahren, habt ihr das gesehen? Haben Sie bei euch auch um Brot gebettelt? Und so sehr getratscht wurde in diesem Laden, so sehr sie sich bemüht hatten, diese Fragen achtlos in den Raum zu werfen, so sehr waren sie mit einer Anspannung verbunden und mit einem Zittern in der Stimme der Fragenden. Es war, als gebühre Großvater Respekt, weil sein Grundstück unmittelbar an die Kaserne grenzt. Großvater aber hatte dazu nichts gesagt, er hielt es für nichts Besonderes, an der Grenze zum Niemandsland zu wohnen. Sie hatte es schießen gehört und die Panzer die Dorfstraße hinauffahren gesehen und einen Soldaten, als er ihre Johannisbeeren vom Strauch gepflückt hatte, aber gefürchtet hatte sie sich nicht. Auch jetzt nicht auf dem leeren, unheimlichen Gelände. Großvater achtet ja auf sie.

Angst hatte er nicht vor ihnen gehabt, nur um die Kleine war er immer in Sorge gewesen. Sie war naiv. Gleichzeitig hatte ihn das beruhigt, denn Kindern würden sie nichts tun, da war er sich sicher gewesen. Er hatte zu niemandem von seiner Sorge gesprochen, wie er die Stube in der nächsten Zeit beheizen sollte. Er hatte die alten Handwagen auseinander gebaut und ein paar Stühle. Als sie Fragen gestellt hatte, hatte er gegrummelt, die hätten alle den Holzwurm und würden im Sommer sowieso auseinanderfallen. Zum Glück war zwei Wochen später der Frühling gekommen und geblieben. Im Sommer hatten sie ihm noch die gesamte Apfelernte gestohlen und die Beeren. Aber daran hatte er sich nicht so sehr gestört, er wusste selbst, wie es war, Hunger zu leiden. Wenn sie schon nichts mehr zu essen hatten, musste es schlimm um sie stehen, hatte er gedacht und war ein um das andere Mal froh gewesen, dass die Mauer ihnen diesen Anblick verwehrte. Vor zwei Monaten war es dann soweit gewesen − die Truppen zogen ab. Er setzt das Teewasser auf.

Sie läuft am Schießstand vorbei, hinab auf den breiten Pfad. Es war der Versorgungsweg gewesen, der direkt ins Dorf führte. Sie erinnert sich, wie sie die Soldaten durchs Dorf marschieren gesehen hatte. Sie hatte das Feuer gerochen. Sie hatte die Tiere gehört, die quiekten und brüllten, wie sie es aus der Vorweihnachtszeit kannte, wenn sie den Festtagsbraten abholte, beim Bauern Müller. Sie hatte Großvater gesehen, wie er eine Woche lang torkelnd durch Haus und Hof irrte. Sie hatte sich gewundert, über die eingekehrte Stille. Seit zwei Monaten steht die Kaserne nun leer.

Dass Veränderungen anstanden, hatte er täglich in den Nachrichten sehen können, aber vielmehr hatte er es gehört. Die Rufe der Soldaten, das Brüllen der Tiere, die Gewehre − die Geräusche hatten sich überschlagen und mit ihnen die Ereignisse im gesamten Land. Immer hatte er seinen eigenen Standpunkt vertreten, auch wenn er nach außen neutral erschienen war. Er hatte sich und seine Familie nie politisch verkauft, aber immer gewusst, wohin er gehörte. Er hatte gedacht, mit dem Abzug der Truppen würde, wenn auch mit Verspätung, eine Wende ins Dorf kommen und davor hatte er sich gefürchtet. Das Teewasser kocht. Er nimmt das Tee-Ei aus der Schublade.

Die Sonne geht unter und sie macht sich auf den Heimweg. Ihr Blick schweift über das Gelände. Die niedergerissenen Holzbaracken und der asphaltierte Auffahrtsweg, umgeben von Wänden aus Beton und Stacheldraht. Rechter Hand der Schießstand und die alten Schweineställe. Im Abendlicht ist alles friedlich anzusehen, denkt sie. Aber sie liebt diesen Ort, auch an Tagen, an denen er ihr Angst einflößt. Hier entdeckt sie die vergangene Welt neu. Einen Schweineknochen, Essbesteck aus Aluminium, grüne Knöpfe, Patronen aus dem Schießgewehr, einen Helm und ein Taschenmesser mit den Initialien „A.“ und „M.“ hält sie vor Großvater versteckt in einem Karton unter ihrem Bett. Je weiter die Abrissbagger vordringen, umso mehr schmückt sie ihre Geschichten aus − von den Soldaten und deren Leben auf dem Kasernengelände. Es ist, als fände die Vergangenheit zunehmend Platz in ihrer Fantasie, als lebe sie fort in ihrer Traumwelt und als würde erst dadurch Platz geschaffen, für einen Neuanfang. Sie muss sich beeilen, Großvater würde schon mit dem Tee auf sie warten!

Unter dir (Teil V)

Der Schmerz am Hinterkopf lässt nach und ich versuche zu der Stelle zu schauen, in der das Samtbeutelchen steckt. Ich sehe zur Stuhllehne und zu der pinkfarbenen Jacke, die ich vorhin ausversehen achtlos darauf abgelegt habe und in deren linker Tasche sich der rote Samtbeutel befindet. Langsam sehe ich wieder alle Umrisse des Zimmers, höre die Tür aufgehen und das Schlüsselgeklapper, sehe verschwommen das Licht vom Korridor ins Zimmer blenden und den schnellen Schatten im Türrahmen, der die Deckenbeleuchtung anschaltet. Damit mich die Schwester nicht sieht, drücke ich mich an die Wand heran und versuche auf der Seite liegend, etwaige Blutflecken auf dem Fußboden, meiner Kleidung oder meiner Haut zu entdecken. Auf keinen Fall will ich den Vorfall vom letzten Mal nochmal erleben, als die Schwestern Blut auf deinem Bettzeug entdeckten, rumschrien und dich in die Notaufnahme schieben wollten. In diesem Moment hatte ich gedacht, dass es mit uns beiden aus und vorbei ist. Denn meinen Körper an das Unterteil deines Bettes zu heften, habe ich zwar schon mehrfach geübt, jedoch nur an stehenden und niemals an einem fahrenden Bett. Vielmehr befürchte ich, dass es mich an dem Untergestell deines Bettes, das allernaselang an irgendwelchen Kanten und Wänden aneckt, derart durchschüttelt, dass ich früher oder später abgeworfen und entdeckt worden wäre. Glücklicherweise waren es Schwestern, die lieber über Männergeschichten quatschten als dich in die Notaufnahme zu karren. Die eine hatte ständig neue Männerstorys auf Lager, die sie jeder Schwester anders erzählte und die von Woche zu Woche versauter wurden. Ich bin mir sicher, dass sie die untreueste Frau war, deren Stimme ich jemals hier unten mit anhören musste. Untreue kann ich auf keinen Fall leiden. Sie hätte es wirklich verdient, von einem ihrer vielen Liebhaber erschlagen und zerstückelt zu werden. Bei so etwas, kenn ich wirklich kein Pardon.

Ich reibe mir den Hinterkopf und weiß, dass ich eine mordsmäßige Beule bekommen werde, sehe auf die Schrammen an Arm und Schulter und sage, dass das Mist ist und ich ab morgen wieder bei knapp 40° eine geschlossene Bluse tragen darf und ich schon jetzt wieder die Kollegen lästern höre, dass ich zu den verstaubten Gouvernanten übergewechselt bin. Mein ehemaliger Chef hatte mich einmal besorgt gefragt, ob ich überfallen worden sei, oder ob mein Freund mich geschlagen hätte. In diesen Fällen, hatte er gemeint, könnte ich mich vertrauensvoll an ihn wenden. Dann hat er mir die Nummer eines nahe gelegenen Frauenhauses in die Hand gedrückt und gesagt: „Sehr verehrtes Fräulein Büttner, Sie können mich jederzeit, zur Not auch in der Nacht, anrufen!“ Ich hatte mit hochrotem Kopf vor Herrn Doktor Kalbe gestanden und ihm versucht zu erklären, dass ich mich nur beim Putzen unter dem Bett gestoßen hatte. Eigentlich war er ein toller Mann und trotz seiner knapp 60 Jahre noch attraktiv. Warum er sich so brennend für mich interessierte und wie er mein Geheimnis herausgefunden hatte, weiß ich nicht und werde ich wohl auch nie herausfinden. Du kannst dir denken, dass ich das auf keinen Fall gut fand. Nun bin ich auch nicht viel besser dran und habe dafür die meckernde Chefin am Hals. Wenn ich das nur vorher gewusst hätte. Ich glaube, bei ihr kann ich total zerkratzt und blutig ins Büro torkeln, das stört die nicht im Geringsten.

Die Schwester geht an dein Bett, kniet sich auf die Stuhlsitzfläche, um die Infusion abzustellen. Sie nimmt die alte Flasche und stellt sie auf den Stuhl. Dabei fällt ihr die Flasche herunter. Mit aller Kraft presse ich mich an die Wand und sehe wie sie blind nach der Flasche schnappt und zu dir sagt, dass sie heute sehr, sehr ungeschickt ist. Sie stellt die leere Flasche auf den Stuhl und schließt die neue an und sagt, dass ihr heute die Beine wehtun und sie sich in den nächsten Tagen ein paar neue Schuhe zulegen muss, da die alten völlig ausgetreten sind. Sie nimmt die leere Flasche von der Sitzfläche, schiebt den Stuhl vor, lässt sich darauf fallen und schiebt die Füße unter das Bett. Abwechselnd wippt sie mit den Füßen und sagt, dass ihr das jetzt wirklich guttut. Mit der letzten Kraft versuche ich das Unglück zu verhindern, drücke meinen Körper an die Wand und halte die Luft an. Sie wippt mit dem rechten Fuß in mein Gesicht hinein und mit dem linken gegen meiner Hand, mit der ich mich mit aller Kraft gegen die Wand presse. Sie sagt, dass du es auf keinen Fall mit deiner Traumfrau aus gesundheitlichen Gründen übertreiben darfst und sie dich ansonsten melden muss. Sie zieht die Beine zurück und steht mit einem „Na dann will ich mal wieder die anderen Patienten stören!“ auf. Sie hebt den Stuhl an und stellt ihn an den Tisch. Mit einem ungläubigen Blick greift sie die Jacke von der Lehne, sieht sich im Zimmer um, wirbelt die Jacke durch die Luft, riecht an dem pinken Stoff und lobt das kräftige Parfüm. Ich merke wie mir unter deinem Bett der Magen beginnt zu brennen. Sie gleitet mit ihren Armen in die Jackenärmel, sagt, dass sie an ihr auch sehr aussehen würde, dreht sich um die eigene Achse und greift in die Jackentaschen und tastet hinein. Sie nimmt den Samtbeutel heraus. Ich sehe ihr zu, will sie anschreien, dass sie das nicht machen soll, kann aber nicht schreien und spüre stattdessen auf einmal das gleiche Herzrasen, das ich immer verspürte, wenn ich dich wegen einer Frauensache zu Rede stellen wollte. Sie macht das Samtbeutelchen auf und ich trete mit den Fersen gegen die Wand. Sie sieht hinein, schüttelt den Kopf und schnürt es wieder zu. Um nicht in Ohnmacht zu fallen, beiße ich in meinen Daumennagel. Lachend stellt sie sich vor den Spiegel, gibt sich einen Luftkuss und dreht sich noch einmal um die eigene Achse. Sie zieht die Jacke wieder aus, wirbelt sie durch die Luft, legt sie über die Stuhllehne und streichelt über den Stoff. Sie geht zur Tür macht das Licht aus, dreht sich zu euch drei, macht einen ihrer üblichen Luftküsse und wirft vergnügt die Zimmertür zu.

Ich stoße meine angestaute Luft heraus, lege meinen Kopf auf das Linoleum und ringe nach Atem. Zum ersten Mal, seit ich hier unten liege, verspüre ich keine Kraft mehr und fühle mich völlig leer und unfähig unter dir hervor zu krabbeln. Mit dem Gesicht auf dem Linoleum bleibe ich liegen und rieche wie ekelhaft das Reinigungsmittel ist und dass ihr drei das Zeug für den Rest eures Lebens riechen müsst. Ich versuche mich auf den Rücken zu drehen, spüre aber, dass mir die dazu notwendige Kraft fehlt. Ich bleibe liegen und versuche Arme und Beine zu strecken, um wieder ein Gefühl für meinen Körper zu bekommen. Wäre ich wie meine Freundin christlich, würde ich jetzt zu Gott beten und ihn bitten, mir die Kraft zu geben von hier weg zu laufen. Außer der Ehelosigkeit und dem Kloster würde ich ihm so ziemlich alles versprechen, aus dieser Gefangenschaft zu entkommen. Zum allerersten Mal empfinde ich dein Bett als Enge, um nicht zu sagen als Gefängnis.

Wieder versuche ich unter dem Bett hervor zu kommen, merke aber, dass mir die Kraft dazu immer noch fehlt. Deswegen umgreife ich die Räder des Bettes und ziehe mich mit den Armen hervor und stoße mich mit den Beinen an der Wand ab. Auf allen Vieren sortierte ich meine Kleidung und die Tasche unter dem Bett hervor, stützte mich auf meine Knie, mache die Taschenlampe an und kontrolliere deinen Katheterbeutel. Damit sie dich in dieser Nacht nicht doch noch einem Arzt vorstellt, robbe ich zum Waschbecken, hole in einem Becher Wasser, robbe zurück und drücke dir mit der Spritze, die die Schwester auf dem Nachtisch liegen gelassen hat, Wasser über die Abflussöffnung in den Katheterbeutel. Ich ziehe mich am Bettgestell hoch, schüttle den Krampf aus den Waden und merke wie mir schwindlig wird. Mit beiden Händen halte mich am Nachttisch fest, falle aber auf das Bett deines Nachbarn und entschuldige mich bei ihm. Ich richte von ihm auf, gehe zum Stuhl und hole das Samtbeutelchen hervor. Ich knülle die Jacke zusammen, packe sie in die vorgeholte Tasche und bin froh, dass ich mir über die Zeit angewöhnt habe, dünne, knitterfeste Jacken zu kaufen, damit sie problemlos in die Tasche passen ohne viel Platz wegzunehmen. Erschöpft setzte ich mich auf den Stuhl, hole Luft und sage, dass das heute sehr, sehr knapp war, ich den verflixten Tag habe kommen sehen, ich überhaupt nicht verstehe, dass sie mich nicht erwischt hat und ich erleichtert bin, dass sie meine Jacke nicht ins Schwesternzimmer geschleppt hat, so wie im letzten Winter, wo ich bei Minus 17 Grad in einer Bluse aus der Klinik verschwinden musste und mich die Leute auf der Straße blöd angegafft haben. Ich frage dich, was wir beide gemacht hätten, wenn sie die Jacke mitgenommen hätte und bekomme von dir wieder einmal keine Antwort. Mit einem Seufzen umgreife ich das Samtbeutelchen, küsse es und merke wie ich auf den Stoff weine. Ich strecke dir den roten Beutel entgegen und sage dir, dass sich unsere gemeinsame Erlösung darin befindet und du wie ich schon lange auf diesen Moment gewartet hast. Taumelnd stehe ich vom Stuhl auf, halte das Beutelchen in die Luft und sage dir, dass wir unbedingt jetzt anfangen müssen, damit wir rechtzeitig fertig sind, bevor die Nacht zu Ende geht. Denn nach dieser Nacht kann uns keiner mehr trennen.

Kollegen sind tabu, aber Alkohol ist schlecht für die Deckung

Kollegen sind natürlich tabu. Privates und Dienstliches ist voneinander zu trennen, das hat schon mein Vater gewusst und er konnte das auch erklären: Wenn das Dienstliche privat wird, wird es meistens kompliziert. Meine Mutter und die Sekretärin meines Vaters bestätigen das. Aber diesen einen Kollegen ein klitzekleines bisschen anzuhimmeln, macht mir Spaß und hat mich schon in einigen Sitzungen davor bewahrt, alberne Blümchen in mein Notizbuch zu kritzeln, so wie es meine Chefin macht, der ihrem Notizbuch nach zu urteilen sehr offensichtlich jemand zum Anhimmeln fehlt. So ein bisschen Schwärmerei kann niemandem schaden finde ich, insbesondere dann nicht, wenn schwärmen bedeutet, dem Schwarm gegenüber dermaßen lässig aufzutreten, dass dieser zurecht daran zweifeln darf, ob man seine Existenz überhaupt bemerkt. Aber Alkohol ist schlecht für die Deckung.

Er ist betrunken und ich bin betrunken und schon während er zur Bar torkelt, an der ich auf meinen Mojito warte, denke ich: Meine Fresse, eine Betriebsfeier, wie in den „So bewahren Sie auf einer Betriebsfeier ihr Gesicht“- Ratgeber-Artikeln auf Welt Online. Jetzt reiß dich also zusammen, denke ich, und verliere nicht dein Gesicht, nur weil seines so niedlich ist. Und als er die Bar erreicht sage ich: „Hey Mattis!“ und verkneife mir gerade so das „Wie geht’s altes Haus?“, worauf ich sehr stolz bin, weil es beweist, dass ich noch nüchtern genug bin um zu merken, dass ich nicht lässig klinge, sondern wie ein erkälteter Azubi im Team von Cobra 11. Mattis bestellt das Gleiche wie ich, ohne zu wissen, was ich bestellt habe. Er mag mich vielleicht doch, denke ich, und im nächsten Moment denke ich, ach was, der ist einfach betrunken. Ihm ist egal, was ihn gleich noch betrunkener macht und mir kann egal sein, ob er mich mag oder nicht.

Er klettert auf den Barhocker neben mich und brummt: „Weißt du, Korbi, eins muss ich dir mal sagen.“, und ich denke, reiß dich ja zusammen verliere bloß nicht dein Gesicht und vor allem: nenne mich nie wieder Korbi. Er zündet sich eine an und lässt seinen Blick in die Ferne schweifen und ich muss lachen, weil niemand so schön gender performt wie Mattis Hansen. Aber als der Rauch des ersten Zuges langsam aus seiner Mundhöhle entlang seiner vollen Oberlippe an seinen Bartstoppeln nach oben steigen will und er ihn plötzlich wieder einzieht, wobei er ein rückwärts gesprochenes S macht, fällt mir das Lachen aus dem Gesicht und mir wird ein bisschen heiß. Klischee hin oder her.

„Ich habe ja schon ein Jahr bei euch gearbeitet, bevor ich kapiert habe, dass du schwul bist.“, sagt er und lässt denn Rauch durch leicht geschürzte Lippen entweichen und ich sage „Oh.“ und ziehe die Augenbrauen hoch. „Also eigentlich habe ich es gar nicht kapiert“, sagt er, bevor er den nächsten Zug nimmt, „Jenny hat’s mir erzählt und ich dachte erst, die verarscht mich. Aber dann hast du gesagt, dass du Marco Schreyl heiß findest und da war es dann klar.“ Das einzige, was mir klar wird ist, dass ich mein Gesicht längst verloren habe und zwar irgendwann in einem neonröhrenbeleuchteten Großraumbüro, stocknüchtern aber viel zu redselig. Glücklicherweise muss ich nicht mehr als „Naja.“ antworten, weil Mattis schon weitererzählt.

„Weißt du, ich kenne ja keine Schwulen. Der einzige Schwule, den ich jemals kannte, war beim Bund mit mir auf der Stube und das war voll die Tucke. Der war total anstrengend und hatte es nicht leicht.“ Ich sage „Aha.“, und bete dafür, dass mir dieser Zeitlupenkünstler von einem Barkeeper endlich meinen Mojito serviert, damit ich mir einen Eiswürfel in den Mund stecken kann, und gar nicht mehr antworten muss. Es dauert bis zu Mattis‘ „Aber du bist ja nicht so.“, bis meine Gebete endlich erhört werden und ich mir den Strohhalm zwischen die Zähne klemmen kann, damit meine Zunge ja kein dummes Zeug mit meinen Zähnen formuliert. „Du bist ein gestandener attraktiver Mann.“, sagt Mattis als nächstes und es ist sein Glück, dass ich ihn ein bisschen anhimmle, andernfalls hätte ich ihn jetzt in eine Diskussion darüber verwickeln müssen, was er ungewöhnlich daran findet, dass homosexuelle Männer gestanden und attraktiv sein können, und diese Diskussion verliert man gegen mich. So aber fasse ich das als Kompliment auf und spüre, wie ich puterrot werde.

Als mich Mattis dann fragt, ob ich schon immer schwul war, zerstäube ich mit dem feinen Alkoholnebel, den ich unkontrolliert in die Luft pruste, auch jegliche Hoffnung auf die Existenz Gottes. Mattis guckt mich ernst an, obwohl, ernst ist das falsche Wort. Er guckt so, wie jemand guckt, der mit ehrlichem Interesse das Verhalten eines ihm unbekannten Tieres studiert. Und weil ich ihn nicht bloßstellen will, verschleiere ich meinen Lachanfall zu einem Hustenfanfall. Ich konnte ja nicht ahnen, dass er mir erst fest auf den Rücken klopfen und als nächstes sanft über die Schulter streichen würde. Als ich mich wieder gefangen habe, einige Sekunden nachdem er seine Hand wieder bei sich hat, sage ich: „Ich bin ungefähr so lange schwul, wie du hetero bist.“ und finde, dass ich jetzt gelassener klinge, als ich mich fühle. Mattis zeigt mir sein schönes Lächeln und ich zeige Mattis mein verlegenes Grinsen und wie gut mein Herz mein Gesicht durchblutet, und weil das ja nicht für immer so weiter gehen kann, sage ich: „Aber ich habe schon mal mit einer Frau geknutscht, falls du das meinst.“

Der Barkeeper serviert Mattis seinen Mojito und ich begreife, dass das Gleiche wie ich zu bestellen kein Ausdruck besonderer Sympathie, sondern Zeugnis besonderer Rationalität war. Mattis musste auf seinen Mojito viel kürzer warten, als ich auf meinen und das lag daran, dass der Barkeeper nur einmal zu mixen anfangen musste. „Prost!“, sage ich und Mattis sagt: „Nur einmal?“, und ich denke, wieso soll ich „Prost! Prost!“ sagen, wenn du nicht wenigstens „Prost!“ sagst, aber ich schweige lieber, weil ich befürchte, dass es peinlich werden könnte und das ist klug. Ein paar Sekunden später begreife ich nämlich, dass er das Knutschen meint und nicht das Trinken. „Ja, nur einmal“, antworte ich schließlich, „und das war interessant, weil sich die Frau viel weicher und viel weniger stachlig anfühlte als alle Männer, die ich jemals küsste.“ Mattis nickt langsam und fängt an, mit seinem Strohhalm den Saft aus den Limettenachteln am Boden seines Glases zu drücken, und ich würde einen Zehner dafür geben, zu erfahren, was er denkt. Dann presst er die Lippen zusammen und ich schmunzele darüber, dass er sich für das bisschen Saft so konzentrieren muss. Der denkt gar nichts mehr, denke ich.

„Na klar“, sagt Mathis dann unvermittelt und ohne seinen Blick vom Glas abzuwenden, „man muss alles mal ausprobieren, eigentlich.“, woraufhin mir unwillkürlich der Mund aufgeht. Aber anstatt etwas zu sagen, zum Beispiel „Falls du mal Knutschen mit einem Mann ausprobieren willst, ich schmecke gerade nach Minze, Zucker und Limetten.“, trinke ich lieber einen großen Schluck und starre auch ein bisschen in mein Glas.

Als ich das betretene Schweigen nicht mehr aushalte sage ich: „Lass uns wieder rüber zu den anderen gehen.“ und Mattis sagt:
„Jo.“, aber er sieht mich nicht an. Während ich vom Barhocker klettere, lege ich meine Hand zur Stütze auf seine Schulter und als ich merke, wie hart und warm die ist, ärgere ich mich schon. Hätte ich nur mal mein Gesicht riskiert, um sein niedliches zu küssen. Bis zur nächsten Betriebsfeier muss es erst Herbst, Winter, Frühling und wieder Sommer werden.

klabautern

augen zu und durch
die nacht der dämonen.

wir schippern gott weiß wohin
auf dem offenen meer.
rotbart und weißbart mit plautze und pickeln
auf der riesennase drei warzen dazu,
sie gröhlen, sie bechern, sie rülpsen,
sie lachen, sie lästern, sie lieben,
mich zu drangsalieren, mit schlägen,
mit stock, mit stein, mit stiefel.
alle glühbirnen an, so bunt
toben sie mit mir durchs hirn.

wir driften gott weiß wohin,
mitten hinein in den sturm,
bis das segel reißt, das steuer bricht,
wir kreischen, wir klammern uns an wimpeln fest.
gekentert übe ich kopfstand
mitten im meer, umspült von blut, unbeschuht.
niemand hier, mich zu retten,
mein rufen verschluckt vom zerwühlenden meer.
augen zu und auf.

die nacht der dämonen,
die wiederkehren in einer selbst-verständlichkeit,
als hätten sie anspruch darauf,
hausen sich ein & genügen sich selbst.

Unter Dir, Teil IV

In den ersten beiden Teilen legt sich die Freundin des Patienten unter das Bett und versucht im Dunkel der Nacht mit ihm „Kontakt“ aufzunehmen.
Im dritten Teil entkleidet sie sich vor ihrem Freund und dessen beiden Mitpatienten.
Im heutigen vierten Teil sucht sie ein Samtbeutelchen, das sie trotz intensiver Suche nicht finden kann. Wie in den vorangegangenen drei Teilen wird sie auch in diesem Teil bei ihrem nächtlichen Treiben von der Schwester gestört. Und wie immer, muss sie, wenn sie Schlüsselgeklapper von Fern vernimmt, unter das Bett rollen. Unter ihm liegend, hofft sie, dass sie auch in dieser (letzten) Nacht unentdeckt bleibt.

Ich krabble wieder unter dem Bett hervor, stelle mich breitbeinig vor dir auf und frage dich im nachäffenden Schwesternton, was du heute für schlimme Sachen machst und wie wild deine Träume mit deiner Traumfrau sind. Ich nehme deinen Beatmungsschlauch, drücke ihn zwischen Daumen und Zeigefinger zusammen und frage dich nochmal, ob sie dir wirklich besser gefällt, seit wann du auf kräftige Schwestern stehst, obwohl du mir doch immerzu gesagt hattest, dass ich die beste Figur der ganzen Schule habe und ob du wirklich denkst, dass ich deine Weibergeschichten nicht bemerke. Ich löse den Daumen vom Zeigefinger und lege den Schlauch auf seine alte Stelle. Wütend schiebe ich dein Gesicht auf dem Kissen zurecht, bis es exakt unter meinem liegt. Damit du mich besser sehen kannst, ziehe ich eines deiner Augenlider hoch, halte den Lichtkegel der Taschenlampe hinein und frage dich, woher du verdammt nochmal weißt, dass die Schwester unbemannt ist. Ich ermahne dich, dass du ab jetzt schön artig sein musst, dass du mir in unserer ersten Nacht etwas versprochen hast, dass ich mich für dich aufopfere und dass ich es überhaupt nicht fair finde, dass du in unserer heutigen alles entscheidenden Nacht genauso einen Blödsinn machst, wie du ihn in der Nacht deines Unfalls gemacht hattest. Ich schüttle den Kopf, lege die Taschenlampe auf den Nachttisch, streichle dich und flüstere dir ins Ohr, dass ich dir den Weiberkram letztmalig verzeihen werde und nach dieser Nacht sowieso für uns beide alles anders wird.

Ich schiebe mich unter das Bett, suche meine Tasche hervor und krame nach dem roten Samtbeutelchen. Da ich es nicht finde, bekomme ich Panik und schüttelte die Tasche über deiner Bettdecke aus. Ich halte die Hände vor den Mund, schließe die Augen, drehe den Kopf im Kreis und überlege, wo ich das Samtbeutelchen hingelegt habe. Da ich von jeher vergesslich bin, versuche ich deine Methode des rückwärtigen Denkens anzuwenden. Ich atme tief ein, lege die Finger an die Schläfe und lasse die Luft herausgleiten. In langsamen Kreisbewegungen gehe ich vom Krankenhaus zurück in die Wohnung, wo mich deine nervige Mutter wieder mit einem ihrer vorwurfsvollen Blicken empfängt. Ich sehe wie sie einen frischen Strauß Blumen neben dein Foto stellt, höre mich sagen, dass du kein bisschen tot bist, ich alles in meiner Macht stehende tun werde, dass du am Leben bleibst und ich auch nie und nimmer zustimmen werde, die medizinischen Geräte abzustellen. Ich höre mich mit deiner Mutter streiten und ihr vorwerfen, dass sie dich viel zu wenig besucht und dein Schicksal endlich ertragen soll und sehe wie sie wieder mit einem Heulkrampf dein Zimmer verlässt, dass ich seit deinem Unfall bewohne. Ich gehe zurück ins Großraumbüro zu den Kollegen, die mich permanent zu irgendwelchen Feiern einladen und jedes Mal beleidigt sind, wenn ich dankend ablehne. Ich gehe zurück in die übervolle Kantine an den Tisch zu den Azubis, höre ihre dummen Anmachwitze und höre wie der eine mir unterstellt, dass ich die Chance heimlich nutze und mich mit irgendwelchen Typen rumtreibe. Dabei spüre ich den dumpfen Schmerz in der Hand, als ich dem Neuen aus der Presseabteilung, der mir die Zunge zu einem angedeuteten Kuss rausstreckt eine Ohrfeige verpasse. Ich gehe zurück in den Supermarkt, um dir deinen Lieblingsschokoriegel und dein Lieblingsbier zu kaufen. Ich sehe die überschminkte Kassiererin mit dem aufgetürmten Dutt, höre wie sie mich fragt, wie es ihrem ehemaligen Lieblingskunden derzeit geht, wie sie mir ellenlang versichert, dass ihr die ganze Sache von damals immer noch leid tut und sie hofft, dass du irgendwann wieder bei ihr einkaufen kommst und sie mit deiner freundlichen Art und deinem schönen Lächeln wieder erfreust. Ich spüre mein Unbehagen an der Kasse und meine Angst, sie könnte mir wieder eine ihrer unzähligen langweilen Kindergeschichten von dir und ihrem Sohn erzählen. Und ich erinnere mich, wie ich das viele Restgeld liegenlasse und davonrenne. Von der aufdringlichen Verkäuferin gehe ich Schritt für Schritt dein riesiges, stuckverziertes Zimmer mit dem Marmorkamin und der zweiflügligen Tür ab, in dem ich seit unserer ersten Nacht unbedingt leben wollte. Weil ich mich immer noch nicht an das Samtbeutelchen erinnern kann, kneife ich die Augen fester zusammen, drücke auf die Schläfen bis sie schmerzen und fordere dich auf, mir zu helfen, denn schließlich wäre der Inhalt des Samtbeutelchens, die für uns beide lange erhoffte Lösung. Immer stärker schwinge ich dabei meinen Kopf. Ich sehe das große Stahlregal mit deinen zerflederten Märchenbüchern, sehe deine schweren Kunstbände mit den Abbildungen, die außer dir, kein Mensch versteht, sehe deinen verschnörkelten Schrank, in dem deine anatomischen Skizzen zuhauf aufgestapelt liegen und von denen ich mir die allerschönsten Männerakte ganz gern vor dem Schlafengehen ansehe, und von denen ich mir die die besonders schönen Akte auf dein Kopfkissen lege und mich so lange streichle, bis ich wieder ruhig werde und endlich einschlafen kann. Ich sehe den übervollen Mülleimer, in den ich in der letzten Woche Aktzeichnungen von Frauen hineinwarf, weil ich felsenfest davon ausging, dass sie allesamt nur misslungenen Schweinskram darstellten. Und ich erinnere mich, dass ich die zerrissenen Zeichnungen unbedingt morgen früh wegwerfen muss, bevor sie deine Mutter findet und ein Heidentheater anstellt. Ich sehe das Schränkchen mit deinem Modellierkram und dem unfertigen Gipsportrait von mir. Ich sehe unser schönes weiches Bett mit den vielen Kissen, sehe unsere gemeinsame Hängematte, die wir manchmal aus Jux benutzt haben und ich sehe dein Faltboot, in das ich ab und zu ein paar Löcher stach, damit wir nicht ständig in irgendwelchen Seen an den Wochenenden paddeln mussten und stattdessen gemütlich im Bett zwischen den vielen Kissen liegen bleiben konnten.

Ich öffne die Augen, seufze, umgreife deine Hände, ziehe sie zu mir hoch, küsse sie und bitte dich, mir doch bei der Suche des Samtbeutelchens ein bisschen zu helfen. Da deine Hände unendlich schwer sind, lasse ich sie auf die Bettdecke gleiten und entschuldige mich bei dir, dass mir im Moment die Kraft und auch die Nerven fehlen, sie weiter an mich zu drücken. Ich lege sie vorsichtig neben deinen Körper und massiere deine Handrücken entlang den Venen bis zu den Fingerspitzen deiner Ringfinger und bitte dich, mir doch endlich zu helfen. Ich küsse deine Handrücken und tupfe mit der Nase darauf. Ich schließe wieder die Augen und ziehe deine linke Hand zu mir hoch. Ich schiebe deinen Zeigefinger auf meine Lippen, lächle und erinnere mich, wie du früher versuchtest, Klavier zu spielen, wie ich dich neidisch dabei beobachtet hatte und, um dich davon abzubringen, von dir verlangte, dass du mit deinen Fingern genau das Gleiche mit mir machst, was du mit dem doofen Klaviertasten getan hattest. Ich puste zufrieden Luft aus und erinnere mich an den Moment, als ich es nach einer tollen Nacht endlich geschafft hatte, dich dazu zu bringen, die Klimperei abzumelden und das Klavier aus der Wohnung abholen zu lassen. Ich knabbere an deinem Nagel und schiebe deinen Zeigefinger zwischen meine Lippen, sauge daran und höre dich sagen „Jetzt nicht, ich muss üben, jetzt nicht, du blonde Hexe, gibst du denn nie Ruhe!“ Ich erinnere mich wie ich dich fragte, ob du denkst, dass die Musiker früher ohne Sex gelebt hätten, wie ich dir die Hose nach der Frage aufmachte und mit meinen Fingern anfing an deinem Ding zu üben, wie ich mir vorstellte ein Instrument zu spielen. Auf deine Bedenken, dass das alles auf den Tasten des geborgten Klaviers landen könnte, reagierte ich nie.
Ich öffne den Mund, lasse deinen Finger hinausgleiten, reibe deine Hand über meine rote Wange und bin erstaunt wie beweglich deine Finger wieder geworden sind. In den letzten Wochen haben die Schwestern die Fingermassage vernachlässigt, obwohl ich sie mehrfach gebeten habe, dass sie intensiv üben sollen. Deswegen habe ich mich Nacht für Nacht hingestellt, jeden deiner Finger massiert und sie so auf den heutigen Abend vorbereitet. Da deine Hand mir zu schwer wird, lege ich sie behutsam auf die Bettdecke zurück und bemerke, dass sie dir wieder ein langweiliges Krankenhauslaken über die Matratze aufgezogen haben. Wie oft habe ich den Schwestern unsere Lieblingswäsche mitgebracht! Da ab jetzt sowieso alles anders wird und mir hier in eine paar Minuten keiner mehr etwas vorschreiben kann, ärgere ich mich nicht und hole stattdessen das blau-gelb karierte Laken aus der Tasche, auf dem wir es zum ersten Mal gemacht haben und auf dem wir uns ewige Treue geschworen haben und in dem wir auch gemeinsam begraben werden wollen. Gleich können mir die Schwestern nichts mehr von Krankenhaushygiene sagen und mir auch nicht mehr deine Bettwäsche mitgegeben. Plötzlich fällt mir ein, wo ich das Samtbeutelchen abgelegt habe. Ich sage dir, dass ich dir für deine Methode des rückwärts gerichteten Denkens unendlich dankbar bin und ich vom ersten Tag wusste, warum ich nur mit dir zusammen sein wollte und nicht Melvin aus der Parallelklasse oder dem ekligen Schulcasanova Chris. Ich gebe dir einen Schmatzer auf deine Stirn, einen weiteren Schmatzer auf deine Nase und einen auf deinen kahl rasierten Kehlkopf. Ich ziehe dir abwechselnd an den Ohren, lecke abwechselnd in sie hinein und pople dir auch abwechselnd in deinen Nasenlöcher. Da ich jetzt weiß, wo ich das Samtbeutelchen hingelegt habe, stelle mich auf das Bett, winke den beiden anderen Patienten zu und mache ausladende Schwanenbewegungen. Wie die Nachtschwester, strecke ich meine Hand aus und hauche den beiden fette Luftküsse zu, zwinkere und höre von Ferne Schlüsselgeklapper. Vor Schreck verliere ich das Gleichgewicht, falle von deiner Bettdecke herunter und lande mit einem Knall auf dem harten Linoleum. Benommen krieche ich unter das Bett, stoße mich dabei diesmal an der Stirn, dass mir schwindlig wird und ich für einen klitzekleinen Moment nichts mehr sehen kann. Ich fluche, stoße mit dem Ohr an einen Längsträger und ärgere mich, dass mir das in letzter Zeit immer öfter passiert, obwohl ich doch das Darunterrollen fleißig übe. Nur für dich, mein Schatz, habe ich mir teure Sportkleidung gekauft. Und nur für dich schleiche ich einmal pro Woche am Abend, wenn alle Kinder zuhause sind, in den nahe gelegenen Stadtteilpark und rolle mich immer und immer wieder unter die unterste Strebe des verrosteten Klettergerüstes hindurch und höre erst auf, wenn ich es mindestens fünf Mal in Folge fehlerfrei geschafft habe. Danach jogge ich in die Altbauwohnung deiner Mutter zurück, dusche mich ausgiebig mit ihrem Warmwasser ab, stelle die Lieblingsmusik auf volle Pulle, frisiere und schminke mich, obwohl ich ganz genau weiß, dass du das als aufgedonnerten Schnickschnack abtust, plündere anschließend die leckersten Sachen aus dem Kühlschrank und mache mich danach vergnügt auf den Weg zu dir

Unter dir (Teil III)

Im ersten Teil legt sich die Freundin (wie jede Nacht) unter sein Bett und wartet, dass die Nachtschwester ihren Rundgang durch die Zimmer unternimmt. Diese Zeit nutzt sie, um über diese und andere Krankenschwester und ihre Mühen, unter das Bett zu gelangen, nachzudenken.

Im zweiten Teil „beschäftigt“ sie sich mit ihrem Freund, der im Bett liegt und „bereitet“ ihn für das „Ereignis “ vor, wobei sie (wie auch im folgenden Teil) von der Nachtschwester gestört wird.

Ich lege mein Ohr auf deinen Körper, höre dein Herz schlagen und schließe zufrieden die Augen. Ich zähle laut deine Herzschläge und wiederhole jeden einzelnen mit meinen Fingerkuppen auf deiner Wange. Im Rhythmus deines Herzens puste ich auf deine Brustwarzen, bis ich spüre, dass sie hart werden. Weil mir das Gepuste zu anstrengend wird und weil ich auch weiß, dass es dir als Linkshänder wichtig war, schiebe ich vorsichtig meine Zungenspitze heraus und betupfe zuerst deine linke und danach deine rechte Brustwarze. Als ich keine Lust mehr darauf habe, gebe ich dir einen Schmatzer auf dein glatt rasiertes Babygesicht und sage, dass ich ganz genau weiß, dass du mich wahnsinnig liebst und ich auch heute wieder deine versteckte Morse-Botschaft aus deinem Herzschlag herausgehört habe. Ich streichle zwischen deinen Brustwarzen über den ovalen Leberfleck, sehe dich an und flüstere „Schokopudding mit Vanille“.
Plötzlich höre ich Schlüsselgeklapper auf dem Flur. Ich fluche, ob das jetzt unbedingt sein muss und bin der Schwester wieder dankbar, dass sie mit ihrem Geklapper meilenweit zu hören ist und mir somit ausreichend Zeit gibt, mich schnell unter dein Bett zu verkrümeln. Nur bei dieser Schwester kann ich mich auf die Uhrzeit verlassen und auf ihr pünktliches Schlüsselgeklapper. Meiner Meinung nach ist sie die lauteste, aber auch die zuverlässigste aller Schwestern. Ich ziehe dein Hemd zurecht, lege die Bettdecke glatt, gebe dir einen Klaps auf die Wange, rolle mich unter das Bett und überlege, ob ich ihr nicht ein Glöckchen für das Schlüsselbund wichteln sollte. Meinen Rücken schiebe ich so lange auf dem gebohnerten Boden zurecht, bis ich die passende Position unter deinem Körper gefunden habe. Denn nur so habe ich ein Gefühl dafür, ob das, was die Schwestern mit dir tun, auch wirklich gut für uns beide ist. Wenn ich hier unten liegend die leise Vermutung bekomme, dass mich die pflegerische Anordnung stört, mache ich sie, wenn die Schwester gegangen ist, sofort rückgängig. Bei ihr hatte ich jedoch noch nie Bedenken und weiß, dass sie alle ärztlichen Verordnungen gewissenhaft ausführt. Vor ein paar Wochen wollte ich sie sogar loben. Aber dann hatte ich Angst, sie könnten sie zur Stationsschwester ausbilden und dann hätte ich keine pünktlich klappernde Schwester mehr gehabt. Bei den anderen Schwestern habe ich manchmal meine Schwierigkeiten, rechtzeitig unter das verflixte Bett zu kommen. Und das geht dann meist nicht ohne blaue Flecken und Schrammen. Es gibt Nächte, die knapp an der Katastrophe vorbei gehen und am nächsten Tag sehe ich zerkratzt aus und meine Kleidung ist eingerissen oder an einem meiner hohen Schuhe fehlt der Absatz.

Ich lausche. Wie üblich erklärt sie dir alle Handgriffe bis ins Detail. Übertrieben laut erläutert sie dir, welche medizinische Verordnungen sie machen muss und warum, und fragt immerzu, ob du damit einverstanden bist. Du bist doch nicht schwerhörig. Ständig habe ich das Gefühl, dass die hier alle Selbstgespräche führen. Bei einigen Schwestern habe ich sogar Mühe, nicht lachen zu müssen. Im Allgemeinen finde ich ihre Erklärungen aber wichtig. Nur manchmal, wenn die Schwestern zu persönlich werden, wenn sie, irgendetwas von Schatz, Liebling, oder schöner Mann faseln, wenn sie beim Waschen meinen, dass sie dich nicht von der Bettkante stoßen würden, dann werde ich fuchsteufelswild und muss mir vor Wut in die Hand beißen. Am liebsten würde ich in diesen Momenten hervorkriechen und alle ordentlich verdreschen. Diese Schwester hingegen hielt sich von Anfang an mit solcherlei Sprüchen zurück. Trotzdem oder vielleicht deswegen muss ich auch bei ihr höllisch aufpassen.

Sie geht zur Tür, dreht sich zu dir um, haucht dir einen ihrer Luftküsse entgegen und löscht das Licht. Langsam schiebe ich mich unter dem Bett hervor, krame im Dunkeln die Taschenlampe aus der Tasche, knipse sie an und kontrolliere, ob sie die von ihr aufgezählten Verordnungen richtig ausgeführt hat. Einige der Schwestern sind nämlich unzuverlässig, um nicht zu sagen schlampig. Auch diese Schwester arbeitet an manchen Tagen ungenau. Damit ich die Schwestern überprüfen kann, habe ich mir Fachbücher gekauft und lese, wenn meine meckernde Chefin nicht da ist, stundenlang im Internet und arbeite alle über Nacht angestauten medizinischen Problemfälle, die dich betreffen, in Foren nach und nach ab. Mit der Zeit kenne ich die Foren und kann sehr gut mitdiskutieren. Und werden neue Heilmethoden besprochen, flechte ich sie beharrlich in die Arztgespräche, die ich einmal pro Woche führe, ein. Einer der Assistenzärzte hat doch wirklich mal gedacht, ich sei Medizinstudentin. Und nur wenn ich früher überhaupt nicht weiter wusste, ging ich zu meinem Hausarzt und gab die Beschwerden an, die mich interessierten. Den Termin beim Psychologen nahm ich aber nur einmal war. Seitdem wechsle ich die Fachärzte nach deinen jeweiligen Beschwerdegruppen. Mein Lieber, es gibt Tage, da überlege ich, ob ich meine Arbeit für dich hinschmeiße und ein Medizinstudium beginnen sollte. Spätestens seitdem mein Chef gegen eine Chefin ausgetauscht wurde, denke ich fast täglich diesen wunderschönen Gedanken. Dann könnte ich nach dem Studium ganz offiziell bei dir arbeiten und den Schwestern jede Menge Anweisungen in einem wehenden weißen Kittel erteilen. Leider habe ich aber nicht die Superabiturnoten wie du dafür. Vielleicht sollte ich dein Zeugnis fälschen und meinen Namen eintragen. Dann bekäme ich auf jeden Fall den Studienplatz, den du partout nicht wolltest. Du weißt, für dich mache ich alles.

Damit du mich gut sehen kannst, hebe ich dein Kopfende nach oben. Ich lege die Taschenlampe auf den Nachttisch, stelle mich in die Mitte des Lichtkegels, beuge mich zu dir und zu deinen beiden Mitpatienten und applaudiere. Ich strecke die Arme zur Zimmerecke, lasse sie langsam auf meinen Busen sinken und knöpfe die Bluse auf. Vorsichtig löse ich die Schnallen der Glitzerschuhe und sammle die Schuhe mit dem Mund auf. Da meine tollen Glitzerschuhe im Taschenlampenlicht blenden, kneife ich die Augen zu und versuche die schweren Dinger blind auf dein Bett zu zielen. Nachdem ich das geschafft habe, öffne ich meine Hose mit dem Ringelmuster, die ich bei unserem ersten Kennenlernen anhatte und die du von jeher so furchtbar gefunden hattest. Ich beuge mich nach vorn, ziehe sie herunter und schieße das Ringelding mit dem großen Zeh im hohen Bogen zu dir hinüber. Mit den Füßen ziehe ich abwechselnd meine Socken aus, sammele auch sie mit dem Mund auf, hänge sie mir über meine beiden Ohren und schüttle den Kopf, bis sie runterfallen. Ich hebe sie auf, knülle sie zusammen und werfe sie dir genau ins Gesicht. Weil ich dich getroffen habe, strecke ich meine Arme aus und schlage ein Rad. Ich gehe an dein Bett und ziehe endlich meine Bluse aus und lege alle Kleidungsstücke, die du noch nie an mir gemocht hattest, auf deiner Bettdecke aus, als hättest du sie allesamt an. Ich zupfe die Klamotten faltenfrei und flüstere dir ins Ohr, dass du ein tolles Mädchen in den klamotten abgeben würdest. Ich richte die Taschenlampe auf dein Bett, hole mein Handy mit dem neuen Kameratyp und der Videofunktion und mache Fotos von dir und den Klamotten. Ich schiebe die Lampe zurück, tipple auf meinen Zehenspitzen in den Lichtkegel, lächle euch drei stummen Zuschauern zu, drehe mich einmal um die eigene Achse, öffne mein hochgestecktes Haar und halte es für euch ins Licht. Wie wild schüttle ich es auseinander und sehe durch die Strähnen zu euch hindurch. Mit beiden Händen umfasse ich zwei Haarbüschel und winke dir zu. Ich verbeuge mich vor euch, schlage, weil es mir vorhin so gut gefallen hat und weil ich merke, dass ich davon endlich wach werde, noch einmal ein Rad und komme vor deinem Bettgiebel zum Stehen. Ich umwickele das glänzende Metall mit meinen langen Haaren und sage dir, dass ich die völlig durchgeknallte Rapunzel aus einem deiner unzähligen geliebten Märchenbücher bin, und dass ich dich jetzt mitnehmen will. Ich sage dir, dass ich vorher aber noch meinen Prinzen vernaschen muss. Plötzlich höre ich ein Alarmsignal aus einem deiner vielen Geräte. Ich schnappe die Bluse, die Hose, die Socken, die Schuhe von der Bettdecke, greife mir die Taschenlampe und rolle mich unter das Bett. Dabei stoße ich mich zuerst am Fuß und dann an der Schulter, dass die frisch verheilte Schürfwunde wieder aufplatzt. Die Tür geht auf und die Schwester kommt ohne zu klappern ins Zimmer gerannt. Sie macht Licht, hantiert an den Geräten, streichelt über dein Haar und fragt, was heute mit dir los ist. Sie sieht zum Katheterbeutel und sagt zu den anderen Patienten, dass dein Urin verdächtig trübe aussieht, sie einen Harnwegsinfekt vermutet und dass sie das nach dem Wochenende unbedingt dem Stationsarzt vorstellen wird. Muss der Infekt heute sein, denke ich und spüre einen stechenden Schmerz im Fuß und in der Schulter. Zu gern würde ich ihr zurufen, dass ich verblute und auch mal dringend einen Arzt bräuchte. dabei spüre ich, dass ich mit meinem Rücken am Linoleum festklebe. Sie geht zurück zur Tür, zwinkert dir den üblichen Luftkram zu, macht das Licht aus und ruft beim Rausgehen, dass du heute besonders wilde Träume mit deiner Geliebten haben wirst, sie dir viel Spaß wünscht und sie deinen Katheter wechselt, wenn du dich ordentlich ausgetobt hast. Ich schüttle den Kopf über ihre Sprüche, äffe sie nach und weiß, dass ich gleich morgen früh alle Foren zum Thema Urin, Katheter, Infekt und Komplikation durchforsten werde. Zur Not lasse ich mich am Montag krankschreiben, gehe zu meinem Urologen und sage, dass mir die Blase höllisch wehtut und der Urin verdächtig aussieht. Und vielleicht sollte ich die Krankschreibung auch nutzen, um dein Einser-Abiturzeugnis zu kopieren und mit meinem Namen zu versehen.

2. Ausrüsten

(Fortsetzung von 1. Erwachen)

Er fand sich in der Mitte des Zimmers wieder und drehte sich langsam um die eigene Achse. Wie Mira. Mira steht jeden Morgen in der Mitte des Schlafzimmers und dreht sich mit ausgestreckten Armen um die eigene Achse. Genau einundzwanzig Mal. Ausnahmslos jeden Morgen absolviert sie ihr Übungsprogramm um ihre Chakren in Einklang zu bringen. Die fünf Tibeter sind eine ernste Angelegenheit für sie. Er hatte sich das Spotten abgewöhnt. Danach erst konnte er erkennen, wie konzentriert, versunken und wunderschön sie dabei aussieht.

Aber Mira war weg. Oder er. Je nach Perspektive. Er versuchte, nicht mehr an sie zu denken. Er versuchte stattdessen, im durch seine langsamen Drehbewegungen wieder und wieder an ihm vorbeiziehenden Zimmer an etwas erinnert zu werden. Der Deckenstuck glich dem im Behandlungszimmer seines Zahnarztes. Aber da war er nicht. Die Doppelfenster aus Holz waren wie die im Haus seiner Großmutter. Das war längst abgerissen. Der grobe Plüschteppich, der jeden seiner Schritte dämpfte, fühlte sich an wie sein Badewannenvorleger. Aber, so gern er es wäre: Er war nicht zuhause. Er kannte diesen Raum nicht. Er war der Fremde. Der andere war der Andere.

Als ihm schwindlig wurde, ließ er sich wieder aufs Bett fallen. Das glatte, weiche Gefühl der abgekühlten Bettwäsche auf seiner Haut gefiel ihm. Er kannte es. Er drückte sein Gesicht tief ins Kissen. Es roch nach Duschbad, nach Waschmittel, nach Haaren, ein bisschen nach Schweiß und ein bisschen nach Spucke. Es roch nach Mensch. Er atmete diesen Geruch, Nase um Nase. Er wartete auf eine Erinnerung, einen Fetzen irgendwas. Er wusste, wer er war. Aber wer er war würde nicht ohne Erinnerung im Bett eines wildfremden Menschen aufwachen, der dem Inhalt seines Kleiderschrankes nach zu urteilen obendrein ein Mann war. Der Geruch, den das Kissen verströmte war ihm nicht unangenehm. Aber unbekannt und beunruhigend.

Es klickte. Blitzschnell drehte er sich um und starrte zur Tür. Er brauchte einige Sekunden, um das Klicken der Zahlenmechanik des Weckers zuzuordnen. Es war 11:07 Uhr. Wie konnte er wissen, dass er allein war? Vielleicht war der Andere gerade im Bad und würde in wenigen Augenblicken, ein Handtuch um die Hüften und ein Liedchen auf den Lippen, im Türrahmen erscheinen. Vielleicht saß er in der Küche und frühstückte. Vielleicht saß er schon im Arbeitszimmer über seinen Rechner gebeugt. Wenn er nicht allein war, würde er in wenigen Minuten jemandem begegnen, von dem er keine Vorstellung hatte. Jemandem, der ihn kannte und sich möglicherweise darüber freuen würde, dass er endlich wach war. Jemandem, der ihn hatte ausschlafen lassen. Jemandem, der ihn in seinem Bett schlafen ließ. Was, wenn er sich auch dann nicht erinnerte ? An wen?

Er drehte den Kopf. Erst jetzt fiel ihm auf, dass neben dem Kissen auf dem sein Kopf ruhte ein weiteres lag. Er schreckte auf. Er hatte keine zwei Kissen benutzt, soweit er sich erinnerte. Aber er erinnerte sich nicht. Er beugte sich zu dem zweiten Kissen herüber und roch daran. Es roch genauso wie dasjenige, welches er benutzt hatte. Er versuchte sich zu erinnern, ob er dieses fremde Bett mit jemandem geteilt hatte. Er legte den Kopf auf das andere Kissen und wartete auf einen Fetzen Erinnerung. Er legte den Kopf zurück auf sein Kissen und wartete auf irgendetwas. Er hatte Kopfschmerzen.

Er schreckte auf, kniete sich aufs Bett und untersuchte das Laken unter auf Flecken. Er fand welche. Ein größerer roch nach Bier, zwei weitere, kleinere rote Flecken rochen leicht süßlich. An anderer Stelle war offensichtlich ein Splitter Schokolade unter einem warmen Körper geschmolzen. Ansonsten nur viele tiefe Falten im Laken. Wer auch immer hier schläft, schläft unruhig. Er suchte nach einem Haar, er fand keines, nicht einmal ein kurzes. Ein langes, blondes Haar hier zu finden, hätte ihn beruhigt. Aber Mira war weg.

Er hielt seine Finger unter die Nase. Sie rochen neutral, etwas salzig vielleicht. Mit den Daumen schob er einige Fingerkuppen zurück und sah unter seinen Fingernägeln nach. Alles sauber. Er untersuchte seinen Bauch, seine Schenkel, sein Schamhaar. Nichts verklebt. Gutes Zeichen. Er sah unter seiner Vorhaut nach. Keine Ahnung. Er lehnte sich aus dem Bett und kuckte darunter. Er fand eine braune Herrensocke, aber kein benutztes Kondom. Trotzdem kein Beweis. Er prüfte seinen Körper auf Kratzspuren und blaue Flecke. Nichts. Er überlegte, nochmal hinüber zum Spiegel zu gehen. Dort wäre auch die Untersuchung seines Rückens möglich. Und die seines Hinterns. Aber er blieb auf den eigenen Fersen sitzend im Bett. Sein Hintern fühlte sich normal an, aber auch das bewies gar nichts. Er wollte Duschen. Er ekelte sich. Vor dem Bett, das so fremd roch. Vor dem Körper, der diesen Geruch ursprünglich verströmte. Vor dessen Händen, sofern sie ihn berührt hatten. Und vor dem Rest dieses fremden Körpers auch. Erst recht. Sogar vor seinem eigenen Körper ekelte er sich, weil er diesen fremden Geruch anzunehmen schien.

Er war durstig. Er sah sich nochmals im Zimmer um. Am Grunde des leeren Wasserglases auf dem Nachttisch fand er Rückstände eines weißen Pulvers. Er befeuchtete seinen Zeigefinger und nahm ein paar Krümel auf. Sie schmeckten so, wie der geltenden Meinung der chemischen Industrie zufolge tropische Früchte schmeckten. Um diesen Geschmack wieder los zu werden, brauchte er noch dringender etwas zu trinken. Aber hier war nichts. Er würde das Zimmer verlassen müssen um seinen Durst zu stillen. Außerdem musste er pinkeln. Und duschen.

Er beschloss, zu rufen. Vorher schlüpfte er wieder unter die Decke. Falls da jemand war, wollte er ihm nicht in Boxershorts begegnen. Trotz und gerade wegen letzter Nacht. Er rief. Seine Stimme war belegt und rau. Offenbar hatte er gegrölt gestern. Er lauschte. Nichts. Sein Hals brannte. Er räusperte sich. Er rief wieder. Seine Kehle war trocken und seine Zunge pelzig. Er lauschte. Nichts. Er holte tief Luft und brüllte. Sein Atem roch nach Alkohol und sein Kopf dröhnte. Er lauschte. Kein Geräusch außer dem Knacken seiner Kiefergelenke und seinem leise pfeifend ausströmenden Atem.
Er sank wieder ins Kissen. Wahrscheinlich war er allein. Das enttäuschte ihn. Das Gesicht des anderen oder zumindest dessen Rede hätten seiner Erinnerung vielleicht auf die Sprünge geholfen. Die große Irritation wäre vorüber gewesen. Man hätte ihn wieder aufs Spielfeld gesetzt. Es wäre weiter gegangen. Gleichzeitig war er erleichtert. Er fürchtete die Konfrontation mit dem Anderen. Dem Anderen? Warum nicht den Anderen? Woher konnte er wissen, dass er es nicht mit mehreren zu tun hatte? Was, wenn er in die Fänge einer Schleuserbande geraten wäre? Menschenhändler? Organhändler? „Absurd.“, murmelte er, als er einsah, dass ihn eine Menschenhändlerbande wahrscheinlich nicht in einem Zimmer mit Balkon zur Straße untergebracht hätte. Mit Daumen und Zeigefinger rieb er sich den Schafsand aus den Augen. Seine Einsamkeit gab ihm Zeit, wieder zu sich zu kommen. Vielleicht wüsste er, wo er war, wenn er nur endlich dieses Zimmer verließ.
Die Messinggriffe der großen Flügeltür waren ihm schon vorhin aufgefallen. Er wollte sie berühren. Ihre glatte, kühle Anmutung lockte ihn. Durch das Milchglas zeichnete sich ein weiterer heller Raum ab. Dem Schattenwurf nach zu urteilen, musste es ein großes Fenster darin geben, vor dem der Wind mit einer mächtigen Baumkrone spielte. Der Raum schien freundlich. Der Raum jagte ihm Angst ein.

Ohne seine Erinnerung war er blind. Blind fühlte er sich wehrlos. Wehrlos wollte er den tanzenden Schatten hinter dem Milchglas nicht gegenübertreten. Er schloss die Augen und wartete auf einen Fetzen Erinnerung. Er wusste seinen Namen: Kay. Er wusste seine Adresse. Er kannte sein Alter: 36. Und er wusste das Passwort zu seinem Rechner im Büro: 8hrs2go!. Ihm war bewusst, in welchem Jahr er lebte. Und mit wem: Mira. Er erschrak. Falsche Zeitform.

Ihm war schlecht. Erneut hob er seine Beine aus dem Bett und stand auf. Er war ein geduldiger Mensch, aber dieses Warten auf nichts machte alles dringender. Er ging hinüber zur Flügeltür. Es knarrte. Er fror ein. Er selbst musste dieses Geräusch ausgelöst haben, als er über die Dielen lief. Er war allein in der Wohnung. Er hatte gerufen und keine Antwort erhalten. Außer dem Klicken vorhin und diesem Knarren jetzt hatte es kein Geräusch in der Wohnung gegeben, seitdem er wach war. Er hatte gute Ohren. Er verlagerte sein Gewicht wieder auf den anderen Fuß, aber es knarrte kein zweites Mal. Er ging zurück zu seiner Ausgangsposition und lief den Weg erneut. Es knarrte nicht. Vielleicht war das ein Spiel, das der Andere mit ihm spielte. Vielleicht lauerte er hinter der Tür, um ihn mit einem „Buh!“ zu Tode zu erschrecken, sobald er sie öffnete. Vielleicht saß der andere seit Stunden schweigend in seinem zur Tür gewendeten Lesesessel, nur um aufzusehen und ihn schweigend aber breit anzugrinsen, sobald sein Schlafgast heraustrat. Vielleicht hatte sich eine Tragödie abgespielt und der andere lag direkt vor der Tür in einer riesigen Blutlache, die – um die Überraschung nicht zu gefährden – kurz vor der Schwelle zum Schlafzimmer endete. Bestimmt.

Er konnte da nicht raus gehen. Nicht so. Er machte drei Schritte in Richtung Kleiderschrank, weil ihm die Idee gekommen war, ein paar Kleider des Anderen anzuziehen. Er stockte. Nach allem, was er bisher wusste, mochte er diesen Anderen nicht. Nicht seinen Geschmack, nicht seinen Geruch und vor allem nicht seine Abwesenheit. Er wollte diese Sachen nicht tragen. Er ging zum Bett und nahm sich ein Kissen. Wie ein Schild drückte er es sich auf den Bauch und verschränkte die Arme davor, als würde er sich daran festhalten. Das half, er fühlte sich sicherer. Er machte wieder einen Schritt in Richtung Tür. Was aber, wenn der Andere ebenso orientierungslos war wie er? Was, wenn er ihn angreifen würde? Was, wenn er in die Fänge eines Psychopaten geraten war, der ihn auf der anderen Seite des Milchglases mit gewetzten Messern erwartete? Er konnte da nicht rausgehen. Nicht so. Er ging zurück zum Bett und hängte sich die Bettdecke um die Schultern. Dabei registrierte er sehr wohl, dass es nur eine große Decke war, nicht zwei. Er weigerte sich allerdings, über diesen Fakt nachzudenken. Nachdenken hatte ihm bis hierher nicht viel genützt. Er machte wieder drei Schritte in Richtung Tür. Die Steifheit des Federbettes um seine Schultern und das Kissenpolster vor dem Bauch gab ihm das Gefühl eine Rüstung zu tragen, wenn auch eine lächerliche. Ein letztes Mal sah er sich im Raum um. Diesmal auf der Suche nach einer möglichen Waffe. Einem Kerzenständer, einer Flasche, einer Hantel vielleicht. Nichts. So unbewaffnet konnte er da unmöglich rausgehen.

Er schwenkte ab in Richtung Balkon. Er öffnete die Tür und trat nach draußen. Er beugte sich über die Brüstung um zu sehen, ob sich nicht doch ein Weg finden ließ, nach unten zu klettern. Es fand sich keiner. Er drehte sich und sah am Gebäude nach oben, um zu prüfen, ob er vielleicht über das Dach entkommen könnte. Es war aussichtslos. Auf dem Nachbarbalkon – der Höllenhund.

Als wäre er auf Menschen abgerichtet, ging er auf ihn los. Mit einem kraftvollen Satz versuchte er, die Brüstung zu erklimmen. Er drückte sich das Kissen vors Gesicht, dann wieder vor den Bauch, dann vor die Brust. Der Hund konnte nicht über die Brüstung. Er ließ das Kissen sinken. Von seinen Lefzen schleuderte der Hund Geiferfetzen um sich, so rasend war er. Er aber wurde ganz ruhig. Was für ein dummer, armseliger Hund das war. Er hielt das Kissen nur noch an einem Zipfel, der gegenüberliegende streifte den Boden. Er wandte sich dem Tier zu und sah im direkt in die Augen. Das irritierte den Hund. Er hielt kurz inne, dann verstand er die Provokation des Fremden. Sein Nackenfell stellte er zum Hahnenkamm, seine Vorderläufe hängte er bis zu den Knien über das Balkongeländer. Er zog seine Lefzen so hoch, dass sein eindrucksvolles Gebiss bis zu den Backenzähnen zu sehen war. Er knurrte ein tiefes, dunkles Knurren. Der Fremde stand da und starrte dem Tier in die Augen. Solange, bis der Hund einsah, wie verzweifelt hoffnungslos und gnadenlos lächerlich seine Drohung war. Solange, bis er endlich Ruhe gab, und sich setzte. Eine Windböe trieb Schnee vom Dach. Der Fremde blieb regungslos stehen. Der Schnee schmolz zwischen in seinen Nackenhaaren. Er wischte ihn beiseite. Er hatte keine Lust auf einen kalten, theatralischen Tropfen, der ihm wie eine eisige Fingerspitze unter dem wärmenden Federbett den Rücken hinab fuhr. Der Hund legte sich auf den Boden und rollte sich ein, den Blick demonstrativ Richtung Hof gewandt. Als im Bürogebäude gegenüber ein Fenster geöffnet wurde und zwei Frauen zum Vorschein kamen, von denen eine herzhaft lachte und die andere freundlich winkte, wandte sich der Fremde ebenfalls ab und ging nach drinnen. Der König verließ den Balkon vor den Augen des Volkes. Der König musste Pinkeln.

Er suchte nach einer Vase, einer Topfpflanze, einer leeren Flasche. Er wollte nicht ins Wasserglas urinieren. Sein Blick fiel auf den Kristallaschenbecher auf dem Nachttisch. Er ging hinüber und hob ihn an. Er nickte. Das Gewicht des Aschenbechers, seine spitzen Ecken und seine Kühle gaben ihm das erleichternde Gefühl, nun endlich wehrhaft zu sein. Erst kürzlich hatte eine Frau ihren Mann mit seinem Aschenbecher erschlagen, das hatte er irgendwo gelesen. Er las alles. Seit ihm in der Bank ein Arbeitsplatz zugewiesen worden war, dessen Bildschirm von niemandem eingesehen werden konnte, verbrachte er den Großteil seiner Arbeitszeit mit dem Lesen von Nachrichten im Internet. Ihm entging nicht, wie seine Gedanken abschweiften. Er kannte sich gut genug um sich nicht darüber zu wundern. Er wollte da nicht rausgehen. Er fürchtete sich davor. Angst ist ein guter Ratgeber, sagt Mira. Angst zeigte dir, welchen Weg du zu gehen hast. Sein Weg führte durch die Flügeltür.

1. Erwachen

Endlos und leer lag die Ebene vor ihm. Ohne jeden Makel, sogar ohne jegliche Textur. Seit Stunden stellte er sich gegen die Kälte, die sich immer tiefer in seinen Körper fraß. Dutzende Kilometer hatte er hinter sich gelassen, aber die Ebene vor ihm veränderte sich nicht. Längst hatte er eingesehen, dass er die Hütte heute nicht mehr erreichen würde. Weit in ihm, hinter dem Fauchen des Windes in seinen Ohren, zog seine Angst zischend in Zweifel, ob er die Hütte jemals fände. Er sehnte sich nach dem wärmenden Feuer, das in ihr brannte, aber er würde in der kommenden Nacht wohl darauf verzichten müssen. Der Himmel hatte schon von weißlich blau auf petrol gewechselt und würde sich bald in Richtung schwarz recken. Seine Hunde wurden langsamer und brauchten eine Pause. Wie er. Wenn er nicht sofort anhielt um sein Nachtlager zu bereiten, würde er in der Dunkelheit vor Erschöpfung vom Schlitten kippen und bis morgen früh erfroren sein. Ihm war das klar, doch ängstigte es ihn nicht genug, als dass er den Singsang der Glöckchen an den Halsbändern seiner Hunde dafür stoppen würde. Er mochte ihr Lied und er fürchtete sich vor der betäubenden Stille, die sich binnen weniger Augenblicke wie eine schwere Wolldeckte über die Ebene legen würde, sobald seine Hunde zur Ruhe gekommen waren. Also schloss er die Augen und konzentrierte sich auf das Gleiten der Kufen unter seinen Füßen; konzentrierte sich auf seinen Atem, atmete tief, ließ den Atem entweichen, versuchte seinen warmen Hauch auf der Haut zu spüren, spürte nichts. Er öffnete seine Augen und sah, dass ein Sturm aufzog.

Der Horizont, der die Ebene messerscharf vom Himmel trennte, geriet aus dem Gleichgewicht, geriet in Wallung, warf hohe Wellen. Es war, als würden die Böen auch unter dem schneebedeckten Boden wüten wie unter einem gespannten Laken. Die Ebene verlor ihre Stabilität. Sie öffnete sich wie ein riesiger Schirm vor ihm, umfing ihn, ließ sich von den Kufen seines Schlittens spuren, und einen Moment später entzog sie ihm; zog sie sich so weit zusammen, dass nur ein winziger weißer Spalt blieb von ihr, verschwand schließlich ganz, warf ihn ins Nichts.

Sein Schlitten kippte und begrub ihn unter sich, weich aber schwer. Er wartete auf den Schmerz, aber es schmerzte nicht. Er konnte seine Hunde nicht mehr sehen. Er musste sie wiederfinden, er wäre verloren ohne sie. Dass er ihre Glöckchen noch singen hören konnte, beruhigte ihn. Er schloss die Augen, atmete und lauschte. Er mochte den weichen Schnee unter seiner Wange. Er beschloss, eine Weile liegen zu bleiben, auszuruhen und sich vom Gewicht seines Leibes wärmen zu lassen. Kurz bevor man erfriert, wird einem ganz warm, sagt man.

Er öffnete die Augen. Die petrolfarbenen Vorhänge filterten die Sonne und tauchten das Zimmer in ein fahles, kaltes Licht. Nur ganz unten, ein fingerbreit über dem Boden, dort wo der Horizont die Ebene abschnitt, tanzte ein warmweißer Fetzen auf den hellen Dielen. Vom geöffneten Fenster her fuhr ein eisiger Hauch ins Zimmer, der von fern das Klimpern der Glöckchen an den Halsbändern seiner Schlittenhunde zu ihm herübertrug.
10:42 Uhr. Ein schöner Wecker. Mit Klappzahlen und Radio. Aber nicht seiner. Ebenso wenig wie das schneeweiche Kissen, die Matratze mit der tiefen Kuhle oder das flache Bett, in dem er lag. Er stützte seinen Oberkörper auf seine Ellenbogen und sah sich um. Sein Nacken schmerzte. Er ächzte.
Nichts hier gehörte ihm. Nicht der helle Plüschteppich auf dem das Bett stand, nicht die matten, hellen Dielen auf denen er lag und nicht die kargen hellgrauen, Wände an denen sie endeten. Er setzte sich auf. Nichts von dem, was ihn umgab, kannte er. Den riesigen weißen Schrank nicht, nicht seinen Inhalt und nicht den, dem er gehörte. Das einzige, was ihm unangenehm vertraut vorkam, war der Andere, der ihn ernst, zerzaust und irritiert aus einem mannshohen weißen Holzrahmen neben der Flügeltür anstarrte.

Er legte sich wieder hin, kniff die Augen zu und ließ sie ein paar Sekunden geschlossen. Er sah ein, dass die weite, klare Schneelandschaft unwiederbringlich dem fast schwarzen Dunkelrot hinter seinen Lidern gewichen war. War er tatsächlich wach? Er biss sich auf die Unterlippe. Es tat weh, aber wer konnte sich sicher sein, dass es nicht wehtun würde, sich im Traum auf die Lippe zu beißen? Vorsichtig setzte er seine Füße auf den Plüschteppich, so vorsichtig, dass es ihn kitzelte. Langsam verlagerte er sein Gewicht und stand auf. Weil jemand seinen Schädel über Nacht mit Beton gefüllt hatte, gelang es ihm erst nach einigen Sekunden seinen Körper im Gleichgewicht zu halten. Ihm war schwindlig und im Traum war ihm noch nie schwindlig gewesen.

Er taumelte zum Holzrahmen hinüber. Aus dunklen Augen in tiefen Höhlen starrte ihn ein alter Mann an, aufgedunsen, irritiert und feindselig. Sein Körper war ohne Wunden, aber wegen seiner gekrümmten Haltung wirkte er verletzt. Mit der linken Hand berührte er seine Rechte, die reglos an seinem Arm hing. Dann seine Wangen, seine Brust, seinen Bauch. Seine Haut war aus Latex. Sie schimmerte in blassem Violett. Darunter waberte Flüssigkeit, lauwarm. Er berührte seine Lippen. Silikon. Weich, aber trocken und ohne Gefühl. Er steckte seine Hand in seine Shorts. Er spürte die Berührung stärker als die anderen, weil er sie nicht sah. Aber er fühlte nichts. Trotzdem: Er war es, auch wenn er sich nur ähnelte. Er stammelte „Wer?“, „Wo?“ Seiner Stimme fehlte der Bass. Er wandte sich ab.

10:49 Uhr. Ein schöner Wecker auf dem Nachttisch. Ein leeres Wasserglas. Daneben ein schwerer großer Kristallaschenbecher. Dunkelblau. Leer aber nicht unbenutzt. Wie er. Weiter daneben Magazine. In gewollter Unordnung. Wie er. Wer schläft hier, wenn er hier nicht schläft? Wieso war er hier aufgewacht?

Er taumelte zu den petrolfarbenen Vorhängen und ließ die Stadt herein. Seine Fremde endete nicht an den Grenzen seines Körpers. Auch nicht an den Wänden dieses Raumes. Durch eine schmale Tür trat er auf einen halbrunden Balkon. Die frostige Luft füllte seine Lungen und nahm einen Teil seiner Benommenheit mit sich. Der grobe Beton unter seinen Füßen riss ein Loch in die Watteschicht, die ihn umgab. Das geschwungene Eisengeländer zwang ihn, zuzugreifen. Er stutzte: Dort unten fand ein Tag statt. Busfahrer fuhren Busse, Paketboten lieferten Pakete und durch die großen Fenster des Gebäudes gegenüber sah er Büros, in denen Sachbearbeiter Sachverhalte bearbeiten. Die Maschine lief.
Auf den Balkon nebenan war ein Schäferhund gesperrt. Der schlief. Er selbst nahm seinen Mut und seine Konzentration zusammen und beugte sich über die Brüstung nach unten. Weit, so weit, bis er das metallene Windspiel auf dem Balkon eine Etage tiefer sehen konnte. Die Glocken der Schlittenhunde. Ursache und Wirkung bedeuteten ihm viel.

Er ließ seinen Blick schweifen und entdeckte das Wintergartenhochhaus. Er war noch in Leipzig. Volkmarsdorf, Neuschönefeld oder Reudnitz. Er erkannte kein anderes Gebäude in seinem Sichtfeld. Er war kein Leipziger. Seine Augen schafften es nicht, den Straßennamen auf dem Schild an der Ecke zu entziffern.

Ein Bellen wie eine Sturmböe warf ihn auf die andere Seite. Er schrie. Adrenalin flutete ihn. Der Hund vom Nachbarbalkon hatte sich in einen tollwütigen Werwolf verwandelt. Mit den Vorderläufen hing er über der Brüstung und kläffte, fletschte, knurrte, dass der Speichel spritzte. Er gehorchte und ging nach drinnen. Sorgfältig verriegelte er die Balkontür.

Er war Herzschlag. Er pumpte. Das Pochen seiner Schläfen erinnerte ihn daran, dass Zeit verging. Das war tröstlich. Er würde klarer werden, mit der Zeit. Er würde herausfinden, wo er war. Und wo seine Kleidung. Und ob es diese Hütte gab. Und warum sich der Hund gegen ihn wandte. Er entdeckte die Heizung hinter dem Vorhang und drehte sie auf.

Er ging zum Kleiderschrank. Der wies ihn ab wie ein Monolith außerirdischen Gesteins. Seine weiße Hochglanzoberfläche wollte nicht berührt werden. Nicht von ihm. Er war schmutzig, fettig und voller Keime. Der Schrank hatte keine Türgriffe, keine Griffmulden, keine Schlüssel oder Schlösser. Der Schrank stand vor ihm, im vollen Bewusstsein der eigenen Anmut. Der Schrank ignorierte ihn. Er trat zur Seite um seinen Winkel zum einfallenden Licht zu verändern. Das Spiegelbild des Raumes war makellos. Kein Fingerabdruck, kein Kratzer, keine Spur. Er untersuchte die Kanten nach Vertiefungen oder Tastern. Sie waren glatt, ebenmäßig und kalt – nichts sonst. Er trat zurück, um den Schrank als Ganzes sehen zu können. Er wollte ihn verstehen. Der Schrank schien sich abzuwenden. Er trat heran, als würde er Anlauf nehmen, streckte die Hand aus und drückte sie fest gegen das porenfreie Weiß. Es klickte merklich unter seiner Hand. Die Tür trat hervor und fuhr langsam aber präzise geführt zur Seite.
Im Inneren offenbarte sich das, was von außen vehement geleugnet wurde: ein ordinärer Kleiderschrank aus weiß furniertem Pressspan. Das Versprechen der Perfektion wurde nicht gehalten, das wird es nie. Die Kleidungsstücke und Gegenstände im Inneren waren zwar nach Art sortiert aber ohne große Sorgfalt aufeinander gestapelt, nebeneinander gelegt und übereinander gehangen.

Er fand Hemden, kariert zumeist, wenigstens zwanzig. Und Hosen aus Cord, hellbraun, dunkelbraun, beige, schwarz, blau. Vielleicht zehn? Jeans, sieben Mal das gleiche Modell aber eindeutig unterschiedlich alt. Cordwesten und Cordjacketts. Boxershorts, die engen. Gürtel, alle braun, alle Leder, einer mit einer Schnalle in Form eines Bullenkopfes. In einer Ecke Cowboystiefel mit Sporen. Das reichte ihm. Seine Sachen waren da nirgends. In der Sekunde, in der er die Tür wieder schließen wollte, stutzte er.

„Cowboystiefel?“ Er hob einen Stapel T-Shirts, zog einen Stapel Pullover aus dem Fach, um dahinter zu schauen, prüfte einige Kleiderbügel darauf, ob unter den Hemden vielleicht Blusen hingen. Aber nichts. Dies war ohne Zweifel der Kleiderschrank eines Mannes. Dies war ohne Zweifel das Schlafzimmer eines Mannes. Aber er war nicht der dazugehörige Mann. Er legte die Hände vors Gesicht und rieb sich die Augen. Er schlug sich mit den Handballen auf die Stirn um klarer zu werden, aber sein Schädel antwortete mit stärkerem Dröhnen.

Er berührte die Tür erneut, woraufhin der Schrank die Kleidung des Fremden wieder verschluckte. Er schauderte: Der Fremde. Das war er. Er war in einem Bett aufgewacht, in das er nicht gehörte. Er war derjenige, der hier nicht stimmte. Dem Nachbarshund war es gleich aufgefallen. Er fand sich in der Mitte des Zimmers wieder und drehte sich langsam um die eigene Achse.

(Fortsetzung 2. Ausrüsten)

betonschädellektion

einmal das hirn geschaukelt
in dieser kühlen nacht ende august.
ein rinnsal blut läuft die schläfe entlang und will nicht versiegen,
eisbeutelturban,
auf den boden gesunken, verstummt,
während sich stimmen erheben,
leise, bestimmend, fragend und panisch.
der rettungssanitäter glotzt neidisch auf gerollte schinkenfeige und die königsberger klopse,
reicht mir die hand, sucht einen puls, der in der kälte meiner fingerspitzen erfroren scheint.
verbandsturban.
wie ist ihr name? alter? schwanger? alkohol?

nun das warten im keller ohne empfang,
ein mann ohne hand, eine frau, gekrümmt, ein mann mit augen so groß wie ein riesenrad,
ein mann, mit doppelgips, ein mann mit sauerstoffmaske, der fragt, wann er endlich
nach hause darf.
musik wäre schön im wachtraum zwischen dem weiß hier,
ein streichkonzert vielleicht oder metal.

röntgen, rasur, desinfektion,
betäubung bleibt aus, denn
schneider meck meck meck näht eins, zwei, drei,
während mich´s schüttelt vor kälte und zähne klappern.

das blut hinfort von hose und vom gesicht,
nun lache ich lauthals und klappere und plappere dummes zeug über haifischfilme und schokoladenkuchen bis ich endlich einschlafe,
im nebenraum von nirgendwo.

Unter dir (Teil 2)

Wenn ich dir früher einen Knutschfleck an jeder Seite deines Halses verpasste, meckertest du, dass du dir markiert vorkamst und bandest dir eines deiner albernen Tücher um. Aber diese gemeine Bemerkung verzieh ich dir meist schon in der darauffolgenden Nacht. Ich streichle über die feucht glänzende Stelle, die ich dir soeben gemacht habe und sage, na dann eben nicht. Ich bin mir auch nicht sicher, ob ich das Risiko eines Knutschflecks heute eingehen sollte. Heute Abend darf uns auf keinen Fall irgendwer stören; zulange habe ich mich auf diese alles entscheidende Nacht vorbereitet. Beim letzten Knutschfleck haben sie gedacht, du hättest eine innere Blutung und dich übergründlich untersucht. Für mich war das grausam, da ich die ganze Nacht hinter dem dussligen Vorhang stehen musste. Der Gedanke daran macht mir schon wieder Angst.

Da meine Füße schmerzen, ziehe ich die Schuhe mit den vielen Glitzersteinen, die ich extra für Heute angezogen habe und die du von jeher besonders albern findest, aus. Ich sage, von Schuhmode hast du keine Ahnung und werfe sie unter das Bett. Ich gehe zum aufgeräumten Nachttisch, dessen Sauberkeit die Schwester soeben ausgiebig gelobt hat und sortiere die darauf liegenden Dinge zusammen. Was ich für unnütz halte, werfe ich in den leeren Eimer. Weil das Desinfektionsmittel in der Nase juckt, pople ich und schnipse ab und zu einen der rausgeholten Popel durch den Raum. Misstrauisch lese ich die Handschriften der Briefe deiner vielen Freunde und rieche an den Absendern die mir unbekannt sind. Die Briefe mit den Handschriften, die mir besonders verdächtig vorkommen oder die ich nicht kenne oder von denen ich meine einen mir fremden Parfümduft zu erriechen, zerrreiße ich in klitzekleine Schnipsel und streue sie zufrieden in das Seitenfach meiner Handtasche. Die ungefährlichen lege ich gut sichtbar in den Nachttisch zu den Stapeln der anderen. Ich schiebe das Nachttischfach zu, gähne in die Länge gezogen und spüre den anstrengenden Tag in meinen Beinen. Um mich fit für die Nacht zu machen, beuge ich mich nach vorn, strecke beide Arme zu den lackierten Zehen und danach zur Lampe der Zimmerdecke. Ich halte mich am Nachttischgriff fest, schiebe das linke Bein langsam in Augenhöhe, lasse vorsichtig den Nachttischgriff los und drehe mich ballarinamäßig einmal um die eigene Achse. Ich tipple an das Bett deines linken Mitpatienten, strecke ihm das Bein und den Fuß entgegen, ziele über den großen Zeh und sage laut Peng, Peng, jetzt bist du tot. Ich tipple zum rechten Mitpatienten, strecke das rechte Bein und erschieße auch ihn. Nachdem ich sie beiden zur Strecke gebracht habe, klatsche ich in die Hände, mache einen Sprung in die Luft, verbeuge mich vor den drei Betten, bedanke mich für den Applaus und fühle mich bereit für die Nacht.

Ich lege mich zu dir ins Bett, rolle mich zusammen und kuschle mich an dich heran. Ich betrachte dein wunderschönes schlafendes Gesicht mit den starken Wangenknochen. Ich nehme den kleinen Zeigefinger und ziehe eine Linie von dem Haaransatz, über die hohe Stirn, zum schnurgeraden Nasenrücken zu den Nasenflügeln mit den kleinen Härchen. Dabei stecke ich meinen Fingernagel in jedes Nasenloch und hole deine Popel raus und schnipse sie im hohen Bogen durch den Raum. Ich sehe wieder in dein Gesicht. Ich öffne deine Lippen, schiebe den Zeigefinger in den Mund, ziehe ihn heraus, schiebe ihn wieder rein und raus und sage vorwurfsvoll, ehe du mich beißt. Mit dem kleinen Finger umrunde ich das breite Kinn, den Hals bis zum Adamsapfel, bleibe dort stehen und pikse mit der roten Fingernagelkuppe in den Apfel und zähle die kleinen schwarzen Härchen die dort aus der Haut wachsen und überlege, wie lange es brauchen wird, bis die Härchen sich krümmen und die von mir geliebte Form des Kopfhaares annehmen. Als ich früher in dein Gesicht schaute und deine Barthaare zählte, wunderte ich mich wie schnell die dicken schwarzen Haare dir aus der gebräunten Haut wuchsen. Schon damals schob ich meine knallrot lackierten Finger durch dein Haar und zirbelte den Bart. Die Kombination von Knallrot, Schwarz und Braun machte mich wild, auch wenn dir meine rot angepinselten Krallen, wie du sie abfällig nanntest, nie wirklich gefielen. Hier rasieren die Schwestern dich, bevor ich deinen Bart zu sehen bekomme. Außerdem, mein Lieber, ist deine Haut wie weiße Babyhaut geworden. Dass sie weiß ist, stört mich nicht wirklich, das habe ich dir schon oft ins Ohr geflüstert. Ich finde, dass sie mich sogar anmacht. Aber dass sie dein Kinn und deinen Hals babyglatt rasieren, bringt mich auf die Palme. Deswegen habe ich auch ab und zu Lust Haare mitzubringen, die ich zuhause heimlich in den Kartons unter deinem durchgelegenen Jugendbett aufbewahre, um sie dir zu einem Bart anzukleben. Oder, dass ich wenigstens ab und zu ein paar Haare mit meinem schwarzen Filzstift, mit dem ich täglich die pflegerischen Anordnungen der Schwestern auf den Karteikarten unter dem Bett benote, anmalen zu dürfen. Aber das geht nun wirklich nicht, das sehe ich ein. Dann denken die womöglich hier, dass ich völlig durchgeknallt bin. Ich seufze, schließe die Augen, reibe blind über deinen rasierten Kehlkopf mit den Stoppeln und stelle mir vor, dass dort ganz viele schwarze, gelockte Haare wären. Ich streichle um den surrenden Schlauch, der aus deinem Hals ragt und flüstere dir zu, dass es mir leidtut, was die vergesslichen Schwestern mit dir hier alles anstellen. Ich verspreche dir, heute wird das Alles für dich und mich ein Ende haben.

Ich richte mich aus meiner Embryonalhaltung auf, küsse deinen glatten Kehlkopf und lasse die nasse Zunge darüber gleiten. Mit dem Daumen massiere ich die glänzende Stelle und sage, dass gefällt dir, mein Lieber? Stimmt. Ich schaue kurz auf die Leuchtanzeige meiner Uhr und horche, ob vom Gang her ein Geräusch zu hören ist und mache, nachdem ich nichts höre, weiter. Ich umgreife deine Ohren und schiebe dein Gesicht auf dem Kopfkissen unter mein Gesicht. Ich stütze meine Hände auf deine Schultern und bewege meine Hüften, als ob ich tief in dich eindringen würde. Als du noch nicht hier lagst, tat ich das nämlich immer, weißt du das noch. Wie damals ärgere ich mich auch jetzt, dass ich kein Mann bin und in dich eindringen kann. Ich mochte es, wenn du dir auf mir zu schaffen machtest. Ich mochte es, wenn du mit deinen langsamen, tiefen Stößen in mich eindrangst und ich dein langes, dickes und schneeweißes Ding in mir spürte. Und ich mochte es wenn dein schwarzes Kopfhaar im Rhythmus über deine Schultern mitschwang. Ich umklammerte erst deinen muskulösen Hintern mit meinen Beinen und danach mit den Händen und klopfte dabei so lange und so heftig auf deine Arsch, bis alles aus dir raus war. Mach weiter, mach weiter, du kleine Hexe, hattest du mir zugeflüstert. Oft habe ich danach meine rot lackierten Finger genommen und sie an deinen Hüften entlanggekratzt. Ich kneife mich links und rechts in meinen Hintern, öffne die Augen und sehe zu deinen beiden Mitpatienten, die wie immer still daliegen. Ich hebe deine Bettdecke an und schaue mit einem prüfenden Blick, ob noch alles an dir dran ist. Es hat sich nichts geändert, genau wie der Rest deines Körpers. Nur, dass er jetzt komplett weiß ist. Dein ganzer schöner zwei Meter und einen Zentimeter langer Körper. Früher konnte ich mich an dem weißen Streifen, der an dem braunen Körper herunterbaumelte, nicht sattsehen. Pinsel hab ich zu deinem Ding gesagt. Quast hast du geantwortet. Das ist ein Quast. Dein Ding war so weiß, dass ich damals dachte, dass es nur deswegen so weiß war, weil du es in mich reinschobst, weil ich ja innen auch weiß war wie eine Farbdose. Aber das war quatsch. Dein Hintern war ja auch weiß. Wie du deinen Hintern damals anhobst, im Rhythmus immerzu im Rhythmus anhobst, immer und immer wieder. Ich weiß warum ich auf Musiker stehe. Ich schließe die Augen und flüstere, schön, das war damals wunderschön. Manchmal zählte ich deine Haare während du in mich eindrangst. Weit war ich damit aber nie gekommen. Gleich kriegst deine Narkose, hattest du gesagt, warte, gleich kriegst du, du kleine Hexe. Du sagtest das, wenn du merktest, das ich über deine Schulter sah und deine Haare an den zuckenden Gesäßmuskeln zu zählen begann. Und weil ich damit nie sehr weit gekommen war, hatte mich das laute Zählen deiner Gesäßhaare irgendwann an meine Narkose erinnert. Die Anzahl deiner Haare hatte ich dabei jedes Mal genauso vergessen, wie die Zahl bei der Narkose. Und dann ärgerte ich mich wieder, dass ich kein Mann war. Wenn du fertig warst und tief Luft holtest, fragte ich dich, wie das ist, was für ein Gefühl das ist und ob du mir dieses Gefühl erklären kannst, ob du mir Beispiele nennen kannst, damit ich dich besser verstehe, wenn du es in mir treibst. Schließlich wollte ich alles wissen, was du machst. Alles. Meist lächeltest du und sagtest in die Länge gezogen, geil, einfach nur affentittenobergeil. Ich war mir sicher, dass du damit meinen Körper meintest, fragte dich aber vorsichtshalber, ob das Gefühl bei allen Mädchen gleich geil war. Du sagtest ja, ja, und deutetest mit weit aufgerissenen Augen einen Orgasmus an. Es machte mich jedes Mal wütend, das du mir nicht sagen wolltest, wieviel Mädels du nun vor mir hattest. Und wenn ich deswegen in Wut geriet, konnte ich dir sogar mit voller Wucht auf deinen steifen Penis schlagen. So sehr ich mich bemühte, ich konnte mich bei dem Thema einfach nicht beherrschen. Und wenn ich merken würde, dass du wegen einer der Schwestern einen Steifen bekommst, dann würde ich, glaube ich, es wieder tun. Mein Gott, wie ich dich in diesen Momenten abgrundtief gehasst habe. Da ich aber jetzt nicht schon wieder an die blöden Missverständnisse denken will, schiebe ich mich weiter auf deinem Körper hin und her. Meine Haare lasse ich dabei in deinem Rhythmus über meine Schulter herunterschwingen. Mit den Haarspitzen reibe ich deine Nase, bis du schnaubst. Empört sage ich, das passt dir wohl nicht. Ich ziehe eine Schnute, knicke deinen Schlauch zusammen und beobachte wie lange es dieses Mal dauert, bis du endlich reagierst. Ich öffne dein albernes Krankenhaushemd. Typisch, die Schwestern haben dir wieder eines aus ihren Beständen verpasst. Ich lege mein Ohr an deine Brust, reibe über deine Haut und flüstere, dass ich dir dein Geschnaube verzeihe. Wie zu Beginn, macht mich deine warme Haut an meinem Ohr wieder etwas schläfrig und ich gähne. Ich weiß, sage ich, ich muss aufpassen, dass ich nicht auf dir einschlafe. Wenn mir das jetzt passiert, flüstere ich dir ins Ohr und die mich erwischen, sind alle Vorbereitungen umsonst gewesen und ich bin geliefert und die schmeißen mich im hohen Bogen raus. Deswegen habe ich mir etwas einfallen lassen. Heute Nacht, mein Schatz, heute Nacht ist es endlich soweit.

seewärts

so sehr sehnt sie sich. sommer, sonne, segeljacht.
seelenvergnügt schwimmt sie seemeilen.
seepferdchen, seeräuber, seetang; schön.
sogleich seeluft, salz, sekundenschlaf.
sinkt sie, singt sie seenot schon. schläft sie.
sehnsüchtig schlabbern sechzig seeleute.
seekrank schlürft sie schnell. stoß spreizbeinig.
solches spektakel schimpfen sechs seemänner.
schnauze. schnipp schnapp steuerbord; sternenklar.

Unter dir (Teil 1)

Mit einem Schwung, den ich mir mühsam über die letzten Jahre antrainiert habe, rutsche ich unter das Bett. Ich schiebe meinen Hintern auf dem glänzenden Linoleum hin und her, bis ich das Gefühl habe, genau unter deinem Körper zu liegen. Ich schließe die Augen, achte auf das surrende Geräusch deiner Atemanlage und höre einen ungewohnten Ton heraus. Sofort versuche ich anhand deines Atems herauszufinden, was dir in den letzten 24 Stunden passiert sein könnte. Damit ich deine passende Frequenz schneller finde, halte ich meine Atmung an. Meist gelingt es mir so, schnell in deinen Rhythmus einzudringen. Nur manchmal bockst du. Aber gegen meine Yogaübungen, die ich nur für unseren gemeinsamen Rhythmus zu Hause übe, bist du völlig machtlos. Warum es mir diesmal nicht gelingt, kann ich nicht sagen, bringe es aber zum einen mit meiner Chefin in Zusammenhang. Zum anderen damit, dass wir beide heute unseren besonderen Tag haben und ich seit dem Morgen aufgeregt bin. Bei dem Gedanken an unsere besondere Nacht, schiebe ich meinen Körper unruhig auf dem gebohnerten Fußboden hin und her und stoße mich mit dem Knie an einer der Querstreben des Bettes. Ich fluche. Um mich von dem Schmerz abzulenken, klopfe ich mit den Fingern abwechselnd Morsezeichen an das blöde Metallgestell. Dabei fällt mir ein, dass du es warst, der mich damals auf die Idee mit dem Morsen gebracht hatte. Immer wenn ich dich fragte, mit wem du bei den Pfadfindern morst und ob auch Mädchen mitmachen, fühltest du dich genervt. Und das brachte mich auf die Idee, mich ebenfalls dort anzumelden, um dich bei deinem Schweinskram mit den anderen Mädels auf frischer Tat zu ertappen.
Ich werde müde und klopfe lauter und schneller an das Metallgestell. Manchmal fange ich unter dem Bett liegend, zu Schnarchen an. Vor deinem Unfall hattest du mir in unseren Nächten oft vorgeworfen, zu schnarchen. Alte Schnarchguste, hattest du zu mir gesagt. Du schnarchst wie meine Oma. Beleidigt gab ich dir jedes Mal einen Klaps auf deinen muskulösen Hintern und sagte, dass deine Oma tot ist und ich lebe. In manchen Nächten werde ich von der eintönigen Büroarbeit schlagartig müde und muss hier unten aufpassen, nicht doch einzuschlafen. Dann frage ich mich jedes Mal, wie das alles enden soll, wenn wir beiden irgendwann ein altes Ehepaar sind.
Ich gähne und baue dir meine heutigen Tageserlebnisse vorsichtig in den Rhythmus des Atems hinein, den ich vorgebe. Ich sage dir, dass ich glaube, dass meine Chefin ahnt, dass ich jede Nacht zu dir gehe. Glücklicherweise kann sie es aber nicht beweisen. Deswegen, glaube ich, gibt sie mir in der letzten Zeit zum Feierabend neue Aufgaben. Ich hoffe sehr, dass sie schwanger wird. Wenn es geht Zwillinge oder gleich Drillinge. Dann hat sie massig Scherereien und lässt mich in endlich Ruhe.

Das Schlüsselgeklapper beendet meine Unterhaltung an dich und schiebe mich näher an die Wand. Dabei stoße ich mich an der Schulter. Die Tür geht auf und eine Stimme erzählt überlaut, dass sie jetzt hier wäre und du dich jederzeit melden könntest, wenn du etwas benötigt. Sie sagt das Wort jederzeit in einem vertraulichen Ton, der mir einfach nicht gefällt. Trotzdem bin ich froh, dass die Schwester mit der überlauten Stimme und dem Schlüsselgeklapper heute Nachtdienst hat. Sie steht über das Bett gebeugt und scheint dich zu streicheln, zumindest kommt es mir hier unten an meiner linken Wange und auf der Stirn so vor. Es krabbelt. Mit einem lobenden Satz über den sauberen Nachttisch geht sie zur Tür zurück und dimmt das Licht. Lobende Worte spricht nur diese Schwester. Das gefällt mir an ihr. Auf einmal habe ich den Wunsch, sie näher kennen lernen zu wollen. Früher, als ich begann, mich unter das Bett zu dir zu legen, um nicht mehr in den Nächten allein zu Hause zu sein, hatte ich sie wie alle anderen Schwestern gründlich beobachtet und viele Notizen in meine Karteikarten eingetragen. Tagsüber war ich ihr müde hinterhergelaufen und wusste recht schnell wie sie heißt, wo sie wohnte, was sie alles einkaufte, mit wem sie rumlungerte und wohin sie in den Urlaub fuhr. Bei keiner anderen Schwester habe ich jemals soviel Mühe aufgewandt. Ich weiß auch, dass sie, wie ich, keine Geschwister hat und allein bei ihrer Mutter lebt und manchmal deren teures Auto fährt. Und ich weiß, dass sie immer noch keinen Freund hat. Eine Zeit lang hatte ich überlegt, ob ich ihr einen Freund suchen sollte. Ich hatte für sie Annoncen aufgegeben und ihr über Wochen hinweg die Briefe unter den Scheibenwischer geschoben, in der Manteltasche oder einem ihrer fremdsprachigen Reiseführer versteckt. Genützt hatte es aber nichts. Soweit ich weiß, hat sie nie einem der vielen Bewerber zurück geschrieben. Da hatte ich ihr dann die Liebesbriefe, die ich dir in der Schule geschrieben und in deiner Schultasche versteckt hatte, einfach abgeschrieben. Zum einen um sie endlich mit einem netten Mann zusammenzubringen, denn unbemannte Schwestern sind so ziemlich das Gefährlichste was es gibt. Und zum anderen, weil sie doch immer so lieb zu dir ist. Aber nachdem sie in der Kantine allen erzählt hatte, dass ihr eine unnachgiebige Lesbe Liebesbriefe schriebe, lies ich die Schreiberei bleiben. Ich vermute, meine Handschrift hatte mich damals verraten. Im Verstellen war ich leider noch nie gut. Von jeher mag ich keinen Fasching, kein Ostereiersuchen und auch kein `Ich-sehe-was, -was-du-nicht-siehst`.
Was macht sie da bloß? Sie hantiert immer noch am Bett. Das dauert heute länger als sonst. Ich sehe auf ihre Schuhe, sie hat immer noch ihre alten Birkenstockdinger an. Seit ich ihre Füße hier unten sehe, trägt sie diese alten ausgelatschten Dinger. Vielleicht sollte ich ihr zu Weihnachten ein paar neue Wichteln. Das gäbe eine schöne Verwirrung. So etwas kann ich gut. Verwirrungen stiften, ja das mag ich sehr. Welche Größe sie hat, habe ich in meinem Merkbuch eingetragen. Es ist ca. die 40. Beim Gedanken ans Wichteln, sehe ich, dass sie die Fußnägel knallrot lackiert hat. Ich schüttle den Kopf und bin mir sicher, dass ich ihr doch noch einen Mann besorgen muss. Dich bekommt sie jedenfalls nicht!
Endlich öffnet sie die Krankenzimmertür. Sie dreht sich nochmal um, hält dir die ausgestreckte Hand entgegen und macht einen ihren üblichen Luftküsse. Früher machten mich ihre Luftküsse rasend und ich wollte in die Verwaltung gehen und protestieren oder ihr zumindest in die Waden treten. Aber dann hatte ich mir gedacht, dass sie es sowieso abstreiten würde und ich es ja auch nicht beweisen könnte ohne mich dabei zu verraten. Schließlich hatte mich die Angst abgehalten, sie könnte dir etwas antun, oder zumindest nicht mehr so freundlich zu dir sein. Und das wollte ich dir auf keinen Fall zumuten. Manchmal empfand ich ihre Luftküsse auch als eine Art Liebenswürdigkeit und ich war mir nicht sicher, ob sie diese Luftknutscherei auch mit anderen Patienten machte, denn dann wäre sie ein Miststück, oder ob sie diese Liebelei nur mit dir machte, dann war es ihre Art von liebenswürdiger Aufmerksamkeit für dich. Durch meine jahrelange Beobachtung war ich eher der Meinung, dass es Aufmerksamkeit ist. Egal. Ich wusste vom allerersten Tag unserer Beziehung, dass ich höllisch auf dich aufpassen muss. In der Schule, wenn du halb angezogen vom Sport kamst, drängelten sich unsere Klassenkameradinnen um dich, trugen dir die Sporttasche und den Rest deiner Kleidung hinterher oder wollten mit dir ins Schwimmbad gehen. Am Schlimmsten war es, wenn du aus dem Musikunterricht kamst und verträumt vor dich hinschautest. Die Mädchen wollten dann von dir wissen, was du im Unterricht gespielt hattest, was für ein Instrument sich im Beutel befand und ob sie mit dir mal am Abend ein paar Stücke üben durften. Seit ich das mitbekam, wartete ich vor der Schule und begrüßte dich vor allen Mädchen der oberen Klassen, in dem ich dich umarmte. Anschließend ging ich mit dir Hand in Hand Eis essen oder nach Hause.

Mit einem Schwung kullere ich mich unter dem Bett hervor. Ich ziehe mich langsam am Gitter hoch und begrüße dich mit einem überlauten Kuss. Ich mag dieses schmatzende Geräusch, das die Stille in dem wenig beleuchteten Raum beendet und mich unmissverständlich bei euch drei Patienten ankündigt. Manchmal küsse ich dich so oft und so laut und verlängere dabei die Geräusche, bis ich keine Luft mehr bekomme oder Angst habe, du könntest davon aufwachen oder die Schwestern könnten ins Zimmer kommen.
Ich öffne den Nachttisch und krame den großen Silberkamm, den ich mir von dir von unserer ersten gemeinsam besuchten Haushaltauflösung erbettelt hatte und mit dem ich stundenlang alle Haare deines Körpers kämmen konnte, aus dem unteren Fach. Weil du es wahnsinnig geliebt hast, stelle ich mich vor dir auf und kämme mit dem Silberkamm in Zeitlupe durch meine Haare. Dabei drehe ich dir den Rücken zu, schaue über die Schulter und binde die durchgekämmten Haare zu einem Dutt zusammen. Ich strecke meinen Po zu einem Entenhintern heraus, wackle im Watschelschritt eine Runde um den Nachttisch herum und mache dabei das Geräusch einer Ente. Ich stelle mich wieder vor dir auf, schüttle den Kopf und wühle mit einer wischenden Handbewegung deine brave Frisur durcheinander. Ich mag sie nicht. Ich mag die langweiligen Frisuren, die sie dir hier kämmen, überhaupt nicht. Stundenlang habe ich den Schwestern erklärt, dass ich keinen Mittelscheitel, Seitenscheitel oder sonst so einen Opakram haben will; aber keine hat jemals auf mich gehört. Vor Wut frisiere ich dein schwarzes, lockiges Haar wild durcheinander, kämme dir sexy Haarsträhnen über die Augen bis zur Nase und kitzle dich mit deinen eigenen Haarspitzen. Irgendwie bekomme ich jetzt, wo du wieder die tolle, wilde Frisur aus unserer Campingzeit hast, den Wunsch, dir einen megafetten Knutschfleck zu verpassen. Ich beginne exakt an der Stelle unter deiner sichelförmigen Narbe meine Lippen aufzulegen und zu saugen, an der ich mich früher gern zu schaffen gemacht habe. Ich finde deine Haut riecht heute wieder nach Krankenhaus. Sicherlich hat dich am Morgen die ältere Schwester gewaschen. Sie nimmt ständig die Krankenhauskosmetik, obwohl ich es ihr hundertmal verboten habe. Ich rieche noch einmal über deine Krankenhaushaut und öffne mein kleines Fläschchen, das ich mir eigens für diese Momente zugelegt habe und am Hals in einer deiner vielen handgefertigten Lederhüllen unter dem T-Shirt trage. Vorsichtig schiebe ich die Bettdecke und dein Hemd um die Schläuche herum. Ich tropfe einzelne Tropfen aus dem Fläschchen zuerst auf deine Stirn, auf deine Augenlider, auf deine beiden Brustwarzen, in deinen Bauchnabel, auf die beiden Hoden, die Armbeugen, auf jeden Finger, auf deine Oberschenkel, die beiden Knie und zum Schluss auf jede deiner Zehen. Ich tropfe, bis das kleine Fläschchen völlig leer ist. Mit den Fingerspitzen verreibe ich die Flüssigkeit auf deinem immer noch schönen Körper. Ich schließe die Augen, lege mein Ohr auf deine linke Brustwarze und lausche dem Rhythmus deines Herzschlages. Zufrieden atme ich tief ein und rieche an deiner weißen und nun gut duftenden Haut. Da ich mich auch heute nicht benehmen kann, strecke ich die Zunge heraus, lecke an deiner Haut und habe Lust dir endlich den überfälligen Knutschfleck zu verpassen. Knutschflecke konnte ich schon immer schöne machen. Die wurden bei mir besonders bunt und blieben lange bestehen. Dafür war ich in der Schule berühmt. Ich glaube, mein erster Freund hatte sich deswegen geschämt und ist auch deswegen weggerannt. Ich hole noch einmal tief Luft und sauge an der Stelle, an der ich für gewöhnlich früher meine Knutschflecke hinknutschte. Ich weiß, dass du Küsse magst und dass du auch das Machen der Knutschflecke liebt. Und ich weiß, dass du früher dabei eine Erektion hattest und vorschnell kamst. Manchmal schob ich meine Hand vor dein Glied und wartete bis es bei dir losging und alles auf meiner Hand landete. Ich wusste vom ersten Tag an, dass wir uns lieben und für immer zusammengehören. Und vom allerersten Tag an, wusste ich auch, dass ich es niemals zulassen würde, dass uns irgendwer ungestraft auseinanderbringt.
Ende Teil I

Als ich blieb

Wir schreiben Listen mit Dingen, die wir besser machen wollen. Ab jetzt. Ab gestern. Ab als ich blieb.

Ich will ordentlicher werden und du weniger pingelig. Ich will ruhiger bleiben und du sachlicher. Du willst klare Ansagen und ich mehr Zärtlichkeit.

„Absurd ist das.“, sagst du und stützt den Kopf auf deine Faust. „Absolut.“, sage ich, nehme die Brille ab und reibe mir die Augen. „Hätte ich so eine Liste vor fünf Jahren geschrieben, es wäre die gleiche Liste gewesen.“ „Es sind immer wieder die gleichen Dinge, an denen wir zu scheitern drohen.“ Als ich ‚scheitern‘ sage, stocke ich und du unterbrichst mich. „Scheitern? Wobei?“. Ich klicke die Kulimiene rein, raus, rein raus.

„Es gibt solche Phasen“, sagst du, „die gibt es in jeder Beziehung.“ „Aber das hier ist unsere!“, sage ich. „Man muss sich an das erinnern, was gut war. Gut ist.“ „Was lief eigentlich schief?“ „Nicht viel.“

Du hast gelacht über die Schmiererei auf dem Plakat gegenüber der Haltestelle und ich konnte nicht mitlachen. „Ich kann das nicht lesen auf die Entfernung.“ „Deine Augen sind schlechter geworden.“ „Meine Augen werden andauernd schlechter.“ „Ich mache dir einen Termin beim Augenarzt.“ „Das mache ich selbst.“ „Aber wann?“ „Wenn ich soweit bin.“ „Wann?“, „Dann!“ Und so weiter, und so fort.

Du kennst mich. Du weißt, dass ich mich andauernd vor Arztterminen drücke. Du weißt, dass ich eine irrationale Angst davor habe, zu erblinden. Aber du kapierst einfach nicht, was Gängelei ist und wie sehr ich es hasse, gegängelt zu werden. Ich kenne dich. Ich weiß, dass du deinen Tonfall von der Armee mitgebracht hast und es nicht erträgst, wenn ich unentschlossen bin. Aber ich glaube dir nicht, dass immer alles nur zu meinem Besten sein soll. Wir kennen uns. Vielleicht zu gut. Oder zu lange. Manchmal sind wir keine Wunder mehr sondern Selbstverständlichkeiten. Alltäglichkeiten. Unannehmlichkeiten, sogar.

Du plapperst ständig und ich erzähle nichts. Du putzt zu viel und ich achte die Dinge zu wenig. Du flippst aus, wenn etwas nicht nach Plan läuft und ich habe keine Pläne. Oft haben wir gesagt, dass es nichts anderes als Liebe sein kann, das uns zusammenhält. Kann man Liebe aufbrauchen?

Man muss sich an das erinnern, was gut war. Gut war, als ich neulich mit dem Kopf auf deinem Schoß lag und du mir vorgelesen hast. Gut war, als wir uns eines Nachts auf den kühlen Balkon gelegt haben und Musik hörten, bis es wieder heiß wurde. Dann sind wir rein und haben geschlafen. Gut war, als wir uns letztens im Spreewald verliefen.

Jetzt sind wir ein trockener Wald, ausgezehrt vom erbarmungslosen Sommer und jeder Satz kann die herumliegende Scherbe sein und jede Laune das Licht, dass sich ungünstig darin bricht und andauernd drohen wir abzufackeln mit allem was wir hatten. Haben. Was weiß ich?

Ich hatte meine Tasche schon gepackt, gestern. Ich bin nur noch einmal in die Stube, um mich zu entschuldigen, dass ich nicht alles wegkriege. Da habe ich das zerknitterte Taschentuch in deiner Hand gesehen, und deine Haltung, gekrümmt wie ein Fragezeichen und wie dein Rücken gebebt hat. „Wir dürfen nicht streiten.“, hast du geschluchzt.

Doch, ich will streiten, manchmal. Ja, ich will, dass wir vom Hundertsten ins Tausendste kommen. Ich will die alten Kamellen durchkauen, den Schnee von gestern aufwärmen, all das wieder rauskotzen, was wir geschluckt haben, denn irgendwo da drin muss einer von uns eine Erklärung finden.

Aber wenn du weinst, vergesse ich, was ich wollte, dann will ich nur eines noch: dich trösten. Ich kann das. Außer gestern, da bist du mir um den Hals gefallen und hast mich angesteckt. Und dass ich weine, kannst du nicht aushalten. Gestern habe ich deinen Hals vollgeweint, deine Haare und dein T-Shirt und konnte mich überhaupt nicht beruhigen. Erst heute kommt es mir grotesk vor, dass du gefragt hast: „Was ist denn nur los?“

Du musst alles sofort reparieren, wenn ich weine, deswegen schwörst du mir, dass alles Mögliche nicht mehr passieren wird. Du wirst mir nichts mehr vorschreiben, mich nie wieder anschreien und nie wieder stundenlang schweigen, schon gar nicht wegen so einem Mist. „Ich glaube nicht an ‚immer‘ und ‚nie‘, deswegen hat es zehn Jahre gedauert, ehe ich dich geheiratet habe.“, „Aber du hast mich geheiratet.“, „Und ich wusste, warum.“, „Weißt du das noch?“, „Ja, ich weiß es.“, „Sicher?“, „Ich weiß es!“

Ich werde nächste Woche 34 und ich habe in meinem Leben bisher drei Menschen geliebt. Alle drei liebe ich noch immer. Meiner Erfahrung nach, höre ich nicht mehr auf, jemanden zu lieben, wenn ich einmal damit angefangen habe. Auch nicht, wenn die Beziehung in die Brüche geht, oder ich die Person völlig aus den Augen verliere. Ob ich dich noch liebe ist leicht zu beantworten. Aber ob ich gehen soll oder bleiben, das weiß ich nicht.

Gut sind deine Bouletten ohne Fleisch, deine Idee, gezuckerte Erdbeeren mit Schlagsahne aufzugießen und wie der grüne Tee schmeckt, wenn du ihn brühst. Gut ist dein kleiner, runder Bauch und wie du die Grammatik verdrehst in deinem Vogtländer Dialekt. Gut sind deine stachligen Wangen.

Entweder habe ich das in einem Beziehungsratgeber gelesen, oder es ist mir selbst eingefallen, jedenfalls glaube ich, dass Liebe die Summe unzähliger Entscheidungen ist. Deshalb sind die kleinen Dinge so wichtig. Jede Entscheidung füreinander ist ein Investment in die Zukunft. (Manchmal platzen Investmentblasen; ich arbeite in einer Bank, das tut mir nicht gut.) Doch, es war ein Beziehungsratgeber. Da stand auch, gleich im Klappentext, dass man das Buch nicht kaufen soll, wenn man nur noch aus Gewohnheit zusammen ist. Dann solle man sich lieber gleich trennen. Ich habe das Buch gekauft.

„Kann es vorkommen, dass sich Zwei lieben und es trotzdem nicht aushalten miteinander?“ Ich nehme mir fest vor, dich zu verlassen, wenn du jetzt sagst: „Wege kreuzen sich, Wege trennen sich, vielleicht ist unser gemeinsamer Weg hier zu Ende.“ Stattdessen fragst du: „Wie sollen es Zwei, die sich lieben nur ohne einander aushalten?“

„Vielleicht müssen wir das versuchen.“, sage ich. „Ich würde gern mal eine Weile ohne dich sein, ich war noch nie ohne dich.“ Vielleicht fliege ich an den Wochenenden nach Helsinki, Amsterdam und Rom, ich hätte ja keinen Hund mehr, auf den zu achten wäre. Vielleicht tanze ich endlich wieder nächtelang durch, da wäre dann ja keiner, der mich um halb neun weckt. Vielleicht gehe ich endlich für ein Jahr nach England, hier würde mich ja niemand vermissen. Bestimmt hätte ich Sex mit Fremden. Bestimmt fehlst du mir.

Gut ist dein schelmisches Lachen, deine kleine Zahnlücke, deine bunten Augen, und wie du damit funkeln kannst. Gut ist, wie du zum Radio singst und tanzt, wenn du dich unbeobachtet fühlst. Gut ist, dass du mich aushältst.

“Ein Glas wird nicht davon wieder heile, dass du ‚Entschuldigung‘ sagst, nachdem du es hingeworfen hast.“, flüsterst du und stierst zum Fenster hinaus. Ich sehe dich an.

Fotocollage

Ich sitze auf dem Fensterbrett. Der Wind ist kühl. Die ausgesäten Blumen sind aufgegangen. Ich träume und schieße Fotos. Ein Foto bleibt. Die Blumen leuchten auf der Fensterbank, ich blicke zur Straße, die Haare sind kurz. Im Kopf ein ständiges Klicken. Erinnerungen. Bilder. Eine Polaroid-Fotostrecke in meinem Kopf, ähnlich jener, die Großvater vergilbt und ausgeblichen auch noch vor acht Jahren präsentierte.

Der Tag an dem andere heiraten, wird auch mein besonderer sein. Ein halbes Jahr stumm in Kopfkissen geweint, bis keine Tränen mehr kamen. Heute die Einweisung. Ich komme mit Tasche und meiner Patientenverfügung. Der Arzt weist mich auf mögliche Behinderungen hin, die ich davontragen könne. Er nimmt es ernst. Ich auch. Welche Wahl bleibt? Die Vermessung beginnt. Wiegen. Bluten. Schwitzen. Das Mittagessen verpasst. Meine Bettnachbarin ist kahlrasiert, lächelt und lenkt mich ab, mit Geschichten, die mir Angst machen und für sie keine sind. Sieben Hirntumore operiert und morgen ein achter. Die Hoffnung sterbe zuletzt, sagt sie. Wie makaber. Die dicken Socken wärmen mich nicht. Ich flüchte mich auf den Gang. Überall Kahlrasierte. Sie klingeln, sie rufen, sie schleichen. Mitleid will wohl keiner von ihnen. Ich auch nicht. Ich bekomme Panik. Auch das Gespräch per Münztelefon lenkt mich nicht ab. Ich trinke drei Kaffee hintereinander aus dem Kaffeeautomaten für 80 Cent den Becher. Ich kugele mich ein, auf der Couch im Aufenthaltsraum. Da kommst du. Nimmst mich in den Arm und bist da. Also lachen wir gemeinsam über meinen Jogginghosen-Nachthemd-Mix und die bunten Ringelsocken, die aus den Sandalen quellen. Die Besuchszeit endet. Das Abendbrot fällt aus, um nüchtern zu bleiben. Ich schaue seit Jahren mal wieder GZSZ. Folgen kann ich nicht. Um neun knipse ich das Licht aus und kann doch nicht schlafen. Eine Schlaftablette möchte ich nicht, notiert die Nachtschwester.
Ich habe keinen Wecker, aber laut Bettnachbarin ist es kurz nach fünf Uhr, als uns die Schwestern wecken. Wir springen aus dem Bett, völlig schlaftrunken, stellen uns am Fenster auf und lassen uns die Kissen aufschütteln. Ich möchte noch mein Taschentuch unter dem Kissen hervorholen und zaubere so der Schwester ein Lächeln auf die Lippen.
Ich trage nur noch ein Hemdchen. Das Warten macht mich verrückt. Ich bekomme Beruhigungstabletten gegen meinen Willen eingeflößt. Zwei Männer holen mich. Sie grüßen nicht, sie rollen mich einfach mit dem Bett hinaus. Wir fahren Fahrstuhl. Sie erzählen über das Fußballspiel gestern Abend. Ich starre an die Neonleuchten der Fahrstuhldecke. Im Keller lassen sie mich zurück. Ein anderer Mann, ein jüngerer spricht zu mir. Ich kann ihn nicht gut erkennen. Keine Kontaktlinsen mehr. Keinen Schmuck, keine Unterhose. Nur noch mein bloßer Körper. Bekleidet mit diesem lächerlichen Hemdchen, knapp unter dem Schambereich endend und meinem Patientenbändchen ums Handgelenk. Der junge Mann sagt, er werde mich jetzt auf eine andere Liege legen. Ich will aufstehen. Er drückt mich zurück. Um mich herum sind überall Liegen. Solche wie meine mit Planen darüber. Vielleicht liegen auch Tote darunter, überlege ich. Die Anästhesistin legt Kanülen und fragt interessiert nach meinem Studienfach. Geantwortet habe ich ihr nicht mehr.
Ein monotones Piepen weckt mich. Ein Mann sitzt neben meinem Bett. Es ist alles gut gegangen. Wir haben den Tumor erfolgreich entfernt. Er drückt meine Hand, ich lächle und schlafe sofort wieder ein. Wieder weckt mich das Piepen. Mein Puls ist zu hoch, erklärt die Schwester. Ich bekomme eine Spritze gegen die Schmerzen in den Oberschenkel. Ich schreie laut, als sich der Wirkstoff verteilt. Von nun an verweigere ich weitere Schmerzmittel. Den Schieber will ich auch verweigern, muss ihn dann aber doch einmal notdürftig benutzen. Ich darf kurz telefonieren. Hallo. Ich bin´s. Mir geht’s gut. Ja, ich ruhe mich aus. Tschüss. Ich schlafe ein. Ich darf Wasser trinken. Ich schlafe. Wie spät ist es? Ich schlafe. Zwei Männer holen mich. Sie tragen mich auf die Liege. Sicher können sie alles von meinem Körper sehen, bis auf die Brust, die ist verdeckt vom Hemdchen. Es ist mir egal. Es mir sowas von scheißegal. Ich werde zur Kontrolle in die Röhre geschoben. Das Ergebnis ist gut. Ich werde verlegt auf die Normalstation. Das erste Essen drei Löffel Kartoffelbrei und ich habe nie etwas Köstlicheres gegessen seit dem. Ich darf endlich wieder Unterwäsche anziehen, Socken, ein T-Shirt. Ich darf auf die Toilette. Ich bemerke die pochenden Kopfschmerzen nicht, weil meine Freude überwiegt. Ich ertrage die neue nervige Bettnachbarin grinsend, indem ich sie mir als Kohlkopf vorstelle.
Ich werde entlassen. Du stehst in der Tür, wolltest mich besuchen und bestaunst meinen kahlen Hinterkopf. Nun trägst du meine Tasche und schiebst dein Fahrrad nebenher. Wir trinken einen Kaffee und fallen uns in die Arme.

Ein Foto. Der Auslöser für viele. Die Blumen leuchten auf der Fensterbank, ich blicke zur Straße, meine Haare sind wieder kurz. Das Kopftuch trage ich um den Hals.

Dann bin ich eben ein Nazi

Was ich dich zum Ende unseres Telefonates noch fragen möchte: wen wirst du wählen?

Ach, wieder dein altes Problem. Du überlegt Wochen im Voraus, fragst und bist dir in der Kabine immer noch nicht sicher. Da haben wir Anderen längst per Briefwahl unser Kreuz gemacht.

Naja, ich überlege, weil ich meine Stimme bestmöglich abgeben will.

Was heißt bestmöglich? Wir machen nur nicht so ein furchtbares Gejammer. Ändern können wir doch sowieso nicht viel. Finde dich damit ab.

Finde ich nicht. Ich genieße es förmlich in die Wahlkabine zu stolzieren. Und wenn ich rauskomme, stelle ich mich für ein paar Sekunden vor der Urne auf und werfe meinen Umschlag wie so ein mediengeiler Politiker in die Urne. Unter Honeckers Portrait konnte ich das nicht. Da bin ich gar nicht erst hingegangen.

Ja, und? Die da oben machen doch sowieso alle was sie wollen. Glaub mir, es gibt wichtigere Dinge im Leben als einen verkackten Wahlschein auszufüllen. Heute kann ich wählen gehen oder auch nicht, aber praktisch ist meine Stimme auch ohne Honeckers Portrait für die Katz.

Zumindest kann ich jetzt frei zwischen den aufgestellten Parteien wählen.

Du Träumer. Wer´s glaubt wird selig. Das macht doch keinen Unterschied. Die Sache mit den Ausländern, ich meine mit den Migranten, die getraut sich nur keiner richtig anzusprechen. Wegen dem Dreckshitler scheißen sich doch gleich alle ein. Sobald ein Politiker auch nur ein Wörtchen sagt, wird er von der Presse als Nazi beschimpft. Na und, dann bin ich eben in der Wahlkabine ein Nazi. Ich weiß, dass ich keiner bin. Mit den Morden von damals und so hab ich nichts am Hut. Das ist nun mal geschehen. Aus und vorbei und kommt nicht wieder. Basta.

Ihr macht euch viel zu viel Sorgen. Ein Großteil der Asylanträge werden nach wie vor in Deutschland abgelehnt. Ich verstehe die ganze Aufregung der Leute gar nicht. Der Libanon hat eine Million Flüchtlinge und ist damit wirklich überfordert. Aber wir doch nicht?

Wenn wir nicht aufpassen, wird das bei uns auch ein Problem. Die Parteien hängen doch alle zusammen. Im Endeffekt wollen die doch immer mehr von der Bagage, ich meine von den Migranten, bei uns reinlassen. In meiner Straße gibt´s mittlerweile acht Dönerbuden. Das sieht aus, alles voller Dreck, die Eimer quellen über, und den Gestank kann ich auch nicht mehr ertragen. Meine Lieblingskneipen haben dicht gemacht und ich höre nur noch deren komische Musik. Und wenn ich mal ´was Essen will, muss ich zum Dönerheini gehen. Sonst gibt’s doch nichts mehr in meiner Nähe.

Naja, ich fand es bis jetzt eine Bereicherung. Außerdem fand ich die Grünen bei Migrationsfragen gut. Früher zumindest.

Ich bitte dich! Findest du es gut, dass die Grünen den komplett zugeschleierten Weibern und ihren Machotypen, also deinen lieben, lieben Migranten, alles in den Hals schmeißen wollen? Doppelte Staatsbürgerschaft und so´n Quatsch? Ich habe auch keine doppelte Staatsbürgerschaft. Mir reicht eine. Und auf die bin ich stolz! Egal was die von mir denken! Deine vermummten Migranten können sich doch aussuchen wann, wo und wie sie unsere von der ganzen Welt geachtete Staatbürgerschaft haben wollen. Und wenn sie ihnen nicht mehr passt, wischen die sich den Arsch damit ab. Sind wir den ein Ramschladen geworden?

Für einige bedeutet die doppelte Staatsbürgerschaft aber auch, dass sie in ihrem Heimatland zur Armee gehen müssen. Aber ich gebe dir Recht, dass sie unsere Staatbürgerschaft achten müssen und dass das…

Im Moment findest du die Politik auch nicht mehr gut. Gibt´s doch endlich zu! Ich habe nichts gegen Ausländer, wirklich nicht, aber wenn sie ihre lärmende Bagage aufs Amt hinterherziehen, das geht gar nicht. Wenn ich aufs Amt muss, stellen die Bearbeiter immer neue Forderungen, um an mir Geld zu sparen. Stell dir vor, wenn ich danach ´nen Kaffee trinken gehe, höre ich kaum noch ein deutsches Wort. In der Straßenbahn das Geschrei, das Rumgetrampel der unerzogenen Kinder, einfach kein Benehmen. Und wenn ich was sage, werden die frech. Neuerdings beschimpfen die den Straßenbahnkontrolleur als Nazi. Von wem sie das wohl gelernt haben. Kein Deutsch reden, aber Nazi rufen. Das geht doch nicht. Soweit kommt´s noch, dass ich wegen der Bagage ausländisch lernen muss. Die sollen Deutsch lernen wie wir Anderen auch. Das hat überhaupt nichts mit dem Hitler zu tun. Wirklich nichts. Entschuldigung, aber es ist doch so. Oder?

Mir fallen Sprachen auch schwer. Und die deutsche Sprache soll ja besonders schwer sein…

Ach, denen wird es zu leicht gemacht. Unter dem Deckmantel, wir bräuchten mehr Arbeiter, werden die massenweise ins Land gelockt, vermehren sich zigmal schneller als wir, und wir Deutschen kommen kaum noch nach. Den wird das Kinderkriegen einfach zu leicht gemacht. Die setzen gedankenlos einen Balg nach dem anderen in die Welt und wir müssen sie ernähren. Nee, da muss ich eben ein bisschen dagegen wählen. Das ist mein gutes, demokratisches Recht!

Gegen die Aufnahme politisch Verfolgter bist du doch nicht wirklich. Oder? Das ist ja eine der Lehren aus der NS-Zeit. Naja, und dass die Verfolgten ihre Familien gern bei sich haben wollen, kann ich verstehen…

Keine Frage, ich bin jederzeit dafür, politisch Verfolgten aus den Muschkotenländern Unterschlupf bei uns zu gewähren. Das ist für mich wirklich keine Frage. Aber die sind nun mal Anhänger eines fremdländischen Volkes und wir sind nun mal die Abendländische Kultur. Und das passt überhaupt nicht zusammen. Haben sich die Politiker überlegt, dass wir bei dem Kinderwahn, den die Ausländer hier fabrizieren, irgendwann mal Ausländer im eigenen Land werden? Und das hat doch nun wirklich nichts mit dem Hitler zu tun. Mit dem hab ich nichts zu schaffen. Der ist mir völlig egal. Aber eine Völkerwanderung ´gen Deutschland bringt hier nur Unruhe rein, belastet unsere Sozialsysteme, überfüllt die Schulen und dann, dann haben wir nämlich wieder den Nährboden für den Dreckshitler und sind wieder die Bösen. Nee, auf nen neuen Hitler hab ich keinen Bock.

Statistisch gesehen bekommen die Migranten gar nicht mehr so viele Kinder, zumindest die Migranten der zweiten Generation, die…

Du redest genau so einen Unsinn wie die Anderen. Die wollen alle und jeden reinlassen. Eigentlich willst du dir doch nur nicht eingestehen, dass du mit der Politik auch nicht mehr einverstanden bist. Wir gönnen denen große Moscheen an unseren sauberen Hauptstraßen und wir dürfen in deren Ländern nicht einmal ein Kreuz am Hals tragen, ohne verhaftet zu werden. Findest du das richtig? Ich nicht. Nee, dann bin ich eben ein bissel anders. Das ist mein gutes Recht.

Ich bin mittlerweile auch der Meinung, dass wir mehr fordern und fördern müssen. Und dass mit den Kreuzen, find ich auch nicht gut. Da muss die Politik irgendwas ändern.

Ach, hör auf! Wenn du mit den Parteien zufrieden wärest, hättest du doch längst gewählt. Ich finde, dass du unehrlich bist. Wenn es jetzt schon soweit kommt, dass die Türken lieber in Deutschland im Knast rumsitzen, als in ihrem Land, muss man sich ernsthaft die Frage stellen, ob wir nicht langsam zu einem Drecksland werden. Denen wird doch ein Flachbildschirm nach dem anderen in die Zelle gestellt und zwischendurch huschen die mal kurz zur Antigewalttherapie. Wir bezahlen denen die sauberen Knastplätze, geben denen ordentlich zu Essen und wenn sie sich den Magen mit ihren Drogen verdorben haben, schicken wir sie auch noch zum Arzt. So gut sind bei denen nicht einmal ihre besten Hotels. Bestimmt hältst du das jetzt wieder für rassistisch. Und mit Hitler hat das auch überhaupt nichts zu tun. Glaub mir, der hätte ganz andere Seiten aufgezogen.

Über die Ausweisung Krimineller habe ich mir auch schon des Öfteren Gedanken gemacht. Das gebe ich zu. Ich finde aber Integration wäre das Schlüsselwort.

Hör auf! Deutsche, die sich nicht benehmen können, würde ich ebenfalls im hohen Bogen rausschmeißen. Aber die können wir doch nicht rausschmeißen, denn es sind ja unsere Deutschen. Aber Ausländer, die sich nicht benehmen, dürfen von meinen Steuern keinen Euro bekommen. Du hast Recht, die müssen sich integrieren lernen. Wir haben uns als Kinder auch Manieren angewöhnen müssen. Und wenn nicht, gab´s eine hinten drauf. Und das hat schließlich noch Niemandem auf der Welt geschadet. Zu DDR-Zeiten wusste jeder wo er hingehört. Und die Ausländer kannten auch ihren Platz. Warum soll das heute nicht mehr funktionieren? Ich frage dich, warum nicht?

Ich kannte zu DDR-Zeiten keinen einzigen Ausländer persönlich, zumindest hatte ich niemals einen angefasst. Komisch. Ich hätte gern mal so einen Schwarzen berührt, einfach nur so. Leider ergab sich nie die Gelegenheit dazu. Weder im Kindergarten, noch auf der Arbeit. Nirgends. Das fand ich später am Westen so toll, dass ich überall zu denen fahren durfte. Und als Deutscher war ich irgendwie beliebt, egal ob ich Ost oder West gesagt habe. Aber ich weiß immer noch nicht, wen ich nun wähle.

Das liegt daran weil wir denen so viel helfen. Das scheint ein urdeutsches Problem zu sein. Und da ist es das Mindeste, dass die etwas Freundlicher zu uns sind. Außerdem bleiben wir doch nur zwei Wochen.

Ich denke, für die Ausländer ist es auch nicht unbedingt einfach, sich in einem fremden Land zurechtfinden zu müssen und von heute auf Morgen ne neue Kultur zu erlernen. Naja, ich weiß immer noch nicht, wen ich dieses Mal wählen soll.

Das kann ich dir sagen. Suche dir die Partei, die die beste Integration verspricht. Wenn es nach mir geht, dürfte nur noch eine Ausländerfamilie, ich meine natürlich, eine deiner Migrantenfamilie pro Mietshaus leben. Dann ergibt sich der Rest von selbst. Der deutsche Einfluss wäre dann so dominant, dass sie in unserer Sprache mit uns reden müssten, ob sie nun wollen oder nicht. Das hat überhaupt nichts mit Hitler zu tun. Aber da macht keine von den großen Parteien mit. Ich sage ja, die Politik ist absoluter Mist. Und dann wundern die sich, wenn ich Mist wähle. Wenn´s nicht anders geht, bin ich eben ein Nazi.

Aber welche Partei will eine Zwangsassimilierung? Es geht doch anders viel besser. Es werden kostenfreie Kindergartenplätze speziell für Migranten mit Sprachproblemen angeboten. Zwangsassimilierung?

Aber, du musst doch zugeben, dass die sich dann schneller mit unserer wertvollen Kultur vollsaugen und das Rumgeschrei der Bälger und der Burkakram der Weiber endlich von unseren Straßen verschwinden würde. Vielleicht würden die dann auch mal Goethe und so lesen. Schaden kann denen das wirklich nicht.

Denkst du, so können wir die Probleme mit den Ausländern, ich rede ja schon wie du, ich meine natürlich mit unseren Migranten lösen? Witzig fände ich es schon, Goethe auf Arabisch zu hören. Klingt bestimmt schräg. Allein schon wegen der Intonierung.

Du merkst doch selbst, dass die Parteien keine wirklich klaren Ideen haben. Die sehen doch überhaupt nicht mehr durch. Uns entgleitet unsere Kultur Stück für Stück. Und dann haben wir wieder Anarchie im Land. Die sind doch nur neidisch, dass sie meine Stimme nicht bekommen. Das könnte denen so passen.

Das wollte ich dich schon immer fragen: warum wählst du, wenn du, wie du sagst, sowieso nichts ändern kannst?

Weil es mir ein schönes Gefühl schafft, meine Stimme nicht verfallen zu lassen. Und weil ich den Parteien endlich klarmachen will, das sie Mist machen. Ich denke, hier müsste nur für ein einziges Mal die richtige Partei ans Ruder und dann wäre der Spuk schnell wieder vorbei.

Ich weiß nicht. Ich bin mittlerweile auch der Meinung, dass die Parteien nicht immer ehrlich zu uns sind. Trotzdem glaube ich, ich werde wohl ein letztes Mal Grün wählen.

Du bist zu dir selbst unehrlich. Mit den so genannten Parteien bist du doch schon lange im Clinch und willst es dir nur nicht eingestehen. Es wird Zeit, dass auch du das erkennst. Sonst haben wir Chaos. Und dann geht es deinen Ausländern wirklich schlecht.

Ich kann doch nicht, nur weil ich mit den Parteien derzeit total unzufrieden bin, irgendeinen Quatsch wählen? Also, das kommt für mich nicht in Frage.

Du willst es dir nur nicht eingestehen. Du musst dir nur ein einziges Mal einen Ruck geben. Nur ein einziges Mal.

Wie wirst du wählen?

Ich habe schon gewählt. Die werden sich wundern. Na und, ich war halt in der Wahlkabine anders. Ich bin mit mir im Reinen. Bist du es auch?