Unter Dir, Teil IV

In den ersten beiden Teilen legt sich die Freundin des Patienten unter das Bett und versucht im Dunkel der Nacht mit ihm „Kontakt“ aufzunehmen.
Im dritten Teil entkleidet sie sich vor ihrem Freund und dessen beiden Mitpatienten.
Im heutigen vierten Teil sucht sie ein Samtbeutelchen, das sie trotz intensiver Suche nicht finden kann. Wie in den vorangegangenen drei Teilen wird sie auch in diesem Teil bei ihrem nächtlichen Treiben von der Schwester gestört. Und wie immer, muss sie, wenn sie Schlüsselgeklapper von Fern vernimmt, unter das Bett rollen. Unter ihm liegend, hofft sie, dass sie auch in dieser (letzten) Nacht unentdeckt bleibt.

Ich krabble wieder unter dem Bett hervor, stelle mich breitbeinig vor dir auf und frage dich im nachäffenden Schwesternton, was du heute für schlimme Sachen machst und wie wild deine Träume mit deiner Traumfrau sind. Ich nehme deinen Beatmungsschlauch, drücke ihn zwischen Daumen und Zeigefinger zusammen und frage dich nochmal, ob sie dir wirklich besser gefällt, seit wann du auf kräftige Schwestern stehst, obwohl du mir doch immerzu gesagt hattest, dass ich die beste Figur der ganzen Schule habe und ob du wirklich denkst, dass ich deine Weibergeschichten nicht bemerke. Ich löse den Daumen vom Zeigefinger und lege den Schlauch auf seine alte Stelle. Wütend schiebe ich dein Gesicht auf dem Kissen zurecht, bis es exakt unter meinem liegt. Damit du mich besser sehen kannst, ziehe ich eines deiner Augenlider hoch, halte den Lichtkegel der Taschenlampe hinein und frage dich, woher du verdammt nochmal weißt, dass die Schwester unbemannt ist. Ich ermahne dich, dass du ab jetzt schön artig sein musst, dass du mir in unserer ersten Nacht etwas versprochen hast, dass ich mich für dich aufopfere und dass ich es überhaupt nicht fair finde, dass du in unserer heutigen alles entscheidenden Nacht genauso einen Blödsinn machst, wie du ihn in der Nacht deines Unfalls gemacht hattest. Ich schüttle den Kopf, lege die Taschenlampe auf den Nachttisch, streichle dich und flüstere dir ins Ohr, dass ich dir den Weiberkram letztmalig verzeihen werde und nach dieser Nacht sowieso für uns beide alles anders wird.

Ich schiebe mich unter das Bett, suche meine Tasche hervor und krame nach dem roten Samtbeutelchen. Da ich es nicht finde, bekomme ich Panik und schüttelte die Tasche über deiner Bettdecke aus. Ich halte die Hände vor den Mund, schließe die Augen, drehe den Kopf im Kreis und überlege, wo ich das Samtbeutelchen hingelegt habe. Da ich von jeher vergesslich bin, versuche ich deine Methode des rückwärtigen Denkens anzuwenden. Ich atme tief ein, lege die Finger an die Schläfe und lasse die Luft herausgleiten. In langsamen Kreisbewegungen gehe ich vom Krankenhaus zurück in die Wohnung, wo mich deine nervige Mutter wieder mit einem ihrer vorwurfsvollen Blicken empfängt. Ich sehe wie sie einen frischen Strauß Blumen neben dein Foto stellt, höre mich sagen, dass du kein bisschen tot bist, ich alles in meiner Macht stehende tun werde, dass du am Leben bleibst und ich auch nie und nimmer zustimmen werde, die medizinischen Geräte abzustellen. Ich höre mich mit deiner Mutter streiten und ihr vorwerfen, dass sie dich viel zu wenig besucht und dein Schicksal endlich ertragen soll und sehe wie sie wieder mit einem Heulkrampf dein Zimmer verlässt, dass ich seit deinem Unfall bewohne. Ich gehe zurück ins Großraumbüro zu den Kollegen, die mich permanent zu irgendwelchen Feiern einladen und jedes Mal beleidigt sind, wenn ich dankend ablehne. Ich gehe zurück in die übervolle Kantine an den Tisch zu den Azubis, höre ihre dummen Anmachwitze und höre wie der eine mir unterstellt, dass ich die Chance heimlich nutze und mich mit irgendwelchen Typen rumtreibe. Dabei spüre ich den dumpfen Schmerz in der Hand, als ich dem Neuen aus der Presseabteilung, der mir die Zunge zu einem angedeuteten Kuss rausstreckt eine Ohrfeige verpasse. Ich gehe zurück in den Supermarkt, um dir deinen Lieblingsschokoriegel und dein Lieblingsbier zu kaufen. Ich sehe die überschminkte Kassiererin mit dem aufgetürmten Dutt, höre wie sie mich fragt, wie es ihrem ehemaligen Lieblingskunden derzeit geht, wie sie mir ellenlang versichert, dass ihr die ganze Sache von damals immer noch leid tut und sie hofft, dass du irgendwann wieder bei ihr einkaufen kommst und sie mit deiner freundlichen Art und deinem schönen Lächeln wieder erfreust. Ich spüre mein Unbehagen an der Kasse und meine Angst, sie könnte mir wieder eine ihrer unzähligen langweilen Kindergeschichten von dir und ihrem Sohn erzählen. Und ich erinnere mich, wie ich das viele Restgeld liegenlasse und davonrenne. Von der aufdringlichen Verkäuferin gehe ich Schritt für Schritt dein riesiges, stuckverziertes Zimmer mit dem Marmorkamin und der zweiflügligen Tür ab, in dem ich seit unserer ersten Nacht unbedingt leben wollte. Weil ich mich immer noch nicht an das Samtbeutelchen erinnern kann, kneife ich die Augen fester zusammen, drücke auf die Schläfen bis sie schmerzen und fordere dich auf, mir zu helfen, denn schließlich wäre der Inhalt des Samtbeutelchens, die für uns beide lange erhoffte Lösung. Immer stärker schwinge ich dabei meinen Kopf. Ich sehe das große Stahlregal mit deinen zerflederten Märchenbüchern, sehe deine schweren Kunstbände mit den Abbildungen, die außer dir, kein Mensch versteht, sehe deinen verschnörkelten Schrank, in dem deine anatomischen Skizzen zuhauf aufgestapelt liegen und von denen ich mir die allerschönsten Männerakte ganz gern vor dem Schlafengehen ansehe, und von denen ich mir die die besonders schönen Akte auf dein Kopfkissen lege und mich so lange streichle, bis ich wieder ruhig werde und endlich einschlafen kann. Ich sehe den übervollen Mülleimer, in den ich in der letzten Woche Aktzeichnungen von Frauen hineinwarf, weil ich felsenfest davon ausging, dass sie allesamt nur misslungenen Schweinskram darstellten. Und ich erinnere mich, dass ich die zerrissenen Zeichnungen unbedingt morgen früh wegwerfen muss, bevor sie deine Mutter findet und ein Heidentheater anstellt. Ich sehe das Schränkchen mit deinem Modellierkram und dem unfertigen Gipsportrait von mir. Ich sehe unser schönes weiches Bett mit den vielen Kissen, sehe unsere gemeinsame Hängematte, die wir manchmal aus Jux benutzt haben und ich sehe dein Faltboot, in das ich ab und zu ein paar Löcher stach, damit wir nicht ständig in irgendwelchen Seen an den Wochenenden paddeln mussten und stattdessen gemütlich im Bett zwischen den vielen Kissen liegen bleiben konnten.

Ich öffne die Augen, seufze, umgreife deine Hände, ziehe sie zu mir hoch, küsse sie und bitte dich, mir doch bei der Suche des Samtbeutelchens ein bisschen zu helfen. Da deine Hände unendlich schwer sind, lasse ich sie auf die Bettdecke gleiten und entschuldige mich bei dir, dass mir im Moment die Kraft und auch die Nerven fehlen, sie weiter an mich zu drücken. Ich lege sie vorsichtig neben deinen Körper und massiere deine Handrücken entlang den Venen bis zu den Fingerspitzen deiner Ringfinger und bitte dich, mir doch endlich zu helfen. Ich küsse deine Handrücken und tupfe mit der Nase darauf. Ich schließe wieder die Augen und ziehe deine linke Hand zu mir hoch. Ich schiebe deinen Zeigefinger auf meine Lippen, lächle und erinnere mich, wie du früher versuchtest, Klavier zu spielen, wie ich dich neidisch dabei beobachtet hatte und, um dich davon abzubringen, von dir verlangte, dass du mit deinen Fingern genau das Gleiche mit mir machst, was du mit dem doofen Klaviertasten getan hattest. Ich puste zufrieden Luft aus und erinnere mich an den Moment, als ich es nach einer tollen Nacht endlich geschafft hatte, dich dazu zu bringen, die Klimperei abzumelden und das Klavier aus der Wohnung abholen zu lassen. Ich knabbere an deinem Nagel und schiebe deinen Zeigefinger zwischen meine Lippen, sauge daran und höre dich sagen „Jetzt nicht, ich muss üben, jetzt nicht, du blonde Hexe, gibst du denn nie Ruhe!“ Ich erinnere mich wie ich dich fragte, ob du denkst, dass die Musiker früher ohne Sex gelebt hätten, wie ich dir die Hose nach der Frage aufmachte und mit meinen Fingern anfing an deinem Ding zu üben, wie ich mir vorstellte ein Instrument zu spielen. Auf deine Bedenken, dass das alles auf den Tasten des geborgten Klaviers landen könnte, reagierte ich nie.
Ich öffne den Mund, lasse deinen Finger hinausgleiten, reibe deine Hand über meine rote Wange und bin erstaunt wie beweglich deine Finger wieder geworden sind. In den letzten Wochen haben die Schwestern die Fingermassage vernachlässigt, obwohl ich sie mehrfach gebeten habe, dass sie intensiv üben sollen. Deswegen habe ich mich Nacht für Nacht hingestellt, jeden deiner Finger massiert und sie so auf den heutigen Abend vorbereitet. Da deine Hand mir zu schwer wird, lege ich sie behutsam auf die Bettdecke zurück und bemerke, dass sie dir wieder ein langweiliges Krankenhauslaken über die Matratze aufgezogen haben. Wie oft habe ich den Schwestern unsere Lieblingswäsche mitgebracht! Da ab jetzt sowieso alles anders wird und mir hier in eine paar Minuten keiner mehr etwas vorschreiben kann, ärgere ich mich nicht und hole stattdessen das blau-gelb karierte Laken aus der Tasche, auf dem wir es zum ersten Mal gemacht haben und auf dem wir uns ewige Treue geschworen haben und in dem wir auch gemeinsam begraben werden wollen. Gleich können mir die Schwestern nichts mehr von Krankenhaushygiene sagen und mir auch nicht mehr deine Bettwäsche mitgegeben. Plötzlich fällt mir ein, wo ich das Samtbeutelchen abgelegt habe. Ich sage dir, dass ich dir für deine Methode des rückwärts gerichteten Denkens unendlich dankbar bin und ich vom ersten Tag wusste, warum ich nur mit dir zusammen sein wollte und nicht Melvin aus der Parallelklasse oder dem ekligen Schulcasanova Chris. Ich gebe dir einen Schmatzer auf deine Stirn, einen weiteren Schmatzer auf deine Nase und einen auf deinen kahl rasierten Kehlkopf. Ich ziehe dir abwechselnd an den Ohren, lecke abwechselnd in sie hinein und pople dir auch abwechselnd in deinen Nasenlöcher. Da ich jetzt weiß, wo ich das Samtbeutelchen hingelegt habe, stelle mich auf das Bett, winke den beiden anderen Patienten zu und mache ausladende Schwanenbewegungen. Wie die Nachtschwester, strecke ich meine Hand aus und hauche den beiden fette Luftküsse zu, zwinkere und höre von Ferne Schlüsselgeklapper. Vor Schreck verliere ich das Gleichgewicht, falle von deiner Bettdecke herunter und lande mit einem Knall auf dem harten Linoleum. Benommen krieche ich unter das Bett, stoße mich dabei diesmal an der Stirn, dass mir schwindlig wird und ich für einen klitzekleinen Moment nichts mehr sehen kann. Ich fluche, stoße mit dem Ohr an einen Längsträger und ärgere mich, dass mir das in letzter Zeit immer öfter passiert, obwohl ich doch das Darunterrollen fleißig übe. Nur für dich, mein Schatz, habe ich mir teure Sportkleidung gekauft. Und nur für dich schleiche ich einmal pro Woche am Abend, wenn alle Kinder zuhause sind, in den nahe gelegenen Stadtteilpark und rolle mich immer und immer wieder unter die unterste Strebe des verrosteten Klettergerüstes hindurch und höre erst auf, wenn ich es mindestens fünf Mal in Folge fehlerfrei geschafft habe. Danach jogge ich in die Altbauwohnung deiner Mutter zurück, dusche mich ausgiebig mit ihrem Warmwasser ab, stelle die Lieblingsmusik auf volle Pulle, frisiere und schminke mich, obwohl ich ganz genau weiß, dass du das als aufgedonnerten Schnickschnack abtust, plündere anschließend die leckersten Sachen aus dem Kühlschrank und mache mich danach vergnügt auf den Weg zu dir

Mein Hase

Du bist wach. Du bist allein. Du streckst dich. Du öffnest Facebook. Drei deiner Freunde haben ihr Profilbild geändert. Zwei tragen jetzt Mützen. Einer fährt Ski. Ansonsten keine Neuigkeiten. Keine neuen Likes. Keine neuen Nachrichten. Du rollst durch die alten. Alle gelesen. Alle beantwortet. Du checkst deine E-Mails. Zwei Newsletter. Viermal Spam. Du drückst sechs Mal Entfernen. Du öffnest den Chat. Keiner deiner Favoriten ist online. Du hast große warme braune Augen.

Ich reibe den Schlaf aus meinen und krümle die Körner auf den Teppich. Meine Augen brennen. Das ist einfach nicht mein Biorhythmus. Ich greife zu meiner Kaffeetasse. Sie ist leer. Ich müsste aufstehen und neuen Kaffee aufsetzen. Das geht jetzt nicht. Ich will nichts verpassen. Ich schlage mir die Hände ins Gesicht. Ich ohrfeige mich. Adrenalin macht wach. Ich will jetzt wach sein. Du bist wach. Was machst du?

Du greifst zu deinem Telefon. Keine neuen SMS. Keine Benachrichtigungen. Du rollst durch dein Adressbuch. Du könntest jemanden anrufen. Aber wen? Die Hälfte der Leute hat in den letzten acht Wochen keine Rolle in deinem Leben gespielt. Du löschst ein paar von denen. Du blätterst durch deinen SMS-Eingang. Du liest alte Nachrichten. Du löschst ein paar von denen. Du könntest jemandem schreiben. Aber wem? Oder was? Du kaust auf deinen Lippen. Lass das! Du gehst zum Fenster und legst deine Stirn an die Glasscheibe. Was siehst du?

Ich öffne eine neues Nachrichtenfenster und schreibe dir: „Guten Morgen.“ Wen soll ich als Absender nehmen? Ich lasse es. Stattdessen angle ich die letzte Zigarette aus dem Päckchen. Ich muss neue holen. Ich suche mein Feuerzeug. Ich suche den Aschenbecher. Ich habe keinen Kaffee. Ich raste aus. Ich klemme die Zigarette ohne Feuer zwischen meine Lippen. Ich schmecke trotzdem Rauch. Ich sollte lüften. Ich brauche frische Luft. Du brauchst frische Luft.

Du solltest rausgehen. Nimm dein Handy mit. Dann bin ich beruhigt. Es dämmert schon. Du warst noch nicht draußen. Aber es regnet und du willst nicht raus. Du kriegst eine neue E-Mail. Dein Foto-Netzwerk. So gelingen tolle Schnappschüsse bei tristem Frühlingswetter. Du klickst die Benachrichtigung weg. Du steckst dir eine Zigarette an. Du hast noch massig Zigaretten. Feuerzeug und Aschenbecher liegen griffbereit. Typisch für dich. Du atmest weißliche Schwaden aus. Du bist blass wie ein Geist. So gelingen tolle Schnappschüsse vor Ihrem Rechner. Ich möchte auch eine Zigarette rauchen.

Ich lasse meinen Kopf zwischen meine Knie fallen. Mein Rücken schmerzt. Ich finde mein Feuerzeug hinter einem meiner Monitore. Ich finde meinen Aschenbecher unter dem Tisch. Ich muss tagsüber ein paar Minuten eigenickt sein. Ich kann mich nicht erinnern ihn runtergeschmissen zu haben. Ich strecke meine Beine unter den Tisch. Mit den nackten Füßen schiebe ich die Asche zu einem Haufen zusammen. Ich stecke mir die Zigarette an. Der Filter ist schon ganz aufgeweicht. Ich inhaliere. Wir rauchen eine Zigarette zusammen. Ich muss aufräumen. Morgen früh. Wenn du wieder schläfst.

Du gehst zum Kühlschrank. Du kniest Dich davor. Du hast einen schönen Hintern. Du nimmst das Saure-Gurken-Glas heraus. Viel mehr Auswahl ist nicht. Seit einer Woche warst du nicht einkaufen. Mit den Fingern angelst du in der Brühe. Du nimmst eine Gabel aus dem benutzten Geschirr. Du spießt die Gurke auf und isst sie. Du hast Appetit auf Erdnussbutter. Du hast die Erdnussbutter gestern alle gemacht. Du hast keine Vorräte. Nicht mal Nudossi. Null Überblick hast du. Du läufst zur Süßigkeiten-Schublade. Du findest Gummibärchen. Du magst keine Gummibärchen. Du magst jetzt was Richtiges.

Dein Telefon vibriert. Whopper-Menü heute im Angebot. Milchshake für einen Euro. Du hebst die Augenbrauen. Du lächelst. Du drehst dich und kratzt dich am Hals. Du überlegst. Du entscheidest. Du willst ein Whopper-Menü. Du schlüpfst aus deinem Schlafshirt und lässt es auf den Boden fallen.

Ich halte die Luft an. Deine weiße Haut! Deine Schulterblätter! Deine Hüften! Du verschwindest zum Kleiderschrank. Ich raufe mir Haare. Ich muss daran ziehen. Ich brauche einen Reiz. Bitte nimm das rote T-Shirt! Deine Brust in dem Roten T-Shirt! Du kommst mit dem roten T-Shirt zurück. Ja! Es ist soweit. Heute! Du ziehst Dich an. Deine Schenkel! Deine Waden! Ich muss mich anziehen! Deine Hosen sind eng geworden. Dir steht das. Meine Hosen haben Gummibund. Du wirst mich sowieso nicht bemerken.

Du suchst Deine Schuhe. Du findest Deine Schuhe nicht. Ohne Schuhe kannst du nicht raus. Das passt dir gut. Du willst nicht nach draußen. Willst du nie. Aber du bist hungrig. Dann fällt es dir ein. Deine Schuhe stehen vor der Tür. Du hast sie dort stehen lassen. Sie waren nass und schmutzig geworden. Neulich. Meine Schuhe stehen vor dem Bett. Aber ich brauche eine Jacke. Ich kann nicht im Unterhemd vor die Tür. Ich rase durch meine Wohnung und suche meine Jacke. Ich finde sie auf dem Kochfeld. Ich kam hungrig nach Hause neulich und hatte die nasse und schmutzige Jacke vor dem Kühlschrank ausgezogen. Ich schlüpfe hinein. Ich hole meine Schuhe. Ich gehe an meinen Platz um sie anzuziehen. Wo bist du?

Du kommst aus dem Bad zurück und gehst zur Wohnungstür deines Apartments. Du legst dein Auge an den Spion. Du trittst einen Schritt zurück. Du zögerst. Du trittst wieder zur Tür. Du wartest. Du lehnst dich mit dem Rücken an deine Tür und knallst deinen Hinterkopf dagegen. Du ziehst deine Jacke aus. Du kaust an deinen Nägeln. Als wärest du nicht in Sicherheit! Du lässt dich aufs Sofa fallen. Was ist los?

Du schaltest den Fernseher ein. Dein Fernseher hat Zugriff auf dein Netzwerk. Wie ich. Eine dicke Frau legt Karten. Du nimmst dein Telefon aus der Tasche. Du wählst die eingeblendete Nummer. Du willst nach deiner Zukunft fragen? Wie albern! Du hörst sowieso nicht zu! Die Nummer ist besetzt. Du legst auf und stützt den Kopf auf deine Hände.

Du hast Sehnsucht. Ich habe Sehnsucht. Aber du hast einen Vorteil: Dich gibt es. Ich habe auch einen Vorteil: Du bist naiv. Du hättest die Bilder nicht herunterladen sollen. Nicht auf deinen Rechner und nicht auf dein Handy. Man öffnet keine Dateien von fremden Männern. Du wolltest den Mann kennen lernen. Aber so einen Mann gibt es nicht. Jetzt habe ich dich kennen gelernt. Und ich werde Dich treffen. Heute. Ich schalte deinen Fernseher aus. Du staunst. Du nimmst die Fernbedienung in die Hand. Du kratzt dir irritiert dich irritiert hinter dem Ohr. Du siehst niedlich aus. Die liest die schwarze Mattscheibe als Zeichen. Du erinnerst dich an deinen Hunger.

Du kommst zurück zum Schreibtisch und greifst nach deinem Portmonee. Du zählst dein Geld. Es müsste reichen. Findest du auch. Du gehst wieder zur Tür. Du lauschst ins Treppenhaus. Du fährst dir durch deine braunen Locken. Der Hase traut sich nicht aus seinem Bau! Mein Hase! Du schnappst dir den Schlüssel von der Kommode und traust dich doch. Mit einem Ruck öffnest du die Tür. Zügig fällt sie hinter dir ins Schloss. Bravo! Ich brauche noch ein paar Sekunden. Die Stille in deinem Apartment fesselt mich. Ich sehe es so selten leer. Dein Bau.

Ich stürze ins Treppenhaus und haste die Treppen hinunter. Du wirst den Lift nehmen. Dein Weg ist viel kürzer. Du wirst vor mir da sein. Vor der Haustür atme ich kurz durch. Haltung! Am besten die eines Niemand. Ich höre meinen Puls nicht mehr. Ich betrete die Straße. Der Wind kitzelt hinter den Ohren. Ich schüttele mich. Ich reiße mich zusammen. Der Regen platscht mir auf die Kopfhaut. Das ist erniedrigend. Draußen läufst du ganz anders. Deine Schritte sind größer und fester. Dein Gang ist eine Pose. Deine Pose amüsiert mich. Bald bin ich dicht hinter dir. Ich würdige dich keines Blickes. Du öffnest die Tür zum Restaurant. Du hältst sie mir nicht auf. Du würdigst mich keines Blickes. Ich bin dir zu alt und zu dick. Das hast du klipp und klar geschrieben. Warum solltest du mich treffen? Das hast du geraderaus gefragt. Ich hätte keine Chance. Du bist hungrig. Ich bin hungriger. Ich bin cleverer. Du hattest keine Chance.

Du stehst vor mir in der Schlange. Du bist größer als ich dachte. Kräftiger. In der Kapuze deiner Jacke liegen ausgefallen Haare. Ich reiße mich zusammen. Ich trete näher an dich heran. Du suchst nach dem Sonderangebot auf den Angebotstafeln. Der Erfinder des Sonderangebots steht hinter dir. Ich versuche dich zu riechen. Ich rieche Bratfett. Ich trete noch näher. Der Gedanke dich zu riechen erregt mich. Du hast dich heute noch nicht deodoriert. Aber ich muss mich zusammenreißen. Du bist dran. Deine Stimme ist leise und belegt. Ich mag deine Telefonstimme lieber. Du traust dich nicht nach dem Sonderangebot zu fragen. Du kramst umständlich Münzen aus deinem Kleingeldfach. Ein 2-Euro-Stück rutscht dir aus den Händen und fällt auf den gefliesten Boden. Ich könnte mich Bücken und es dir aufheben. Du würdest mich ansehen. Du würdest Danke zu mir sagen. Vielleicht würdest du lächeln. Ich kann nicht.

Du bückst dich und hebst das 2-Euro-Stück selbst auf. Du siehst dich nervös um. Ich richte meinen Blick auf den Boden. Ich atme tief aus. Ich ärgere mich. So habe ich mir das nicht vorgestellt. Die Verkäuferin fragt „Zum Mitnehmen?“. Du nickst. Sie wirft den Burger und die Pommes in eine Papiertüte. Den Milchshake stellt sie daneben. Sie faltet die Papiertüte zu und schiebt sie über den Tresen. Du greifst danach. Ich sammle mich. Ich atme tief ein. Du drehst dich um und läufst auf mich zu Richtung Ausgang. Ich nehme meinen Mut zusammen. Ich mache einen Schritt in deinen Weg. Deine Schulter stößt gegen meine. Du rempelst mich an. Deine Schulter ist fest. Du riechst salzig. Ich höre meinen Puls wieder. Du bleibst stehen. Du siehst mich an. Du hast verboten große warme braune Augen. Du hebst deine Augenbrauen. Ich reiße mich zusammen. Ich sage Entschuldigung. Du legst die Hand an meinen Oberarm. Ich zucke. Du sagst: „Kein Problem.“ Mir dreht. Die Verkäuferin fragt: „Bitte?“. Ich kann deinen Blick nicht halten und sehe zur Verkäuferin. Du kannst meinen Blickt nicht halten und siehst zur Tür. Ich sage: „Das gleiche nochmal.“ Du läufst los. Zurück in deinen Bau. Ich sehe dir nicht nach. Du gehst. Ich bleibe.

Inventur

Der Beamte tritt kräftig gegen die Querstrebe zwischen den Tischbeinen. Auf seinem Bürostuhl rollt er quietschend zum Drucker. Seine Füße reckt er gerade in die Luft, um sich nicht zu bremsen. „Hui!“ Sein Stuhl kommt exakt eine Armlänge vor dem Dokumentenfach zum Stehen. Der Beamte nickt zufrieden, bevor seine Zunge langsam zwischen seinen Lippen hervor gleitet. Mit Daumen und Zeigefinger zupft er daran, um seine Fingerspitzen zu befeuchten. Seite für Seite sortiert er den Bericht aus dem Drucker. Mit seinem Hintern im Drehstuhl tippelt er zurück zum Schreibtisch. Er staucht den dünnen Stapel Papier auf die Tischplatte, um die Seiten perfekt zueinander auszurichten. Entrückt lächelt er mich über seine Lesebrille an. Er bittet mich, den Bericht gründlich zu lesen und dann zu unterzeichnen. Einen Millimeter über dem Papier malt er mit seinem spitzen Bleistift flink einen Kringel in die Luft. Dann lehnt er sich zurück und verschränkt die Arme auf seinem Bauch. Er seufzt wie nach getaner Arbeit.

Am 5. Juni 2013 erreichte ich meine Wohnung zwei Stunden eher als erwartet gegen 23:10 Uhr. Meine Wohnungstür war ordnungsgemäß verschlossen.

„Ich möchte hier noch etwas ergänzen.“
Der Beamte macht einen Schmollmund. Er schnippst gegen den vor ihm auf dem Schreibtisch liegenden Bleistift, sodass dieser schnurgerade auf mich zu rollt. Ich schreibe: „Doppelt abgeschlossen, wie immer. Mein Türschloss ließe sich auch dreifach verriegeln, aber das finde ich übertrieben.“ Nach kurzem Zögern streiche ich „finde“ und ändere in „fand“.

Schon beim Betreten der Wohnung bemerkte ich den schmalen Streifen Licht, der durch die angelehnte Schlafzimmertür in den Flur fiel. Da ich meine Wohnung an diesem Tag jedoch sehr zeitig und in großer Eile verlassen hatte, vermutete ich, es versäumt zu haben, meine Nachttischlampe auszuschalten. Ich zog meine Schuhe aus und hängte meinen Mantel zu meinen anderen Jacken an die Garderobe. Ich wunderte mich über deren nach außen gekrempelte Taschen, musste jedoch so dringend zur Toilette, dass ich diese nicht näher untersuchte. Im Badezimmer stutze ich über den offen stehenden Medizinschrank, erklärte mir diese Unordnung aber neuerlich mit meiner Eile am Morgen.

Als ich das Bad verließ, raschelte es im Schlafzimmer. Ich erstarrte. Erst, als ich sicher war, das Rascheln erneut zu hören und ich es mir also nicht einbildete, erlaubte ich mir, weiter zu atmen. Auf Zehenspitzen schlich ich zur angelehnten Tür und lukte durch den Spalt. Am Fußende meines Bettes, wippten zwei edle schmale schwarze Lederschuhe. Ihre hellen Sohlen waren staubfrei.

Ich geriet in Zweifel darüber, ob ich mich möglicherweise in der Etage oder im Aufgang geirrt hatte. Da ich keinen meiner Nachbarn näher kannte, konnte ich nicht ausschließen, dass sie ihre Wohnung zufällig genauso eingerichtet hatten, wie ich. Das neben der Tür angebrachte Schlüsselbrett war jedoch zweifelsfrei das meine, mein Neffe hatte es für mich ausgesägt und bemalt. Allerdings widersprach die Reihenfolge der Schlüssel meiner Gewohnheit.

Ich fasste den Entschluss, den Einbrecher zu stellen und wähnte mich im Vorteil, da er mich noch nicht bemerkt zu haben schien. Ich stahl mich in die Küche. Auf dem Küchentisch fand ich meine noch nicht abgeheftete Post durchwühlt. Ich nahm das Brotmesser an mich, denn im Falle eines tätlichen Angriffs wollte ich gewappnet sein.

Der Beamte schnauft amüsiert.
„Ich habe verstanden, dass Sie das leichtsinnig finden. Aber ich bleibe dabei: Das war es nicht! Wenn ich versucht hätte, meine Wohnung zu verlassen, hätte er mich sofort bemerkt. Wenn ich versucht hätte, noch in meiner Wohnung die Polizei zu rufen, erst recht.“
Der Beamte schiebt die Unterlippe nach vorn. Ich seufze und lese weiter.

Zurück an der Schlafzimmertür holte ich tief Luft, schloss die Augen und wartete auf den letzten Funken Mut, um die Tür auf zu stoßen und „Keine Bewegung!“ zu rufen! Mit zitternden Fingern führte ich meine Hand zur Klinke.

„Nun kommen Sie schon rein. Und wenn Sie das mit dem Brotmesser ernst meinen, sollten Sie es in die rechte Hand nehmen. Links haben Sie doch einen Tennisarm, oder?“

Sachte tippte ich gegen die Klinke, woraufhin sich die Tür langsam öffnete. Auf meinem Bett lag eine Person. Schwarzer Anzug, weißes Oberteil mit schmucklosen Knöpfen. Sie hatte sich mein Kissen unter den Rücken gestopft und lehnte mit dem Kopf an der Wand. Ihre Hände waren gepflegt und ohne Makel. Ihr Gesicht war ohne besondere Merkmale.

Der Beamte grunzt belustigt.
„Aber so war es! Ich kann das Gesicht der Person nicht beschreiben, weil es keinen einzigen markanten Punkt gab. Allerweltsaugen, nichtssagende Nase, ein Kinn ohne Charakter. Keine Sommersprossen, keine Muttermale, keine Frisur. Keine abstehenden Ohren, keine hohe Stirn, konturlose Lippen. Nichts, das man sich einprägen könnte, nichts!“
Der Beamte stülpt seine Lippen nach innen und dreht langsam den Kopf hin und her. Ich winke ab.

Die Ordner mit meinen Dokumenten türmten sich aufgeschlagen neben meinem Bett. Aus einer umgefallenen Aktentasche, lukte eine Tüte aus festem Kunststoff. Darin die Kaffeetasse, die ich am morgen nicht abzuspülen geschafft hatte. Meine Kleidung lag vor den Schränken auf dem Boden. Die Kisten mit selten benutzten Dingen, die ich auf den Schränken aufbewahrte, waren davor aufgestapelt. Meine Fotoalben musste die Person aus dem Regal genommen und aufs Bett geworfen haben. Eines von ihnen hatte sie aufgeblättert auf dem Schoß. Sie lächelte mich an.

„Wenn Sie mit dem Messer in der Linken auf mich losgehen, tun Sie sich selbst mehr weh als mir.“
„Woher wissen Sie das mit dem Tennisarm?“
„Auf ihrem Kleiderschrank fand ich einen sorgfältig verpackten Tennisschläger, auf dessen Tasche sich kein Staub gesammelt hatte, im Verbandsschrank im Badezimmer bewahren Sie eine typische Ellenbogenbandage auf und in der rechten Schublade ihres Küchenschrankes einen Kartoffelschäler für Linkshänder. Das war nicht schwer. Es tut mir übrigens sehr Leid, dass Sie diesen Anblick ertragen müssen. Sie sind ein sehr ordentlicher Mensch, das weiß ich. In Ihren Augen muss es hier chaotisch aussehen. Ich habe Sie erst in zwei Stunden zurück erwartet. Sie sind zu früh.“
„Ja. Woher-“
„Sehen Sie! Bei Lichte betrachtet sind es also Sie, die hier alles durcheinander gebracht haben und nicht ich.“
„Was zum Teufel reden Sie da?“
„Wären Sie zwei Stunden später nach Hause gekommen, hätten Sie ihre Wohnung selbstverständlich in bester Ordnung vorgefunden. So haben wir es bei den letzten Malen ja auch gehandhabt.“
„Bei den letzten Malen?“
„Nun, Sie sind seit vielen Jahren mein Klient. Es ist notwendig, Sie in regelmäßigen Abständen zu überprüfen. Sie sehen das sicherlich ein. Nein? Ach, das ist schade. Sie haben immer einen so vernünftigen Eindruck auf mich gemacht.“
„Was überprüfen Sie denn?“
„Alles. Wir suchen nach – sagen wir mal – Unregelmäßigkeiten.“
„Wir?“
„Ich. Als Repräsentant meiner Organisation.“
„Welcher Organisation?“
„Sie sind aber neugierig. Sie können sich denken, dass ich diese Informationen vertraulich behandeln muss.“
„Wer sind Sie?“
„Also erlauben Sie mal, das geht sie nun wirklich nichts an.“
„Für wen arbeiten Sie?“
„Sie sind ein kluger Mann, nicht wahr? Wie dem auch sei: Ich möchte Sie bitten Stillschweigen über die Sache zu bewahren.“
„Einen Teufel werde ich! Sie sagen mir jetzt sofort, wer Sie sind!“
„Mit Wahnvorstellungen wird man heute sehr schnell in Nervenheilanstalten eingewiesen.“
„Drohen Sie mir?“
„Aber nicht doch! Ich berate Sie. Nur zu Ihrem Besten.“
„Sie machen sich lustig über mich!“
„Ich verstehe wirklich nicht, warum Sie sich so aufregen.“
„Weil sie sich unbefugt Zugang zu meiner Wohnung verschafft haben?“
„Befugt oder unbefugt – eine Frage der Perspektive. In jedem Fall kein Grund, so laut zu werden. Sehen Sie nicht, dass Sie ihr Auftritt hier verdächtig macht?“
„Verdächtig wofür?“
„Das wird sich zeigen. Aber sie müssten sich ja kaum so aufregen, wenn Sie nichts zu verbergen hätten, richtig?“
„Das ist meine Wohnung! Mein Privatleben! Das geht Sie nichts an!“
„So beruhigen Sie sich doch. Ich mache nur meine Arbeit. Soweit ich das bisher beurteilen kann, haben Sie nichts zu befürchten. Sie sind ein rechtschaffender Bürger. Geradezu liebenswürdig.“
„Ich erlaube Ihnen nicht, über meine Würde zu sprechen.“
„Aber was haben Sie denn? Das Mäppchen mit den wilden nicht abgeschickten Liebesbriefen habe ich schon durch. Ich habe immer noch eine sehr hohe Meinung von Ihnen. Auch die Kiste mit den delikaten Gegenständen unter Ihrem Bett hat daran nichts geändert. Sie sind völlig unauffällig. Für Sie besteht überhaupt kein Grund zur Sorge.“

„Was suchen Sie?“
„Ich ver-suche, für Sicherheit zu sorgen. Für Ihre Sicherheit. Das alles geschieht in Ihrem Interesse.“
„Blödsinn!“
„Ich darf doch sehr bitten! Haben Sie denn kein Interesse daran, unbehelligt und in Ruhe leben zu können?“
„Unbehelligt? Haben Sie das wirklich gesagt?“
„Ich bin hier, um Sie zu schützen, so sehen Sie das doch ein! Ich schütze Sie! Vor Terroristen! Vor Kriminellen!“
„Auch vor Einbrechern? Wie sind Sie hier rein gekommen?“
„Wir haben unsere Wege, wie Sie sehen.“
„Haben Sie einen Zweitschlüssel von meiner Wohnungsverwaltung?“
„Ihre Wohnungsverwaltung wird Ihnen versichern, dass Sie mit alledem nichts zu tun hat.“
„Haben Sie mein Schloss geknackt?“
„Den Hersteller der Schlösser trifft keine Schuld.“

„Sie hören jetzt sofort auf, meine Sachen zu durchwühlen!“
„Aber wie stellen Sie sich das vor? Ich bin mit ihren Alben noch nicht fertig!“
„Ich vergesse mich gleich!“
„Wenn Sie dabei helfen wollen, die Sache etwas abzukürzen, könnten Sie mir aus dem Regal dort drüben alle Bücher heraus suchen, die Sie innerhalb der letzten zwölf Monate neu erworben und gelesen haben. So würde ich mir den Abgleich mit der Inventarliste vom letzten Jahr sparen.“
„Zeigen Sie mir diese Inventarliste.“
„Dazu bin ich nicht berechtigt.“
„Und danke für den Tipp, das Messer in die rechte Hand zu nehmen.“
„Es wäre dumm von Ihnen, mir zu drohen.“
„Es wäre dumm von Ihnen, mir nicht zu gehorchen.“
„Würden Sie bitte das Messer zur Seite legen? Andernfalls sehe ich mich gezwungen, Sie zu überwältigen und unschädlich zu machen.“

Mein Blick fiel auf den an der Innenseite der Schlafzimmertür steckenden Schlüssel.
„Lassen Sie diese Dummheiten.“ war das Letzte, dass ich die Person sagen hörte. So schnell ich konnte zog ich den Schlüssel von der Innenseite der Schlafzimmertür ab und schloss die Person ein. Dann verließ ich meine Wohnung und schloss meine Wohnungstür von außen dreimal ab. Vom Treppenabsatz aus rief ich die Polizei, die zehn Minuten später eintraf.

Der Beamte räuspert sich.
„Ich weiß, dass sie mich für paranoid halten. Aber da täuschen Sie sich! Ich bestreite nicht, dass Sie meine Wohnung in bester Ordnung vorgefunden haben. Sie müssen jedoch gestehen, dass das noch lange kein Beweis dafür ist, dass sie nicht zehn Minuten vorher in völligem Chaos lag. Ich habe das Chaos gesehen und die Person, die es angerichtet hat. Sie können sich auch nur auf das berufen, was Sie gesehen haben. Ich weiß nicht, wohin die Person ist. Durch die Wohnungstür jedenfalls nicht. Sie ist verschwunden.“
„Verschwunden.“, singt der Beamte.

Der Stift kratzt auf dem Papier, so dass ich die Anzeige mehr graviere als unterschreibe. Beim Punkt über dem i meines Nachnamens, platzt ein winziges Stück Mine ab. Kaum habe ich den schmalen Stapel wieder säuberlich zusammen geschoben, beugt sich der Beamte schon über den Tisch, um danach zu greifen. Nochmals staucht er die wenigen Seiten auf seine Tischplatte. Ohne seine Augen davon abzuwenden, angelt er mit dem linken Arm unter seinem Schreibtisch einen großen, schweren Locher heraus. Routiniert zieht er die Messschiene bis zur A4-Markierung heraus, an der sie klickend einrastet. Konzentriert darauf, die Seiten keinesfalls zueinander zu verschieben, legt er den Bericht unter die Stanzeisen des Lochers. Die Spitze seiner Zunge lugt dabei zwischen seinen Lippen hervor. Er schlägt mit einer solchen Wucht auf den Hebel des Lochers, dass es knallt. Ich erschrecke. Er schmunzelt, ohne mich jedoch anzusehen. Aus dem Regal rechts neben sich greift er einen dicken Ordner auf dessen Rückenetikett in akkuraten Druckbuchstaben der Name des aktuellen Monats und die Jahreszahl geschrieben wurde. Bedächtig und mit präzisen Handbewegungen legt er den Bericht darin ab. Bevor er den Deckel zuklappt, streicht er noch einmal zärtlich über die erste Seite. Nachdem er den Ordner zurück ins Regal gestellt hat, sieht er mich an. Er bedankt sich und wünscht mir einen schönen Tag.