Die Gastnehmerin, Teil IV

Sie legt ihren Wunschzettel neben den Teller, zupft am Ärmel ihres zu großen Kostüms und schließt die Knöpfe. Sie streckt die Finger durchs Haar, dreht an ihren Locken und beißt mit ihrem schlecht sitzenden Gebiss auf die Unterlippe, dass es aus der Kieferleiste kippt. Erschrocken schiebt sie das Gebiss zurück und greift an die Goldkette, die bis zur Brustmitte hängt. Sie umgreift den antiken Anhänger mit dem ovalen Granat, den sie aus einem unbekannten Grunde als einzig verbliebenes Schmuckstück noch nicht verkauft hat. Mit dem Schmuckstück ihrer Großmutter pendelt sie heftig hin- und her, sodass ich die Befürchtung bekomme, die feinen Kettenglieder könnten reißen und der Anhänger auf dem Fußboden landen. Dabei höre ich ein rhythmisches Tippen unter dem Tisch. Ich drehe mich zu ihr herüber, höre wie das Geräusch lauter und schneller wird und überlege, wo ich es gehört habe. Es war bei ihrem letzten Besuch. Aus einem mir unerklärlichen Grunde bin in der darauf folgenden Nacht aufgewacht und hatte erkannt, dass sie immer dann, wenn sie etwas als unangenehm empfindet, mit dem Fuß auf den Boden tippt, als wollte sie lieber weglaufen. Sie lässt den Anhänger los, hält die Hand vor den Mund und fragt in kaum hörbarer Stimme: “Kannst Du mir etwas Geld leihen?“ Die Gastnehmerin, Teil IV weiterlesen

klopfzeichen

da hockst du im gras, dem meterhohen
und schaust verstohlen hervor.
den mund ganz voll mit heidelbeeren,
die zähne blau, und auch der rock.
einen strauß frisch gepflücktes, in der hand,
margeriten vom feld,
für die mutter, da hockst du im gras, dem meterhohen
und wartest auf
klopfzeichen.
den mund ganz voll mit heidelbeeren,
gehst du zum grab, erzählst ihr von tintenklecksen
in deinem buch, tomaten, die reifen
und vom blau auf deinen zähnen, deinem rock und
dem himmel.
einen strauß frisch gepflücktes, legst du auf die noch
feuchte erde. margeriten. die magst du doch,
sagst du und wartest auf
klopfzeichen.

hierbleiben

an genau diesem tag
´sickert das glück mit dem abwaschwasser,
geht’s hinunter ins fallrohr und gluckert verloren
im hinterhof hören´s die kinder noch
bis zu den mülltonnen und zurück
sammeln sich teller und tränen,
applaus, applaus dem hohn
der gerechtigkeit sprichst du dich los
es gibt nichts zu sagen,
auch den göttern nicht mehr,
träumst du dich, lieber,
von chemo zu chance
an keinen anderen ort.

Wolken

Die Wolken ziehen heute schneller als üblich. Der Wind treibt sie voran und du wunderst dich, dass ich niemals schlafe. Doch im Kinderwagen lässt sich gemütlich die Welt betrachten. Und wenn sich in deiner Brille die Wolkentiere spiegeln, strahle ich wie das Honigkuchenpferd, das du mir auf dem Rummel gekauft hast. Großmutter greift sich an den Kopf und schimpft mit den Spatzen auf dem Rohr. Was du dir dabei wieder einmal gedacht hättest, ich hätte doch überhaupt noch keine Zähne in meinem Mund. Iwo, murmelst du, die kommen schon bald, und hängst mir den Lebkuchen ins Blickfeld.

Die Wolken ziehen heute schneller als üblich. Wir stapfen durch Morast und Gestrüpp. Du sagst, wir wandern heute den Berghain hinauf. Wir tappen im Dunkeln und ich suche Halt an deiner Hand. Doch du schüttelst mich ab, sagst mir, du musst lernen, dich allein zurechtzufinden, ich weise dir nur die Richtung. Kleinlaut befolge ich deinen Rat und vertreibe mir die Geister mit Kieselstein-Weitwurf. Du brummst zufrieden, als sich die Lichtung auftut. Wir liegen im Gras. Ich kitzele dich mit Halmen im Ohr. Du schnarchst und dein runder Bauch wirft der Sonne Schatten entgegen. Am Abend sagst du zu Großmutter, wir haben uns nicht verlaufen, wir sind nur vom Weg abgekommen.

Die Wolken ziehen heute schneller als üblich. Warum bauen wir eine Gartenpforte, frage ich dich. Die Blumen haben kalte Füße, antwortest du und schlägst die Nägel in das Holz. Aber ich hätte viel lieber eine eigene Schaukel, flüstere ich. Du hebst deinen Kopf und zupfst dir den Bart. Anständige Menschen bleiben lieber auf dem Boden der Tatsachen, zeterst du.

Die Wolken ziehen heute schneller als üblich. Großmutter sagt, ich sei ein Wildfang und meine Locken wären keine Laune der Natur, sondern ein Ausdruck meines Charakters, erzähle ich dir. Wenn sie das sagt, dann wird´s schon stimmen, meinst du zu mir. Und warum hast du dann so einen langen Bart, frage ich dich. Je länger der Bart, umso weiser ist ein Mensch, erklärst du. Ich staune und du lachst Tränen.

Die Wolken ziehen heute schneller als üblich. Gestern um neun, in deinem Ohrensessel hat es dir halbseitig die Sprache verschlagen. Du liegst im Bett und hältst die Augen geschlossen. Verstehst du mich?, frage ich dich. Du lächelst und nickst.

Die Gastnehmerin, Teil III

Sie knurrt. Ich drehe das Radio leise, den Wasserhahn ab und wiederhole in langsamen Worten meine Frage: „Schmeckt´s dir? Schmeckt´s? Oder bist du schon satt? Wenn Du satt bist, musst du´s mir nur sagen. Dann stelle ich den restlichen Käse auch gern wieder in den Kühlschrank! Der muss ja nicht unnütz auf dem Tisch stehen.“ Ich höre ein weiteres Mal ihr Knurren und ein „Nein, nein, es schmeckt! Stell´ den Käse bloß nicht wieder weg!“ Ich drehe den Kopf etwas zur Seite und sehe wie sie mit der einen Hand hastig zwei Scheiben in ihren Mund steckt, wobei die eine Scheibe für Sekunden wie eine weiße Zunge heraushängt und im Rhythmus ihrer Kaubewegung mitschwingt. Mit der anderen Hand schiebt sie schnell die verbliebenen Käseteile auf ihren Teller. Sie nimmt die mitgebrachte Tüte aus der Tasche und kippt den Käse hinein. Ich drehe den Kopf zurück zur Spüle, schließe die Augen und spüre das Gefühl, dass ich in solchen Momenten immer verspüre. Ich sage mir in Gedanken, dass ich diesem Gefühl des Mitleids ab heute nicht mehr nachgeben will. Außerdem sage ich mir, dass ich mir das seit Jahren jedes Mal vorgenommen habe. Zum Schluss sage ich mir, dass ich aus einem unerklärlichen Grund seit dem letzten Besuch weiß, dass ich von ihr nichts mehr erhoffen kann.
Ich öffne die Augen, schiele auf den Tisch und sehe wie sie das letzte Stück herunterschlingt. Ich bemerke, wie ich die Schnur der Mikrowelle umfasse und in die Steckdose schieben will. Ich schüttle den Kopf, schalte die Herdplatte an, lege meine flache Hand darauf, bis es warm wird und ich ein leichtes Brennen verspüre, starre in das immer deutlicher werdende Rot und spreche lautlos zu mir: „Ab heute, ab heute muss das anders werden! Du hast es dir versprochen!“ Ich lege die Schnur der Mikrowelle aus der einen Hand, nehme die andere Hand von der Platte, schalte den Herd aus und überlege, wann sie endlich mit dem eigentlichen Grund ihres Besuches herausrücken wird. Ich halte meine Hand unter das kalte Spülwasser und bin mir auf einmal sicher, dass ich ihr es ganz gewiss nicht leicht machen werde und sie ab heute mit mir einen wirklich echten Gegner haben wird. Als erstes kommt mir die Idee, ihr Gespräch, zu torpedieren. Da ich weiß, was sie in Wirklichkeit will, dürfte es mir nicht allzu schwer fallen, jedes Mal, wenn sie damit beginnen würde, sie mit einem anderen Thema zu überrumpeln. Ich gieße ihr Kaffee ein. Dieses Mal gieße ich ihn, wie den Tee in chinesischen Filmen, aus großer Höhe ein, damit er schnell kalt wird. Ich weiß, kalten Kaffee mag sie noch weniger als zu heißen. Sie sagt, dass es schön sei, dass es so schnell mit diesem Besuch geklappt habe und sie ein dringendes Anliegen auf dem Herzen habe. Ich frage sie, was eigentlich ihr Herz mache und wie der Befund des Langzeit-EKGs ausgefallen sei. Sie sagt, dass sie es noch nicht geschafft habe, aber gleich nächste Woche zum Arzt gehe. Sie sagt, dass es schön ist, dass es mit diesem Besuch so schnell geklappt habe und sie wieder einmal einen kleinen Wunsch hätte. Ich frage, ob sie denn die Weihnachtswünsche der Verwandtschaft für dieses Jahr schon wüsste und bin völlig erstaunt als sie ja, natürlich sagt und dass sie ja deswegen mich besuchen komme. Ich verdrehe die Augen und sage, dass ich mich über ihren Besuch sehr freue, mir aber dieses Jahr vorgenommen habe, keinerlei Wünsche zu erfüllen. Sie sagt, dass auch sie sich dieses Jahr vorgenommen habe keine allzu großen Wünsche zu erfüllen und es sich sowieso nur wieder um Kleinigkeiten handle. Sie greift in ihre Jackentasche und holt den Weihnachtswunschzettel, den sie auf die Rückseite eines langen Kassenbons geschrieben hat, heraus. Da ich weiß, dass sie mit ihrer Brille nicht allzu viel erkennen kann, gehe ich zum Fenster, sehe hinaus und drehe am Stellrad der Jalousie. Sie beugt sich über den Zettel mit der kindlich krakeligen Schrift und beginnt laut vorzulesen. Ich bin erstaunt, dass sie ihre Schrift immer noch erkennt. Ich schaue wieder scheinbar unbeteiligt durch die Fensterscheibe und drehe ein weiteres Mal am Stellrad der Jalousie. Sie hält den Zettel nah an ihre Brille und liest in ihrer unnachgiebigen Art, die ich bewundere und zugleich fürchte, ihren Wunschzettel vor. Ich sehe weiterhin aus dem Fenster und drehe ein weiteres Mal das Plasterädchen der Jalousie und bin erfreut, mit wie wenig Aufwand ich ihren Willen unterbrechen kann. Sie schiebt den Zettel vor die Brille, reibt ihre Augen und beginnt zu stottern. Ich flüstere in Gedanken, dass ihr das völlig zu Recht geschieht und es die Strafe dafür ist, das von mir erbetene Geld statt für die neue Brille für unsinnige Einkäufe auszugeben. Sie reibt sich erneut die Augen und beginnt zu zittern. Da mir dieser Anblick leidtut, drehe ich das Rädchen der Jalousie zurück. Sofort beginnt sie wieder, diesmal schneller, die Wünsche vom Zettel vorzulesen. Da mich das, aber auch mein gottverfluchtes Mitfühlen ärgert und ich mir nicht sicher bin, was mich mehr von beidem in hilflose Wut versetzt, drehe ich das Rädchen zurück. Sie reibt Kreise über die Karos ihres violetten Hosenkostüms. Ich drehe wieder an dem Rädchen. Sie beobachtet mich und ich überlege, was ihre Beobachtung bedeutet und ob sie gemerkt hat, dass ich das Rädchen gedreht habe. Das macht mich völlig unsicher. Ich schaue noch einmal aus dem Fenster, öffne es, winke und rufe auf die Straße herunter. Ich schließe das Fenster, reibe mit dem Ellenbogen über die Scheibe, gehe vom Fenster zur Spüle, die hinter ihr steht und überlege wie ich ihren Leseschwall unterbrechen kann. Ich hole mit dem schweineteuren Bergkäse, den ich extra für diese Situation beim Händler bestellt habe, meine allerletzte Waffe aus dem Kühlschrank, stelle ihn vor sie und bemerke erst jetzt, dass sie schweigt und ihre Brust sich schnell auf- und abbewegt. Ich glaube puterrot zu werden, drehe mich von ihr weg und sage trotzig, dass ich ihn extra nur für sie gekauft habe, vorhin glatt vergessen habe ihn auf den Tisch zu stellen und nun aber auch möchte, dass sie ihn unbedingt isst und ich ihn ansonsten nie mehr kaufen werde. Sie schaut auf ihren Wunschzettel, auf den Käse, auf den Wunschzettel und von dort langsam auf den Käse und danach mich fragend an. Ich nicke ihr zu und sage im überzeugt lässigen Tonfall, dass es da überhaupt nichts zu überlegen gibt. Sie schaut mich zögernd an und legt in Zeitlupe den Zettel neben den Teller. Ich hobele die Scheiben vom Käse herunter und garniere sie auf den Teller. Sie schaut mich an und beginnt die Scheiben in einem Tempo in den Mund zu schieben, dass ich mit dem Hobeln kaum nachkomme Sie greift zur Kanne und gießt sich mit Schwung Kaffee nach, dass der Kaffee über die Tasse, auf die Untertasse und von dort auf den Tisch schwappt. Sie trinkt ihn mit einem großen Schluck, dass er tröpfchenweise aus den losen Gebisshälften träufelt. Ich beobachte sie und möchte am liebsten zum Fenster stürzen und die Jalousie komplett zudrehen. Stattdessen drehe ich mich wieder zur Spüle, frage sie in einem eingeübt scheinheiligen Ton, was denn dieses Mal der Grund ihres Besuches ist und spüre plötzlich wie mir übel wird und ich mich über meine eben gestellte Frage zu ärgern beginne, da ich ihr nun eine wunderbare Steilvorlage biete, die sie garantiert nutzen wird. Mit vollem Mund, nimmt sie den Wunschzettel in die Hand und beginnt laut vorzulesen. Ich schüttle den Kopf, setze mich an den Küchentisch sehe die vielen Posten, die auf der Vorderseite des Kassenbons aufgetragen sind und spüre das jahrhundertealte Gefühl in mir hochsteigen aus der Wohnung zu laufen, getraue es mir aber nicht. Ich sehe auf die Herdplatte, schüttle den Kopf und bezweifle, ob ich jemals diesem Gast, der auch heute wieder mit einem Selbstverständnis an seinem sogenannten Stammsitz am Küchentisch Platz genommen hat, gewachsen bin. Ich stehe auf, gehe zum Küchenherd, schalte die Herdplatte an und drücke meine flache Hand darauf.

Die Gastnehmerin, Teil II

Im ersten Teil wartet der Erzähler auf seinen Gast und erzählt dabei (aufgeregt) wie aufgeregt er ist und er sich auch dieses Mal gegen dieses unangenehme Gefühl nicht wehren kann. Noch während des Wartens vollzieht sich für den Erzähler und den neugierigen Leser aus (noch) unerklärlichen Gründen eine Wandlung seines sonst üblichen Verhaltens. Diese Wandlung wird heute in Teil II fortgeführt und der Leser wird (un-gewollt) zum voyeuristischen Teilhaber des bizzaren Frühstücksgeschehens am Küchentisch.

Sie greift den Käse, schneidet wie erwartet dicke Scheiben herunter und stapelt ihn auf das Brötchen. Ich beobachte sie und bin verwundert, weil mich ihre Verfressenheit überhaupt nicht aufregt. Stattdessen sage ich, dass es mich sehr freut, dass sie heute ausnahmsweise viel Appetit mitgebracht hat und es ihr so wunderbar schmeckt. Ich nehme die Kaffeekanne, gieße ihr den tiefschwarzen Kaffee randvoll in die Tasse und sage: „Einen recht bekömmlichen und guten Hunger!“ Sie trinkt einen Schluck, antwortet, bei mir hast du das anders gelernt und beschwert sich, dass ich ihr zu viel Kaffee in die Tasse gegossen habe, sie ihn nun nicht mehr mit Milch verdünnen kann und der Kaffee außerdem viel zu stark sei. Sie erinnert mich daran, dass ich doch wüsste, dass sie starken Kaffee seit langem nicht mehr vertrüge und ob ich unbedingt wolle, dass sie wie ihr Großvater Magenkrebs bekomme. Ich entschuldige mich beiläufig und biete ihr mit einem Lächeln Milch an. Ich gehe zum Kühlschrank, öffne mit der einen Hand die Tür, ziehe mit der anderen Hand den Neztstecker der Mikrowellenschnur aus der Dose und stelle ihr die eiskalte Milch, die ich vor ihrem Besuch ins Kühlfach gelegt habe, auf den Tisch. Sie fragt mich, ob ich wenigstens Milch in der Mikrowelle warm machen könne. Ich verneine, drücke stattdessen theatralisch an der unbeleuchtete Tastatur und bedaure, dass die Mikrowelle aus einem mir wirklich unerklärlichem Grunde just gestern den Geist aufgegeben habe und sie die Milch heute leider mal kalt nehmen müsse. Sie sagt nein und trinkt den schwarzen Kaffee in kleinen Schlucken und flüstert, dass sie, wenn sie ihre Diagnose bekäme, wenigstens wisse wer an alledem schuld sei. Ich versichere, dass das nie und nimmer passiert und sie wenigstens Hundert werde. Mit einem Knurren beißt sie in die Brötchenhälfte und zieht wie ein wildes Tier daran. Sie lässt den Teil der Brötchenhälfte wieder aus dem Mund gleiten, dreht den Kopf zur Seite und versucht es noch einmal. Als auch das nicht gelingt, schiebt sie die Lippen vor und lutscht an der Kruste. Sie schiebt ihre Zähne hin- und her, beißt vorsichtig hinein und würgt das abgesägte Stück herunter. Sie flucht und legt die Hälfte des Mohnbrötchens zurück und isst stattdessen den Käse vom Teller. Damit sie nicht mit dem Essen aufhört, gehe ich zum Kühlschrank und nehme den Büffelmozzarella heraus. Ich öffne die Verpackung, rieche daran, lecke mit der Zunge um den Mund, stelle den Mozzarella direkt vor ihre Nase und sage ihr in die Länge gezogen, dass ich den Käse extra nur für sie gekauft habe. Ich hoffe ihr so ein schlechtes Gewissen zu machen und ihre Fresssucht wieder anzuheizen. Wenn ich Glück habe, isst sie wieder alles, was ich auf den Tisch gestellt habe und ihr wird schlecht. Heute scheint mir das nichts auszumachen. Sonst regt mich ihr zu erwartendes Verhalten Tage vorher maßlos auf und ich beschwere mich lautstark vor dem Spiegel stehend über ihre Verfressenheit und mache ihren immer gleichen jammernden Monolog nach, bei dem sie sagt, dass sie wieder viel zu viel gegessen habe und ihr nun schlecht würde. Jedes Mal nehme ich mir vor dem gottverdammten Spiegel stehend vor, ihr endlich zu sagen, dass sie über ausreichend Geld verfügt und ich nicht mehr ihr Goldesel sein möchte. Aber nachdem ich die Vermutung habe, dass sie es ist, die im Hof hinter die Container kotzt, stört mich ihre Fresserei nur noch halb. Am Anfang dachte ich, es seien Jugendliche oder eines von den Hippie-Pärchen aus dem Nachbarhaus, die nach ihren Saufgelagen gern mal in die Ecken kotzen oder pinkeln. Aber nachdem ich festgestellt habe, dass die Kotze immer dann hinter dem Container liegt, wenn sie da war und die Hippies zu der Zeit ihren Rausch ausschliefen, bekam ich diese Ahnung. Ich gebe zu, dass ich manchmal, wenn ich mich wieder über sie aufrege und wütend durch die Bude renne, das Kotzgeräusch nachmache und mich schlagartig dabei wohlfühle. Wenn ich Glück habe, kann ich es heute endlich live erleben. Ich summe ein Lied, schneide den Mozzarella in extra dicke Scheiben und lege ihn breitfächerig auf den Meißner Servierteller meiner verstorbenen Großmutter. Mit gespreizten Fingern nasche ich eine Scheibe vom Teller und summe trotz vollem Munde weiter. Jedes Mal wenn sie den Teller mit dem Streublumenmuster sieht, wird sie unruhig und äußert abwertende Bemerkungen, um auch das letzte bei mir verbliebene Stück meiner geliebten Großmutter, von mir geschenkt zu bekommen, um es anschließend zu verscherbeln. Über die Jahre habe ich es mir abgewöhnt, die Teile, die sie an den Antiquitätenhändler in meiner Straße verkaufte, zurückzukaufen. Anfangs hatte ich mich geärgert, dass sie die Stücke verkauft hat. Später war ich nur noch enttäuscht, dass sie sich nicht einmal die Mühe gab, die mir zuvor abgeschwatzten Teile, so zu verkaufen, dass ich es nicht bemerke. Und als sie mir eher zufällig ein Stück abschwatze, das ich ihr schon einmal geschenkt hatte, ließ ich es, weitere Teile vom Händler zurückzukaufen. Ich streichle über eine der abgebildeten Streublumen auf dem Teller, schmatze nachdenklich, sehe ihr in die Augen und sage, dass das ein wunderschönes Muster ist und ich gar nicht weiß, wer diesen prachtvollen Teller, wenn ich nicht mehr bin, bekommen soll und er sicherlich, wie mein anderer Kram in einer der vielen Haushaltauflösung oder gar im Sperrmüll landen wird. Ich staune, dass mir heute das bei Sammlern begehrte Motiv nicht abschwatzen will und stelle Pfeffer, Salz und Olivenöl wie eine Mauer um den Meißner Teller herum. Ich nehme das Kürbiskernöl, öffne es und sage ihr, dass das Öl vorzüglich zum Mozzarella passe. Ich garniere die Scheiben mit frischen Basilikumblättern und Cherrytomaten und bitte sie sich nicht zu zieren und doch endlich zuzugreifen. Ich gehe zur Spüle, wasche meine vom Käse verklebten Hände und sage ihr, dass der Büffelmozzarella erst neulich im Fernsehen von ihrem Lieblingskoch angepriesen wurde. Ich gehe zurück zum Tisch und erwische sie, wie sie mit ihren dicken Fingern an ihren beiden Gebissen rumruckelt. Erstmals erfreue ich mich bei dem Anblick, dass ihr die Beißer nicht mehr passen und sie seit Jahren deswegen Schmerzen hat. Hätte sie das viele Geld, das sie mir damals über Monate abgepresst hatte, auch wirklich für die Zahnarztrechnung verwendet, müsste sie jetzt nicht mit Schmerzen am Tisch sitzen und mit kaputten Zähnen und einem zu großen Gebiss essen. Ich drehe mich zurück zur Spüle und frage sie in einem Tonfall, bei dem ich mir sicher bin, dass sie in jedem Fall auf meine Frage antworten muss: „Schmeckt´s dir eigentlich? Du sagst gar nichts?“

Die Gastnehmerin, Teil I

Ich warte. Meine Mutter hat sich angemeldet. Sie hatte gestern am späten Abend angerufen und gefragt, ob sie mit mir heute Morgen etwas überaus Wichtiges besprechen dürfe. Es sei dringend, sehr dringend.
Ich kenne ihre Art. Ich kenne ihre unaufschiebbaren Wünsche und auch ihre Hartnäckigkeit. Sie gibt nicht nach. Sie gab noch nie nach. Sie versucht es anfangs freundlich, später indem sie mir ein schlechtes Gewissen macht und zum Schluss mit Vorwürfen. Das alles ist mir vertraut. Nun sitze ich da und warte auf das, was ihr Besuch von mir fordern wird. Ich schalte den Fernseher an und springe von Sender zu Sender. Nachdem ich alle dreiunddreißig Programme durchgeblättert habe, fange ich wieder von vorne an, bis es zwei Mal kurz hintereinander klingelt. Sie klingelt immer zwei Mal. Das ist ihr Zeichen. Das hat sie vor Jahren für uns festlegt. Deswegen ermahne ich die Postträger und die Bewohner des Hauses, falls sie Irgendetwas von mir wollen, bitte, bitte nur einmal zu klingeln. Da sie schon mehrfach erlebt haben, wie mies es mir geht, wenn sie zweimal klingeln, halten sich die meisten an meine ungewöhnliche Bitte, wie sie sie verwundert ein jedes Mal nennen, wenn wir darauf zu sprechen kommen. Wieder klingelt es zwei Mal. Und dann noch zweimal kurz hintereinander. Auch das kenne ich von ihr. Heute stürze ich nicht zur Tür, sondern lasse mir Zeit. Eigentlich wäre jetzt eine weitere Chance, mich endlich still zu verhalten und nicht zu öffnen. Eigentlich. Noch nie habe ich diese Chance genutzt. Komischerweise bereite ich mich aber jedes Mal auf diesen Moment vor. Ich schalte alle Lampen aus, drehe das Radio leise und wenn es draußen dunkel ist, schalte ich sogar den Fernseher ab, damit mich das Geflacker nicht verrät. Noch nie habe ich mich still verhalten. Doch, ein einziges Mal. Mir war das damals so unangenehm, dass ich mich bei ihr entschuldigte, ihr versicherte, sehr, sehr fest geschlafen zu haben und ihr zum Abschied Geld geschenkt hatte.
Ich schalte den Fernseher ab, stehe vom Sofa auf, setze einen Fuß vor den anderen und schleiche so zum Türsummer. Es klingelt zwei Mal kurz. Ich warte einen Moment, bis es wieder und wieder zwei Mal kurz hintereinander klingelt und versuche in gelangweilter Stimme zu fragen, wer da ist. Ich höre ihr: „Hier is´ Mutti! Lass mich rein!“ Über meine gelangweilte Stimme bin ich erschrocken. Schnell drücke ich den Summer und öffne die Wohnungstür. Ich gehe ins Schlafzimmer und hole ein Hemd aus dem Schrank, ziehe es aber nicht an. Stattdessen hänge ich es zurück, gehe ins Bad, nehme ein schmutziges Hemd aus der Wäsche und streife es über. Ich gehe zurück ins Wohnzimmer, werfe mich auf das Sofa, schalte den Fernseher wieder an und drücke wahllos durch die Sender. Das Klingeln hat meinen Puls hochgejagt. Ich reibe die Hände an den Hosenbeinen trocken. Ich fluche und drehe den Fernseher lauter.
Sie klopft an die Tür. Ich rufe vom Sofa aus herein und spüre jetzt das Pochen am Hals. Ich drehe die Lautstärke noch ein Stück auf, bevor ich den Fernseher ausschalte. Früher hätte sie sich zuallererst über die Lautstärke beschwert und verlangt den Ton leise zu stellen. Es wäre ihre erste Anweisung gewesen. Es war immer ihre erste Anweisung wenn sie in mein Zimmer eintrat. Sie hatte diese Begründung auch gern benutzt, um mein Zimmer zu betreten, selbst dann, wenn ich gar keine Musik gehört hatte. Ich wische meine kalten Hände nochmal an den Hosenbeinen trocken und schiebe mich vom Sofa auf.
Jetzt steht sie da, klopft leise an der Stubentür und tritt ein. Ich blicke flüchtig zu der kurzatmigen und unfrisierten Frau in ihrem zu großen violetten Hosenkostüm und nicke. Irgendwie freue ich mich über ihre Kurzatmigkeit. Ich hatte mir vor Jahren angewöhnt in obere Etagen zu ziehen. Irgendwie fühlte ich mich dort wohler. Mit jedem Umzug zog ich eine Etage höher, anfangs noch mit Fahrstuhl. Als ich bemerkte, dass ihr das Treppensteigen immer schwerer fiel, suchte ich speziell nach Wohnungen in Häusern ohne Fahrstuhl. Die Makler wollten mir mein Anliegen erst nicht glauben. Aber nachdem ich ihnen Fitnessgründe dargelegt hatte, suchten sie für mich und erklärten mir, dass das Gesetz jedoch Wohnungen nur bis zur Sechsten ohne Fahrstuhl zulässt. Sicherlich fällt mir das tägliche Treppensteigen schwer und ich verfluche sie manchmal auf einem der Treppenabsätze. Wegen den einhundertneun Stufen trinke ich nur noch Leitungswasser und esse eingeschweißtes Fertigzeug. Und seit ich hier oben in die Mansardenwohnung mit der steilen Wendeltreppe gezogen bin, habe ich sogar mein Bier weggelassen und trage meinen Wocheneinkauf in einem speziellen, rückenschonenden Bergsteigerrucksack.
Sie geht in die Küche, setzt sich auf den Stuhl und ringt um Luft. Ich stelle mich an die Spüle, putze am Wasserhahn und beobachte sie aus den Augenwinkeln. Ich freue mich wie sich ihre flache Brust schnell auf- und abbewegt. Wenn sie wieder Luft bekommt, wird sie mich fragen, ob´s denn hier nichts zu essen gibt. Da mir die Frage wieder unangenehm sein wird, hole ich ein hart gekochtes Ei, Margarine und den vorbereiteten Teller Käse aus dem Kühlschrank. Warum ich mich dieses Mal für hart gekochte Eier und Margarine im Kühlschrank entschieden habe, obwohl weder ich noch sie das Zeug essen, sage ich ihr vorerst noch nicht, stelle es ihr aber demonstrativ auf den Tisch. Ich gehe zur Kaffeemaschine und fülle mehr als die doppelte Menge Kaffeepulver, die ich benötige, in den Filter. Ich öffne den Schrank und hole das Gedeck mit der angeschlagenen Tasse heraus, das ich dachte längst weggeworfen zu haben und stelle auch dieses vor sie. Eigentlich müsste jetzt etwas passieren. Eigentlich. Da nichts passieren will, drehe ich ihr den Rücken zu und suche Brötchen im Fach. Das abgepackte Brot schiebe ich dabei unter die Servietten und das Backpapier, dass sie, wenn sie danach suchen würde, in keinem Fall fände. Ich weiß genau, dass sie keine Mohnbrötchen isst. Trotzdem staple ich sie neben die Margarine und erkläre, dass ich leider vergessen habe ihr Brot mitzubringen und ihr nur frische Mohnbrötchen anbieten kann. Sie sagt in ihrem vorwurfsvollen Tonfall, dass sie überhaupt nicht verstehen kann wie ich ihr Brot vergessen könne und wo ich meine Gedanken wieder hätte und ob ich überhaupt auch wenigstens einmal an sie denke. Sie verzieht die Mundwinkel, greift nach einem der frischen Brötchen, betastet es und legt es wieder hin. Damit sie sich es nicht anders überlegt, schneide ich das von ihr betastete Brötchen auf. Mit einem Lächeln, über das ich völlig erstaunt bin, lege ich die Hälften auf den Teller und gebe ihr ein abgenutztes Messer aus dem Schrank. Sie greift zur Margarine, fragt warum ich keine Butter hätte und ob ich sie jemals Margarine essen sah und beschmiert widerwillig die Brötchenhälften. Ich reiche ihr den vollgepackten Teller mit den verschiedenen Käsesorten und bin gespannt auf das, was jetzt passieren würde.

Alle Tage

Als ich mich nach der Zitronenlimonade bücke, spüre ich eine Hand auf der Schulter. Die Berührung ist sanft und mehr durch ihre Wärme als durch ihren Druck zu spüren. Ich drehe meinen Kopf und sehe fein manikürte, klar lackierte Nägel in deren Mitte jeweils ein winziges Steinchen funkelt. Ich sehe einen schmalen goldenen Ring am zierlichen Mittelfinger und einen breiteren silbernen mit schwarzen Ornamenten am Daumen. Die Hand gleitet von meiner Schulter als ich mich aufrichte und verschränkt sich Finger für Finger in der anderen. Ich blicke ins Gesicht einer schmal lächelnden Frau. Der Farbe ihres Pullovers nach zu urteilen, arbeitet sie hier. „Entschuldigen Sie, wir würden den Markt dann gern schließen.“ Ich sehe durch die Eingangstür nach draußen, wo es noch hell ist. „Sie haben ja sicher bemerkt, dass es ein Unglück gegeben hat.“ Die Finger der einen Hand spielen mit den Ringen an der anderen. „Wenn Sie sich dann also bitte zur Kasse bewegen würden, das wäre nett.“ Sie nickt zweimal – langsam, schwach – dreht sich um und geht auf eine kleine, ältere Dame zu, die die Preise zweier Konserven vergleicht. Ich sehe, wie die Angestellte neuerlich die Hände vor dem Bauch verschränkt.

„Tammi?“, rufe ich. Ein Mann mit zwei Flaschen Bier in der einen und einer Tüte Erdnussflips in der anderen Hand dreht sich nach mir um. „Wo bist du?“ Tamara kichert hinter mir und wirft zwei Tüten Mikrowellenpopcorn in den Wagen. Der Mann zieht die Augenbrauen hoch und deutet mit dem Kopf in Richtung Ausgang. „Was wollte die Frau von dir? Kennst du die?“

Mit dem Einkaufswagen hatten wir die schmale Gasse zwischen zwei Krankenwagen passieren müssen, die vor dem Eingang des Supermarktes geparkt waren. „Ist das jetzt ein Krankenhaus?“, hatte meine Nichte gefragt und ich hatte „Nein, nein.“ geantwortet. Bestimmt sei nur jemandem schlecht geworden, so wie es Oma manchmal schlecht werde. Oder schwindlig. Vielleicht sei auch jemandem eine Palette saure Gurken auf den Fuß gefallen, versuchte ich zu scherzen. „Oder eine Mama kriegt ein Baby. Da kommt auch der Krankenwagen.“, hatte Tamara gemutmaßt. „Das kann auch sein.“ „Ein Supermarkt“, überlegte sie, „ist aber ein komischer Ort zum Babys kriegen.“

Ich nehme meine Nichte an die Hand und schiebe den Wagen zur Kasse. Tamara starrt auf die Verbindung unserer beiden Hände als handele es sich dabei um ein wissenschaftlich zu untersuchendes Phänomen. Die Gänge sind schmal, besonders im Kassenbereich, wo sich die Osterhasen und Krokanteier türmen. „Hilfst du mir, die Sachen aufs Band zu legen?“ Während Tamara die Teigmischung, die passierten Tomaten und den Spinat aus dem Wagen angelt, recke ich den Kopf.

Als wir den Markt betreten hatten, sah ich schon von weitem die beiden Sanitäter in neongelben Jacken. Sie knieten über einer Person, die zwischen dem Eierregal und den Stiegen für roten, gelben und grünen Paprika am Boden gelegen hatte. Am Kühlregal weiter hinten war ein Mann mit runder Brille in das Studium der Zutatenliste eines Joghurts vertieft. Eine Münze, die einer Frau an der Kasse aus der Hand gefallen war, rollte einige Meter durch den Markt.

„Bisschen Kupfer haben Sie wohl nicht für mich?“, scherzt die rothaarige Kassiererin. „Ich bin ganz verrückt auf Kupfer heute.“ „Wer den Pfennig nicht ehrt, ist die Mark nicht wert.“, murmelt die dünne Kundin vor mir, während sie mit spitzen Fingern die Münzen aus ihrem Portmonee fischt. „Cent!“, sagt die Kassiererin. „Cent.“, stimmt die Kundin zu. „Tschüss, machen Sie’s gut!“

„Zuerst brauchen wir Tomaten.“, hatte ich vorgeschlagen, damit meine Nichte nicht in den Gang mit dem Eierregal abbog. „Bio oder billig?“, hatte das Kind gefragt, aber ich war abgelenkt gewesen, weil ich mir nicht sicher war, ob der Sanitäter kaum sichtbar mit dem Kopf geschüttelt hatte, als ich an ihm vorbeilief.

„Und jetzt?“, hatte Tamara gefragt, als die Tomaten schon im Wagen lagen. „Kannst du Pizzakäse holen gehen? Aus dem Kühlregal, dort um die Ecke?“ Sie hatte sich mit grazil ausgebreiteten Armen zweimal um die eigene Achse gedreht und mich angelacht. „Das habe ich beim Ballett gelernt!“ „Toll!“, hatte ich sie gelobt. „Zeigst du mir nachher noch mehr? Und holst du jetzt bitte den Käse?“ „Na gut.“, hatte Tamara geantwortet und war Richtung Kühlregal geschlurft.

Von der anderen Seite hatte ich in die Paprikastiege gegriffen und mir zwei große, tiefrote Früchte herausgesucht. Mein Blick war auf den beige gefliesten Boden des Supermarktes gefallen; dann auf einen Schuh, einen schlichten Herrenschuh, schwarzes Leder; dann einen Strumpf, eine einfache Herrensocke, dunkelgrau; dann auf ein Schienbein, breit, blass, schwach behaart und kurz unter dem Knie schließlich auf den Saum einer Jeans, dunkelblau mit gelben Nähten. Dann erst war es mir gelungen, meinen Blick loszureißen.

„Guck mal! Kuhfleckenpudding!“, hatte Tamara gerufen. „Schoko und Vanille! In einem Becher! Darf ich? Bitte!“ Ich hatte genickt und gewartet, bis sie mit ihren Füßen auf den Getränkekistenboden des Einkaufswagens gestiegen war, bevor ich die Gemüseabteilung verließ. „Jetzt Spinat, oder?“ rief das Mädchen, bereits auf halbem Weg zu den Kühltruhen. „Wenn du das magst.“, gab ich zur Antwort „Aber nur den aus Blättern, Onkel Korbi. Nicht den aus Brei. Mutti mag den auch nicht. Entengrütze!“

Aus dem Augenwinkel hatte ich gesehen, dass die Sanitäter oberhalb der Knie eine Decke über den Mann gelegt hatten. Eine braune Wolldecke, die mich an die Kuscheldecke mit Pferdemotiv erinnerte, die mir meine Schwester in unserer Kindheit immer vorenthalten hatte. Ich hatte mich kurz gefragt, wie sie zu dieser Decke gekommen waren, denn zur Ausstattung des Krankenwagens gehörte sie sicher nicht. Den Reißverschluss meiner Jacke zog ich daraufhin bis ganz nach oben; tatsächlich war es etwas kühl.

Erst jetzt, von der Kasse aus, sehe ich, dass die Decke auch den Kopf des am Boden liegenden Mannes umhüllt. Ich fasse Tamara an der Schulter, um zu verhindern, dass sie nach ihrer nächsten Pirouette mit dem Blick in Richtung Eierregal zum Stehen kommt. Eine Sanitäterin passiert den Kassenbereich schnellen Schrittes. An ihrer Hand baumelt eine durchsichtige Mülltüte. Darin aufgerissene Verpackungen von Kompressen, ein dicker Kunststoffbeutel wie von einer leeren Infusion, ein Stückchen Schlauch, kleine Plastikteile, mintgrün. Tamara steckt den Nagel ihres Daumens in die kleine Lücke zwischen ihren vorderen Schneidezähnen als sie ihr nachsieht. „Haben wir denn alles?“, frage ich sie schnell.

„Der Käse!“, ruft Tamara. „Wir haben den Käse vergessen!“ „Aber du wolltest doch welchen holen?“, sage ich. „Ja, aber da habe ich doch den Kuhfleckenpudding entdeckt. Ich hole ihn schnell, ja?“ „Nein, Tammi. Bleib bitte hier, jetzt.“ „Aber wir brauchen den Käse!“ „Nicht unbedingt.“ „Was soll das denn für eine Pizza werden! Ohne Käse!“ „Vielleicht habt ihr noch Käse zuhause.“ „Haben wir nicht!“ „Dann fragen wir Onkel Wolfgang, ob er Käse übrig hat.“ „Und wenn nicht? Ich kann noch Käse holen. Ganz schnell! Ich muss dafür doch gar nicht –“ „Nein, Tamara. Das geht jetzt nicht.“ „Aber wieso?“ „Das erkläre ich dir gleich.“ Ich beiße mir auf die Unterlippe und streiche dem Mädchen über den Kopf.

Zwei Polizisten betreten den Markt. Einer zückt einen Fotoapparat, der andere kramt einen Notizblock und einen Kugelschreiber aus seiner Jacke hervor. Zwei Sanitäter nehmen die Decke von dem Mann und spannen Sie als Sichtschutz auf. Dahinter blitzt es. Meine Hand wandert wieder auf Tamaras Schulter. „Junger Mann?“ Ich drehe meinen Kopf. „13,89, bitte.“ „Du hast geträumt, Onkel Korbi!“, lacht Tamara. „Sie brauchen Kleingeld, oder? Kupfer, richtig?“, frage ich und klaube 89 Cent aus meinem Kleingeldfach zusammen. „Ein Träumchen!“ „Sagen Sie, am Backstand kann man aber noch einkaufen, oder?“ „Du willst wohl noch Kuchen essen mit deinem Onkel?“, fragt die Kassiererin Tamara. Die kichert und nickt.

„Warum machst du das?“, fragt das Mädchen, als ich sie neuerlich an die Hand nehme. „Das machst du nie!“ „Was für Kuchen willst du denn, Tammy?“ Das Mädchen reißt sich los und rennt zur Kuchentheke. Vor uns steht ein dicker Mann in schwarzer Lederjacke und schüttelt entnervt mit dem Kopf. „Umgefallen, umgefallen. Das ist doch Mist!“, zetert er. „Wie lange soll ich denn jetzt hier rumgammeln?“ „Das kann ich Ihnen nicht sagen.“, gibt die Verkäuferin mit rauer Stimme zur Antwort. „So etwas passiert ja nicht alle Tage.“ „Aber der Mann wird doch versorgt.“, mische ich mich ein. „So lange wird es schon nicht dauern.“ Da sieht mich die Verkäuferin an und zieht den Hals ein. Für einen Augenblick tritt ihre Zunge zwischen den Lippen hervor um sie zu befeuchten. „Der Mann wird nicht mehr versorgt.“, sagt sie schließlich. „Der Mann ist tot.“

Unwillkürlich greife ich wieder nach der Hand meiner Nichte und antworte: „Wir nehmen zwei Plunderteilchen mit Obst. Und ein Mürbchen. Und den Windbeutel hier vorn.“ „Kann alles auf eine Pappe?“ „Natürlich.“

Tamara angelt das Kuchenpaket von der Theke und riecht am gelb bedruckten Papier. Ich greife die Plastiktüte. Auf dem Weg nach draußen sehe ich einen Leichenwagen auf den Parkplatz einbiegen. „Onkel Korbi?“, fragt das Mädchen und weil ich mein Portmonee im Mund habe um mit der freien Hand nach meinem Autoschlüssel zu suchen, kann ich nur „Hmm.“ antworten. „Zum Sterben ist ein Supermarkt aber auch ein komischer Ort, oder?“ Ich schlucke. „Hmm, hmm.“, mache ich dann und lasse das Portmonee noch ein paar Sekunden zwischen meinen Zähnen. Erst als endlich das Autoradio angesprungen ist, lege ich es ins Handschuhfach.

Die gebildete Kranke

Die gebildete Kranke ist auf alle Krankheiten aus, die es auf der Welt gab, gibt und geben wird. Sie sucht und findet sie in Taschentüchern, Mülleimern, öffentlichen Toiletten, Wartezimmern und an der Unterseite von Türklinken. Sie horcht in sich, betastet sich, beschaut sich täglich und notiert dabei kleinste Veränderungen ihres Körpers und Geistes; schon lange bevor diese als Symptome in wissenschaftlichen Publikationen veröffentlicht werden. Sie sammelt an Krankheiten, was sie ereilt, als wären es Meißner Porzellanfiguren. Sie achtet auf sich, hat sie selbst gesagt und so trafen sie, um nur wenige ihrer Erkrankungen aufzuzählen bereits die Masern, Pocken, Parkinson, die Cholera, Malaria und Ebola. Die Frauen hat sie in Verdacht, sie würden heimlich lästern und mit dem Finger auf sie zeigen. Die gebildete Kranke trägt schwer an ihrem Wissen über sich, es wird ja nie besser. Über ihre Heilung verliert sie kein Wort, was könnte sie auch sagen, sie schweigt und untersucht sich fort und fort.

Die Traumfängerin

Die Traumfängerin erscheint hier und da. Oft kommt sie nicht, aber man kennt sie seit Jahren. Sie ist viel auf Reisen. Doch sie ist immer wieder auf dieselbe Weise da. Die Traumfängerin verkehrt nicht mit Nachbarn. Sie bekommt keine Post und redet nicht viel. Die Traumfängerin weiß seit ihrer Geburt, dass niemand besser ist als sie. Die Männer kennen ihre Gabe nicht, die Frauen ahnen sie nur. Die Traumfängerin ist auf alles Schöne aus, was es gibt in der Welt der Träume. Denn sie selbst ist traumlos. Um die elfte Stunde wirft sie sich ihren Mantel über die Schulter und verschwindet im Nebel. Sie trägt ein Netz aus feinmaschigem, weichem Tüll bei sich, angebracht an einem Stock. Geduldig wartet sie ab und hascht zu, wenn ihr etwas, das schon lange als schön gilt und noch nicht in ihrem Besitz ist, in einem Traum zu finden ist. Die Traumfängerin hat keine Schwierigkeiten die Schönheiten aufzufinden, sie erkennt sie sofort. Und so erhascht sie sich einen Sieben-Punkt-Marienkäfer, feinste englische Rosen, Pfefferminz-Schokoladenpralinés, ein Schaumbad so hoch wie die Pyramiden von Gizeh, Schneewittchens Haar, einen Sommermorgen auf einer Lichtung im Wald und einen Ritt durchs Lavendelfeld. So leise sie kommt, so leise verschwindet sie auch wieder. Man sieht sie nie unterwegs. Nur die Kinder wissen um sie. Sie tun es ihr nach und haschen nach Schmetterlingen.

Fehlersuche

„Ey, Jungs!“ Wir sehen uns an und sind uns einig, dass wir nicht gemeint sein können. Wir sind lange keine Jungs mehr und kennen niemanden, der uns so laut auf der Straße hinterherrufen würde. „Hey, ihr da!“ Wir bleiben stehen und drehen uns um. Aus einem Fenster im zweiten Stock des blassgelb getünchten Wohnblocks winkt uns eine blondgelockte, schmuckbehangene Frau, Mitte 50. „Könnt ihr mir mal meinen Fernseher einschalten?“ Ich rufe: „Wir müssen weiter.“ Du rufst: „Ist das so schwer?“ „Eigentlich ist es ganz leicht, nur heute geht’s nicht!“, ruft die Frau. „Wir sind keine Elektriker.“, stelle ich klar. „Ihr müsst bei Balzereit klingeln. In der 52. Ich lasse euch rein.“

„Ist das eine Falle?“, flüstere ich im Hausflur. „Du meinst, sie schlägt uns mit bloßen Fäusten K.O., raubt uns aus und kullert uns dann die Treppe runter?“, fragst du. „Blödsinn.“, zische ich. „Siehste.“, kicherst du.

„Na, wer bist du denn?“, ruft die adrett gekleidete Dame, die Ihre Armreifen klappern, als sie den Kragen unserer Hündin grault. „Das ist echt in Ordnung von euch!“, sagt sie, als sie sich wieder aufrichtet und unsere Hündin durch ihre Beine hindurch in der Wohnung verschwindet. „Vor zehn Minuten ist meine Serie losgegangen! Ich verpasse alles! Zum verrücktwerden!“ Aus der Wohnung schlägt uns ein Geruch entgegen, den ich kenne, aber nicht einzuordnen weiß. „Kommt rein!“ „Es ist leichtsinnig von Ihnen, fremde Männer in ihre Wohnung zu lassen.“, sage ich, bevor ich einen Fuß über die Schwelle setze. „Ihr seid doch keine Ganoven, oder? Außerdem habe ich Pfefferspray. Bitte zieht die Schuhe aus.“

Mein Blick fällt auf einen Strauß Trockenblumen auf einem gehäkelten Deckchen. Dein Blick fällt auf einen Glaswürfel auf dem gepolsterten Telefonbänkchen, in welchen die Portraits zweier Kinder gelasert sind. Unsere Hündin steht schwanzwedelnd auf der Türschwelle zum Schlafzimmer. Darin ein hohes blassrosa bezogenes Ehebett, auf dessen rechter Seite sich Decken und Kissen für jede Jahreszeit stapeln.

„Hier entlang, hier lang!“, ruft die Frau und weist uns den Weg ins Wohnzimmer. Wir müssen ein bisschen rangieren, damit wir alle vier Platz darin finden. Die Frau stellt sich vor ihre rotbraune Schrankwand, faltet die Hände vor dem Bauch und richtet ihren Blick erwartungsvoll auf den dunklen Bildschirm. „Der Leonhard wacht doch heute aus dem Koma auf! Und hier ist alles schwarz!“ Ich versuche mich zu erinnern, woher ich diesen Geruch kenne, hier ist er stärker, nicht penetrant, aber unüberriechbar.

„Wie machen Sie ihren Fernseher normalerweise an?“, fragst du. Angesichts der vier abgegriffenen Fernbedienungen auf dem beige gefliesten Couchtisch, halte ich das für eine gute Idee. „Na so!“, ruft die Frau, tritt einen Schritt zurück, schnappt sich eine der Fernbedienungen, richtet sie wie eine Waffe auf den Fernseher und feuert. „Da! Nichts! Schwarz!“ „Hm.“ Du bist ratlos. Ich knie mich vor den Fernseher, um das Fabrikat zu entziffern. Ich vergleiche es mit denen der Fernbedienungen auf dem Tisch. „Wollen Sie jetzt dafür beten, dass es wieder funktioniert?“, lacht die Frau. „Ich versuche es zuerst mit Logik.“, murmele ich. „Oh, ein Studierter!“, lacht die Frau lauter.

Eine Fernbedienung gehört zum Radio, eine zum Receiver der Kabelgesellschaft, eine scheint für Steckdosen zu sein und die vierte kann ich nicht zuordnen. „Wo ist denn die Fernbedienung, die zum Fernseher mitgeliefert wurde?“
„Der wurde nicht geliefert. Mein Mann hat den in den Arcaden gekauft und mit dem Auto her gefahren.“
„Aber es muss doch eine Fernbedienung dabei gewesen sein.“, hake ich nach.
„Müsste eigentlich, oder?“, stimmt die Frau zu und sieht dich hilfesuchend an.
„Ist die Ihnen vielleicht hinter das Sofa gerutscht?“, vermutest du.
„Das Sofa? Nein. Ich sitze im Sessel. Setzen Sie sich doch.“, antwortet die Frau. „Möchten Sie einen Keks?“

Die Beschriftung der Tasten ist nicht mehr zu erkennen. Ich probiere die beiden großen Knöpfe in den oberen Ecken von Fernbedienung Numero vier. Nichts tut sich. Meine Finger fahren den Rahmen des Fernsehers ab. An der Rückseite ertaste ich Knöpfe. Ich drehe den Fernseher etwas aus der Schrankwand und beuge mich in das Fach.

„Also, so habe ich das nie gemacht.“, höre ich die Frau hinter mir. „Ich bin nie in die Schränke gekrabbelt.“ Ich drücke den Einschalter – ohne Ergebnis. Ich verfolge das Kabel des Fernsehers, bis es durch eine Bohrung im Rücken der Schrankwand verschwindet. Mir fällt ein, dass es in der Wohnung unserer Nachbarn genauso roch, am Schluss.
„Sind Sie sicher, dass das Gerät Strom hat?“, frage ich.
„Ich habe alles bezahlt!“
„Vielleicht ist die Sicherung durchgebrannt?“, schlägst du vor.
„Das weiß ich nicht.“
„Wo ist denn ihr Sicherungskasten? Im Flur vielleicht?“

Während du mit der Frau nach verborgenen Klappen in der Holzvertäfelung des Flurs suchst, schalte ich das Radio ein. Die Hündin springt auf und stößt sich an einem Zeitungsständer, als Udo Jürgens grölt: „…und wenn ich dann traurig werde, liegt es daran, dass ich träume von daheim …“ Ich schalte das Radio wieder aus. Die Hündin dreht sich einmal und legt sich wieder ab.

„Ach lassen Sie doch! Der ist doch tot. Ihr würgt den einfach ab! Pietätlos! Furchtbar!“, ruft die Frau vom Flur.
„Hier ist der Sicherungskasten, Frau Balzereit. Alles scheint in Ordnung zu sein.“, erklärst du.
„Ach Leute, darf ich euch was anbieten? Einen Kaffee vielleicht? Oder ein Bier?“

Erst jetzt entdecke ich die kleine Betriebsleuchte oben in der Mitte der Fernbedienung. Die müsste blinken, wenn man eine Taste drückt. Ich öffne das Batteriefach und nehme die Batterien raus. Sie fühlen sich leer an.
„Haben Sie das jetzt aufgeschraubt?“, fragt die Frau zurück im Wohnzimmer. „Machen Sie das mit Ihren Fingernägeln? Meine splittern wie Glas.“
„Haben Sie Ersatzbatterien im Haus?“, frage ich zurück.
„Ich weiß nicht. Sind die denn leer?“
„Wahrscheinlich.“
„Dann muss ich das meinem Mann sagen. Dann muss der neue Batterien kaufen. Das muss der morgen machen.“
„Bei Reichelt gibt es auch Batterien.“, sage ich. „Ist doch gleich die Straße rüber.“
„Ich weiß doch gar nicht, welche ich kaufen soll.“, wendet die Frau ein.
„Dann nehmen Sie die Alten mit, zum Vergleich.“, schlage ich vor.
„Nein, das macht mein Mann. Der ist fürs Handwerkliche.“, erklärt sie. „Ach, darf ich Ihnen etwas anbieten? Einen Saft vielleicht? Ein Bierchen?“
Wir sehen uns an.

„Wir können Ihnen Batterien mitbringen.“, sage ich. „Wir sind sowieso auf dem Weg in die Stadt.“
„Das würdet ihr machen?“, fragt die Frau.
„Kein Problem.“, sagst du. „Wir nehmen eine alte Batterie mit und heute Abend bringen wir Ihnen neue.“
Die Hündin steht auf und schüttelt sich. Wir verabschieden uns.
„Aber lasst mich nicht so lange warten! Ich muss wissen, was mit Leonhard ist“, ruft sie uns aus dem offenen Fenster hinterher. Wir drehen uns noch einmal um und winken. Die Hündin bellt.

„Warum lässt du Ihren Mann nicht die Batterien besorgen?“, fragst du an der Ampel.
„Sie hat keinen Mann.“, sage ich fest. „Hast du das Bett gesehen? Nur eine Hälfte wird benutzt. Das Schuhregal im Flur? Keine Herrenschuhe. Nicht einmal Pantoffeln. Und am Essplatz am Küchentisch: nur ein Platzdeckchen. Sie ist allein.“
„Aber warum hat sie dann ständig von ihrem Mann gesprochen?“
„Vielleicht hatte Sie mal einen. Vielleicht war ihr das doch nicht geheuer mit zwei fremden Männern in ihrer Wohnung.“
„Vielleicht war sie auch verwirrt.“
„Natürlich war sie verwirrt. Sie trinkt.“
„Was?“
„Zweimal hat sie uns Bier angeboten.“
„Und Kaffee. Und Saft. Und Kekse.“
„Ich rieche das. Dieser süße, leicht scharfe, leicht säuerliche Geruch. Du nicht?“
„Kein bisschen. War doch alles ordentlich. Sie hat auch ganz normal gesprochen.“
„Denkst du etwa, Alkoholiker lallen?“
„Also mir kam sie normal vor.“
„Wenn sie normal wäre, hätte sie ihre Nachbarin gebeten, mal nach dem Fernseher zu sehen. So ganz normal ist es ja nicht, wildfremde Menschen von der Straße in die Wohnung zu rufen, damit sie Elektrogeräte in Betrieb nehmen. Oder?“
Endlich wird grün.

Wir vergessen die Batterien in der Stadt. Auf dem Rückweg kaufe ich vier Stück für 1,79 € bei Reichelt die Straße rüber. Du gehst mit der Hündin nach Hause und willst das Essen vorbereiten. Ich suche Balzereit am Klingelbrett, aber als ich klingele, macht mir lange niemand auf. Ich trete zurück vom Klingelbrett, um zu sehen, ob im Wohnzimmer Licht brennt. Durch das geschlossene Fenster richtet die Frau ihren Finger auf mich. Wenige Sekunden später ertönt der Summer.

Auf dem Treppenabsatz öffnet mir ein Mann. Braune Cordhose, grauer Pullover über dem Bauch, Kinnbart, goldene Brille, Halbglatze.
„Ich bringe die Batterien.“, stottere ich.
„Welche Batterien?“, fragt er.
„Für Ihre Frau.“
„Für meine Frau?“ Der Mann kommt aus der Tür und verschränkt die Arme. „Ihre Frau hatte uns heute Nachmittag gebeten, ihr den Fernseher einzuschalten. Der hat nicht funktioniert, wahrscheinlich, weil die Batterien der Fernbedienung leer sind. Ich habe jetzt neue gekauft.“
„Sie? Wer sind Sie überhaupt?“ Er mustert mich von oben bis unten. „Was soll das für ein Trick sein?
„Kein Trick!“, sage ich genervt. „Wir liefen hier zufällig vorbei; ihre Frau hat uns aus dem Fenster nach oben gerufen. Ist ihre Frau da?“
„Meine Frau schläft. Sie waren also heute Nachmittag in meiner Wohnung?“
„Ja. Aber nur wegen des Fernsehers.“
„Wer ist denn da?“, ruft die Frau von drinnen.
„Ich komme gleich.“, ruft der Mann zurück.
Es riecht nach scharf angebratenem Fleisch und Zwiebeln.

Der Mann streicht sich mit einer Hand durch den Bart, als er sich mir wieder zuwendet. „Wir brauchen keine Batterien, danke.“, sagt er und geht zurück in seine Wohnung.
„Aber ich habe sie extra für Sie gekauft.“, sage ich.
„Gut. Was macht das?“ Der Mann wendet sich ab und sucht in den Taschen seiner Jacke an der Garderobe nach seinem Portmonee. Durch die Glaseinsätze in der Stubentür sehe ich das bläuliche Flackern des Fernsehers.
„Nein, so meine ich das nicht.“, sage ich. „Ich will nur, dass sie die Batterien nehmen; ich kann sie wirklich nicht gebrauchen.“
Der Mann stockt kurz, dann nimmt er seine Hände aus den Jackentaschen und fährt sich rechts und links der Nase unter seine Brille. Mehr zur Garderobe als zu mir sagt er: „Meine Frau – aber das können Sie nicht wissen. Meine Frau hat Probleme.“ Schließlich tritt er doch wieder vor die Tür und zieht sie so weit hinter sich zu, dass sie gerade noch nicht ins Schloss schnappt. Noch immer sieht er mich nicht an. „Meine Frau, wie soll ich sagen, ist ein bisschen-“ Er wedelt mit der flachen Hand vor seiner Stirn. „Verstehen Sie?“
„Trinkt sie?“, frage ich und beiße mir sofort auf die Lippen.
„Sind sie bescheuert?“, fährt er mich an. Erst als er mir in die Augen sieht, bemerke ich, dass er den Tränen nahe ist. Er macht einen Schritt auf mich zu und ist mir plötzlich so nah, dass ich mein erschrockenes Spiegelbild in seinen Brillengläsern entdecke. „Meine Frau ist krank! Psychisch. Man weiß noch nicht, was es ist; die Ärzte sind noch auf Fehlersuche. Sie jedenfalls, Sie haben keine Ahnung!“
Nach einer Pause sage ich leise: „Entschuldigung.“

„Was ist denn hier los?“, fragt die Frau auf der Türschwelle stehend mit einem Bissen Boulette auf der Gabel in ihrer Hand.
„Nichts, Täubchen.“, sagt der Mann.
„Ich bringe Ihnen die Batterien.“, sage ich.
„Und wo ist euer Hund?“, will die Frau wissen. „Euer niedlicher Hund! Ich habe hier Boulette für ihn!“

„Es war sehr nett von Ihnen, dass Sie meiner Frau helfen wollten.“, sagt der Mann freundlich und legt den Arm um seine Frau.
„Gern geschehen.“, sage ich und reiche ihm die Batterien.
„Einen schönen Abend Ihnen.“
„Ihnen auch.“
„Die Boulette!“, ruft die Frau und läuft mir in Socken vier Stufen hinterher, um mir den Bissen von ihrer Gabel in die nackte Hand zu reichen.

Der Miesepeter

Der Miesepeter heißt gar nicht Peter. Er heißt Klaus. Jeden Morgen in der Frühe, gegen sechse, kriecht er aus den Federn. Übellaunig ist er ins Bett gestiegen und übellaunig erwacht er auch. Er schlüpft in seine blauen Eislatschen, grummelt leise in seinen rauschenden Bart. Dieser wächst seit einer Ewigkeit proportional zur schlechten Laune. Besser: sein Bart ist sein Schlechte-Laune-Barometer. Mit dem heutigen Tage reicht er ihm schon bis zum kleinen linken Zeh. Tagtäglich kämmt er ihn mit einem grobzinkigen Kamm. Er ölt ihn ein und an besonders üblen Tagen, flicht er ihn zum Zopf. Ungehalten meckert er: über das Wetter, die Frauen, die Liebe und die Lust; über Rosinen im Kuchen, Löcher in Pantoffeln und Filz im Bart. Vor Jahren schon hat er seine Frau verlassen. Sie hatte ihm einen Rasierer geschenkt.

Reginas Reisen

Ja, Sie müssen entschuldigen. Das dauert ein bisschen. Die Rechner sind langsam. Obwohl, vielleicht sind sie gar nicht langsam. Vielleicht stehen sie einfach nur zu weit auseinander. Stellen Sie sich das mal vor! Die Anfrage muss durch tausende Kilometer Kabel zum anderen Ende der Welt! Vielleicht fliegt sie auch durchs All über Satellit, wer weiß. Kann sich kein Mensch vorstellen, diese Technik.

Aber die Menschen haben keine Geduld! Als wären die Tage heute kürzer als vor 20 Jahren. Was meinen Sie, wie oft Leute regelrecht ausflippen, da drüben an den Kassen, wenn die Kassiererin mal ein Storno hat. Oder wenn die Bonrolle alle ist. Ist doch verrückt, oder? Die Leute schieben stundenlang einen riesigen Einkaufswagen durch einen zwei-etagigen Supermarkt, aber wenn es dann an der Kasse eine Minute länger dauert, drehen sie durch. Und die Mädels müssen immer freundlich bleiben. Immer nett.

Das wäre kein Job für mich. Den ganzen Tag Waren übers Band ziehen, geht auf die Schultern. Ich hab‘s so schon mit dem Kreuz. Obwohl ich jeden Tag mit Romeo rausgehe. Und dann eben diese schlechtgelaunten Kunden an den Kassen. Nancy – Sehen Sie sie, die Dunkelhaarige in der 4? – die kommt manchmal zu mir rüber in ihrer Pause, dann essen wir eine Bockwurst zusammen. Oder Nudeln, drüben beim Fidschi. Ich weiß, darf man nicht mehr sagen. Beim Asiaten. Obwohl, ich meine das gar nicht – ich habe gar nichts gegen die. Jedenfalls, die Nancy hat Geschichten auf Lager, da geht Ihnen das Messer in der Tasche auf.

Da habe ich es ganz gut in meinem Kabuff. Also, es ist nicht mein Kabuff, lassen Sie das ja nicht den Chef hören. Na gut, wenn die Leute hier rein kommen, hängen denen die Mundwinkel auch sonst wo. Aber wenn sie rausgehen sind sie zufrieden. Alle. Das ist meine Arbeit. Leuten dabei helfen, ihre Träume zu erfüllen.

Bei Ihnen eben Accapulco. Ach, ich habe mich vertippt. Deswegen findet der auch nichts. Acapulco, heißt es richtig, mit nur einem C. Jetzt sucht der hier noch mal. Acapulco. Klingt schön, oder? Wie ein Cocktail – mit viel Rum. Oder ein Tanz – der heiße Acapulco! Wie der Lambada, früher, den habe ich im Bikini getanzt! Aber was wollen Sie in Acapulco?
Wissen Sie, die Leute stolpern ja immer hier rein, mit den abenteuerlichsten Vorstellungen. Wenn ich die frage, wohin es gehen soll, dann gucken die ganz verträumt an mir vorbei, auf die Prospekte oder auf die Kassen und dann sagen sie in als würden sie einen Schokodrops lutschen: Namibia. Oder: Hawaii. Oder: Menorca. Unter uns: Manchen kann ich da nicht ins Gesicht gucken, ich müsste feixen. Verstehen Sie das? Als wäre Namibia das Paradies! Fragen Sie mal die Namibianer! Für die ist das hier das Paradies. Obwohl die bestimmt besseres Wetter haben.

Können Sie sich erklären, warum immer alle denken, anderswo wäre es schöner als hier? Schön ist es doch überall! Anderswo ist es nur anders. Ich sag’s Ihnen im Vertrauen: Mein Paradies ist meine Terrasse. Nicht weit zum Kühlschrank, Blick ins Grüne und in den Geschäften reden sie meine Sprache. Ich glaube, das ist eine Berufskrankheit. Wie bei Carola von der Frischetheke. Seitdem die den ganzen Tag Fleisch und Wurst verkauft, kriegt sie das Zeug nicht mehr runter.
Nee, also hier finde ich nichts. Wir müssen das direkt bei der Fluglinie versuchen. Ist aber auch ein außergewöhnliches Ziel. Was wollen Sie nur in Acapulco? Das ist in Mexiko, oder? Einen Moment. Ich wähle uns mal ein. Ich meine, mir ist das natürlich recht, wenn die Leute viel verreisen. Je weiter, desto lieber. Sagt mein Chef auch, wenn er ultimo die Abrechnung macht. Obwohl, soviel Abrechnung ist hier gar nicht. Ist ja auch kein Wunder. Wer soll denn hier reinkommen? Leipzig Arcaden – klingt erstmal exquisit. Aber gucken Sie sich die Leute doch mal an, die da drüben einkaufen. Diese versteinerten Gesichter. Und wie die rumlaufen. Die können sich keinen Urlaub leisten. Oder die buchen den im Internet. Ist ja billiger, denken immer alle. Stimmt gar nicht. Naja, wenn mein Chef mal ein bisschen Pepp in den Laden bringen würde und ein paar Plakate raushängen würde, könnte das hier auch besser laufen. Aber mich fragt ja keiner.

Ach Mensch, sehen Sie den? In dem hellbraunen Mantel? Mit dem langen weißen Schal? Oder heißt das creme? Wir haben früher Eierschale dazu gesagt. Jedenfalls: den kenn ich. Das ist, also das war mal, naja – verrückt, den kenne ich. Dass der hier einkaufen geht! Oje, guckt der? Der guckt doch hier rüber! Wie sehe ich aus? Geht das so mit meinen Haaren? Wenn der jetzt – Was habe ich denn hier für einen Fleck? – wenn der jetzt hier rüber kommt um Hallo zu sagen, falle ich um. Der sieht aber gut aus! Klar hat er sich verändert, die grauen Schläfen und so. Aber für sein Alter? Reif, sieht er aus. Männlich. Toll! Ein gutaussehender Mann, das müssen Sie zugeben. War der aber schon in seiner Jugend!

Nein, nein, machen Sie sich keine Gedanken. Die Warteschleife von diesem Airline-Service ist immer gut gefüllt. Das wird schon noch ein paar Minuten dauern. Aber die Musik ist doch ganz schön, oder? Ist das aus Dirty Dancing?

Jetzt muss er gleich hier lang. So elegant! Früher war der mehr sportlich, wissen Sie? Sehen Sie die Schuhe? Und diese Uhr! Der hat bestimmt einen tollen Job. Der macht das große Geld. Schon in der Ausbildung hatte der echt was drauf. Aber der hatte immer Freundinnen, ich kam nie an den ran. Da habe ich dann eben jemand anderen geheiratet. Er bestimmt genauso. Trägt er einen Ring? Erkennen Sie das? Ich habe meinen ja für meinen Zahn einschmelzen lassen, als mein Mann dann – ach schade, der guckt nicht. Obwohl, wäre mir auch peinlich. Wer weiß, ob der mich überhaupt erkennen würde. Ich hier in meinem Pulli und der mit seinem Kaschmirschal. Wir haben ja auch wer weiß wie lange nicht mehr gesprochen. Nee, der ist auf dem Sprung. Sehen Sie nur, wie schnell der läuft! Der hat keine Zeit. Der hat bestimmt nie Zeit.

Jetzt sagen Sie gleich: Kein Wunder, Zeit ist Geld. Sagen alle. Aber ganz ehrlich: Ich glaube, das stimmt nicht. Ich glaube, Zeit ist Zeit und Geld ist Geld! Denken Sie da mal drüber nach. Machen Sie das mal. Muss nämlich jeder selber entscheiden, was ihm wichtiger ist.

Also, tut mir Leid, aber hier kommen wir heute nicht weiter. Die Vermittlung von der Airline macht gleich Feierabend und ich auch. Nein, bis um Acht haben wir nicht mehr auf. Das lohnt sich nicht. Können Sie vielleicht morgen nochmal kommen? Oder ich probiere es gleich früh und rufe Sie dann an? Normalerweise bin ich nicht so, aber heute muss ich echt pünktlich weg. Ich muss meinen Schein noch abgeben. Lotto, Sie etwa nicht? Mittwoch und Samstag. Nur noch sieben Minuten bis Annahmeschluss.

Nö, also ich gewinne öfter mal was. Neulich erst den zweiten Preis bei so einem Kreuzworträtsel. Drei Tage Allgäu. Habe ich mal Mädelswochenende mit meiner Tochter gemacht. Wellness-Hotel, super.
Ach, es gibt so viele Preisausschreiben! Reich werden Sie in so einem Reisebüro nämlich nicht, das sage ich Ihnen. Also ich könnte nicht nach Acapulco fliegen, von meinen paar Quieksern. Wieso eigentlich ausgerechnet Acapulco?
Doch, doch man kann gewinnen, man muss aber eben auch mitspielen. Und eines Tages – wer weiß? Wenn man dem Glück keine Chance gibt, kann es einen ja nicht finden.

barrikaden

was kommt,
wenn wir nicht mehr demonstrieren fünfzehntausend zu fünf-.
grob geschätzt, der frieden
eine schmale meterware in der lose vernähten menschenmenge.
es gibt dichte minuten, schwer wie schlagstock, leer wie kopf-
los, flüssig wie tränen & gas.
die anderen ziehen den hut und ihre fahne an solch´ schwarzen tagen,
sie wohnen hier – ihnen gehört die luft, die erde,
die welt. nur wachs-
figuren in panzerumhängen, die trennen und der nachbar
schreit PEACE, ehe er rennt auf eigenen wegen.

Über Fußball am Beispiel des Islam

„Wahnsinn, oder?“, sage ich, als ich die Zeitung aus dem Briefkasten nehme und die Schlagzeile lese.
„Hallo!“, antwortet er und läuft an mit vorbei.
„Was sagen Sie eigentlich dazu?“, frage ich.

Er bleibt auf der Treppe stehen, dreht sich um und sieht mich an. Seine Stirn liegt in Falten, als hätte ich etwas Unverständliches gesagt. Ich blicke wieder auf meine Zeitung und falte sie zusammen. Ich hoffe, dass der Moment schnell vorüber geht. Plötzlich öffnet er mit einem schnalzenden Geräusch den Mund, rollt mit den Augen und wendet sich ab. Ich schließe meinen Briefkasten zu und bin kurz davor, an ihm vorbei die Treppen nach oben zu meiner Wohnung zu flitzen. Da ruft er:

„Sie fragen mich das allen Ernstes?“
„Von Ihrer Großmutter weiß ich, dass Sie erst kürzlich – wegen Ihrer Hochzeit.“
Er schüttelt den Kopf.
„Und ich weiß von meiner Großmutter, dass Sie ziemlich klug sein sollen.“
„Ich stelle mich wohl gerade doof an?“
„Finden Sie nicht?“
Ich presse die Lippen aufeinander und ziehe sie nach innen. Er steigt eine Stufe nach unten auf mich zu.

„Ja, ich bin Muslim. Stimmt, erst seit kurzem. Und wissen Sie, was daran am meisten nervt? Nicht, halal zu leben, also –“
„– auf Schweinefleisch zu verzichten oder auf Alkohol.“, werfe ich schnell ein.
„Oh! Jetzt wollen Sie mich beeindrucken, oder?“
„Immerhin habe ich einen Ruf zu verlieren, wie Sie sagen.“
Er lächelt zum ersten Mal, ich entspanne mich ein bisschen.
„Am meisten nerven die Fragen der Leute!“
„Was fragen die denn?“, traue ich mich.
„Ob ich jetzt fünf Mal am Tag nach Mekka bete. Bevor Sie fragen: Tue ich nicht! Oder ob ich mir jetzt auch so einen Salafistenbart werde stehen lassen. Ja, das probiere ich mal, das ist doch lustig! Meine Friseurin fragte mich neulich sogar, ob ich jetzt beschnitten bin! Das geht sie nun wirklich nichts an. Und Sie auch nicht. Was denken die Leute vom Islam?“ Er streckt beide Hände von sich und zeigt mir seine Handflächen.

„Fragen Sie mich das jetzt allen Ernstes?“
„Allerdings.“
„Ich bin zwar nicht ‚die Leute‘, aber ich würde sagen, die Leute glauben, was sie so hören. Wer kennt schon einen Moslem persönlich?“
„Dann müssen sie sich besser informieren.“
„Das versuchen Sie doch. Sie stellen Ihnen Fragen.“
„Aber schon ihre Fragen sind volle Vorurteile! Der Islam ist nicht blutrünstig und mittelalterlich!“
„So sieht er aber aus, wenn davon die Rede ist. Ständig geht es um Gewalt und Diktatur.“
„Das sind Nachrichten. Nachrichten berichten nur über Katstrophen!“
„Nö, ab und zu auch über Papstbesuche und Arbeitslosenzahlen, die sinken.“
„Außerdem ist das ist Islamismus, über den da berichtet wird. Nicht der Islam!
„Manche können das bestimmt nicht auseinanderhalten.“
„Das ist doch ignorant!“
„Die Spielerinnen der Frauenfußball-Bundesliga finden die Missachtung ihrer Siege auch ignorant.“
„Vergleichen Sie den Islam gerade mit Frauenfußball?“
Ich lache, er lacht.
„Nein. Aber warum sollten sich die Leute für den Islam interessieren? Sie sind einer von zwei Moslems, die ich kenne.“
„Der Islam gehört zu Deutschland! Sagt sogar Ihre Kanzlerin.“
„Die Oranienstraße gehört auch zu Berlin. Trotzdem gibt es dort so gut wie keine Berliner.“
„Nirgendwo kann man so gut und preiswert essen, wie in der Oranienstraße!“
„Ich weiß! Kennen Sie den lauwarmen Glasnudelsalat mit Erdnüssen und Koriander, aus dieser kleinen Garküche –“
„Können Sie es denn auseinanderhalten? Islamismus und Islam?“
„Erklären Sie’s mir.“

„Aber wie?“ Er kratzt sich am Kopf. „Vielleicht mit Fußball. Fußball mögen Sie, oder?“
„Nein.“
„Aber vorhin haben Sie doch über Fußball – ach ja, sie sind ja – sie leben ja –“
„Schwul? Sagt Ihre Oma? Stimmt. Aber Hitzelsperger ist auch schwul. Sie werden nicht bestreiten, dass der sich für Fußball interessiert.“
„Wieso kennen Sie Hitzelsperger, wenn Sie sich nicht für Fußball interessieren?“
„Wieso kennen Sie Jesus, obwohl sie kein Christ sind?“
„Weil auch die Muslime verehren Jesus. Im Qu‘ran steht, dass Jesus ein Gesandter Gottes war.“
„Oh! Und wird Mohammed auch in der Bibel erwähnt?“
„Das fragen Sie mich? Sie sind doch Christ, nicht ich!“
„Bleiben wir lieber bei Ihrer Erklärung des Islamismus. Von mir aus mit Fußball.“
“Also: Der Islamismus ist für den Islam ungefähr das, was der Hooligan für den Fußball ist. Die Hooligans sind keine Fans. Die interessieren sich gar nicht für Fußball. Die sind nur auf Randale aus. Trotzdem sind sie das Problem der Fußballvereine. Hooligans machen den Ruf der Vereine kaputt. Sie sind schuld daran, dass die echten Fans aus Angst vor Gewalt zu Hause bleiben. Das kann die Vereine in den Ruin treiben! Verstehen Sie?“
„Und was machen die Vereine dagegen?“
„Die Versuchen, die Hooligans loszuwerden. Sie distanzieren sich öffentlich. Sie kooperieren mit der Polizei. Sie starten Initiativen um Jugendliche für den Sport zu gewinnen und nicht für die Randale.“
„Und so macht es der Islam auch?“
„Na klar! Und da sind wir wieder bei Ihrer Frage: Was glauben Sie denn, was ich als frisch konvertierter Muslim dazu sage, wenn Menschen im Namen Allahs erschossen werden?“
„Ich hoffe, dass sie es verurteilen.“
„Natürlich verurteile ich es! Alle Muslime verurteilen es! Alle, die ich kenne.“
„Aber manche erklären in Fernsehmikrofone, dass sie den Zorn der Attentäter verstehen können. Für mich klingt das, als würden sie sagen: Selbst schuld!“
„Ich verstehe den Zorn nicht.“
„Ich erst recht nicht.“
„Ich kenne auch niemanden, der den versteht.“
„Ich schon. Ihre Großmutter. Die sagte neulich beim Kaffeetrinken, dass sie nicht kapiert, wieso man weiterhin versucht, Leuten Witze zu erzählen, die keinen Spaß verstehen. Wer soll denn bitte darüber lachen?“
„Puh! Na so kann man das aber auch nicht sehen.“
„Sie kennen sie ja. Sagen Sie ihr liebe Grüße.“
„Mach ich. Ich bin übrigens Ben.“
„Ich weiß. Ich bin Peter.“
„Ich weiß.“

Blinder Alarm

So, damit sie etwas zur Ruhe kommen, habe ich Ihnen den Fernseher angestellt. Machen Sie sich keine Sorgen. Ich gebe Ihnen die Fernbedienung und dann können Sie sich einen Lieblingsender raussuchen. – Haben Sie Engegefühl in der Brust? Luftnot?

Das Herz hört auf zu schlagen. Sämtliche Organe werden nicht mehr mit Blut versorgt. Sauerstoff und Nährstoffe werden nicht mehr über das Blutkreislaufsystem transportiert.

Nein, im Moment nicht. Das tut alles mir leid, Frau Doktor, dass ich Sie wieder belästige. Aber mir ging es vorhin nicht gut. Wirklich, ich…. Und da hatte ich gedacht, ehe wieder etwas mit mir passiert und ich wie letztes Mal zwei Tage in der Wohnung liege und rufe…

Das Hirn wird nicht mehr durchblutet. Nach drei Minuten ist es dauerhaft geschädigt und es treten Enzyme aus, die die Hirnzellen auflösen.

Sie müssen sich nicht entschuldigen. Ich nehme Ihnen jetzt Blut ab. Das kennen Sie ja. Und in zehn Minuten, wenn wir den Troponinwert haben, wissen wir mehr. Eine Grippe oder Ähnliches hatten Sie nicht in der letzten Zeit? Machen Sie den Arm lang und eine Faust! Das gibt jetzt einen Stich.

Nach dem Stopp der Blutzirkulation sinkt die Temperatur des Körpers.

Wissen Sie, Frau Doktor, mir war schlecht, die Finger waren kalt und ich habe am ganzen Körper gezittert.

Der Haut beginnt kühl und blass zu werden.

Das ist mir alles unangenehm. Seit gestern spielt mein Blutdruck verrückt. Ach, ich mache Ihnen wieder Arbeit. Aber ich, ich hatte auf einmal so ´ne Angst, das Herz klopfte ganz schnell und mir blieb die Luft weg. Ich habe mich gar nicht getraut anzurufen. Und die am Telefon haben zu mir gesagt, dass sie dieses Mal nicht kommen wollen und es sowieso wieder nur blinder Alarm ist. Und dann, dann habe ich all meinen Mut gesammelt und durchs Telefon gerufen, dass ich mir das nicht gefallen lasse.

Nach 15-30 Minuten sterben die Zellen des Herzens ab.

Frau Renner, machen Sie sich keine Sorgen. Jetzt geben wir Ihnen Sauerstoff. Und eine Herzultraschalluntersuchung bekommen Sie auch noch. Strecken Sie mir den Zeigefinger entgegen! Ich lege Ihnen jetzt eine Klammer um den Finger, damit kann die Sauerstoffsättigung besser kontrollieren kann. Und einen weiteren Hub Nitrospray gebe ich Ihnen auch noch.

Nach 30 Minuten sterben die Zellen der Niere.

Wie war denn das mit dem Blutdruck, Frau Renner?

Nach 30 Minuten sterben die Zellen der Leber.

Ich habe wie immer meinen Blutdruck mit meinem Gerät von der Hausärztin gemessen. Und da habe ich gesehen, dass er sehr niedrig war. In der Nacht habe ich kaum geschlafen. Und morgens, da bin ich wie immer aufgestanden, nur etwas früher, weil ich nicht mehr schlafen konnte und habe Frühstück gemacht, aber nichts gegessen, nur Kaffee getrunken. Und dann bin ich schlagartig müde geworden und musste mich auf das Sofa legen.

Leichenflecken entstehen. Blut und andere Flüssigkeiten sinken durch die Schwerkraft langsam an die unteren Stellen des Körpers.

Nehmen Sie Ihre Medikamente regelmäßig ein, Frau Renner?

1-2 Stunden nach dem Tod sterben die Zellen der Lunge.

Ja. Alle 14 Tabletten über den Tag verteilt. Wissen Sie, früher wollte ich nie Medizin nehmen. Nachdem mein Mann von einer Bahn überfahren wurde, habe ich ein Jahr lang daran gedacht, meinem Leben ein Ende zu setzen. Die neugeborene Tochter hat mich aber davon abgehalten. Und jetzt, jetzt komme ich seit Jahren aller naselang als Heulsuse in Ihre Notaufnahme. Ich schäme mich. Eigentlich will ich das alles gar nicht mehr.

Nach 2-4 Stunden setzt die Todenstarre ein. Sie beginnt zuerst am Kiefergelenk und geht auf Hals, Nacken, Rumpf, Beine und Arme über. Nach ca. 6-8 Stunden ist sie voll ausgeprägt. Nach 1-3 Tagen löst sie sich wieder auf.

Dafür sind wir da, Frau Renner. Sie haben schließlich vier Infarkte in 30 Jahren überstanden. Ich hole den Oberarzt, er soll sich noch einmal das EKG ansehen. Sie sagten eben etwas von Ihrer Tochter. Haben Sie die Telefonnummer parat?

Nach 8 Stunden beginnen die Muskeln des Körpers abzusterben.

Muss ich hierbleiben?

Magen und Darm arbeiten noch bis zu 24 Stunden weiter. Danach beginnen sie sich selbst zu verdauen. Schließlich lösen sie sich auf. Der Körper beginnt zu verwesen.

Ja, Frau Renner. Es war dieses Mal eine gute Entscheidung, herzukommen. Ich denke, dass Sie bei uns bleiben werden. Ich bringe nur schnell Ihre Blutentnahme rüber und schaue danach gleich noch einmal zu Ihnen. Dann erzählen Sie mir ausführlich von dem Mut, den Sie damals nach dem Tod Ihres Mannes bewiesen haben.

Die Geldeintreiberin

Die Geldeintreiberin kennt keinen Tag und keine Nacht. Sie übt keinen Beruf aus, nein, sie ist berufen. Sie wittert die Geldstücke schon um achtzig Meter im Voraus und bohrt sich vor Aufregung mit dem linken Zeigefinger in der Nase. Herzlich begrüßt sie die gut bestückten Gäste hinter dem Tresen und nestelt nervös an ihrem Rock. Schon vor Jahren hat sie sich eine Tasche darunter genäht und im Laufe des Tages wird sie mit Rock älter und fülliger. Sobald die Geldeintreiberin die Scheine und Geldstücke in Empfang genommen hat, denn bei ihr darf man nur in bar bezahlen, rennt sie sofort in ihre Stube nebenan. Hastig schüttelt sie all ihre neu gewonnenen Besitztümer aus der Rocktasche. Sie breitet sie sorgfältig aus und sortiert die Scheine und Münzen nach Wert. Die Scheine verstaut sie akkurat in der Schrankwand und wischt bei der Gelegenheit mit dem Staubwedel sorgfältig über ihren gesamten Bestand. Sie ist stolz. Beständig stapelt sie höher. Beständig wächst sie über sich hinaus. Glückselig nimmt sie sich nun der Münzen an. An jeder einzelnen riecht sie und leckt die Kopfseite genüsslich ab. Das macht sie immer so, es ist ihr Begrüßungsritual. Die Geldeintreiberin weiß sehr wohl um den geringeren Wert der Münzen, aber dennoch bevorzugt sie jene. Sie liebt es, die Geldstücke zu polieren und als Dank ihr Spiegelbild darin erblicken zu dürfen. Zudem ermöglicht es ihr das Kopfkissen anstelle von Daunen damit aufzufüllen. Darauf könnte sie sicherlich gut schlafen, würde sie nicht schon wieder die nächsten, gut bestückten Gäste wittern.

Walnachten

„Je suis une baleine.“, sagt sie versonnen. Wortlos betritt er das Zimmer. „I am a whale.“ murmelt sie, während sie tippt. Er stellt sich dicht hinter sie. „Du bist ein Wal?“, fragt er vorsichtig und legt seine Hände warm auf ihre Schultern. „Was?“ fragt sie zurück, als sie ihren Blick vom Bildschirm löst und aufsieht. Ihr Scheitel berührt seinen nackten Bauch. „Du bist ein Wal?“, fragt er wieder. „Genau!“, antwortet sie, „Soll ich es dir beweisen?“ Er nickt. Mit zwei Fingern berührt sie eine grüne Fläche auf dem Bildschirm, in der „Check“ steht. Der Rechner gibt einen ermunternden Gong von sich. „You are correct.“ erscheint in großen Lettern auf dem Bildschirm. Sie lächelt fröhlich, er lächelt irritiert.

„Ich bin ein Wal.“, beginnt sie zu erklären, nachdem sie ihre Hände auf seine gelegt hat. „Ich durchstreife die Ozeane. Am liebsten in hunderten Metern Tiefe, dort wo kaum jemals ein Fisch und nie, niemals Sonnenlicht hinkommt. Ich schwimme stundenlang, tagelang, mein Leben lang, abertausende Kilometer weit. Ich will jeden Quadratmeter Ozean bereisen, jede Senke, jede Bank. Mein riesiges Maul ist dabei nie geschlossen. Mit jedem Meter, den ich durch die Tiefen gleite, sauge ich hektoliterweise Meerwasser auf, um jedes Fitzelchen Plankton, das ich erwischen kann herauszufiltern, zu schmecken, zu verdauen, von ihm zu wachsen. Niemals bin ich satt, niemals bin ich zufrieden. Ich werde größer und schwerer und bald bin ich so groß und so schwer, dass mir mein eigenes Gewicht an Land die Lungen zerquetschen würde. Aber da gehe ich nie hin: An Land. Ich bleibe im Wasser, dort, wo keine Menschen sind. Ich will keinen Wegen folgen müssen sondern mich Strömungen hingeben. Ich will nicht höher klettern sondern lieber tiefer sinken. Ich will kein Haus und keinen Unterschlupf, das Meer soll mein Zuhause sein. Nur alle zwei Stunden kehre ich für einen Moment an die Oberfläche zurück um aus- und einzuatmen. Dann gibt es eine riesige Fontäne.“

Er legt die Stirn in Falten, sie lacht. Im bläulichen Licht des Bildschirms sehen ihre Zähne gefährlich aus. „Was machst du?“, will er wissen. „Ich erkläre mich dir, damit du mich verstehst! Darum hast du doch gebeten.“, antwortet sie.
„Hier am Rechner meine ich: Was ist das?“
„Ich lerne Französisch.“
„Aber warum?“
„Weil ich es noch nicht kann! Und Englisch lerne ich nebenbei auch noch mal.“

„Meine Mutter hat dich sprechen hören.“. Mit seinen Daumen streicht er fest links und rechts an ihrer Wirbelsäule, den Hals entlang. „Sie hat gedacht, du sprichst mit ihr, aber auf ihre Fragen hast du nicht reagiert. Sie hat einige Momente an der Schwelle gestanden und dich beobachtet, aber sie versteht nicht, was du hier tust. Sie hat sich nicht getraut, ins Zimmer zu kommen. Du hast in fremden Sprachen gesprochen. Damit ich mal nach dir sehe, hat sie mich aus der Wanne zitiert. Sie hat sich Sorgen gemacht. Wie kommst du darauf, ausgerechnet jetzt Französisch zu lernen?“
„Du hast ja keine Ahnung, wie lustig Französisch ist! Und wie schön. Abeille heißt Biene. Klingt das nicht toll? Abeille! Und weißt du, was Bär heißt? Ours. Ours! So werde ich dich ab sofort nennen: Mon petit ours!“

„Warum sitzt du nicht bei uns? Mutter hat Stolle aufgeschnitten und Kaffee gekocht. Sie wartet. Wenn du willst, mache ich ein Räucherkerzchen an. Und die Pyramide mit den Glöckchen. Die Erzgebirgsgesänge können wir ja weglassen, wenn sie dich stören.“
„Ja, die Gesänge! Das ist interessant!“, sagt sie, als sie ihre Hände von seinen löst und wieder zu tippen anfängt. „Die muss man doch hier irgendwo hören können. Auf YouTube? Bestimmt!“
„Was ist los mit dir?“
„Hör mal. Das ist ein Bartenwal. Psst!“

Auf ihrem Stuhl rollt sie hinüber zur Stereoanlage, schaltet sie an und dreht sie voll auf. Das dumpfe Dröhnen des Meeres kann er in seinen nackten Sohlen spüren. Das helle Seufzen der Wale verschluckt die Weihnachtslieder, die in Fetzen aus dem Wohnzimmer herüberdringen.
„Das ist irre, oder?“, staunt sie.
Er schließt die Augen. „Ja.“ Das auf seiner Haut verbliebene Badewasser sammelt sich in Tropfen an seinen Fingerspitzen. Das kitzelt.
„Du könntest auch ein Wal werden! Dann durchstreifen wir die Ozeane gemeinsam und singen Lieder wie dieses.“

„Nein.“, sagt er und öffnet die Augen. Er schüttelt die Tropfen ab, hockt sich vor den Rechner und klappt ihn zu. Die Gesänge verstummen. „Nicht jetzt. Kein Französisch. Keine Walgesänge. Jetzt: Weihnachten. Kaffeetrinken.“
Sie verschränkt die Arme vor der Brust und seufzt.
„Hast du keine Lust?“, fragt er.

„Natürlich habe ich Lust. Ich habe Lust mit dir zum Flughafen zu fahren, jetzt sofort, und einen Flug zu buchen, für heute Abend noch. Wir fliegen auf die Azoren. Last minute. Very last minute.“, kichert sie.
„Die Azoren?“
„Meine Kollegin war dort, letztes Frühjahr. Es muss herrlich sein!“
„Ich bitte dich!“
„Aber, die Azoren sind perfekt! Man spricht Französisch dort! Ich kann sofort anwenden, was ich gelernt habe. Wir werden eine Bootstour unternehmen, weit raus, aufs offene Meer. Meine Kollegin hat das auch gemacht. Wir werden Wale sehen, echte Wale! Wir werden sie singen hören! Das wird wunderbar!“
Er richtet sich auf und fährt sich durch die nassen Haare.
„Aber man muss aufpassen! Meine Kollegin hat sich eine Mittelohrentzündung eingefangen, weil sie den ganzen Tag im scharfen Wind an der Reeling gestanden hat. Ich werde klüger sein. Ich werde ein Kopftuch tragen.“ Flink rollt sie auf ihn zu und zieht das Handtuch von seinen Lenden. „So ungefähr. Ein perfekter Windschleier. Trägt man das so? Sieht das gut aus? Es riecht gut!“

Er legt die Hände in die Luft, atmet ein und öffnet den Mund, aber er weiß nichts zu sagen. Sie sieht ihn an, legt den Kopf schief und ruft: „Wow! Wo ist deine Kamera?“ Irritiert schiebt er die Brauen zusammen. „Was? Meine Kamera?“ „Nicht bewegen!“, sagt sie, während sie aufspringt und das Windschleierhandtuch von sich wirft. „Diese Pose! Dieser schmale Streifen Licht aus dem Wohnzimmer.“ Mit beiden Händen durchwühlt sie die Schubladen unter der Stereoanlage. „Deine Körperlichkeit! Dein Bauch! Dein Alter! Das ist alles so tragisch. Aber liebevoll tragisch. Weißt du? Schön tragisch. Das muss ich festhalten.“

Er stöhnt, setzt sich auf den Schreibtisch neben den zugeklappten Rechner, zieht die Beine an und legt die Arme um die Knie. „Was ist passiert?“
„Mann! Jetzt hast du dich bewegt!“
„Hat sie etwas gesagt?“
„Und die Kamera ist auch nicht an ihrem Platz!“
„Hat sie dich verärgert mit irgendetwas?“
„Kein Wunder, dass es kaum Fotos von uns gibt!“
Er schreit: „Setz dich hin und sprich mit mir!“ Sie fährt herum und sieht ihn an. Sie setzt sich.

„Thomas?“, ruft es aus dem Wohnzimmer. „Alles in Ordnung?“
„Jetzt nicht!“ Er springt auf und schlägt die Tür zu. Dann geht er zu ihr herüber und kniet sich vor ihren Stuhl. „Hat sie dich verletzt?“ Sie holt eine Strähne hinter dem Ohr hervor und wickelt sie konzentriert um ihren Zeigefinger.

„Unser Stollen schmeckt ihr nicht.“, flüstert sie.
„Das ist alles?“, fragt er und streicht ihr die Strähne wieder hinters Ohr.
„Die Kekse, die ich gebacken habe, schmecken ihr auch nicht. Da fehlt geriebene Zitronenschale.“
„Und deswegen bist du ihr böse?“
„Deine Suppe heute Mittag, hat ihr auch nicht geschmeckt. Sie muss Pupsen davon.“
„Wahrscheinlich verträgt sie Linsen nicht so gut.“
„Sie findet auch, dass du die Frühstückseier zu weich kochst. Hat sie alles ihrem Bruder erzählt. Vorhin, am Telefon.“
„Aber das ist doch nur das Essen!“ Er streicht ihr weitere Strähnen aus der Stirn.
„Aber an Weihnachten geht es doch ums Essen, oder?“
Er küsst ihre Wange. „An Weihnachten geht es ums beieinander sein.“
„Ich will nicht bei ihr sein. Ich will bei dir sein.“ Sie legt ihren Arm um ihn und zieht seinen Kopf auf ihre Brust, so dass sein Ohr auf ihrem Pullover liegt. Sie treibt ihre Nase in seine Haare.

„Sie hat noch etwas gesagt.“ Sie legt auch den zweiten Arm um ihn und klammert sich an ihm fest.
„Was? Was hat sie gesagt?“
Sie zieht ihn noch fester an sich. „Heb mich hoch.“
Er lacht. „Erst, wenn du mir sagst, was sie gesagt hat.“
Sie schlingt ihre Beine um seine Hüften. „Erst, wenn du mich trägst.“
Er fährt mit seinen Armen unter ihre Schenkel und umfasst seine Handgelenke unter ihrem Po. Als er sie anhebt, legt sie ihr Kinn auf seine Schulter. Ihr Haar versperrt ihm die Sicht. Er schnappt danach, bekommt ein paar Strähnen zu beißen und zieht daran. Sie kichert.

„Also, was hat sie gesagt?“
Sie bringt ihre Lippen ganz dicht an sein Ohr. Sie flüstert: „Sie hat gesagt, dass sie Weihnachten hier mit einer Verrückten verbringen muss.“ Für einige Sekunden klemmt sie sich sein Ohrläppchen zwischen die Lippen. „Sie hat gesagt, dass ich verrückt bin.“
Er lacht laut. Sie treibt ihm die Fingernägel in den Rücken, damit er aufhört. „Sie ist eine dumme, alte Frau.“, zischt sie.
„Nein, nein.“, murmelt er, als er sie auf dem Schreibtisch absetzt. Sie denkt gar nicht daran, ihre Umklammerung zu lösen. „Sie ist nicht dumm, Liebes. Sie versteht nur nichts von Walen.“
„So ist es, so ist es! Sie hat überhaupt keine Ahnung von Walen. Null!“, kichert sie.

Er lehnt sich zurück und sieht sie an. Mit beiden Zeigefingern zeichnet er ihre Augenbrauen nach. Dann fährt er entlang ihrer Wangenknochen hinunter zu ihren Lippen. „Wahrscheinlich ist sie Vogelkundlerin.“, sagen diese. „Oder Rassekaninchenzüchterin.“ „Psst!“, sagt er. „Was immer sie ist.“, sagt sie, aber es ist undeutlich, weil seine Zeigefinger noch immer auf ihren Lippen ruhen, „von den Ritualen der Meeresbiologie hat sie nicht den blassesten Schimmer.“ Er zieht seine Finger von ihren Lippen und legt seine Lippen genau dort hin. „Arme, alte Frau.“, flüstert sie, als er den Kuss löst. „Sie hat dich stranden lassen, tonnenschwere Walfrau. Das war brutal von ihr.“, flüstert er.

Während sie mit beiden Händen fest in die Polster an seinen Hüften greift, lacht sie: „Zieh mich zurück ins Meer, tonnenschwerer Walmann, lass uns ein paar Minuten der Strömung folgen.“ Er fährt mit seinen Händen wieder unter ihren Po und hebt sie an. Sie streckt die Arme von sich. „Dreh dich!“, ruft sie, „dreh dich. Und mach die Augen zu. Wir spielen Wale im Strudel.“
Die Dielen knarzen unter dem ungewohnten Gewicht.

„Was ist denn hier los?“
Er öffnet die Augen. Ihm dreht. Er bleibt nicht stehen.
„Was macht ihr?“
In der halboffenen Tür steht seine Mutter. Ungelenk tastet sie nach dem Lichtschalter.
„Willst du dich nicht anziehen, Thomas?“
Wieder und wieder sieht er das entgeisterte Gesicht an sich vorbeiziehen. Das Brillengestell seiner Mutter zeigt hübsche Lichtreflexe.
„Raus mit dir!“, ruft sie, immer noch fest um seinen Hals geschlungen. „Du wirst ertrinken hier draußen!“
„Ich werde was?“
Er stoppt die Drehung und sieht seine Mutter an.
„Wir spielen Ozean, Mutter.“
„Seid ihr jetzt beide völlig übergeschnappt?“

Sie löst die Umarmung und klettert von ihm herunter. „Wir sind Wale, siehst du das nicht? Wir werden ja wohl mal ein paar Minuten abtauchen dürfen.“
„Wir kommen gleich, Mutter.“, sagt er, noch bevor diese etwas antworten kann. Schwankenden Schrittes geht er zur Tür. Seine Mutter nickt wortlos, wendet sich ab und geht zurück ins Wohnzimmer. Er schließt die Tür, dreht sich um und grinst.
Sie schiebt den Laptop beiseite und klettert auf den Schreibtisch.
„Was ist denn jetzt schon wieder?“, fragt er lächelnd.
„Ich habe eine lauschige Sandbank gefunden! Leg dich zu mir.“

Unter dir (Teil VI)

Ich lege das rote Samtbündel auf dein Kopfkissen, streichle mit meinen Fingernägeln über deine Handrücken, klopfe auf die Bettdecke und schiebe meine Zunge zwischen den Mundwinkeln hin und her. Lass uns anfangen, sage ich, lass uns endlich anfangen, sonst ist die Nacht vorbei und wir haben es immer noch nicht hinter uns gebracht. Ich sehe auf die Uhr und sage Mist, die kommt jetzt zur Jahresendrunde bevor sie sich auf die Nachbarstation verkrümelt, um literweise Kaffee und Sekt in sich reinzuschütten. Mit einem Schwung rutsche ich vorsichtig unter das Bett und wundere mich nicht, dass ich wieder an dem blöden Metallgestell anecke. Wie vorhergesagt, höre ich das Klappern ihres Schlüsselbundes im Rhythmus ihrer schnellen Schritte. Die Schwester hustet mehrmals, klopft an die Tür, fragt, ob du fertig bist und steckt den Kopf mit dem blonden Pferdeschwanz hindurch. Sie dimmt das Licht an und fragt in die Länge gezogen, ob du deinen heißen Traum schon beendet hast. Sie hustet noch einmal gekünstelt, kommt herein, schaut zum Monitor, geht zurück, haucht dir einen ihrer komischen Luftküsse entgegen und meint beim Lichtausmachen, dass sie nun erst im neuen Jahr wiederkommen wird. Ich schüttle über so viel Übermut den Kopf, sage dir, dass ich ihr Verhalten merkwürdig finde und ich sie selten so aufgekratzt erlebt habe wie heute und denke, dass sie jetzt schleunigst ihren Sekt trinken gehen sollte, ehe sie noch Schaden anrichtet.

Ich räkle mich unter deinem Bett, schlage mit den Fersen abwechselnd auf das gebohnerte Linoleum und merke, dass ich Lust auf dich bekomme. Ich greife zwischen meine Schenkel und beginne an mir rumzuspielen. Am liebsten würde ich meine Finger reinstecken, so wie du es früher immer bei mir gemacht hast und so wie ich es auch oft unter diesem Krankenhausbett extra für dich mache, um dir zu zeigen, wie wild ich immer noch auf dich bin. Da mir das Rumspielen heute nicht gelingen will, morse ich dir an dein blödes Bettgestell, wie einfach ihr Kerle es im Leben habt, dass quietschvergnügt Tag und Nacht an euch rumfummeln könnt und dass ihr euch zur Not auch auf dem Marktplatz neben einer Imbissbude an den Glocken rumspielen würdet. Ich rolle mich unter dem Bett hervor, ziehe mich am Bettgitter hoch, klatsche mir auf den Hintern und zwinkere deinen beiden Bettnachbarn zu. Ich greife dir an deinen Schwanz und flüstere dir ins Ohr, dass ihr Kerle es guthabt, und dass mich das schon früher interessierte und ich dich deswegen auf dem Schulhof gefragt hatte, ob du es dir schon mal gemacht hast. Ich ziehe an deinem Schwanz, hauche dir über die Stirn und erinnere dich, wie du bei meiner Frage früher so wunderbar rot geworden warst. Ich sehe dich an, streichle dir über die blassen Wangen und wünsche mir, dass du zur Abwechslung auch mal wieder rot werden könntest. Mir gefiel das damals so gut, dass ich dich auf unserem Hofpausenrundgang nochmal gefragt hatte, ob du dir´s in der Zwischenzeit wieder gemacht hast. Und wie beim ersten Mal, wurdest du rot, stottertest und verrietest mir ungewollt, was ich wissen wollte. Seit diesem wunderbaren Ereignis lauerte ich dir jeden Tag auf den Schulweg auf, um von dir zu erfahren, was du tags zuvor gemacht hattest, rempelte dich beim Mittagessen ausversehen an und setzte mich an deinen Tisch oder passte dich auf dem Nachhauseweg ab und verwickelte dich in Gespräche über deine und auch meine Zukunft. Ich brachte dich nach unserem dritten oder vierten zufälligem Treffen dazu, dass du mich zu mir nach Hause begleitet hast. Dabei bemerkte ich, wie simpel es war, dich zu führen und die Oberhand zu haben. Und das faszinierte mich. Ich hörte dir neugierig zu, dass du in deiner Freizeit, Orgel, Klavier und Gitarre spielst, zum Modellieren und Zeichen gehst, soeben einen Goldschmiedekurs bei deiner Tante gemacht hattest und an den Wochenenden mit deinem Cousin Bergsteigen oder Kanu fahren gehst. Von der Art, wie du mir das alles erzähltest, war ich völlig perplex. Keine Angebernummer wie bei den anderen Jungs der Schule, kein Gelaber oder blöde Kinderei über Titten und Schneckenkram. Nichts. Du erzähltest mir von deinen Schwierigkeiten beim Zeichnen und Musizieren, was du alles noch nicht beherrschst, du noch alles ändern musst und was ich denn zu alledem sage und welche wertvollen Tipps ich dir dazu geben könne. Du sahst mich mit deinen braunen Augen an, wühltest in deiner schwarzen Lockenmähne, zuppeltest an deinem Bärtchen und bohrtest fortwährend in deinem linken Ohr. Weil ich dir überhaupt nichts antworten konnte und ehrlich gesagt auch völlig neidisch neben dir stand, dachtest du, ich fände dich genauso bescheuert wie die anderen Jungs aus der Schule. Du entschuldigtest dich beim nächsten Treffen mit einem selbst geschriebenen Lied. An diesem Tag hatte ich mich in dich verknallt. Ich war verknallt in deine ungekämmte Lockenmähne und die Haare, die über deine Schultern und über deine Brust hingen. Ich war verknallt in deine braunen Augen mit den fast zusammengewachsenen Augenbrauen, in dein Lächeln mit den zwei schiefen Zähnen im Oberkiefer. Und ich war verknallt in deine langen Finger, die du immerzu in Bewegung hieltest und in die Hosentaschen stecktest, wenn du bemerktest, dass ich auf sie sah. An diesem Tag wusste ich, dass ich dich will, koste es was es wolle. Und ich wusste sofort, dass ich dich, wenn ich dich erst einmal habe, nie und nimmer an irgendeine andere hergeben werde.

Weil du immer noch nicht rot wirst, schlage ich dir links und rechts auf die Wangen und freue mich, dass endlich deine langweilige Blässe verschwindet. Ich frage dich, ob du dich noch erinnern kannst, dass ich dich, als wir zusammen waren, so lange über das Onanieren genervt hatte, bis du aufgabst und mir brav erzähltest, dass du an die wackelnden Brüste der ach so sportlichen Volleyballspielerinnen gedacht hattest, an die ach so supernette Musiklehrerin oder an die ach so durchtrainierten Kanumädels mit denen du Morsekurse übtest. Ich war sauer. Stinksauer. Um mich von dem Gedanken abzulenken, schnipse ich mit den Fingern auf deine Wangen und frage dich, ob du dich auch noch daran erinnern kannst, dass du mir damals gesagt hast, dass du ab und zu an mich gedacht hast und gemacht hattest. Ich hatte dich gefragt, wie oft du an die Volleyballspielerinnen und wie oft du an mich denken musst. Du bliebst mir die Antwort schuldig, an wen du mehr dabei denken musstest und ob du es lieber auf dem Bauch oder auf dem Rücken machst. Was ist das für eine Frage, hast du gesagt, natürlich im Stehen, natürlich vorm Fenster und natürlich in die Vollmondsilhouette. Weil ich mich über die Antwort auch heute noch ärgere, halte dir die Nase zu, schnipse nochmal mit meinen frisch lackierten Fingern kräftig auf deine roten Wangen und flüstere dir ins Ohr, dass du mir schon damals in entscheidenden Fragen ausgewichen bist und ich das in Zukunft nicht mehr dulden werde. Dabei wollte ich doch damals eigentlich nur wissen, mit welchen Mädchen du es vorher getrieben hattest. Du hast mir zwar gesagt, dass wir beide uns entjungfert hätten, aber ich glaube dir das bis heute nicht. Zu viele Mädels schwirrten um dich herum. Außerdem gab es da ein Gerücht, du hättest die hässliche Gruftiliese mit den ungewaschenen schwarzen Haaren und dem Metallzeug im Gesicht aus der Parallelklasse während der Klassenfahrt gevögelt, zumindest hatte sie dieses widerliche Gerücht in der Hofpause unter die Mädels gestreut. Ich war damals so wütend, dass ich erst dich und danach mich vergiften wollte. Und du kannst von Glück reden, dass ich in dem Moment nicht wusste, wie das geht und was man dazu alles braucht. Chemie ist nun mal nicht meine Stärke. Zur Strafe habe dich danach solange mit dem Runterholen genervt, bis du es endlich vor mir gemacht hast. Ich hatte mich mit verschränkten Armen vor dir aufgestellt, dich aufgefordert, mit den Händen geschnipst und gewartet bis es endlich kam. Dann habe ich mich etwas von dir weggestellt, dir zugerufen, ist das alles und dich ein weiteres Mal aufgefordert, dass du es nochmal machen sollst, dieses Mal aber noch weiter als vorher. Als das dann nicht genau vor mir runterkam, fragte ich dich, warum du nicht ordentlich gekommen bist. Bin ich ein Zuchtbulle, bin ich ein Elefant, hattest du geschrien. Ja, hatte ich gesagt, ja, du hast doch gesagt, dass du einen Dinoschwanz hast und immerzu an die Volleyballmädels, die Musiklehrerin und die Kanuliesen in ihren kurzen Hosen denkst. Das war Spaß, einfach nur Spaß, hattest du wütend gesagt. Ich fand das damals gar nicht witzig, überhaupt nicht. Na dann kommst du eben noch einmal, hatte ich geantwortet. Wie oft soll ich denn noch kommen, ich bin doch keine Maschine. Ich glaube, so wütend warst du sonst nur, wenn ich nach den Mitschülerinnen fragte. Da konntest du unendlich genervt sein.
Ich streichle über die Stelle der Bettdecke, unter der dein Ding ist und überlege, wie das ist, einen steifen Penis zu bekommen und wie es wäre wenn mir jetzt so ein riesiges Ding wachsen würde. Dann würde ich jetzt zum Silvesterabend mit so einem harten Teil hier durch das Zimmer wandern.

Der Lauscher

Der Lauscher will von sich nicht viel erzählen, er hört gern andere reden. Überall wo es etwas zu hören gibt, ist er zu Haus´. Um die ganze Welt ist er schon gekommen. Keine Hitze und keine Kälte machen ihm zu schaffen, wenn er nur die Möglichkeit hat, ein paar Wörter zu erhaschen. Auf dem Rücken trägt er dafür stets einen Rucksack, der ihm den Lauschangriff leichter macht. Ein Klapphocker für die optimale Lauschsitzhaltung findet darin ebenso Platz wie ein großes schwarzes Fernglas. Letzteres lässt das Lippenlesen auch vom Hotelzimmer aus zu und vermittelt ihm neben dem gesprochenen Wort zusätzlich ein mimisches Ausdrucksspiel. Am Wichtigsten aber sind dem Lauscher die Ohren. Er ist ein Ohrenspitzer. Unter höchster Konzentration zieht er dafür die Stirn nach oben, rümpft kurz die Nase, klappt die Ohrmuscheln einmal um, öffnet sie wieder und lauscht. Es gibt niemanden, der die Ohren besser spitzen könnte als er.