Radius

Ich soll nur noch rausgehen, wenn ich muss, aber obwohl ich mich zusammenreiße so gut ich kann, ist mein Müssen ein anderes als dasjenige, das die Kanzlerin neulich im Fernsehen erklärte.

Ich muss jeden Tag, ich kann sonst nicht schlafen, weil die Muskeln in meinen Beinen nachts zu zucken anfangen – um ihren gerechten Anteil betrogen.

Ich bekomme ein Gefühl von Radius. Wie ein auf einer Wiese an einem Seil angepflocktes Schaf.

Nicht bloß, dass ich nur soweit von meiner Wohnung weggehen kann, wie ich im Stande und gewillt bin zu Fuß zurückzugehen, sondern auch, dass ich da schon überall war, hunderte Male, dass ich jeden Halm kenne und jede Wurzel, gut genug, um nicht mehr darüber zu stolpern.

Zum ersten Mal seit Heiko aus Delitzsch weggezogen ist, seitdem wir in den Zustand der Fernbeziehung eingetreten sind, der trotz vier mal Umziehen nach wie vor andauert, begreife ich, wo ich lebe: hier.

Hier ist, soweit mich meine Beine tragen.

Hier ist Volkspark, Kaufmitte, Arbeitersiedlung – zwar Weltkulturerbe, aber in Wirklichkeit auch nur Wohnblocks, meinetwegen schöne.

Hier ist der beste Eisladen Berlins, in dem Eis & Geld neuerdings über einen improvisierten Tresen hin & her gleiten, weil man den Laden nicht mehr betreten darf.

Hier ist Bärbel, Barbara, Gisela, Peter und die Orks mit ihren Tölen.

Außerdem der kleine Bäcker, die Zwiebelbratkartoffelkiezkneipe und der Dönerladen, aber nicht der neue; die Soßen schmecken komisch.

Hier sind die Kaninchen, die Krähen, der Reiher, die Mandarinenenten, die Schildkrötenfamilie und die Suhlen der Wildschweine, die immer näher ans Wohngebiet vorrücken.

Weg ist die U7. Weg ist der Fernbahnhof in Spandau. Weg ist alles womit/weg sind alle mit denen sie mich verbinden, auch alles innerhalb des S-Bahn-Rings.

Weg als wäre sie ein verblassender Tagtraum ist meine Wohnung in Hamburg, in der meine Pflanzen verdursten und in der außer meinem Kühlschrank im energiesparenden Holiday-Modus seit Wochen nichts ein Geräusch gemacht hat.

Nicht weg, aber fern sind meine Freunde. Verteilt auf mehrere inselgleiche Raumstationen, die nur selten und nur vorübergehend einen so günstigen Winkel zur Erde haben, dass Videotelefonate möglich sind – ja, ich höre dich, hörst du mich, prima, na?

Neben mir atmet mein Mann. Ich mach die Augen zu und lausche.

Alles andere

„Da bist du! Ich habe dich überall gesucht! Was machst du hier oben?“
Kai sieht Wenzel an, sagt aber nichts. Einen Augenblick später wendet er sich wieder der orange getünchten Stadt zu.
„Komm runter da, Kai. Das ist gefährlich. Und grins nicht so. Sei vernünftig!“
„Machst du dir Sorgen um mich?“
„Allerdings!“
„Das ist schön.“
„Bist du betrunken?“
„Allerdings. Das ist schön.“
„Was soll das, Kai? Es ist noch nicht mal sechs.“
„Spaß machen. Es soll Spaß machen.“
„Okay: Ich greif dir jetzt von hinten unter die Arme und ziehe dich zu mir rüber.“
„Lass mich.“
„Deine Zehen klemmen hinter dem Geländer. Du hängst fest.“
„Na bitte. Ist doch gar nicht gefährlich.“
„Kannst du dir denken, warum diese Dachterrasse von einem Geländer begrenzt ist?“
„Damit man darauf sitzen kann?“
„Sicher nicht.“
„Dann vielleicht als Sprungbock?“
„Los jetzt, Kai!“
„Für einen schönen Köpper in die Stadt?“
„Kai, wir sind 16 Etagen über dem Boden. Wenn du hier runter stürzt bist du tot.“
„16 mal 3 ist 48, plus ein bisschen ist 50. Wie lange falle ich für 50 Meter?“
„Deinem Gewicht nach zu urteilen nicht sehr lange. So, jetzt bitte loslassen, ich habe dich.“
„Hast du Zigaretten?“
„Du kriegst eine, sobald du vom Geländer runter bist.“
„Rauch eine mit mir. Hier.“
„Ausgeschlossen.“
„Feigling.“
„Oh, ja! Das zieht bei mir. Du nennst mich Feigling und ich tue alles was du von mir verlangst, um dich zu beeindrucken.“
„So ist das eben zwischen uns. Komm schon, ich will dir etwas zeigen.“
„Was gibt es da zu sehen, dass ich nicht auch von hier sehen könnte?“
„Nichts. Aber es gibt was zu fühlen.“
„Todesangst?“
„Nein. Chance.“
„Chance?“
„Entweder setzt du dich jetzt neben mich und erlebst es mit mir oder du verschwindest und lässt mich diesen Moment genießen.“
„Genießen? Aushalten.“
Wenzel tritt an das Geländer und atmet tief.
„Nicht nach unten gucken, Wenzel! Sieh mich an.“
„Kai, wie soll ich denn –“
„Linkes Bein über das Geländer schlagen, Geländerstange in die Kniekehle klemmen, linken Fuß hinter eine Geländerstrebe stecken, rechtes Bein nachziehen. Schon sitzt du.“
„Nichts leichter als das, du Klugscheißer.“
„Bist du noch nie irgendwo drüber geklettert?“
„Sehe ich aus, als würde ich viel klettern?“
„Gerade siehst du sehr lustig aus. Du hast ein V zwischen deinen Augenbrauen. V wie Venzel.“
„Das ist sehr hoch, Kai.“
„Toll, oder?“
„40 Meter weniger würden mir auch reichen. Oder 50.“
„Aber der Blick!“
„Es ist der gleiche Blick wie eben.“
„Nur, dass da kein Geländer mehr ist, zwischen dir und –“
„Dem Tod?“
„Dem Leben! Diesem Licht! Diesem –“
„Mir wird schlecht.“
„Du gewöhnst dich dran, gleich.“
„Gleich werde ich nicht mehr hier sitzen. Was wolltest du mir zeigen?“
„Hast du die Zigaretten?“
„Das Päckchen ist in meiner Hosentasche.“
„Na los, gib eine aus.“
„Das geht nicht. Ich werde keine meiner Hände von dem Geländer lösen.“
„Soll ich das Päckchen etwa aus deiner Hosentasche fischen? Das wird aufregend.“
„Unter anderen Umständen gern. Gott, ich hoffe, dass du dir bis an dein Lebensende bei jeder Zigarette Vorwürfe machst, wenn ich jetzt abstürze und sterbe.“
„Vielleicht springe ich dann gleich hinterher.
„Willst du dich umbringen?“
„Was soll ich hier ohne dich?“
„Ha. Ha.“
„Ich will rauchen. Aber davon kann man auch sterben.“
Wenzel löst seine rechte Hand vom Geländer. Nur eine Sekunde, dann muss er sich wieder festhalten.
„Sehr gut! Siehst du? Es passiert gar nichts, Wenzel. Und jetzt in die Tasche mit der Hand.“
„Ich hasse dich, Kai.“
„Du würdest nicht hier sitzen, wenn das stimmen würde.“
Wenzel löst die Hand ein weiteres Mal und stopft sie in seine rechte Hosentasche. Er lehnt seinen Oberkörper Richtung Kai, damit der feste Stoff seiner Jeans mehr Platz für seine fleischigen Hände lässt.
„Da. Zigaretten.“
„Steckst du mir keine an?“
„Mach das selber.“
„Manche sagen, sich von anderen eine Zigarette anstecken zu lassen, sei ein indirekter Kuss.“
„Und manche sagen, sich von anderen zwingen zu lassen, seine Sommerabende auf einer 5 Zentimeter breiten Metallstange in 50 Metern Höhe zu verbringen sei seltendämlich.“
Wenzel steckt sich eine Ecke des Zigarettenpäckchens mit der rechten Hand in den Mund und hält es mit den Zähnen fest. Dann umfasst er wieder das Geländer. Mit der linken Hand greift er nun nach dem Päckchen und reicht es Kai. Der lächelt und nimmt es.
„Feuerzeug?“
„Im Päckchen.“
Kai schlägt das Päckchen gegen seinen Handrücken. Zwei Zigaretten schießen heraus. Eine prallt von Kais Knie ab, die Zweite landet auf seinem Schenkel, rollt in Richtung Knie, fällt sein Schienbein hinunter und landet auf seinem Fuß. Die erste befindet sich inzwischen bereits anderthalb Stockwerke unter ihnen im freien Fall.
„Heilige Scheiße!“
„Man kann nicht widerstehen, oder?“
„Mir wird schwarz vor Augen.“
„Man kann nicht widerstehen, ihr nach zu sehen, stimmt’s? Wie schön sie trudelt, wie sie noch ein bisschen überlegt und probiert, was denn nun die günstigste Position für den Aufprall wäre und wie sie sich schließlich der Schwerkraft ergibt, und mit dem Tabak nach unten und dem Filter nach oben in die Tiefe stürzt. Schön, oder?“
„Du bist ein Sadist. Wolltest du mir das zeigen?“
„Nein, das war ein Versehen.“
„Ein Versehen? Dass du die zweite Zigarette mit deinem Fuß auffängst, war ein Versehen?“
„Nein, das war Glück. Warte, ich rette sie.“
Kai zieht die Zehen an und hebt langsam sein Bein, um nach der Zigarette auf seinem Fuß zu greifen. Wenzel packt Kais Schenkel und drückt ihn wieder auf das Geländer.
„Keine Akrobatik! Bist du verrückt geworden?“
„Nein, sparsam. Ich bin schließlich arbeitslos.“
Erst nach einigen Sekunden zieht Wenzel seine Hand zurück um sich wieder am Geländer festzuhalten. Die Zigarette rollt auf Kais Fuß hin und her, bevor auch sie auf die Straße trudelt.
„Sieh nur, sie wird ganz woanders landen! Der Wind trägt sie ganz woanders hin als die erste.“
„Fantastisch. Aber bevor der Wind auch mich sonstwohin trägt und dich bezaubernderweise ganz anderswohin, bringe ich mich lieber in Sicherheit.“
„Bleib, Wenzel.“
„Du hattest deinen Spaß.“
„Spür das doch mal!“
„Was denn? Meinen Angstschweiß auf der Stirn? Großartig.“
„Das ist bloß die Hitze.“
„Was dann? Panik? Herrlich.“
„Nein, keine Panik. Chance.“
„Chance? Wovon zur Hölle redest du?“
„Achte mal auf den Wind. Wie er dir durchs Haar fährt. Durch den Bart. In dein Hemd. Über deine Knöchel. Und sieh dir die Stadt an, sieh nur! Hinter jedem dieser Fenster wartet eine Geschichte! Und guck, dort drüben, das Flugzeug! Wohin fliegt es?“
„Das ist alles sehr romantisch, Kai, aber die einzige Chance, die ich hier habe, ist abzustürzen und zu sterben. Und das ist eigentlich keine Chance. Das ist ein Risiko.“
„Ja! Das ist das Risiko, genau.“
„Also?“
„Also ist alles, was nicht Risiko ist Chance!“
„Das ist doch pubertär.“
„Nein, das ist wahr! Alles was passiert, wenn du nicht stirbst ist Chance! Begreifst du das? Du könntest jetzt abstürzen und sterben. Oder du könntest ein paar Sachen packen, zum Flughafen fahren und noch heute Abend selbst in einem dieser Flugzeuge sitzen. Du könntest überall leben!“
„Ich muss arbeiten.“
„Blödsinn. Du müsstest dich viel eher mal fragen, was du bist, wenn du nicht arbeitest.“
„Ein Taugenichts wie du?“
„Oder du könntest zu einem dieser Häuser laufen und klingeln um zu sehen, wer hinter den Fenstern wohnt. Vielleicht die Liebe!“
„Ich weiß, wo die wohnt.“
„Oder du gehst in den Supermarkt, kaufst jedes 10. Ding und erfindest ein neues Essen!“
„Soll ich uns was kochen?“
„Kapierst du das nicht?“
„Natürlich tue ich das. Aber musstest du mich in Lebensgefahr bringen um sicherzugehen?“
„Du hast dich in Lebensgefahr gebracht.“
„Weil du versprochen hattest, dich dann endlich außer Lebensgefahr zu begeben. Wärst du dann so weit?“
„Weil ich dir was bedeute.“
„Ja! Du bedeutest mir was. Und? Bist du jetzt überrascht?“
„Gerührt. Ich bin ein bisschen gerührt.“
„Du bist gerührt? Mir zittern die verkrampften Hände vor Panik und du bist gerührt von meiner Zuneigung? Gott, ich bin so ein Idiot!“
„Nein, Wenzel. Ich bin betrunken.“
„Jedenfalls ist es im Augenblick nicht möglich, ein vernünftiges Gespräch mit dir zu führen.“
„Ich will gar kein vernünftiges Gespräch führen.“
„Verstehe.“
„Es geht aber nicht darum, etwas zu verstehen. Es geht darum, etwas zu erleben.“
„Und was erlebe ich deiner Meinung nach?“
„Deine Macht.“
„Meine Macht? Ich erlebe deine Macht!“
„Aber nein. Wenn du jetzt aufstehst, die Augen zu machst und auf eine Windböe wartest, ist alles zu Ende. Zack. Deine Macht.“
„Ich will aber nicht, dass alles zu Ende ist.“
„Ich weiß. Aber wann hast du das jemals intensiver gespürt als jetzt?“
„Das stimmt. Noch nie.“
„Genau! Das ist es. Das Ende wollen wir nicht. Aber wir wollen alles andere!“
„Ja. Insbesondere du. Du willst alles.“
„Aber ich tue nichts, leider.“
Kai raucht. Wenzel sieht auf die Spitzen seiner Schuhe, schürzt die Lippen und atmet langsam aus.
„Kai? Willst du dich umbringen?“
„Ich weiß nicht.“
„Du musst doch wissen, ob du lebensmüde bist oder nicht!“
„Nein! Ich bin wach. Ich bin hellwach! Ich habe aufgehört, jeden Tag zu tun, was man eben tut und zu lassen, was man eben lässt. Und ich will meinen Geburtstag nicht jedes Jahr noch lauter und noch heftiger feiern müssen, damit niemand anspricht, wie wenig eigentlich passiert ist seit der letzten Party.“
„Aber du weißt nicht, was du stattdessen willst.“
„Alles andere!“
„Es kann nicht ewig so weitergehen, Kai. Das ist unvernünftig.“
„Diese scheiß Vernunft von der du immer redest: Ich hasse sie! Siehst du die S-Bahn auf der Brücke dort? Das ist, was die Vernunft aus uns macht.“
„Wie bitte?“
„Es ist, als kämen wir als robuste Geländewagen auf die Welt, Allradantrieb, voller Tank, fette Federung. Und dann begegnen wir der Vernunft und die baut uns über die Jahre zu S-Bahnen um, die nur noch in vorgefertigten Gleisen fahren können und selbst das nur, wenn alle Signale auf grün sind.“
„Ich mag S-Bahnen.“
„War ja nur ein Beispiel.“
„Ein alkoholisiertes Draufsichtsbeispiel. Du musst runter von deinem Turm, Kai.“
„Aber wohin?“
„In die Stadt? Mit dem Rad? Zum Beispiel.“
„Au ja! Kommst du mit?“
„Klar. Vorher will ich auch noch eine.“
„Was?“
„Zigarette.“
„Sicher.“

In Wolken

Der Tunnel liegt vor ihr wie ein dunkler Schlund. Aus dem Inneren weht ihr eine Fahne verbrannten Diesels entgegen. Die feuchtglänzende Straße lockt wie eine gierig herausgestreckte Zunge. Ein Wagen nach dem anderen ergibt sich bereitwillig.

Auf dem Zubringer hatten sie das Warnlämpchen auf dem Armaturenbrett bemerkt, kurz vor der Einfahrt hatte es nach verschmortem Gummi gerochen, in der letzten Nothaltebucht hatte er angehalten und war ausgestiegen um die Motorhaube zu öffnen. Sie war ein paar Minuten reglos im Wagen sitzen geblieben. Jetzt löste sie ihren Sicherheitsgurt, der mit einem leisen Surren bis zur Schnalle in der beigen Veloursverkleidung verschwand und stieg ebenfalls aus. Allerdings nicht, um ihre Hilfe anzubieten, wie sie selbst noch in diesem Augenblick dachte. Vielmehr war es ihr bestimmt, das Bild zu sehen, das sich ihr bot, als sie auf die Straße trat. Es ergriff Besitz von ihr, noch bevor sie die Tür des Wagens geschlossen hatte.

Der Tunnel liegt vor ihr wie ein dunkler Schlund, ein Wagen nach dem anderen ergibt sich. Die graugrünen Gipfel, die wie stumme Zeugen dahinter thronen, sind geköpft von einem tief hängenden Himmel, der den Straßenlärm und das Tageslicht verschluckt. Alles unter diesem Himmel ist mit einem feinen, feuchten Film überzogen, der kalt nach innen kriecht.

Sie hatten geplant, ihren Urlaub auf der anderen Seite des Gebirges zu verbringen, falls man von Planung sprechen möchte und von Urlaub. Es war nicht die Zeit dafür, der Sommer war vorüber, der Winter hatte noch nicht begonnen. Manche Pensionen entlang der Straße waren in Gerüste gehüllt, an denen Planen flatterten, als hätte man sie zugedeckt, damit sie gut schliefen in der Zeit zwischen den Saisons.

Es war auch deshalb nicht die Zeit für Urlaub, weil er in Projekten stark eingebunden war. Nur unter großer Anstrengung war es ihm gelungen, sich die Freiräume für diese Reise zu schaffen. Sie aber hatte es für dringend geboten gehalten, dass sie sich Zeit für einander nähmen in einem Schutzraum außerhalb ihres Alltags. Zumindest waren das die Worte, die er gegenüber seinem Vater gewählt hatte, um die arbeitsfreie Woche zu erklären.

Aus der Motorhaube quillt eine Wolke, weiß und dicht wie Watte, die sich nur zögerlich mit der Umgebungsluft mischt. Innerhalb von Sekunden legt sie sich um und über Arnolds stämmigen Körper wie ein schweres Federbett. Lediglich seine nervös tänzelnden Budapester Schuhe und sein ersticktes Hüsteln zeugen noch von seiner Existenz.

An den Schuhen eines Menschen erkennt man seinen Charakter. Bei keiner einzigen Begegnung hatte sich Arnolds Vater diesen Hinweis verkneifen können. Arnold war schließlich eingeknickt und eigens nach Berlin gefahren, um im Stammhaus am Kurfürstendamm fünf Paar der einzigen Marke zu erstehen, die sein Vater akzeptierte. Den Heimweg über hatten sie gestritten, weil sie sich die Frage nicht hatte verkneifen können, wie es sich denn liefe, in den Schuhen seines Vaters. Man hätte in den Urlaub fahren können für das Geld. Jetzt fuhren sie in den Urlaub.

„Suboptimal, das Ganze.“, sagt Arnold aus der Wolke.
„Warum sagst du nie Scheiße wenn du Scheiße meinst?“, fragt sie in die Wolke zurück. Und dann: „Willst du nicht zuerst das Dreieck aufstellen?“
Noch während er die Taschen aus dem Kofferraum hebt um nach dem Warndreieck zu suchen, atmet sie tief ein, hält die Luft an und steigt in die Wolke. Um sicherzugehen, dass ihre Pumps auf dem Asphalt ihre Existenz nicht bezeugen, setzt sie sich auf die Kante der offenen Motorhaube und stellt ihre Füße auf die verchromte Stoßstange darunter.

Auch sie ist binnen weniger Sekunden völlig umfangen von dichtem Rauch. Ihre Sicht reicht gerade noch bis zu ihren angezogenen Knien, aber schon die Struktur ihrer Strumpfhosen ist kaum noch auszumachen. Sogar der feine Sprühregen kann die Wolke nicht durchdringen. In der Wolke ist es warm. Als sie sich zwei Finger in die Ohren steckt, ist sie glücklich.

„Tschüss, machen Sie’s gut.“ hört sie ihn sagen, als sie ihre Ohren kurz lüftet. Er sagt das immer zur Verabschiedung. Tschüss, mach’s gut. Und noch nie hatte sie verstanden, was er damit meinte. Hatte er Angst, sein Gegenüber würde es schlecht machen? Hielt er es für notwendig, seinem Gegenüber seine Erwartung zu kommunizieren? Versuchte nicht grundsätzlich immer jeder alles gut zu machen?

Sie steckt ihre Finger wieder in ihre Ohren. Sie hört ihr Blut zirkulieren. Dieses dumpfe Wummern hatte sie schon als Kind beruhigt. Für sie klingt es wie das Betriebsgeräusch der Maschine, die im Hintergrund dafür sorgte, dass das Leben lief. Zu hören, dass die Maschine einwandfrei arbeitete bedeutet, dass was immer gerade ist, vergehen wird. Sie findet das tröstlich. Einmal hatte sie versucht, das Arnold zu erklären. Der hatte ein Gesicht gemacht als hätte er Zahnschmerzen und das Thema gewechselt. Als er zum letzten Mal von einer 1-a-laufenden Maschine gesprochen hatte, hatte er den Motor dieses von Hand polierten Wagens gemeint, der zwei Jahre älter war als er und sie nun im Stich ließ. So war das oft mit dem, was Arnold sagte.

Wenn sie mit ihm irgendwo hinkam – zur Jahresauftaktveranstaltung im Rotary Club, zum ersten Gesprächstermin in der Kinderwunschklinik, zum Abschlussball des Salsa-Kurses – und Arnold gefragt wurde, was er mache, antwortete er immer: Ich baue Häuser.

Damit enthüllte er dreierlei. Erstens, dass er Minderwertigkeitskomplexe hatte und auch, dass er findet, dass er eigentlich keine haben müsste. Zweitens, dass er ein Hochstapler ist, aber nicht ohne Gewissen, weshalb er niemals so hoch stapeln würde, dass man ihn des Lügens bezichtigen könnte. Und drittens, dass er gern ein Kreativer wäre, aber eingesehen hat, dass man entweder ein Kreativer ist oder eben keiner, wie er.

Jeder, dem er das antwortet denkt, Arnold sei Architekt, obwohl er das nicht sagt. Tatsächlich ist Arnold Bauingenieur. Und das sagt er auch nicht. Er entwirft keine Häuser. Er ist dafür zuständig, dass Häuser, die andere entworfen haben, von wieder anderen nach einem feststehenden Plan gebaut werden. Bauingenieur ist ein respektabler Beruf. Außer man schämt sich dafür, weil man gern Künstler geworden wäre oder Architekt.

Der Rauch verzieht sich, während sie das denkt. Was auch immer den Rauch verursacht hatte, kühlte sich ab, wie sich alles abkühlt, das niemand mehr befeuert. Als er scherenschnittartig wieder zum Vorschein kommt, ist er gerade dabei sein Telefon in die braune Lederhülle zu nesteln, die sie ihm genäht hatte. Sie nähte gern mit Leder. Jede Naht war eine Narbe, die einer Wunde beim heilen half.

„Was soll das, Ivy?“, fragt er lachend, als er sie wieder erkennen kann. Sie grinst und schnappt nach frischer Luft. Was will man einem Menschen antworten, der nicht versteht, was das Umfangensein von einer Rauchwolke sollen könnte? „Der Pannendienst müsste gleich hier sein.“, murmelt er, die Zigarette schon im Mundwinkel. „Was soll das?“, könnte sie jetzt zurückfragen, aber er würde anfangen sie in eine Diskussion über Genuss zu verwickeln und ihr nicht erlauben, mit ihm eine Diskussion über Sucht zu führen und zwar nicht über die Sucht nach Nikotin. „Was für eine Idiotie, über jemanden zu lachen, der von einer Rauchwolke eingehüllt sein möchte, kurz bevor man sich selbst in eine Rauchwolke einhüllt.“, sagt sie stattdessen. Er sagt nur: „Idiotie, ja?“

Arnold raucht Nil-Zigaretten, und wenn es keine Nil-Zigaretten gibt, raucht er nicht. Und auch wenn es Nil-Zigaretten gibt, raucht er nicht. Nicht richtig. Sie beobachtet ihn genau. Er zieht den Rauch in seine Mundhöhle in dem er die Wangen nach innen wölbt. Das macht sein Gesicht noch kantiger, er sieht dann noch besser aus und sie weiß, dass er das weiß. Bevor er den Rauch in seine Lungen zieht, öffnet er kurz die Lippen, so dass die kleine Rauchschwade, die er dadurch verliert einige Sekunden wie ein Schleier vor seinem Gesicht hängt, als sei sie noch ganz benommen von der Dunkelheit in seinem Mund. Die andere Hälfte des aufgenommenen Rauchs atmet er schließlich ein, aber nicht tief, nicht bis zum Bauchnabel, höchstens bis zur Brust. Manchmal lässt er den Rauch auch schon vorher wieder durch die Nasenlöcher entweichen. Arnold verlässt sich darauf, dass die Leute denken, der Rauch müsse in der Lunge gewesen sein, um durch die Nasenlöcher austreten zu können. Das aber stimmt nicht; sie hatte ihn längst widerlegt.

„Kann ich auch eine haben?“, fragt sie.
„Du sollst nicht rauchen, Ivy.“, antwortet er.
„Ich heiße Ivanka.“
„Ich weiß, wie du heißt.“
„Dann mach mich nicht niedlich.“
„Ich versuche, Nähe zu machen.“
„Du machst dich lächerlich.“
„Und du machst dich rar.“
„Und du machst mich wahnsinnig.“
„Ich würde dich wahnsinnig gern glücklich machen.“
„Ich bin glücklich, wenn ich mir die Finger in die Ohren stecke.“

Er raucht. Sie lauscht.

„Ich möchte, dass wir in die andere Richtung fahren, wenn das Auto wieder fährt.“, sagt sie nach einer Weile.
„Aber wir müssen durch diesen Tunnel.“, antwortet er.
„Das passt zu dir. Lieber den leichten Weg, durch den trockenen, ebenerdigen Tunnel nehmen, als den über den gefährlichen, schroffen Berg.“
„Wir müssen bis 19 Uhr angereist sein. Über den Pass werden wir uns um Stunden verspäten.“
„Wenn wir durch den Tunnel fahren, kommen wir nie an. Er wird uns verschlingen ohne zu kauen.“
„Ivy. Bitte. Wir werden durch den Tunnel fahren.“
„Ivanka! Danke. Wir werden umkehren.“
„Wir stehen auf einer 4-spurigen Schnellstraße. In der Mitte ist eine doppelte Leitplanke. Wir können hier nicht umkehren.“
„Dann fahr. Ohne mich.“
„Ivy, bitte.“
„Ivanka!“

Er reicht ihr eine Zigarette und nimmt sich noch eine.
Zwei Menschen vor einem alten Wagen mit aufgerissenem Maul am Rande einer Schnellstraße, eingehüllt in zwei schmale Wolken aus hellem Rauch. Er zertritt seine Zigarette, läuft zum Kofferraum, öffnet ihn und hebt zwei Taschen heraus, bevor er ihn wieder schließt. Er läuft zur Motorhaube und schließt auch sie, bevor er einsteigt. Der Wagen startet nicht, er startet nicht, er startet. Sie raucht. Einer nach dem anderen ergibt sich bereitwillig in den dunklen Schlund, denkt sie. Es riecht nach verbranntem Diesel.

Gepäck im Kopf

Sag mal, der Rucksack da: Wem gehört der?

Weiß ich nicht.

Und wie lange steht der schon dort?

Keine Ahnung! Wenn du nicht ohne Unterlass auf dein Telefon gestarrt hättest seit wir eingestiegen sind, wüsstest du es. Smombie!

Kannst du bitte aufhören, offizielle Jugendsprache zu benutzen? Du bist über 30.

Ich müsste keine offizielle Jugendsprache benutzen, wenn du dich nicht verhalten würdest wie ein sozial degenerierter Teenager.

Aber findest du das nicht komisch?

Was?

Dass der Rucksack hier steht? Herrenlos? In einer vollen U-Bahn, mitten in der Rush Hour?

Kannst du bitte aufhören, 80er-Jahre-Sprache zu benutzen? Ich meine: Obwohl du über 30 bist?

Kannst du mir bitte antworten?

Nein!

Nett von dir.

Nein, ich meine: Ich finde das nicht komisch. Da hat jemand seinen Rucksack abgestellt. Fertig.

Aber wer?

Vielleicht die Frau da, mit den blonden Streichholzhaaren? Diese biegsamen Brillenbügel, diese schmalen Lippen – die sieht sportlich aus, der würde ich so einen Rucksack zutrauen. Ist ja so ein Outdoor-Rucksack, oder?

Naja, so ein Pseudo-Outdoor-Rucksack. Damit man ihn kauft, wird er mit aufregenden Abenteuern in der Wildnis beworben und wenn man ihn gekauft hat, will man ihn wegen seines Preises, doch lieber weich in den Schrank legen. Guck mal die Schuhe der Frau an. Wie sauber die sind! Niemals würde die zulassen, dass ihr Rucksack den siffigen Boden eines U-Bahn-Waggons auch nur streift.

Aber sie hat keine andere Tasche dabei.

Trotzdem. Der Rucksack gehört bestimmt dem Typen da in der schwarzen Lederjacke.

Ausgeschlossen. Der ist dermaßen stylo, der würde unter keinen Umständen so einen piefigen Pseudo-Outdoor-Rucksack aufsetzen.

Findest du den heiß?

Was? Ich sage nur, dass sein Outfit kein Zufall ist. Dieser enge flaschengrüne Pulli ist an sich schon eine Style-Rakete. Aber dazu noch die farblich passenden Chelsea-Boots zu finden, würdest du jedenfalls nicht schaffen.

Was für Boots?

Siehste? Der ist jedenfalls so verliebt in sich, dass er sich niemals etwas antun würde.

Er muss sich ja nichts antun wollen. Kann ja sein, dass es ihm reicht, uns etwas anzutun. Vielleicht steigt er gleich aus, schreibt seinem Rucksack eine SMS und – Boom!

Was soll das denn bringen?

Ich tippe mal auf: Tod und Verwüstung?

Ja, aber die kommen doch nur ins Paradies, wenn sie selbst auch sterben. Sonst sind sie ja keine Märtyrer, oder? Heißt das auch Paradies bei denen? Machen die das überhaupt um ins Paradies zu kommen?

Die machen das aus Hass auf unseren gottlosen Lebensstil.

Ich glaube die machen das aus Neid und Rache. Für die sind wir die reichen, geizigen, egozentrischen, ignoranten Hedonisten. Wir denken, wir seien die Guten. Aber das denken die auch. Von sich.

Der Typ in der Lederjacke sieht aber selber egozentrisch und hedonistisch aus. Oder? Gockel.

Jedenfalls sieht er nicht danach aus, als würde er sich für Jungfrauen interessieren.

Aber wem gehört der Rucksack dann? Jeder weiß doch, dass man sein Gepäck nicht unbeaufsichtigt herumstehen lassen soll. Ist das nicht sogar verboten?

Ich wage zu bezweifeln, dass Terroristen ihre Rucksäcke brav auf dem Rücken behalten würden, wenn es verboten wäre sie abzustellen. Außerdem beaufsichtigen wir das Gepäck doch sehr aufmerksam.

In Köln haben schon Kofferbomben gestanden!

Aber das ist zehn Jahre her und die Dinger sind nicht explodiert. Außerdem war das am Hauptbahnhof. Wir sitzen hier in der U7 nach Spandau. Nur Steglitz könnte noch weiter von Terrorismus entfernt sein.

Dass die sich jetzt wo Paris so gut gesichert ist, andere Hauptstädte für ihre Anschläge suchen, ist dir wohl noch nicht in den Sinn gekommen? Madrid hatten sie schon, dort passt man jetzt auf. In London das Gleiche. Berlin mit seinen vielen Touris und dem ganzen Hype ist der perfekte Ort. Vielleicht ist der Terrorist ja schon ausgestiegen. Oder der Rucksack gehört dem Jungen mit dem Ziegenbärtchen da drüben.

Der interessiert sich bestimmt für Jungfrauen, aber nicht für Bomben. Das ist ein Zocker. Siehst du die glasigen Augen und die blasse Haut? Der ist nicht oft draußen. Und wehe, du kommst mir jetzt mit der Vermutung, dass er sich tagelang durch Ego-Shooter geballert hat, um hier in drei, zwei, eins Amok zu laufen. Der ist nett. Der ist kein Monster.

Würde ja reichen, wenn er ein gehirngewaschener Erfüllungsgehilfe wäre.

Du bist der gehirngewaschene Erfüllungsgehilfe!

Ich?

Vor 15 Jahren hättest du dich angesichts dieses Rucksacks gefragt, wo das nächste Fundbüro ist. Heute bist du kurz davor, das SEK zu alarmieren. Du bist der einzige, der in dieser U-Bahn angesichts eines allein reisenden Rucksacks Panik schiebt.

Nein, das glaube ich nicht. Ich glaube, alle fragen sich das.

Das Mädchen dort spielt Candy Crush. Die fragt sich gar nichts. Die hat sich schon sehr lange nichts mehr gefragt. Aber du könntest ja mal fragen. Steh auf, räuspere dich und frag einfach.

Ob Terroristen an Bord sind?

Wem der Rucksack gehört!

Ich mach mich doch nicht lächerlich.

Vielleicht rettest du unser aller Leben.

Du machst dich lustig über mich!

Vielleicht ein bisschen.

Hast du denn keine Angst?

Überhaupt nicht.

Wir sind zweimal in der Woche am Hauptbahnhof. Jeweils zur Hauptverkehrszeit. Und am Wochenende fahren wir mit S- und U-Bahn quer durch Berlin. Es ist ja fast fahrlässig, da keine Angst zu haben.

Genau. Sagt ja schon das Wort. Wer keine Angst hat, fährt lässig. ‘Tschuldigung.

Mal sehen, ob du noch so lachst, wenn sie dich erwischt haben.

Es ist Energieverschwendung Angst zu haben. Wir haben Angst, weil sie uns einen evolutionären Vorteil geboten hat. Diejenigen die Angst hatten, haben sich besser vor gefährlichen Situationen geschützt und sind dementsprechend seltener draufgegangen.

Na also. Deswegen muss man Menschenansammlungen meiden. Wie diese hier zum Beispiel.

Aber Terroranschläge sind Überraschungen. Auf Überraschungen ist man nicht vorbereitet, andernfalls wären es keine. Wenn ich mich also vor allen Situationen schützen wollte, die mir heute gefährlich werden können, müsste ich mein Leben aufgeben und als Selbstversorger in die brandenburgische Prärie ziehen. Und da muss ich mich dann vor Wölfen fürchten.

Es würde doch vielleicht reichen, in eine etwas kleinere Stadt zu ziehen.

Naja. Norden in Ostfriesland wäre mit seinen knapp 30.000 Einwohnern jedenfalls schon zu groß. Norden gehört laut CIA zu den Top-5 der potentiellen Anschlagsziele. Die haben ein wichtiges Unterseekabel dort.

Und Potsdam?

Ist das dein Ernst? Den perfektesten Ort für ihre Anschläge haben die Idioten schon gefunden. Und getroffen: Deinen Kopf. Komm, wir müssen raus.

Über Spinnen – am Beispiel von Barbara

Ich nenne sie Barbara. Mir ist bewusst, dass das albern ist. Ich kann Leute nicht ausstehen, die ihren Autos (Hugo, Jonny), Zimmerpflanzen (Gerda, Paloma) oder Penissen (ich habe allen Ernstes einmal ‘Torpedo’ gehört) Namen geben. Das Benennen von Tieren ist zugegeben geläufiger, dem Tier aber ebenso gleichgültig wie dem Auto. Einer Spinne, die seit dem Frühjahr vor meinem Stubenfenster wohnt einen Namen zu geben, hat dementsprechend mehr mit mir zu tun als mit ihr. Es war ein Versuch der Annäherung, vielleicht sogar der Aneignung.

Ich vermeide es, Insekten zu töten. Ich finde, dass Insekten mit dem gleichen Recht auf diesem Planeten wandeln wie ich. Nur weil ich sie leicht töten könnte, heißt das noch lange nicht, dass das auch richtig wäre. Wobei richtig und falsch zu belächelnde Kategorien sind, denn Insektenrechte haben keine Lobby; selbst wenn ich sie verletze, erwachsen mir daraus keinerlei Sanktionen.

Leider muss ich zugeben, Spinnen mit der gleichen Mischung aus Ekel und Furcht zu betrachten, wie die meisten. Was also passiert, wenn sich eine von ihnen entscheidet, vor meinem Stubenfenster ihr Netz zu spinnen?

Ein Freund war zu Besuch, als ich die damals noch sehr zierliche Barbara dabei entdeckte, sich einzurichten. Die Hände auf dem Rücken verschränkt beobachteten wir das Treiben einige Minuten lang mit großer Bewunderung. Ein Seil abzusondern, das einen trägt, während man sich kopfüber der Schwerkraft spottend von einem Haltestrang zum nächsten schwingt, kann nichts Anderes als Staunen auslösen. Die Schwerkraft, erklärte mir mein Freund auf die rhetorische Frage hin, wie es die Spinne hinauf zu meinem Fenster geschafft habe, sei ohnehin eine Freundin der Insekten. Im Frühjahr, im April genauer, sei es der Wind, der die jungen Spinnen an den Ort trage, an dem sie ihr Leben verbringen werden. Die Poesie dieses Gedankens ließ uns einige Sekunden schweigen — nicht andächtig, eher hilflos.

Ich war schon auf dem Weg, Saftglas & Postkarte zu holen um das Tier auf die Grünfläche vor meinem Haus umzusiedeln, als mein Freund einwandte, dass mir doch gar nichts Besseres passieren könnte, als ein Spinnennetz vor meinem Fenster. Den ganzen Sommer lang hätte ich Ruhe vor Mücken und Wespen, eine natürliche Falle für — respektive: gegen — Stubenfliegen und eine gratis Barriere gegen Nachtfalter, die mich häufiger erschrecken. Außerdem wäre ich bei allem Gespinne, Gekämpfe und Gefresse dabei, ohne auch nur einen Fuß vor die Tür setzen zu müssen und könnte so endlich meine irrationale Angst vor Spinnen überwinden. Spinnen haben reichlich Anlass, sich vor uns zu fürchten. Aber wir? Unsere Angst sei alt und nutzlos und eine Beleidigung der Schöpfung.

Ein Blick genügte, damit mein Freund mit ‘Ja, Schöpfung!’ fortfuhr. Das habe nichts mit Religion zu tun, sondern mit dem Erkennen universeller Prinzipien. Ich solle nur hinsehen, nur einen Sommer lang. Ich würde das schon kapieren.

Das einzige Gegenargument, das mir einfiel (und dass ich mich zu äußern traute) — Was, wenn sich die Spinne in einer kühlen Nacht entschiede, zu mir nach drinnen zu ziehen und während ich schlafe von meiner rutschigen Mundhöhle in meinen Rachen zu stürzen? — entkräftete er mit dem Hinweis, dass die damals noch namenlose Barbara, sehr offensichtlich keine räuberische Kampfspinne, sondern eine zivilisierte Netzspinne sei, die es im Zentrum ihres Netzes wesentlich gemütlicher fände, als beispielsweise in meinen Nasenlöchern.

Das zweite Gegenargument räumte ich später am Rechner selbst aus: Es stimmt, Kreuzspinnen sind giftig, aber nicht so giftig wie Wespen. Sie verkürzen das Leid ihrer Beute, in dem sie ein tödliches Sekret in sie speien; das hysterische Um-sich-Stechen gieriger Wespen ist den ansonsten friedlichen Spinnen jedoch ebenso fremd wie mir. Ich ließ der Spinne also ihr Netz und taufte sie Barbara. Keine Ahnung warum, ich behaupte, ich habe ihr den Namen aus einer Laune heraus verpasst; alle Namen werden irgendwann aus einer Laune heraus vergeben. Mein Freund behauptet, Barbara sei das gestottert-sublimierte Resultat des Gedankens: Ja, aber acht Beine!

Der sommerliche Blick aus meinem Fenster erschien mir fortan wie eine nicht zu unterschätzende Mischung aus Big Brother und Discovery Channel. Ich guckte viel. Ich googelte viel. Ich habe viel gelernt.

Wenn eine dicke Fliege beim Versuch eine Stubenfliege zu werden eine Netzfliege wird, lässt Barbara sie nicht lange zappeln. Mit ihren langen Beinen registriert sie jede Schwingung des Netzes und kann dabei die Wellen, die ein gefangenes Insekt auslöst mühelos von jenen unterscheiden, die ein dümmlich gegen das Netz pustender oder angewidert mit dem kleinen Finger gegen das Netz stupsender Zuschauer verursacht. Sofort macht sie sich auf dem Weg zur Beute. Sie rennt nicht, sie trödelt nicht, sie läuft etwa in der Geschwindigkeit, in der man zur Arbeit geht. Ich lege den Kopf schief und frage mich, wie es so ein kleines Gehirn wie das von Barbara schaffen kann, acht Beine nicht nur zu kontrollieren, sondern mühelos zusammenspielen zu lassen. Barbara, denke ich, fragt sich indes vielleicht, wie ich es mit nur zwei Beinen überhaupt schaffe, mich fortzubewegen. Nein, sie fragt sich das nicht, sie hat Wichtigeres zu tun. Sie umklammert die Fliege und treibt ihre Kieferklauen in deren Körper. Das gelingt zügig und routiniert; es dauert nur ein paar Sekunden bis die Fliege aufhört zu zappeln. Mit blinder Grausamkeit hat das weniger zu tun als mit Respekt, denke ich, als die Fliege ein letztes Mal zuckt. Ich erinnere mich, an die Klebebandfliegenfänger in der Küche meine Großmutter und daran, über wie viele Stunden sich das verzweifelte Sterben der Fliegen daran hinzog.

Webspinnen — der Begriff ‘Netzspinne’ war eine Erfindung meines Freundes, ebenso wie der Begriff ‘Kampfspinne’; mein Freund ist ein Freak, das haben Sie schon bemerkt; wir haben uns gut verstanden diesen Sommer — jedenfalls: Webspinnen erledigen einen Teil ihrer Verdauung extern. Das klingt eleganter, als es ist: Das giftige Sekret, dass sie in ihre Beute spucken enthält Verdauungsenzyme, die deren Inneres weitgehend verflüssigen. Das dauert ein bisschen — Barbara zieht sich erst einmal zurück.

Meistens beschäftigt sich Barbara in der Zwischenzeit damit ihr Netz auszubessern. Mein Fenster ist ziemlich groß und Barbara gut ausgelastet. Ständig reißt der Wind Haltefäden ab oder allzu schwergewichtige Beute Löcher ins Gespinst. Ich bin inzwischen sehr vorsichtig beim Öffnen meines Fensters geworden um ihr nicht noch zusätzliche Arbeit zu bereiten, aber — Entschuldigung? — ich muss ja wohl lüften. Es hat einige Wochen gedauert, bis ich Barbara so sehr vertraute, dass ich unbeaufsichtigt zu lüften begann. Die Angst, dass die Spinne, sobald die Gelegenheit günstig sei, hinterlistig die Umsiedlung in die Zweige meines im Wohnzimmer befindlichen Ficus benjamini wagen könnte, dessen Äste über mein Bett ragen, hatte sich als überzogen herausgestellt. List allerdings, das zeigten die Beobachtungen, ist durchaus ein Prinzip der Spinne.

Mit den feinen Härchen an ihren Beinen, reinigt sie die schimmernden Fäden von hängengebliebenem Pollen bis sie wieder fast unsichtbar und schön klebrig sind. Manchmal frisst sie den Pollen von ihren Beinen, manchmal schmeißt sie ihn mir aufs Fensterbrett. Hygiene — auch das lehrte mich Barbara — ist eine Notwendigkeit, der vom Insekt bis zum Riesensäuger alle Spezies unterliegen.

Zwischendurch klettert die Spinne immer wieder zur Beute, und betastet sie — wie die Hexe im Märchen den Finger von Hänsel — um den Weichheitsgrat zu beurteilen. Sie umkreist ihre Mahlzeit und manchmal umspinnt sie sie noch mit einen Extrafaden, damit der Wind ihr nicht die labberigen Vorräte stiehlt.

Nur wenn die Beute immer noch nicht durch ist, obwohl das Netz längst perfekt gepflegt in der Abendsonne glitzert, setzt sich Barbara in die Mitte, schaukelt ein bisschen im Wind und lässt sich bereitwillig von mir fotografieren. Niemals habe ich sie nervös, sabbernd oder gelangweilt neben ihrem Abendessen warten sehen. Geduld —das lässt sich leicht beobachten— ist nicht zuletzt eine Frage von gutem Stil. Und guter Stil eine Frage von Genügsamkeit. Kein einziges Insekt verirrt sich in Barbaras Netz solange sie gescheckt und kräftig in dessen Mitte thront.

Barbara in ihrem Netz
Barbara in ihrem Netz

Mit dem Aussaugen der Fliege, lässt sich die Spinne Zeit; ungefähr so lange, wie ich für einen hochpreisigen Cocktail. Mein Mund verzieht sich unwillkürlich als ich sehe, wie sich der dicke Bauch der Fliege allmählich nach innen zu wölben beginnt, während sich Barbaras Hinterteil aufbläht. Anders als ich in einer Bar ist Barbara ist selbst fürs Abräumen zuständig. Ihr vorderstes Beinpaar hat die feinste Motorik, sie benutzt es, um den leeren Körper der Fliege vorsichtig von ihrem Netz zu trennen. Die hintersten Beine sind die Kräftigsten; mit ihnen stößt sie die zerknitterte Fliegenhülle — Zack! —  aus dem Netz fünf Etagen nach unten.

Nach dem Essen ruht sie. Im äußersten Winkel, dort wo der Rahmen meines Fensters ans Mauerwerk stößt, ist Barbaras Schlafplatz. Wie bei meiner Hündin frage ich mich zuweilen ob sie tot ist, wenn ich sie beim Schlafen beobachte. Ich weiß nicht, wie sich die Spinne während der Ruhephasen festhält. All ihre Beine sind eingerollt und sehen vertrocknet und leblos aus. Barbara ist über den Sommer hinweg kräftig gewachsen, aber noch immer sind keinerlei Atembewegungen auszumachen. Kaum setzt jedoch die Dämmerung ein kehrt das Leben zurück in ihre Glieder — zumindest bis heute.

Jetzt ist Herbst und das beunruhigt mich. Es gibt viele mögliche Enden der Geschichte, aber keines gefällt mir; deshalb schreibe ich schon jetzt über meinen Sommer mit Barbara.

Ich gehe davon aus, dass Barbara eine Gartenkreuzspinne ist. Soweit ich gelesen habe, leben Gartenkreuzspinnen zwei Jahre — es sei denn, sie werden vorher von einem Vogel gefressen, wovon nicht auszugehen ist, da Vögel mein Fensterbrett sogar dann meiden, wenn ich es mit Futter für sie dekoriere. Für den Winter suchen sich Gartenkreuzspinnen für gewöhnlich einen etwas wärmeren, etwas geschützteren Ort. Ich hoffe Barbara ist klar, dass dieser Ort nicht diesseits meiner Fensterscheiben zu suchen ist. Mit Nachbarn zieht man nicht zusammen, man darf selbst tiefe Sympathie nicht überstrapazieren.

Sofern Barbara ein Weibchen sein sollte — ihr Name legt das nahe, aber sie kennt ihn ja nicht — ist das Risiko groß, dass sie schon in einigen Wochen stirbt. Die Eiablage ist sehr kräftezehrend und dürfte kurz bevorstehen.

Allerdings habe ich niemals Herrenbesuch bei Barbara beobachtet — kein Wunder, ich lebe im fünften Stock. Möglicherweise ist Barbara also Jungfer geblieben, was ebenfalls sehr traurig wäre. Wozu ist sie denn so wunderbar fett geworden, wenn nicht, um das Wissen um einen guten Ort zum Leben und ihre Fertigkeiten in Sachen Nest – pardon! – Netzbau an ihre Brut weiterzugeben?

Wenn Barbara aber Herrenbesuch hatte und stark genug ist, die Eiablage zu überleben, ist das leider ebenfalls kein Happy End. Hinter dem angenehm biologisch-distanziert klingenden Terminus ‘Eiablage’ verbirgt sich nichts anderes, als das Spinnen von vier bis fünf Kokons, die Barbara anschließend mit Eiern füllen würde, und zwar mit 40 bis 50 Eiern – jeweils. Die mindestens einhundertsechzig Jungspinnen würden noch vor dem Winter schlüpfen, bis ungefähr März aber freundlicherweise in ihren muckeligen Säckchen bleiben und vom Dottervorrat leben.

Ich wohne gern hier und war zuerst da. Die gründliche Versiegelung meines Wohnzimmerfensters mit Silikon stellt für mich keine akzeptable Lösung dar. Ich kann nur hoffen, dass der Wind dreht.

Flecken, dunkelblau (2)

(Fortsetzung des Textes von letzter Woche. Eine 78jährige Patientin einer geschlossenen psychiatrischen Station erörtert mit einem Psychologen die möglichen ursachen der unerklärlichen Verletzungen, die sie nachts erleidet.)

Oh, ich weiß, was sie sagen werden. Sie werden mir eine Nacht in einem Schlaflabor vorschlagen. Sie werden vorschlagen, dass wir dem Spuk leicht auf die Schliche kommen, wenn Sie mich unter Kameraüberwachung stellen und mein Gehirn an allerlei Elektroden anschließen. Am nächsten Morgen wüssten wir sicher mehr. Wissen wir nicht. Ich habe das schon hinter mir. Generell schlafe ich nicht in Schlaflaboren. Schlafen in einem Schlaflabor ist, als würden Sie versuchen in einem vollbesetzten Theatersaal auf der Bühne zu schlafen – unmöglich. Als ich zwei Nächte im Schlaflabor komplett durchwacht hatte, haben sie mir drei zusammenhängende Nächte dort gebucht. In der dritten Nacht war ich so erschöpft, dass ich tatsächlich eingeschlafen bin. Es blieb alles friedlich. Selbstverständlich. Dass es im Schlaflabor nicht passiert ist, beweist gar nichts. Als würde es sich zeigen, wenn alle gucken!

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Flecken, dunkelblau (1)

Wie ich geschlafen habe? Gut, danke. Und Sie? Oder ist das eine ernst gemeinte Frage? Wirklich? Dann kann ich das nicht beantworten. Es ist eine absurde Frage, sofern Sie sie ernst meinen.

Die Handlungsrichtung ist falsch. Verstehen Sie? Sie verdrehen Aktiv und Passiv. Wenn Sie mich fragen, ob ich gut geschlafen habe, dann klingt das, als würden sie herauszufinden versuchen, wie erfolgreich ich bei der Verrichtung der Tätigkeit Schlafen war. Aber ich habe ja gar nichts getan. Wissen Sie, was ich meine?

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Welche Fahrt?

„In Ordnung. – Wo fahren wir hin?“
„Entschuldigung?“
„Was denn? Anschnallen? Ist das Ihr Ernst? So hätte ich Sie nicht eingeschätzt.“
„Wollen Sie mich verarschen?“
„Fahren Sie!“
„Was? Warum sollte ich?“
„Wäre ‚Weil grün ist!‘ ein überzeugendes Argument? Fahren Sie schon!“
„Nicht, so lange Sie neben mir sitzen!“
„Hören Sie das Geräusch? Damit bringen die Fahrer hinter Ihnen ihre Frustration zum Ausdruck. Fahren Sie!“
„Also schön. Aber nur bis zur nächsten Parklücke. Dort steigen Sie aus!“
„Parklücke? In diesem Viertel? Sie sind niedlich, ich hab’s mir gedacht. Außerdem geht die Fahrt doch gerade erst los!“
„Welche Fahrt?“
„Woher soll ich das wissen? Sie fahren. Hier wären übrigens 50 erlaubt.“

„Sind sie auf der Flucht?“
„Sehe ich aus als hätte ich eine Bank überfallen? Ich habe dazu mal recherchiert – aus rein beruflichem Interesse, versteht sich. Die Sicherheitsvorkehrungen der Banken heutzutage verderben einem den ganzen Spaß. Aber glauben Sie mir: Falls ich jemals eine Bank überfalle, würde meine Beute nicht in meine kleine Tasche hier passen. Geben Sie einen guten Komplizen ab?“
„Werden Sie verfolgt?“
„Wer soll mich verfolgen? Agenten? Auftragskiller? Wie aufregend! Aber nein.“
„Ihr eifersüchtiger Ehemann?“
„Sie täuschen sich. Dem bin ich nachgelaufen. Viel zu lange.“
„Ein Kaufhausdetektiv?“
„Halten Sie mich für eine Diebin? Wie langweilig. Oder eine Kleptomanin? Denken Sie, ich sei verrückt?“

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Alle Tage

Als ich mich nach der Zitronenlimonade bücke, spüre ich eine Hand auf der Schulter. Die Berührung ist sanft und mehr durch ihre Wärme als durch ihren Druck zu spüren. Ich drehe meinen Kopf und sehe fein manikürte, klar lackierte Nägel in deren Mitte jeweils ein winziges Steinchen funkelt. Ich sehe einen schmalen goldenen Ring am zierlichen Mittelfinger und einen breiteren silbernen mit schwarzen Ornamenten am Daumen. Die Hand gleitet von meiner Schulter als ich mich aufrichte und verschränkt sich Finger für Finger in der anderen. Ich blicke ins Gesicht einer schmal lächelnden Frau. Der Farbe ihres Pullovers nach zu urteilen, arbeitet sie hier. „Entschuldigen Sie, wir würden den Markt dann gern schließen.“ Ich sehe durch die Eingangstür nach draußen, wo es noch hell ist. „Sie haben ja sicher bemerkt, dass es ein Unglück gegeben hat.“ Die Finger der einen Hand spielen mit den Ringen an der anderen. „Wenn Sie sich dann also bitte zur Kasse bewegen würden, das wäre nett.“ Sie nickt zweimal – langsam, schwach – dreht sich um und geht auf eine kleine, ältere Dame zu, die die Preise zweier Konserven vergleicht. Ich sehe, wie die Angestellte neuerlich die Hände vor dem Bauch verschränkt.

„Tammi?“, rufe ich. Ein Mann mit zwei Flaschen Bier in der einen und einer Tüte Erdnussflips in der anderen Hand dreht sich nach mir um. „Wo bist du?“ Tamara kichert hinter mir und wirft zwei Tüten Mikrowellenpopcorn in den Wagen. Der Mann zieht die Augenbrauen hoch und deutet mit dem Kopf in Richtung Ausgang. „Was wollte die Frau von dir? Kennst du die?“

Mit dem Einkaufswagen hatten wir die schmale Gasse zwischen zwei Krankenwagen passieren müssen, die vor dem Eingang des Supermarktes geparkt waren. „Ist das jetzt ein Krankenhaus?“, hatte meine Nichte gefragt und ich hatte „Nein, nein.“ geantwortet. Bestimmt sei nur jemandem schlecht geworden, so wie es Oma manchmal schlecht werde. Oder schwindlig. Vielleicht sei auch jemandem eine Palette saure Gurken auf den Fuß gefallen, versuchte ich zu scherzen. „Oder eine Mama kriegt ein Baby. Da kommt auch der Krankenwagen.“, hatte Tamara gemutmaßt. „Das kann auch sein.“ „Ein Supermarkt“, überlegte sie, „ist aber ein komischer Ort zum Babys kriegen.“

Ich nehme meine Nichte an die Hand und schiebe den Wagen zur Kasse. Tamara starrt auf die Verbindung unserer beiden Hände als handele es sich dabei um ein wissenschaftlich zu untersuchendes Phänomen. Die Gänge sind schmal, besonders im Kassenbereich, wo sich die Osterhasen und Krokanteier türmen. „Hilfst du mir, die Sachen aufs Band zu legen?“ Während Tamara die Teigmischung, die passierten Tomaten und den Spinat aus dem Wagen angelt, recke ich den Kopf.

Als wir den Markt betreten hatten, sah ich schon von weitem die beiden Sanitäter in neongelben Jacken. Sie knieten über einer Person, die zwischen dem Eierregal und den Stiegen für roten, gelben und grünen Paprika am Boden gelegen hatte. Am Kühlregal weiter hinten war ein Mann mit runder Brille in das Studium der Zutatenliste eines Joghurts vertieft. Eine Münze, die einer Frau an der Kasse aus der Hand gefallen war, rollte einige Meter durch den Markt.

„Bisschen Kupfer haben Sie wohl nicht für mich?“, scherzt die rothaarige Kassiererin. „Ich bin ganz verrückt auf Kupfer heute.“ „Wer den Pfennig nicht ehrt, ist die Mark nicht wert.“, murmelt die dünne Kundin vor mir, während sie mit spitzen Fingern die Münzen aus ihrem Portmonee fischt. „Cent!“, sagt die Kassiererin. „Cent.“, stimmt die Kundin zu. „Tschüss, machen Sie’s gut!“

„Zuerst brauchen wir Tomaten.“, hatte ich vorgeschlagen, damit meine Nichte nicht in den Gang mit dem Eierregal abbog. „Bio oder billig?“, hatte das Kind gefragt, aber ich war abgelenkt gewesen, weil ich mir nicht sicher war, ob der Sanitäter kaum sichtbar mit dem Kopf geschüttelt hatte, als ich an ihm vorbeilief.

„Und jetzt?“, hatte Tamara gefragt, als die Tomaten schon im Wagen lagen. „Kannst du Pizzakäse holen gehen? Aus dem Kühlregal, dort um die Ecke?“ Sie hatte sich mit grazil ausgebreiteten Armen zweimal um die eigene Achse gedreht und mich angelacht. „Das habe ich beim Ballett gelernt!“ „Toll!“, hatte ich sie gelobt. „Zeigst du mir nachher noch mehr? Und holst du jetzt bitte den Käse?“ „Na gut.“, hatte Tamara geantwortet und war Richtung Kühlregal geschlurft.

Von der anderen Seite hatte ich in die Paprikastiege gegriffen und mir zwei große, tiefrote Früchte herausgesucht. Mein Blick war auf den beige gefliesten Boden des Supermarktes gefallen; dann auf einen Schuh, einen schlichten Herrenschuh, schwarzes Leder; dann einen Strumpf, eine einfache Herrensocke, dunkelgrau; dann auf ein Schienbein, breit, blass, schwach behaart und kurz unter dem Knie schließlich auf den Saum einer Jeans, dunkelblau mit gelben Nähten. Dann erst war es mir gelungen, meinen Blick loszureißen.

„Guck mal! Kuhfleckenpudding!“, hatte Tamara gerufen. „Schoko und Vanille! In einem Becher! Darf ich? Bitte!“ Ich hatte genickt und gewartet, bis sie mit ihren Füßen auf den Getränkekistenboden des Einkaufswagens gestiegen war, bevor ich die Gemüseabteilung verließ. „Jetzt Spinat, oder?“ rief das Mädchen, bereits auf halbem Weg zu den Kühltruhen. „Wenn du das magst.“, gab ich zur Antwort „Aber nur den aus Blättern, Onkel Korbi. Nicht den aus Brei. Mutti mag den auch nicht. Entengrütze!“

Aus dem Augenwinkel hatte ich gesehen, dass die Sanitäter oberhalb der Knie eine Decke über den Mann gelegt hatten. Eine braune Wolldecke, die mich an die Kuscheldecke mit Pferdemotiv erinnerte, die mir meine Schwester in unserer Kindheit immer vorenthalten hatte. Ich hatte mich kurz gefragt, wie sie zu dieser Decke gekommen waren, denn zur Ausstattung des Krankenwagens gehörte sie sicher nicht. Den Reißverschluss meiner Jacke zog ich daraufhin bis ganz nach oben; tatsächlich war es etwas kühl.

Erst jetzt, von der Kasse aus, sehe ich, dass die Decke auch den Kopf des am Boden liegenden Mannes umhüllt. Ich fasse Tamara an der Schulter, um zu verhindern, dass sie nach ihrer nächsten Pirouette mit dem Blick in Richtung Eierregal zum Stehen kommt. Eine Sanitäterin passiert den Kassenbereich schnellen Schrittes. An ihrer Hand baumelt eine durchsichtige Mülltüte. Darin aufgerissene Verpackungen von Kompressen, ein dicker Kunststoffbeutel wie von einer leeren Infusion, ein Stückchen Schlauch, kleine Plastikteile, mintgrün. Tamara steckt den Nagel ihres Daumens in die kleine Lücke zwischen ihren vorderen Schneidezähnen als sie ihr nachsieht. „Haben wir denn alles?“, frage ich sie schnell.

„Der Käse!“, ruft Tamara. „Wir haben den Käse vergessen!“ „Aber du wolltest doch welchen holen?“, sage ich. „Ja, aber da habe ich doch den Kuhfleckenpudding entdeckt. Ich hole ihn schnell, ja?“ „Nein, Tammi. Bleib bitte hier, jetzt.“ „Aber wir brauchen den Käse!“ „Nicht unbedingt.“ „Was soll das denn für eine Pizza werden! Ohne Käse!“ „Vielleicht habt ihr noch Käse zuhause.“ „Haben wir nicht!“ „Dann fragen wir Onkel Wolfgang, ob er Käse übrig hat.“ „Und wenn nicht? Ich kann noch Käse holen. Ganz schnell! Ich muss dafür doch gar nicht –“ „Nein, Tamara. Das geht jetzt nicht.“ „Aber wieso?“ „Das erkläre ich dir gleich.“ Ich beiße mir auf die Unterlippe und streiche dem Mädchen über den Kopf.

Zwei Polizisten betreten den Markt. Einer zückt einen Fotoapparat, der andere kramt einen Notizblock und einen Kugelschreiber aus seiner Jacke hervor. Zwei Sanitäter nehmen die Decke von dem Mann und spannen Sie als Sichtschutz auf. Dahinter blitzt es. Meine Hand wandert wieder auf Tamaras Schulter. „Junger Mann?“ Ich drehe meinen Kopf. „13,89, bitte.“ „Du hast geträumt, Onkel Korbi!“, lacht Tamara. „Sie brauchen Kleingeld, oder? Kupfer, richtig?“, frage ich und klaube 89 Cent aus meinem Kleingeldfach zusammen. „Ein Träumchen!“ „Sagen Sie, am Backstand kann man aber noch einkaufen, oder?“ „Du willst wohl noch Kuchen essen mit deinem Onkel?“, fragt die Kassiererin Tamara. Die kichert und nickt.

„Warum machst du das?“, fragt das Mädchen, als ich sie neuerlich an die Hand nehme. „Das machst du nie!“ „Was für Kuchen willst du denn, Tammy?“ Das Mädchen reißt sich los und rennt zur Kuchentheke. Vor uns steht ein dicker Mann in schwarzer Lederjacke und schüttelt entnervt mit dem Kopf. „Umgefallen, umgefallen. Das ist doch Mist!“, zetert er. „Wie lange soll ich denn jetzt hier rumgammeln?“ „Das kann ich Ihnen nicht sagen.“, gibt die Verkäuferin mit rauer Stimme zur Antwort. „So etwas passiert ja nicht alle Tage.“ „Aber der Mann wird doch versorgt.“, mische ich mich ein. „So lange wird es schon nicht dauern.“ Da sieht mich die Verkäuferin an und zieht den Hals ein. Für einen Augenblick tritt ihre Zunge zwischen den Lippen hervor um sie zu befeuchten. „Der Mann wird nicht mehr versorgt.“, sagt sie schließlich. „Der Mann ist tot.“

Unwillkürlich greife ich wieder nach der Hand meiner Nichte und antworte: „Wir nehmen zwei Plunderteilchen mit Obst. Und ein Mürbchen. Und den Windbeutel hier vorn.“ „Kann alles auf eine Pappe?“ „Natürlich.“

Tamara angelt das Kuchenpaket von der Theke und riecht am gelb bedruckten Papier. Ich greife die Plastiktüte. Auf dem Weg nach draußen sehe ich einen Leichenwagen auf den Parkplatz einbiegen. „Onkel Korbi?“, fragt das Mädchen und weil ich mein Portmonee im Mund habe um mit der freien Hand nach meinem Autoschlüssel zu suchen, kann ich nur „Hmm.“ antworten. „Zum Sterben ist ein Supermarkt aber auch ein komischer Ort, oder?“ Ich schlucke. „Hmm, hmm.“, mache ich dann und lasse das Portmonee noch ein paar Sekunden zwischen meinen Zähnen. Erst als endlich das Autoradio angesprungen ist, lege ich es ins Handschuhfach.

Fehlersuche

„Ey, Jungs!“ Wir sehen uns an und sind uns einig, dass wir nicht gemeint sein können. Wir sind lange keine Jungs mehr und kennen niemanden, der uns so laut auf der Straße hinterherrufen würde. „Hey, ihr da!“ Wir bleiben stehen und drehen uns um. Aus einem Fenster im zweiten Stock des blassgelb getünchten Wohnblocks winkt uns eine blondgelockte, schmuckbehangene Frau, Mitte 50. „Könnt ihr mir mal meinen Fernseher einschalten?“ Ich rufe: „Wir müssen weiter.“ Du rufst: „Ist das so schwer?“ „Eigentlich ist es ganz leicht, nur heute geht’s nicht!“, ruft die Frau. „Wir sind keine Elektriker.“, stelle ich klar. „Ihr müsst bei Balzereit klingeln. In der 52. Ich lasse euch rein.“

„Ist das eine Falle?“, flüstere ich im Hausflur. „Du meinst, sie schlägt uns mit bloßen Fäusten K.O., raubt uns aus und kullert uns dann die Treppe runter?“, fragst du. „Blödsinn.“, zische ich. „Siehste.“, kicherst du.

„Na, wer bist du denn?“, ruft die adrett gekleidete Dame, die Ihre Armreifen klappern, als sie den Kragen unserer Hündin grault. „Das ist echt in Ordnung von euch!“, sagt sie, als sie sich wieder aufrichtet und unsere Hündin durch ihre Beine hindurch in der Wohnung verschwindet. „Vor zehn Minuten ist meine Serie losgegangen! Ich verpasse alles! Zum verrücktwerden!“ Aus der Wohnung schlägt uns ein Geruch entgegen, den ich kenne, aber nicht einzuordnen weiß. „Kommt rein!“ „Es ist leichtsinnig von Ihnen, fremde Männer in ihre Wohnung zu lassen.“, sage ich, bevor ich einen Fuß über die Schwelle setze. „Ihr seid doch keine Ganoven, oder? Außerdem habe ich Pfefferspray. Bitte zieht die Schuhe aus.“

Mein Blick fällt auf einen Strauß Trockenblumen auf einem gehäkelten Deckchen. Dein Blick fällt auf einen Glaswürfel auf dem gepolsterten Telefonbänkchen, in welchen die Portraits zweier Kinder gelasert sind. Unsere Hündin steht schwanzwedelnd auf der Türschwelle zum Schlafzimmer. Darin ein hohes blassrosa bezogenes Ehebett, auf dessen rechter Seite sich Decken und Kissen für jede Jahreszeit stapeln.

„Hier entlang, hier lang!“, ruft die Frau und weist uns den Weg ins Wohnzimmer. Wir müssen ein bisschen rangieren, damit wir alle vier Platz darin finden. Die Frau stellt sich vor ihre rotbraune Schrankwand, faltet die Hände vor dem Bauch und richtet ihren Blick erwartungsvoll auf den dunklen Bildschirm. „Der Leonhard wacht doch heute aus dem Koma auf! Und hier ist alles schwarz!“ Ich versuche mich zu erinnern, woher ich diesen Geruch kenne, hier ist er stärker, nicht penetrant, aber unüberriechbar.

„Wie machen Sie ihren Fernseher normalerweise an?“, fragst du. Angesichts der vier abgegriffenen Fernbedienungen auf dem beige gefliesten Couchtisch, halte ich das für eine gute Idee. „Na so!“, ruft die Frau, tritt einen Schritt zurück, schnappt sich eine der Fernbedienungen, richtet sie wie eine Waffe auf den Fernseher und feuert. „Da! Nichts! Schwarz!“ „Hm.“ Du bist ratlos. Ich knie mich vor den Fernseher, um das Fabrikat zu entziffern. Ich vergleiche es mit denen der Fernbedienungen auf dem Tisch. „Wollen Sie jetzt dafür beten, dass es wieder funktioniert?“, lacht die Frau. „Ich versuche es zuerst mit Logik.“, murmele ich. „Oh, ein Studierter!“, lacht die Frau lauter.

Eine Fernbedienung gehört zum Radio, eine zum Receiver der Kabelgesellschaft, eine scheint für Steckdosen zu sein und die vierte kann ich nicht zuordnen. „Wo ist denn die Fernbedienung, die zum Fernseher mitgeliefert wurde?“
„Der wurde nicht geliefert. Mein Mann hat den in den Arcaden gekauft und mit dem Auto her gefahren.“
„Aber es muss doch eine Fernbedienung dabei gewesen sein.“, hake ich nach.
„Müsste eigentlich, oder?“, stimmt die Frau zu und sieht dich hilfesuchend an.
„Ist die Ihnen vielleicht hinter das Sofa gerutscht?“, vermutest du.
„Das Sofa? Nein. Ich sitze im Sessel. Setzen Sie sich doch.“, antwortet die Frau. „Möchten Sie einen Keks?“

Die Beschriftung der Tasten ist nicht mehr zu erkennen. Ich probiere die beiden großen Knöpfe in den oberen Ecken von Fernbedienung Numero vier. Nichts tut sich. Meine Finger fahren den Rahmen des Fernsehers ab. An der Rückseite ertaste ich Knöpfe. Ich drehe den Fernseher etwas aus der Schrankwand und beuge mich in das Fach.

„Also, so habe ich das nie gemacht.“, höre ich die Frau hinter mir. „Ich bin nie in die Schränke gekrabbelt.“ Ich drücke den Einschalter – ohne Ergebnis. Ich verfolge das Kabel des Fernsehers, bis es durch eine Bohrung im Rücken der Schrankwand verschwindet. Mir fällt ein, dass es in der Wohnung unserer Nachbarn genauso roch, am Schluss.
„Sind Sie sicher, dass das Gerät Strom hat?“, frage ich.
„Ich habe alles bezahlt!“
„Vielleicht ist die Sicherung durchgebrannt?“, schlägst du vor.
„Das weiß ich nicht.“
„Wo ist denn ihr Sicherungskasten? Im Flur vielleicht?“

Während du mit der Frau nach verborgenen Klappen in der Holzvertäfelung des Flurs suchst, schalte ich das Radio ein. Die Hündin springt auf und stößt sich an einem Zeitungsständer, als Udo Jürgens grölt: „…und wenn ich dann traurig werde, liegt es daran, dass ich träume von daheim …“ Ich schalte das Radio wieder aus. Die Hündin dreht sich einmal und legt sich wieder ab.

„Ach lassen Sie doch! Der ist doch tot. Ihr würgt den einfach ab! Pietätlos! Furchtbar!“, ruft die Frau vom Flur.
„Hier ist der Sicherungskasten, Frau Balzereit. Alles scheint in Ordnung zu sein.“, erklärst du.
„Ach Leute, darf ich euch was anbieten? Einen Kaffee vielleicht? Oder ein Bier?“

Erst jetzt entdecke ich die kleine Betriebsleuchte oben in der Mitte der Fernbedienung. Die müsste blinken, wenn man eine Taste drückt. Ich öffne das Batteriefach und nehme die Batterien raus. Sie fühlen sich leer an.
„Haben Sie das jetzt aufgeschraubt?“, fragt die Frau zurück im Wohnzimmer. „Machen Sie das mit Ihren Fingernägeln? Meine splittern wie Glas.“
„Haben Sie Ersatzbatterien im Haus?“, frage ich zurück.
„Ich weiß nicht. Sind die denn leer?“
„Wahrscheinlich.“
„Dann muss ich das meinem Mann sagen. Dann muss der neue Batterien kaufen. Das muss der morgen machen.“
„Bei Reichelt gibt es auch Batterien.“, sage ich. „Ist doch gleich die Straße rüber.“
„Ich weiß doch gar nicht, welche ich kaufen soll.“, wendet die Frau ein.
„Dann nehmen Sie die Alten mit, zum Vergleich.“, schlage ich vor.
„Nein, das macht mein Mann. Der ist fürs Handwerkliche.“, erklärt sie. „Ach, darf ich Ihnen etwas anbieten? Einen Saft vielleicht? Ein Bierchen?“
Wir sehen uns an.

„Wir können Ihnen Batterien mitbringen.“, sage ich. „Wir sind sowieso auf dem Weg in die Stadt.“
„Das würdet ihr machen?“, fragt die Frau.
„Kein Problem.“, sagst du. „Wir nehmen eine alte Batterie mit und heute Abend bringen wir Ihnen neue.“
Die Hündin steht auf und schüttelt sich. Wir verabschieden uns.
„Aber lasst mich nicht so lange warten! Ich muss wissen, was mit Leonhard ist“, ruft sie uns aus dem offenen Fenster hinterher. Wir drehen uns noch einmal um und winken. Die Hündin bellt.

„Warum lässt du Ihren Mann nicht die Batterien besorgen?“, fragst du an der Ampel.
„Sie hat keinen Mann.“, sage ich fest. „Hast du das Bett gesehen? Nur eine Hälfte wird benutzt. Das Schuhregal im Flur? Keine Herrenschuhe. Nicht einmal Pantoffeln. Und am Essplatz am Küchentisch: nur ein Platzdeckchen. Sie ist allein.“
„Aber warum hat sie dann ständig von ihrem Mann gesprochen?“
„Vielleicht hatte Sie mal einen. Vielleicht war ihr das doch nicht geheuer mit zwei fremden Männern in ihrer Wohnung.“
„Vielleicht war sie auch verwirrt.“
„Natürlich war sie verwirrt. Sie trinkt.“
„Was?“
„Zweimal hat sie uns Bier angeboten.“
„Und Kaffee. Und Saft. Und Kekse.“
„Ich rieche das. Dieser süße, leicht scharfe, leicht säuerliche Geruch. Du nicht?“
„Kein bisschen. War doch alles ordentlich. Sie hat auch ganz normal gesprochen.“
„Denkst du etwa, Alkoholiker lallen?“
„Also mir kam sie normal vor.“
„Wenn sie normal wäre, hätte sie ihre Nachbarin gebeten, mal nach dem Fernseher zu sehen. So ganz normal ist es ja nicht, wildfremde Menschen von der Straße in die Wohnung zu rufen, damit sie Elektrogeräte in Betrieb nehmen. Oder?“
Endlich wird grün.

Wir vergessen die Batterien in der Stadt. Auf dem Rückweg kaufe ich vier Stück für 1,79 € bei Reichelt die Straße rüber. Du gehst mit der Hündin nach Hause und willst das Essen vorbereiten. Ich suche Balzereit am Klingelbrett, aber als ich klingele, macht mir lange niemand auf. Ich trete zurück vom Klingelbrett, um zu sehen, ob im Wohnzimmer Licht brennt. Durch das geschlossene Fenster richtet die Frau ihren Finger auf mich. Wenige Sekunden später ertönt der Summer.

Auf dem Treppenabsatz öffnet mir ein Mann. Braune Cordhose, grauer Pullover über dem Bauch, Kinnbart, goldene Brille, Halbglatze.
„Ich bringe die Batterien.“, stottere ich.
„Welche Batterien?“, fragt er.
„Für Ihre Frau.“
„Für meine Frau?“ Der Mann kommt aus der Tür und verschränkt die Arme. „Ihre Frau hatte uns heute Nachmittag gebeten, ihr den Fernseher einzuschalten. Der hat nicht funktioniert, wahrscheinlich, weil die Batterien der Fernbedienung leer sind. Ich habe jetzt neue gekauft.“
„Sie? Wer sind Sie überhaupt?“ Er mustert mich von oben bis unten. „Was soll das für ein Trick sein?
„Kein Trick!“, sage ich genervt. „Wir liefen hier zufällig vorbei; ihre Frau hat uns aus dem Fenster nach oben gerufen. Ist ihre Frau da?“
„Meine Frau schläft. Sie waren also heute Nachmittag in meiner Wohnung?“
„Ja. Aber nur wegen des Fernsehers.“
„Wer ist denn da?“, ruft die Frau von drinnen.
„Ich komme gleich.“, ruft der Mann zurück.
Es riecht nach scharf angebratenem Fleisch und Zwiebeln.

Der Mann streicht sich mit einer Hand durch den Bart, als er sich mir wieder zuwendet. „Wir brauchen keine Batterien, danke.“, sagt er und geht zurück in seine Wohnung.
„Aber ich habe sie extra für Sie gekauft.“, sage ich.
„Gut. Was macht das?“ Der Mann wendet sich ab und sucht in den Taschen seiner Jacke an der Garderobe nach seinem Portmonee. Durch die Glaseinsätze in der Stubentür sehe ich das bläuliche Flackern des Fernsehers.
„Nein, so meine ich das nicht.“, sage ich. „Ich will nur, dass sie die Batterien nehmen; ich kann sie wirklich nicht gebrauchen.“
Der Mann stockt kurz, dann nimmt er seine Hände aus den Jackentaschen und fährt sich rechts und links der Nase unter seine Brille. Mehr zur Garderobe als zu mir sagt er: „Meine Frau – aber das können Sie nicht wissen. Meine Frau hat Probleme.“ Schließlich tritt er doch wieder vor die Tür und zieht sie so weit hinter sich zu, dass sie gerade noch nicht ins Schloss schnappt. Noch immer sieht er mich nicht an. „Meine Frau, wie soll ich sagen, ist ein bisschen-“ Er wedelt mit der flachen Hand vor seiner Stirn. „Verstehen Sie?“
„Trinkt sie?“, frage ich und beiße mir sofort auf die Lippen.
„Sind sie bescheuert?“, fährt er mich an. Erst als er mir in die Augen sieht, bemerke ich, dass er den Tränen nahe ist. Er macht einen Schritt auf mich zu und ist mir plötzlich so nah, dass ich mein erschrockenes Spiegelbild in seinen Brillengläsern entdecke. „Meine Frau ist krank! Psychisch. Man weiß noch nicht, was es ist; die Ärzte sind noch auf Fehlersuche. Sie jedenfalls, Sie haben keine Ahnung!“
Nach einer Pause sage ich leise: „Entschuldigung.“

„Was ist denn hier los?“, fragt die Frau auf der Türschwelle stehend mit einem Bissen Boulette auf der Gabel in ihrer Hand.
„Nichts, Täubchen.“, sagt der Mann.
„Ich bringe Ihnen die Batterien.“, sage ich.
„Und wo ist euer Hund?“, will die Frau wissen. „Euer niedlicher Hund! Ich habe hier Boulette für ihn!“

„Es war sehr nett von Ihnen, dass Sie meiner Frau helfen wollten.“, sagt der Mann freundlich und legt den Arm um seine Frau.
„Gern geschehen.“, sage ich und reiche ihm die Batterien.
„Einen schönen Abend Ihnen.“
„Ihnen auch.“
„Die Boulette!“, ruft die Frau und läuft mir in Socken vier Stufen hinterher, um mir den Bissen von ihrer Gabel in die nackte Hand zu reichen.

Reginas Reisen

Ja, Sie müssen entschuldigen. Das dauert ein bisschen. Die Rechner sind langsam. Obwohl, vielleicht sind sie gar nicht langsam. Vielleicht stehen sie einfach nur zu weit auseinander. Stellen Sie sich das mal vor! Die Anfrage muss durch tausende Kilometer Kabel zum anderen Ende der Welt! Vielleicht fliegt sie auch durchs All über Satellit, wer weiß. Kann sich kein Mensch vorstellen, diese Technik.

Aber die Menschen haben keine Geduld! Als wären die Tage heute kürzer als vor 20 Jahren. Was meinen Sie, wie oft Leute regelrecht ausflippen, da drüben an den Kassen, wenn die Kassiererin mal ein Storno hat. Oder wenn die Bonrolle alle ist. Ist doch verrückt, oder? Die Leute schieben stundenlang einen riesigen Einkaufswagen durch einen zwei-etagigen Supermarkt, aber wenn es dann an der Kasse eine Minute länger dauert, drehen sie durch. Und die Mädels müssen immer freundlich bleiben. Immer nett.

Das wäre kein Job für mich. Den ganzen Tag Waren übers Band ziehen, geht auf die Schultern. Ich hab‘s so schon mit dem Kreuz. Obwohl ich jeden Tag mit Romeo rausgehe. Und dann eben diese schlechtgelaunten Kunden an den Kassen. Nancy – Sehen Sie sie, die Dunkelhaarige in der 4? – die kommt manchmal zu mir rüber in ihrer Pause, dann essen wir eine Bockwurst zusammen. Oder Nudeln, drüben beim Fidschi. Ich weiß, darf man nicht mehr sagen. Beim Asiaten. Obwohl, ich meine das gar nicht – ich habe gar nichts gegen die. Jedenfalls, die Nancy hat Geschichten auf Lager, da geht Ihnen das Messer in der Tasche auf.

Da habe ich es ganz gut in meinem Kabuff. Also, es ist nicht mein Kabuff, lassen Sie das ja nicht den Chef hören. Na gut, wenn die Leute hier rein kommen, hängen denen die Mundwinkel auch sonst wo. Aber wenn sie rausgehen sind sie zufrieden. Alle. Das ist meine Arbeit. Leuten dabei helfen, ihre Träume zu erfüllen.

Bei Ihnen eben Accapulco. Ach, ich habe mich vertippt. Deswegen findet der auch nichts. Acapulco, heißt es richtig, mit nur einem C. Jetzt sucht der hier noch mal. Acapulco. Klingt schön, oder? Wie ein Cocktail – mit viel Rum. Oder ein Tanz – der heiße Acapulco! Wie der Lambada, früher, den habe ich im Bikini getanzt! Aber was wollen Sie in Acapulco?
Wissen Sie, die Leute stolpern ja immer hier rein, mit den abenteuerlichsten Vorstellungen. Wenn ich die frage, wohin es gehen soll, dann gucken die ganz verträumt an mir vorbei, auf die Prospekte oder auf die Kassen und dann sagen sie in als würden sie einen Schokodrops lutschen: Namibia. Oder: Hawaii. Oder: Menorca. Unter uns: Manchen kann ich da nicht ins Gesicht gucken, ich müsste feixen. Verstehen Sie das? Als wäre Namibia das Paradies! Fragen Sie mal die Namibianer! Für die ist das hier das Paradies. Obwohl die bestimmt besseres Wetter haben.

Können Sie sich erklären, warum immer alle denken, anderswo wäre es schöner als hier? Schön ist es doch überall! Anderswo ist es nur anders. Ich sag’s Ihnen im Vertrauen: Mein Paradies ist meine Terrasse. Nicht weit zum Kühlschrank, Blick ins Grüne und in den Geschäften reden sie meine Sprache. Ich glaube, das ist eine Berufskrankheit. Wie bei Carola von der Frischetheke. Seitdem die den ganzen Tag Fleisch und Wurst verkauft, kriegt sie das Zeug nicht mehr runter.
Nee, also hier finde ich nichts. Wir müssen das direkt bei der Fluglinie versuchen. Ist aber auch ein außergewöhnliches Ziel. Was wollen Sie nur in Acapulco? Das ist in Mexiko, oder? Einen Moment. Ich wähle uns mal ein. Ich meine, mir ist das natürlich recht, wenn die Leute viel verreisen. Je weiter, desto lieber. Sagt mein Chef auch, wenn er ultimo die Abrechnung macht. Obwohl, soviel Abrechnung ist hier gar nicht. Ist ja auch kein Wunder. Wer soll denn hier reinkommen? Leipzig Arcaden – klingt erstmal exquisit. Aber gucken Sie sich die Leute doch mal an, die da drüben einkaufen. Diese versteinerten Gesichter. Und wie die rumlaufen. Die können sich keinen Urlaub leisten. Oder die buchen den im Internet. Ist ja billiger, denken immer alle. Stimmt gar nicht. Naja, wenn mein Chef mal ein bisschen Pepp in den Laden bringen würde und ein paar Plakate raushängen würde, könnte das hier auch besser laufen. Aber mich fragt ja keiner.

Ach Mensch, sehen Sie den? In dem hellbraunen Mantel? Mit dem langen weißen Schal? Oder heißt das creme? Wir haben früher Eierschale dazu gesagt. Jedenfalls: den kenn ich. Das ist, also das war mal, naja – verrückt, den kenne ich. Dass der hier einkaufen geht! Oje, guckt der? Der guckt doch hier rüber! Wie sehe ich aus? Geht das so mit meinen Haaren? Wenn der jetzt – Was habe ich denn hier für einen Fleck? – wenn der jetzt hier rüber kommt um Hallo zu sagen, falle ich um. Der sieht aber gut aus! Klar hat er sich verändert, die grauen Schläfen und so. Aber für sein Alter? Reif, sieht er aus. Männlich. Toll! Ein gutaussehender Mann, das müssen Sie zugeben. War der aber schon in seiner Jugend!

Nein, nein, machen Sie sich keine Gedanken. Die Warteschleife von diesem Airline-Service ist immer gut gefüllt. Das wird schon noch ein paar Minuten dauern. Aber die Musik ist doch ganz schön, oder? Ist das aus Dirty Dancing?

Jetzt muss er gleich hier lang. So elegant! Früher war der mehr sportlich, wissen Sie? Sehen Sie die Schuhe? Und diese Uhr! Der hat bestimmt einen tollen Job. Der macht das große Geld. Schon in der Ausbildung hatte der echt was drauf. Aber der hatte immer Freundinnen, ich kam nie an den ran. Da habe ich dann eben jemand anderen geheiratet. Er bestimmt genauso. Trägt er einen Ring? Erkennen Sie das? Ich habe meinen ja für meinen Zahn einschmelzen lassen, als mein Mann dann – ach schade, der guckt nicht. Obwohl, wäre mir auch peinlich. Wer weiß, ob der mich überhaupt erkennen würde. Ich hier in meinem Pulli und der mit seinem Kaschmirschal. Wir haben ja auch wer weiß wie lange nicht mehr gesprochen. Nee, der ist auf dem Sprung. Sehen Sie nur, wie schnell der läuft! Der hat keine Zeit. Der hat bestimmt nie Zeit.

Jetzt sagen Sie gleich: Kein Wunder, Zeit ist Geld. Sagen alle. Aber ganz ehrlich: Ich glaube, das stimmt nicht. Ich glaube, Zeit ist Zeit und Geld ist Geld! Denken Sie da mal drüber nach. Machen Sie das mal. Muss nämlich jeder selber entscheiden, was ihm wichtiger ist.

Also, tut mir Leid, aber hier kommen wir heute nicht weiter. Die Vermittlung von der Airline macht gleich Feierabend und ich auch. Nein, bis um Acht haben wir nicht mehr auf. Das lohnt sich nicht. Können Sie vielleicht morgen nochmal kommen? Oder ich probiere es gleich früh und rufe Sie dann an? Normalerweise bin ich nicht so, aber heute muss ich echt pünktlich weg. Ich muss meinen Schein noch abgeben. Lotto, Sie etwa nicht? Mittwoch und Samstag. Nur noch sieben Minuten bis Annahmeschluss.

Nö, also ich gewinne öfter mal was. Neulich erst den zweiten Preis bei so einem Kreuzworträtsel. Drei Tage Allgäu. Habe ich mal Mädelswochenende mit meiner Tochter gemacht. Wellness-Hotel, super.
Ach, es gibt so viele Preisausschreiben! Reich werden Sie in so einem Reisebüro nämlich nicht, das sage ich Ihnen. Also ich könnte nicht nach Acapulco fliegen, von meinen paar Quieksern. Wieso eigentlich ausgerechnet Acapulco?
Doch, doch man kann gewinnen, man muss aber eben auch mitspielen. Und eines Tages – wer weiß? Wenn man dem Glück keine Chance gibt, kann es einen ja nicht finden.

Über Fußball am Beispiel des Islam

„Wahnsinn, oder?“, sage ich, als ich die Zeitung aus dem Briefkasten nehme und die Schlagzeile lese.
„Hallo!“, antwortet er und läuft an mit vorbei.
„Was sagen Sie eigentlich dazu?“, frage ich.

Er bleibt auf der Treppe stehen, dreht sich um und sieht mich an. Seine Stirn liegt in Falten, als hätte ich etwas Unverständliches gesagt. Ich blicke wieder auf meine Zeitung und falte sie zusammen. Ich hoffe, dass der Moment schnell vorüber geht. Plötzlich öffnet er mit einem schnalzenden Geräusch den Mund, rollt mit den Augen und wendet sich ab. Ich schließe meinen Briefkasten zu und bin kurz davor, an ihm vorbei die Treppen nach oben zu meiner Wohnung zu flitzen. Da ruft er:

„Sie fragen mich das allen Ernstes?“
„Von Ihrer Großmutter weiß ich, dass Sie erst kürzlich – wegen Ihrer Hochzeit.“
Er schüttelt den Kopf.
„Und ich weiß von meiner Großmutter, dass Sie ziemlich klug sein sollen.“
„Ich stelle mich wohl gerade doof an?“
„Finden Sie nicht?“
Ich presse die Lippen aufeinander und ziehe sie nach innen. Er steigt eine Stufe nach unten auf mich zu.

„Ja, ich bin Muslim. Stimmt, erst seit kurzem. Und wissen Sie, was daran am meisten nervt? Nicht, halal zu leben, also –“
„– auf Schweinefleisch zu verzichten oder auf Alkohol.“, werfe ich schnell ein.
„Oh! Jetzt wollen Sie mich beeindrucken, oder?“
„Immerhin habe ich einen Ruf zu verlieren, wie Sie sagen.“
Er lächelt zum ersten Mal, ich entspanne mich ein bisschen.
„Am meisten nerven die Fragen der Leute!“
„Was fragen die denn?“, traue ich mich.
„Ob ich jetzt fünf Mal am Tag nach Mekka bete. Bevor Sie fragen: Tue ich nicht! Oder ob ich mir jetzt auch so einen Salafistenbart werde stehen lassen. Ja, das probiere ich mal, das ist doch lustig! Meine Friseurin fragte mich neulich sogar, ob ich jetzt beschnitten bin! Das geht sie nun wirklich nichts an. Und Sie auch nicht. Was denken die Leute vom Islam?“ Er streckt beide Hände von sich und zeigt mir seine Handflächen.

„Fragen Sie mich das jetzt allen Ernstes?“
„Allerdings.“
„Ich bin zwar nicht ‚die Leute‘, aber ich würde sagen, die Leute glauben, was sie so hören. Wer kennt schon einen Moslem persönlich?“
„Dann müssen sie sich besser informieren.“
„Das versuchen Sie doch. Sie stellen Ihnen Fragen.“
„Aber schon ihre Fragen sind volle Vorurteile! Der Islam ist nicht blutrünstig und mittelalterlich!“
„So sieht er aber aus, wenn davon die Rede ist. Ständig geht es um Gewalt und Diktatur.“
„Das sind Nachrichten. Nachrichten berichten nur über Katstrophen!“
„Nö, ab und zu auch über Papstbesuche und Arbeitslosenzahlen, die sinken.“
„Außerdem ist das ist Islamismus, über den da berichtet wird. Nicht der Islam!
„Manche können das bestimmt nicht auseinanderhalten.“
„Das ist doch ignorant!“
„Die Spielerinnen der Frauenfußball-Bundesliga finden die Missachtung ihrer Siege auch ignorant.“
„Vergleichen Sie den Islam gerade mit Frauenfußball?“
Ich lache, er lacht.
„Nein. Aber warum sollten sich die Leute für den Islam interessieren? Sie sind einer von zwei Moslems, die ich kenne.“
„Der Islam gehört zu Deutschland! Sagt sogar Ihre Kanzlerin.“
„Die Oranienstraße gehört auch zu Berlin. Trotzdem gibt es dort so gut wie keine Berliner.“
„Nirgendwo kann man so gut und preiswert essen, wie in der Oranienstraße!“
„Ich weiß! Kennen Sie den lauwarmen Glasnudelsalat mit Erdnüssen und Koriander, aus dieser kleinen Garküche –“
„Können Sie es denn auseinanderhalten? Islamismus und Islam?“
„Erklären Sie’s mir.“

„Aber wie?“ Er kratzt sich am Kopf. „Vielleicht mit Fußball. Fußball mögen Sie, oder?“
„Nein.“
„Aber vorhin haben Sie doch über Fußball – ach ja, sie sind ja – sie leben ja –“
„Schwul? Sagt Ihre Oma? Stimmt. Aber Hitzelsperger ist auch schwul. Sie werden nicht bestreiten, dass der sich für Fußball interessiert.“
„Wieso kennen Sie Hitzelsperger, wenn Sie sich nicht für Fußball interessieren?“
„Wieso kennen Sie Jesus, obwohl sie kein Christ sind?“
„Weil auch die Muslime verehren Jesus. Im Qu‘ran steht, dass Jesus ein Gesandter Gottes war.“
„Oh! Und wird Mohammed auch in der Bibel erwähnt?“
„Das fragen Sie mich? Sie sind doch Christ, nicht ich!“
„Bleiben wir lieber bei Ihrer Erklärung des Islamismus. Von mir aus mit Fußball.“
“Also: Der Islamismus ist für den Islam ungefähr das, was der Hooligan für den Fußball ist. Die Hooligans sind keine Fans. Die interessieren sich gar nicht für Fußball. Die sind nur auf Randale aus. Trotzdem sind sie das Problem der Fußballvereine. Hooligans machen den Ruf der Vereine kaputt. Sie sind schuld daran, dass die echten Fans aus Angst vor Gewalt zu Hause bleiben. Das kann die Vereine in den Ruin treiben! Verstehen Sie?“
„Und was machen die Vereine dagegen?“
„Die Versuchen, die Hooligans loszuwerden. Sie distanzieren sich öffentlich. Sie kooperieren mit der Polizei. Sie starten Initiativen um Jugendliche für den Sport zu gewinnen und nicht für die Randale.“
„Und so macht es der Islam auch?“
„Na klar! Und da sind wir wieder bei Ihrer Frage: Was glauben Sie denn, was ich als frisch konvertierter Muslim dazu sage, wenn Menschen im Namen Allahs erschossen werden?“
„Ich hoffe, dass sie es verurteilen.“
„Natürlich verurteile ich es! Alle Muslime verurteilen es! Alle, die ich kenne.“
„Aber manche erklären in Fernsehmikrofone, dass sie den Zorn der Attentäter verstehen können. Für mich klingt das, als würden sie sagen: Selbst schuld!“
„Ich verstehe den Zorn nicht.“
„Ich erst recht nicht.“
„Ich kenne auch niemanden, der den versteht.“
„Ich schon. Ihre Großmutter. Die sagte neulich beim Kaffeetrinken, dass sie nicht kapiert, wieso man weiterhin versucht, Leuten Witze zu erzählen, die keinen Spaß verstehen. Wer soll denn bitte darüber lachen?“
„Puh! Na so kann man das aber auch nicht sehen.“
„Sie kennen sie ja. Sagen Sie ihr liebe Grüße.“
„Mach ich. Ich bin übrigens Ben.“
„Ich weiß. Ich bin Peter.“
„Ich weiß.“

Walnachten

„Je suis une baleine.“, sagt sie versonnen. Wortlos betritt er das Zimmer. „I am a whale.“ murmelt sie, während sie tippt. Er stellt sich dicht hinter sie. „Du bist ein Wal?“, fragt er vorsichtig und legt seine Hände warm auf ihre Schultern. „Was?“ fragt sie zurück, als sie ihren Blick vom Bildschirm löst und aufsieht. Ihr Scheitel berührt seinen nackten Bauch. „Du bist ein Wal?“, fragt er wieder. „Genau!“, antwortet sie, „Soll ich es dir beweisen?“ Er nickt. Mit zwei Fingern berührt sie eine grüne Fläche auf dem Bildschirm, in der „Check“ steht. Der Rechner gibt einen ermunternden Gong von sich. „You are correct.“ erscheint in großen Lettern auf dem Bildschirm. Sie lächelt fröhlich, er lächelt irritiert.

„Ich bin ein Wal.“, beginnt sie zu erklären, nachdem sie ihre Hände auf seine gelegt hat. „Ich durchstreife die Ozeane. Am liebsten in hunderten Metern Tiefe, dort wo kaum jemals ein Fisch und nie, niemals Sonnenlicht hinkommt. Ich schwimme stundenlang, tagelang, mein Leben lang, abertausende Kilometer weit. Ich will jeden Quadratmeter Ozean bereisen, jede Senke, jede Bank. Mein riesiges Maul ist dabei nie geschlossen. Mit jedem Meter, den ich durch die Tiefen gleite, sauge ich hektoliterweise Meerwasser auf, um jedes Fitzelchen Plankton, das ich erwischen kann herauszufiltern, zu schmecken, zu verdauen, von ihm zu wachsen. Niemals bin ich satt, niemals bin ich zufrieden. Ich werde größer und schwerer und bald bin ich so groß und so schwer, dass mir mein eigenes Gewicht an Land die Lungen zerquetschen würde. Aber da gehe ich nie hin: An Land. Ich bleibe im Wasser, dort, wo keine Menschen sind. Ich will keinen Wegen folgen müssen sondern mich Strömungen hingeben. Ich will nicht höher klettern sondern lieber tiefer sinken. Ich will kein Haus und keinen Unterschlupf, das Meer soll mein Zuhause sein. Nur alle zwei Stunden kehre ich für einen Moment an die Oberfläche zurück um aus- und einzuatmen. Dann gibt es eine riesige Fontäne.“

Er legt die Stirn in Falten, sie lacht. Im bläulichen Licht des Bildschirms sehen ihre Zähne gefährlich aus. „Was machst du?“, will er wissen. „Ich erkläre mich dir, damit du mich verstehst! Darum hast du doch gebeten.“, antwortet sie.
„Hier am Rechner meine ich: Was ist das?“
„Ich lerne Französisch.“
„Aber warum?“
„Weil ich es noch nicht kann! Und Englisch lerne ich nebenbei auch noch mal.“

„Meine Mutter hat dich sprechen hören.“. Mit seinen Daumen streicht er fest links und rechts an ihrer Wirbelsäule, den Hals entlang. „Sie hat gedacht, du sprichst mit ihr, aber auf ihre Fragen hast du nicht reagiert. Sie hat einige Momente an der Schwelle gestanden und dich beobachtet, aber sie versteht nicht, was du hier tust. Sie hat sich nicht getraut, ins Zimmer zu kommen. Du hast in fremden Sprachen gesprochen. Damit ich mal nach dir sehe, hat sie mich aus der Wanne zitiert. Sie hat sich Sorgen gemacht. Wie kommst du darauf, ausgerechnet jetzt Französisch zu lernen?“
„Du hast ja keine Ahnung, wie lustig Französisch ist! Und wie schön. Abeille heißt Biene. Klingt das nicht toll? Abeille! Und weißt du, was Bär heißt? Ours. Ours! So werde ich dich ab sofort nennen: Mon petit ours!“

„Warum sitzt du nicht bei uns? Mutter hat Stolle aufgeschnitten und Kaffee gekocht. Sie wartet. Wenn du willst, mache ich ein Räucherkerzchen an. Und die Pyramide mit den Glöckchen. Die Erzgebirgsgesänge können wir ja weglassen, wenn sie dich stören.“
„Ja, die Gesänge! Das ist interessant!“, sagt sie, als sie ihre Hände von seinen löst und wieder zu tippen anfängt. „Die muss man doch hier irgendwo hören können. Auf YouTube? Bestimmt!“
„Was ist los mit dir?“
„Hör mal. Das ist ein Bartenwal. Psst!“

Auf ihrem Stuhl rollt sie hinüber zur Stereoanlage, schaltet sie an und dreht sie voll auf. Das dumpfe Dröhnen des Meeres kann er in seinen nackten Sohlen spüren. Das helle Seufzen der Wale verschluckt die Weihnachtslieder, die in Fetzen aus dem Wohnzimmer herüberdringen.
„Das ist irre, oder?“, staunt sie.
Er schließt die Augen. „Ja.“ Das auf seiner Haut verbliebene Badewasser sammelt sich in Tropfen an seinen Fingerspitzen. Das kitzelt.
„Du könntest auch ein Wal werden! Dann durchstreifen wir die Ozeane gemeinsam und singen Lieder wie dieses.“

„Nein.“, sagt er und öffnet die Augen. Er schüttelt die Tropfen ab, hockt sich vor den Rechner und klappt ihn zu. Die Gesänge verstummen. „Nicht jetzt. Kein Französisch. Keine Walgesänge. Jetzt: Weihnachten. Kaffeetrinken.“
Sie verschränkt die Arme vor der Brust und seufzt.
„Hast du keine Lust?“, fragt er.

„Natürlich habe ich Lust. Ich habe Lust mit dir zum Flughafen zu fahren, jetzt sofort, und einen Flug zu buchen, für heute Abend noch. Wir fliegen auf die Azoren. Last minute. Very last minute.“, kichert sie.
„Die Azoren?“
„Meine Kollegin war dort, letztes Frühjahr. Es muss herrlich sein!“
„Ich bitte dich!“
„Aber, die Azoren sind perfekt! Man spricht Französisch dort! Ich kann sofort anwenden, was ich gelernt habe. Wir werden eine Bootstour unternehmen, weit raus, aufs offene Meer. Meine Kollegin hat das auch gemacht. Wir werden Wale sehen, echte Wale! Wir werden sie singen hören! Das wird wunderbar!“
Er richtet sich auf und fährt sich durch die nassen Haare.
„Aber man muss aufpassen! Meine Kollegin hat sich eine Mittelohrentzündung eingefangen, weil sie den ganzen Tag im scharfen Wind an der Reeling gestanden hat. Ich werde klüger sein. Ich werde ein Kopftuch tragen.“ Flink rollt sie auf ihn zu und zieht das Handtuch von seinen Lenden. „So ungefähr. Ein perfekter Windschleier. Trägt man das so? Sieht das gut aus? Es riecht gut!“

Er legt die Hände in die Luft, atmet ein und öffnet den Mund, aber er weiß nichts zu sagen. Sie sieht ihn an, legt den Kopf schief und ruft: „Wow! Wo ist deine Kamera?“ Irritiert schiebt er die Brauen zusammen. „Was? Meine Kamera?“ „Nicht bewegen!“, sagt sie, während sie aufspringt und das Windschleierhandtuch von sich wirft. „Diese Pose! Dieser schmale Streifen Licht aus dem Wohnzimmer.“ Mit beiden Händen durchwühlt sie die Schubladen unter der Stereoanlage. „Deine Körperlichkeit! Dein Bauch! Dein Alter! Das ist alles so tragisch. Aber liebevoll tragisch. Weißt du? Schön tragisch. Das muss ich festhalten.“

Er stöhnt, setzt sich auf den Schreibtisch neben den zugeklappten Rechner, zieht die Beine an und legt die Arme um die Knie. „Was ist passiert?“
„Mann! Jetzt hast du dich bewegt!“
„Hat sie etwas gesagt?“
„Und die Kamera ist auch nicht an ihrem Platz!“
„Hat sie dich verärgert mit irgendetwas?“
„Kein Wunder, dass es kaum Fotos von uns gibt!“
Er schreit: „Setz dich hin und sprich mit mir!“ Sie fährt herum und sieht ihn an. Sie setzt sich.

„Thomas?“, ruft es aus dem Wohnzimmer. „Alles in Ordnung?“
„Jetzt nicht!“ Er springt auf und schlägt die Tür zu. Dann geht er zu ihr herüber und kniet sich vor ihren Stuhl. „Hat sie dich verletzt?“ Sie holt eine Strähne hinter dem Ohr hervor und wickelt sie konzentriert um ihren Zeigefinger.

„Unser Stollen schmeckt ihr nicht.“, flüstert sie.
„Das ist alles?“, fragt er und streicht ihr die Strähne wieder hinters Ohr.
„Die Kekse, die ich gebacken habe, schmecken ihr auch nicht. Da fehlt geriebene Zitronenschale.“
„Und deswegen bist du ihr böse?“
„Deine Suppe heute Mittag, hat ihr auch nicht geschmeckt. Sie muss Pupsen davon.“
„Wahrscheinlich verträgt sie Linsen nicht so gut.“
„Sie findet auch, dass du die Frühstückseier zu weich kochst. Hat sie alles ihrem Bruder erzählt. Vorhin, am Telefon.“
„Aber das ist doch nur das Essen!“ Er streicht ihr weitere Strähnen aus der Stirn.
„Aber an Weihnachten geht es doch ums Essen, oder?“
Er küsst ihre Wange. „An Weihnachten geht es ums beieinander sein.“
„Ich will nicht bei ihr sein. Ich will bei dir sein.“ Sie legt ihren Arm um ihn und zieht seinen Kopf auf ihre Brust, so dass sein Ohr auf ihrem Pullover liegt. Sie treibt ihre Nase in seine Haare.

„Sie hat noch etwas gesagt.“ Sie legt auch den zweiten Arm um ihn und klammert sich an ihm fest.
„Was? Was hat sie gesagt?“
Sie zieht ihn noch fester an sich. „Heb mich hoch.“
Er lacht. „Erst, wenn du mir sagst, was sie gesagt hat.“
Sie schlingt ihre Beine um seine Hüften. „Erst, wenn du mich trägst.“
Er fährt mit seinen Armen unter ihre Schenkel und umfasst seine Handgelenke unter ihrem Po. Als er sie anhebt, legt sie ihr Kinn auf seine Schulter. Ihr Haar versperrt ihm die Sicht. Er schnappt danach, bekommt ein paar Strähnen zu beißen und zieht daran. Sie kichert.

„Also, was hat sie gesagt?“
Sie bringt ihre Lippen ganz dicht an sein Ohr. Sie flüstert: „Sie hat gesagt, dass sie Weihnachten hier mit einer Verrückten verbringen muss.“ Für einige Sekunden klemmt sie sich sein Ohrläppchen zwischen die Lippen. „Sie hat gesagt, dass ich verrückt bin.“
Er lacht laut. Sie treibt ihm die Fingernägel in den Rücken, damit er aufhört. „Sie ist eine dumme, alte Frau.“, zischt sie.
„Nein, nein.“, murmelt er, als er sie auf dem Schreibtisch absetzt. Sie denkt gar nicht daran, ihre Umklammerung zu lösen. „Sie ist nicht dumm, Liebes. Sie versteht nur nichts von Walen.“
„So ist es, so ist es! Sie hat überhaupt keine Ahnung von Walen. Null!“, kichert sie.

Er lehnt sich zurück und sieht sie an. Mit beiden Zeigefingern zeichnet er ihre Augenbrauen nach. Dann fährt er entlang ihrer Wangenknochen hinunter zu ihren Lippen. „Wahrscheinlich ist sie Vogelkundlerin.“, sagen diese. „Oder Rassekaninchenzüchterin.“ „Psst!“, sagt er. „Was immer sie ist.“, sagt sie, aber es ist undeutlich, weil seine Zeigefinger noch immer auf ihren Lippen ruhen, „von den Ritualen der Meeresbiologie hat sie nicht den blassesten Schimmer.“ Er zieht seine Finger von ihren Lippen und legt seine Lippen genau dort hin. „Arme, alte Frau.“, flüstert sie, als er den Kuss löst. „Sie hat dich stranden lassen, tonnenschwere Walfrau. Das war brutal von ihr.“, flüstert er.

Während sie mit beiden Händen fest in die Polster an seinen Hüften greift, lacht sie: „Zieh mich zurück ins Meer, tonnenschwerer Walmann, lass uns ein paar Minuten der Strömung folgen.“ Er fährt mit seinen Händen wieder unter ihren Po und hebt sie an. Sie streckt die Arme von sich. „Dreh dich!“, ruft sie, „dreh dich. Und mach die Augen zu. Wir spielen Wale im Strudel.“
Die Dielen knarzen unter dem ungewohnten Gewicht.

„Was ist denn hier los?“
Er öffnet die Augen. Ihm dreht. Er bleibt nicht stehen.
„Was macht ihr?“
In der halboffenen Tür steht seine Mutter. Ungelenk tastet sie nach dem Lichtschalter.
„Willst du dich nicht anziehen, Thomas?“
Wieder und wieder sieht er das entgeisterte Gesicht an sich vorbeiziehen. Das Brillengestell seiner Mutter zeigt hübsche Lichtreflexe.
„Raus mit dir!“, ruft sie, immer noch fest um seinen Hals geschlungen. „Du wirst ertrinken hier draußen!“
„Ich werde was?“
Er stoppt die Drehung und sieht seine Mutter an.
„Wir spielen Ozean, Mutter.“
„Seid ihr jetzt beide völlig übergeschnappt?“

Sie löst die Umarmung und klettert von ihm herunter. „Wir sind Wale, siehst du das nicht? Wir werden ja wohl mal ein paar Minuten abtauchen dürfen.“
„Wir kommen gleich, Mutter.“, sagt er, noch bevor diese etwas antworten kann. Schwankenden Schrittes geht er zur Tür. Seine Mutter nickt wortlos, wendet sich ab und geht zurück ins Wohnzimmer. Er schließt die Tür, dreht sich um und grinst.
Sie schiebt den Laptop beiseite und klettert auf den Schreibtisch.
„Was ist denn jetzt schon wieder?“, fragt er lächelnd.
„Ich habe eine lauschige Sandbank gefunden! Leg dich zu mir.“

Überposis

Halt, Stopp! Ey, Schaffnerin! Gut, dass ich sie gleich erwische! Ich muss erstmal durchatmen. Ich bin den ganzen Weg vom Flughafen-Shuttle – puh! Ich komme gerade aus New York! Ich war die ganze Nacht im Flieger. Bin total drüber. Ich weiß nicht, ob das das Jetlag ist oder die Medikamente. Ich hatte gestern eine Zahn-OP. Mit Zahn ziehen, Eiter ausspülen und nähen und so. Fies. Jedenfalls musste ich bar bezahlen. Ich hab‘s vorm Start nicht mehr zum Automaten geschafft. Und nach der Landung auch nicht. Kann ich trotzdem mitfahren? Geht das? Ich meine, ohne Geld?

Wir machen das so: Ich fahre mit bis Leipzig. Dort steige ich aus und flitze zur Western Union. Da hebe ich das Geld aus New York ab. Dann komm ich zurück und bezahle das Ticket. Okay? Ich lasse ihnen bis dahin meinen Pass da. Als Pfand. Sie geben ihn mir zurück, wenn wir quitt sind. Keine Tricks. Und keine Sorge: Ich brauche meinen Pass. Ohne Pass bin ich erledigt.

Machen Sie doch mal eine Ausnahme! Kommen Sie schon! Bitte! Das wäre super, wenn wir das so machen könnten. Echt? Sie sind richtig cool. Ich setze mich da vorn hin, dann habe ich es nachher nicht so weit zur Tür. Ist doch frei bei dir, oder? Super! Kann ich die Tasche unter deinen Sitz stopfen? Hilfst du mir? Dann packe ich die andere hier hoch! Wehe du illerst mir unters Shirt! Jetzt guck nicht so erschrocken. Spaß!

Du, ich hoffe, ich stinke nicht. Ich bin total durchgeschwitzt. Eigentlich müsste ich mein T-Shirt wechseln. Guck mal, das sind Schweißflecken und das hier sind Schampusränder. Sehen genauso aus. Einen Fächer könnte ich jetzt gut gebrauchen. Wie der Lagerfeld. Naja, der OP-Bericht hier wird es auch tun. Ist der auch mal zu was gut. Alter Schwede: 2.500 Dollar für das bisschen Zahn ziehen. Hat das jetzt wieder zu bluten angefangen? Es schmeckt so süßlich, irgendwie. Die haben das zwar genäht, aber das ist ja nicht blutdicht. Blutdicht – gibt es das Wort? Kannst du mal gucken, ob du da was siehst? Hinten rechts unten. Da wo der Zahn fehlt. Siehst du die Naht? Blutet das? Jetzt guck mich mal an. Nee, frontal. Ist das noch geschwollen? Fass mal an, das ist total heiß! Alter, mit so einer Beule im Gesicht kriege ich nie wieder einen Job! Keine Ahnung, was passiert ist. Gestern früh bin ich mit Zahnschmerzen aufgewacht und gestern Abend sah ich aus, als hätte ich eine aufs Maul gekriegt. In der Klinik haben die den Zahn sofort rausgemacht. Das hat übelst geknirscht! Die haben gesagt: No sports! I mean it: No sports! Aber wenn ich jetzt nicht geflitzt wäre, hätte ich den Zug verpasst. Klar, ich hätte auch den ICE nehmen können, aber im ICE kommt man mit so einer Nummer nicht durch.

Ist dir auch so heiß? Boah, guck mal, in meinem Bauchnabel kocht das Wasser! Hier! Ein Schweißtropfen-Rennen! Schluss jetzt, ich zieh mir was Frisches an. Halt das mal. Fuchsia oder Pistazie? Fuchsia, oder? Weißt du, alle denken immer, ich trainiere wahnsinnig hart. Aber das stimmt null. Ich habe fünf Jahre Fußball gespielt. Ewig her. Mein Körper hat sich das irgendwie gemerkt. Also, dass ich Sportler bin. Der sieht einfach weiterhin so aus. Du hast da bisschen Pech, aber mach dir nichts draus. Dafür ist dein Gesicht gut. Das sind die Gene. Ich mache überhaupt keinen Sport. Ich darf nicht trainieren, die haben mir das regelrecht verboten. Ich habe mal ein paar Wochen gepumpt, aber ich kann ja zugucken, wie bei mir die Muckis wachsen. Die von der Agentur haben dann gesagt, ich soll aufhören, sonst passe ich nicht mehr in die Slim-Fit-Hemden. Ist ja alles Slim Fit. Wenn du zu fett bist, bist du zu fett. 65 Kilo ist das Limit. Ich könnte höchstens Joggen gehen. Aber da habe ich gar keine Zeit für. Ich würde mich ja auch nur verlaufen.

Na gut, ich esse nicht so viel. Aber das ist auch nur wegen dem Stress. Denn wenn ich was esse, Alter, esse ich echt nur Fastfood. Am Liebsten die Schinken-Ananas mit der Mozarellakruste von Pizza Hut. Ey, Pizza Hut gibt es überall: in Mailand, London, Kopenhagen, New York, Moskau, überall. Die Pizza heißt natürlich immer anders. Ananas prosciutto in Mailand, zum Beispiel. Aber das hast du schnell raus. Schmecken tut sie überall gleich. Ich fühl mich immer zuhause, wenn ich die esse.

Dabei war ich jetzt wochenlang nicht zuhause. Voll fies, dass die Modewochen so kurz hintereinander sind. Manchmal weiß ich gar nicht, in welcher Stadt ich bin. Ist auch egal. Von den Städten kriege ich sowieso nichts mit. Früher haben meine Freunde gefragt Wo ist es denn am Schönsten? Keine Ahnung, Mann. Ich bin da nicht zum Sightseeing! Jetzt komme ich aus NYC. Fashion Week. Bin drei Shows gelaufen. Donna Karan, Issey Miyake und Hermès, das wird wie Hermes geschrieben, ist aber Französisch, deswegen spricht man das H nicht. Hermès.

Drei Shows in einer Woche. Klingt nicht viel, ne? Ich weiß nicht, was du arbeitest, aber nur an drei Tagen die Woche ins Büro, klingt bestimmt wie Urlaub für dich. Stimmt ja auch. Also ich habe abends jedenfalls keinen Muskelkater von der Schufterei, oder so. In Wirklichkeit ist das Business ja nur Warten, ne? Manchmal sitzt du vier Stunden rum und es passiert gar nichts. Dann kommt jemand und schminkt dich drei Stunden. Dann guckst du in den Spiegel und denkst: Krass, wer ist das? Oder vier Design-Studentinnen ziehen dich den ganzen Tag an und aus und zuppeln an dir rum. Manchmal musst du sechs Stunden vor so einer Show da sein. Und wenn du dann raus gehst und läufst, dauert das 30 Sekunden. Echt ey, sechs Stunden wegen 30 Sekunden. Hammer. Aber Arbeit ist das eigentlich nicht. Obwohl, letztes Jahr in Mailand hatte ich mal vier Shows an einem Tag. Da geisterst du bei 40 Grad 12 Stunden durch Mailand, das schlaucht wie Sau. Und trotzdem ist das Gewarte natürlich langweilig. Deswegen wird auch viel gekokst. Ey, wenn du nichts von der Stadt weißt, ne, wo die Dealer stehen, weißt du. Dann geht einer los, kauft bisschen Puder und dann wird Party gemacht. Die Partys sind geil, aber du musst immer aufpassen, dass kein Typ anfängt, dich zu befummeln oder sich mit dir rumzubeißen. Gibt halt viele Homos in dem Business, weißt du ja.

Klar kannst du auch ohne Puder Party machen, aber du kennst ja niemanden, dort. Das sind nicht deine Freunde. Ich dachte immer: Models, Fotografen, Designer, das ist doch eine Familie. Aber Models sind für die der letzte Dreck, wie Putzfrauen für dich. Jeder will modeln, und wer rumzickt, fliegt eben raus, draußen warten schon drei Neue. Du kannst dich nicht darauf verlassen, jemals jemanden wiederzutreffen. Also feierst du einmal schön mit denen und dann verschwindest du.

Krass ist, wenn die Party vorbei ist. Dann sitzt du in einem Raum mit zwei Dutzend Leuten und bist trotzdem allein. Du kannst dich ja auch nicht unterhalten mit denen, weil die alle kein Deutsch können. Und mein Englisch ist echt panne, besonders, wenn ich drauf bin. Hat mich nie interessiert, Englisch. Naja, ewig kannst du das nicht machen. Aber ich bin froh, dass ich es überhaupt machen kann.

Ich habe ja keine Ausbildung oder so. Bin mit der 8. Klasse von der Schule, weil ich keinen Bock mehr hatte. Gab nur Beef mit den Lehrern. Und war halt öde. Naja, mein Elternhaus war nicht das Beste, da gab es nicht so viel Support. Ich habe dann bisschen Fight Club gemacht, um Kohle zu verdienen und gedealt. Eigentlich war ich immer blank.

Und dann war ich eines Tages bei einem Kumpel in Berlin. Wir waren fett feiern und am nächsten Morgen, also eigentlich schon Nachmittag, gehe ich zum Bäcker und da werde ich von so einem Typen angesprochen. Das war ein Scout. Der hat krudes Zeug gefragt. Was ich so mache und ob ich Bock hätte, dass er mal eine Sedcard mit mir fotografiert. Ich hatte keinen Plan, was das ist, aber es klang nach Kohle und ich brauchte Kohle. War goldrichtig, ey.

Kennst du Heidi Klum? Ich bin jetzt bei der gleichen Agentur. Mal kucken, wie lange. Ich bin schon 25. Aber ich sage immer, ich bin 21. Kann ich doch machen, oder? Ich sehe halt jünger aus. Naja, ein paar Jahre wird das schon noch laufen. Die Opis in der Branche sind so 35. Danach kommt nur noch der Otto-Katalog oder die Apotheken-Umschau. Da musst du vorher den Absprung schaffen. Ich will zum Film. Wie Mark Wahlberg. Schaffen nicht viele. Die meisten stürzen total ab. Deswegen: Jetzt schön Kohle scheffeln. Noch geht‘s.

Sagt meine Freundin auch immer. Die macht irgendetwas mit Marketing für eine Pharmabude, aber kriegt nur Dreizehnhundert im Monat. Raus. Das mache ich in einer Show! Da hab ich zu ihr gesagt, zieh‘ doch bei mir ein und spar die die 500 Tacken Miete. Kauf dir lieber was Schönes. Keine Ahnung, schickes Auto oder so. Hat sie gemacht. Jetzt wohnt sie bei mir in Delitzsch. Ja, ich weiß, Delitzsch, krass. Aber ich bin dort geboren und ich will nicht weg. Da sind ja auch meine ganzen Leute. Theoretisch.

Boah, ich freu mich so, die heute Abend zu sehen. Ich habe ihr bisschen Bling-Bling gekauft. Die wird sich freuen. Wobei ich aufpassen muss, dass ich die nicht so verwöhne. Ich will keine verwöhnte Zicke. Ich brauche eine echte Frau. Weißt du, wenn ich meiner Süßen auf den Arsch haue, dann wackelt der noch in drei Monaten. Darauf stehe ich. Und das weiß die auch. Deswegen ist die auch nicht eifersüchtig. Die verhungerten Kokshühner interessieren mich nicht. Ich brauche was zum Anfassen, weißt du. Aber die Hühner dürfen ja nichts essen und trösten sich dann mit Nasen voller Puder. Was willst du mit so einer? Aber klar, es ist hart eine Beziehung zu führen, wenn deine Süße dich nie sieht. Das letzte Mal war ich vor neun Wochen zuhause. Deswegen bringe ich ihr immer was Schönes mit, wenn ich komme. Dann hat sie was an mich zu denken hat, wenn ich weg bin. Kohle ist ja da.

Wenn ich zwanzig Shows mache in einer Woche, sind das 25 Scheine. Im Moment muss ich die Hälfte an die Agentur abgeben. Aber das ist okay. Der Trick ist ja, eine Kampagne zu bekommen. Also Plakate, Anzeigen, Spots und so. Dafür kriegt man 180.000 Tacken im ersten Jahr und für jedes weitere Jahr der Kampagne nochmal 70 Scheine. Also 70 Tausend. Das wäre natürlich der Knaller. Aber ich bin schon zufrieden, wie es jetzt läuft.

Am Anfang war es heftig. Ständig musste ich zu Castings oder Previews und hab dafür keinen Cent gesehen. Jedes Mal habe ich mir fast in die Hosen geschissen. Ich wusste ja nicht, was die von mir wollen. Aber die wollen immer das gleiche: Den Rowdy. Bisschen böse gucken, bisschen Fresse ziehen, bloß nicht lachen. Das war’s. Hatte ich schnell drauf. Andauernd haben die Tussis von der Agentur angerufen, damit ich irgendwo hin fahre. Oder fliege. Ich so zu denen: Ey Leute, ich buttere hier nur rein. Und die so: Ey, chill mal, die große Kohle kommt schon noch! War dann auch so. Läuft.

Ich bin halt der Exotentyp für die. So viele Tattoos wie ich habe. Guck mal hier, sogar meine Geheimratsecken sind tätowiert, da gehen die total drauf ab. Und hier, meine Arme. Das ist meine Mama, hier ein Piratenschiff, da kommen aber noch Wellen hin und so. Der Knaller ist natürlich das Kreuz mit den Engelsflügeln auf meiner Brust. Soll ich das Shirt nochmal ausziehen? Hast du den Drachen auf meinem Rücken gesehen? Ist voll der Kontrast zu den feinen Klamotten. Das zieht den Fotografen total den Stecker.

Manche Klamotten darf ich behalten, wenn sie mir gefallen. Besonders, wenn die voller Schminke sind. Aber dann wäscht man die, und dann sind die wieder cool. Die Hose hier zum Beispiel. Sag mal, findest du auch, dass die am Arsch zu locker sitzt? Meine Agentin in New York sagt das. Und du?

Die meisten Kollegen sind total glatt. Manchmal machen die sich dann so Abziehbildchen-Tattoos drauf. Voll arm. Aber die sind eben derbe jung und haben null Lebenserfahrung. Die finanzieren sich ihr Studium mit dem Modeln, mehr ist das für die nicht. Für mich ist es mein Job. Mein einziger.

Echt, du steigst hier aus? Schade. Tja, dann: Hat mich echt gefreut, dich kennenzulernen. Weißt du, ich texte ja nicht jeden so zu. Aber bei Leuten, bei denen ich Interesse spüre, erzähle ich halt gern mal. Achso, ich heiße übrigens Norman.

Kollegen sind tabu, aber Alkohol ist schlecht für die Deckung

Kollegen sind natürlich tabu. Privates und Dienstliches ist voneinander zu trennen, das hat schon mein Vater gewusst und er konnte das auch erklären: Wenn das Dienstliche privat wird, wird es meistens kompliziert. Meine Mutter und die Sekretärin meines Vaters bestätigen das. Aber diesen einen Kollegen ein klitzekleines bisschen anzuhimmeln, macht mir Spaß und hat mich schon in einigen Sitzungen davor bewahrt, alberne Blümchen in mein Notizbuch zu kritzeln, so wie es meine Chefin macht, der ihrem Notizbuch nach zu urteilen sehr offensichtlich jemand zum Anhimmeln fehlt. So ein bisschen Schwärmerei kann niemandem schaden finde ich, insbesondere dann nicht, wenn schwärmen bedeutet, dem Schwarm gegenüber dermaßen lässig aufzutreten, dass dieser zurecht daran zweifeln darf, ob man seine Existenz überhaupt bemerkt. Aber Alkohol ist schlecht für die Deckung.

Er ist betrunken und ich bin betrunken und schon während er zur Bar torkelt, an der ich auf meinen Mojito warte, denke ich: Meine Fresse, eine Betriebsfeier, wie in den „So bewahren Sie auf einer Betriebsfeier ihr Gesicht“- Ratgeber-Artikeln auf Welt Online. Jetzt reiß dich also zusammen, denke ich, und verliere nicht dein Gesicht, nur weil seines so niedlich ist. Und als er die Bar erreicht sage ich: „Hey Mattis!“ und verkneife mir gerade so das „Wie geht’s altes Haus?“, worauf ich sehr stolz bin, weil es beweist, dass ich noch nüchtern genug bin um zu merken, dass ich nicht lässig klinge, sondern wie ein erkälteter Azubi im Team von Cobra 11. Mattis bestellt das Gleiche wie ich, ohne zu wissen, was ich bestellt habe. Er mag mich vielleicht doch, denke ich, und im nächsten Moment denke ich, ach was, der ist einfach betrunken. Ihm ist egal, was ihn gleich noch betrunkener macht und mir kann egal sein, ob er mich mag oder nicht.

Er klettert auf den Barhocker neben mich und brummt: „Weißt du, Korbi, eins muss ich dir mal sagen.“, und ich denke, reiß dich ja zusammen verliere bloß nicht dein Gesicht und vor allem: nenne mich nie wieder Korbi. Er zündet sich eine an und lässt seinen Blick in die Ferne schweifen und ich muss lachen, weil niemand so schön gender performt wie Mattis Hansen. Aber als der Rauch des ersten Zuges langsam aus seiner Mundhöhle entlang seiner vollen Oberlippe an seinen Bartstoppeln nach oben steigen will und er ihn plötzlich wieder einzieht, wobei er ein rückwärts gesprochenes S macht, fällt mir das Lachen aus dem Gesicht und mir wird ein bisschen heiß. Klischee hin oder her.

„Ich habe ja schon ein Jahr bei euch gearbeitet, bevor ich kapiert habe, dass du schwul bist.“, sagt er und lässt denn Rauch durch leicht geschürzte Lippen entweichen und ich sage „Oh.“ und ziehe die Augenbrauen hoch. „Also eigentlich habe ich es gar nicht kapiert“, sagt er, bevor er den nächsten Zug nimmt, „Jenny hat’s mir erzählt und ich dachte erst, die verarscht mich. Aber dann hast du gesagt, dass du Marco Schreyl heiß findest und da war es dann klar.“ Das einzige, was mir klar wird ist, dass ich mein Gesicht längst verloren habe und zwar irgendwann in einem neonröhrenbeleuchteten Großraumbüro, stocknüchtern aber viel zu redselig. Glücklicherweise muss ich nicht mehr als „Naja.“ antworten, weil Mattis schon weitererzählt.

„Weißt du, ich kenne ja keine Schwulen. Der einzige Schwule, den ich jemals kannte, war beim Bund mit mir auf der Stube und das war voll die Tucke. Der war total anstrengend und hatte es nicht leicht.“ Ich sage „Aha.“, und bete dafür, dass mir dieser Zeitlupenkünstler von einem Barkeeper endlich meinen Mojito serviert, damit ich mir einen Eiswürfel in den Mund stecken kann, und gar nicht mehr antworten muss. Es dauert bis zu Mattis‘ „Aber du bist ja nicht so.“, bis meine Gebete endlich erhört werden und ich mir den Strohhalm zwischen die Zähne klemmen kann, damit meine Zunge ja kein dummes Zeug mit meinen Zähnen formuliert. „Du bist ein gestandener attraktiver Mann.“, sagt Mattis als nächstes und es ist sein Glück, dass ich ihn ein bisschen anhimmle, andernfalls hätte ich ihn jetzt in eine Diskussion darüber verwickeln müssen, was er ungewöhnlich daran findet, dass homosexuelle Männer gestanden und attraktiv sein können, und diese Diskussion verliert man gegen mich. So aber fasse ich das als Kompliment auf und spüre, wie ich puterrot werde.

Als mich Mattis dann fragt, ob ich schon immer schwul war, zerstäube ich mit dem feinen Alkoholnebel, den ich unkontrolliert in die Luft pruste, auch jegliche Hoffnung auf die Existenz Gottes. Mattis guckt mich ernst an, obwohl, ernst ist das falsche Wort. Er guckt so, wie jemand guckt, der mit ehrlichem Interesse das Verhalten eines ihm unbekannten Tieres studiert. Und weil ich ihn nicht bloßstellen will, verschleiere ich meinen Lachanfall zu einem Hustenfanfall. Ich konnte ja nicht ahnen, dass er mir erst fest auf den Rücken klopfen und als nächstes sanft über die Schulter streichen würde. Als ich mich wieder gefangen habe, einige Sekunden nachdem er seine Hand wieder bei sich hat, sage ich: „Ich bin ungefähr so lange schwul, wie du hetero bist.“ und finde, dass ich jetzt gelassener klinge, als ich mich fühle. Mattis zeigt mir sein schönes Lächeln und ich zeige Mattis mein verlegenes Grinsen und wie gut mein Herz mein Gesicht durchblutet, und weil das ja nicht für immer so weiter gehen kann, sage ich: „Aber ich habe schon mal mit einer Frau geknutscht, falls du das meinst.“

Der Barkeeper serviert Mattis seinen Mojito und ich begreife, dass das Gleiche wie ich zu bestellen kein Ausdruck besonderer Sympathie, sondern Zeugnis besonderer Rationalität war. Mattis musste auf seinen Mojito viel kürzer warten, als ich auf meinen und das lag daran, dass der Barkeeper nur einmal zu mixen anfangen musste. „Prost!“, sage ich und Mattis sagt: „Nur einmal?“, und ich denke, wieso soll ich „Prost! Prost!“ sagen, wenn du nicht wenigstens „Prost!“ sagst, aber ich schweige lieber, weil ich befürchte, dass es peinlich werden könnte und das ist klug. Ein paar Sekunden später begreife ich nämlich, dass er das Knutschen meint und nicht das Trinken. „Ja, nur einmal“, antworte ich schließlich, „und das war interessant, weil sich die Frau viel weicher und viel weniger stachlig anfühlte als alle Männer, die ich jemals küsste.“ Mattis nickt langsam und fängt an, mit seinem Strohhalm den Saft aus den Limettenachteln am Boden seines Glases zu drücken, und ich würde einen Zehner dafür geben, zu erfahren, was er denkt. Dann presst er die Lippen zusammen und ich schmunzele darüber, dass er sich für das bisschen Saft so konzentrieren muss. Der denkt gar nichts mehr, denke ich.

„Na klar“, sagt Mathis dann unvermittelt und ohne seinen Blick vom Glas abzuwenden, „man muss alles mal ausprobieren, eigentlich.“, woraufhin mir unwillkürlich der Mund aufgeht. Aber anstatt etwas zu sagen, zum Beispiel „Falls du mal Knutschen mit einem Mann ausprobieren willst, ich schmecke gerade nach Minze, Zucker und Limetten.“, trinke ich lieber einen großen Schluck und starre auch ein bisschen in mein Glas.

Als ich das betretene Schweigen nicht mehr aushalte sage ich: „Lass uns wieder rüber zu den anderen gehen.“ und Mattis sagt:
„Jo.“, aber er sieht mich nicht an. Während ich vom Barhocker klettere, lege ich meine Hand zur Stütze auf seine Schulter und als ich merke, wie hart und warm die ist, ärgere ich mich schon. Hätte ich nur mal mein Gesicht riskiert, um sein niedliches zu küssen. Bis zur nächsten Betriebsfeier muss es erst Herbst, Winter, Frühling und wieder Sommer werden.

2. Ausrüsten

(Fortsetzung von 1. Erwachen)

Er fand sich in der Mitte des Zimmers wieder und drehte sich langsam um die eigene Achse. Wie Mira. Mira steht jeden Morgen in der Mitte des Schlafzimmers und dreht sich mit ausgestreckten Armen um die eigene Achse. Genau einundzwanzig Mal. Ausnahmslos jeden Morgen absolviert sie ihr Übungsprogramm um ihre Chakren in Einklang zu bringen. Die fünf Tibeter sind eine ernste Angelegenheit für sie. Er hatte sich das Spotten abgewöhnt. Danach erst konnte er erkennen, wie konzentriert, versunken und wunderschön sie dabei aussieht.

Aber Mira war weg. Oder er. Je nach Perspektive. Er versuchte, nicht mehr an sie zu denken. Er versuchte stattdessen, im durch seine langsamen Drehbewegungen wieder und wieder an ihm vorbeiziehenden Zimmer an etwas erinnert zu werden. Der Deckenstuck glich dem im Behandlungszimmer seines Zahnarztes. Aber da war er nicht. Die Doppelfenster aus Holz waren wie die im Haus seiner Großmutter. Das war längst abgerissen. Der grobe Plüschteppich, der jeden seiner Schritte dämpfte, fühlte sich an wie sein Badewannenvorleger. Aber, so gern er es wäre: Er war nicht zuhause. Er kannte diesen Raum nicht. Er war der Fremde. Der andere war der Andere.

Als ihm schwindlig wurde, ließ er sich wieder aufs Bett fallen. Das glatte, weiche Gefühl der abgekühlten Bettwäsche auf seiner Haut gefiel ihm. Er kannte es. Er drückte sein Gesicht tief ins Kissen. Es roch nach Duschbad, nach Waschmittel, nach Haaren, ein bisschen nach Schweiß und ein bisschen nach Spucke. Es roch nach Mensch. Er atmete diesen Geruch, Nase um Nase. Er wartete auf eine Erinnerung, einen Fetzen irgendwas. Er wusste, wer er war. Aber wer er war würde nicht ohne Erinnerung im Bett eines wildfremden Menschen aufwachen, der dem Inhalt seines Kleiderschrankes nach zu urteilen obendrein ein Mann war. Der Geruch, den das Kissen verströmte war ihm nicht unangenehm. Aber unbekannt und beunruhigend.

Es klickte. Blitzschnell drehte er sich um und starrte zur Tür. Er brauchte einige Sekunden, um das Klicken der Zahlenmechanik des Weckers zuzuordnen. Es war 11:07 Uhr. Wie konnte er wissen, dass er allein war? Vielleicht war der Andere gerade im Bad und würde in wenigen Augenblicken, ein Handtuch um die Hüften und ein Liedchen auf den Lippen, im Türrahmen erscheinen. Vielleicht saß er in der Küche und frühstückte. Vielleicht saß er schon im Arbeitszimmer über seinen Rechner gebeugt. Wenn er nicht allein war, würde er in wenigen Minuten jemandem begegnen, von dem er keine Vorstellung hatte. Jemandem, der ihn kannte und sich möglicherweise darüber freuen würde, dass er endlich wach war. Jemandem, der ihn hatte ausschlafen lassen. Jemandem, der ihn in seinem Bett schlafen ließ. Was, wenn er sich auch dann nicht erinnerte ? An wen?

Er drehte den Kopf. Erst jetzt fiel ihm auf, dass neben dem Kissen auf dem sein Kopf ruhte ein weiteres lag. Er schreckte auf. Er hatte keine zwei Kissen benutzt, soweit er sich erinnerte. Aber er erinnerte sich nicht. Er beugte sich zu dem zweiten Kissen herüber und roch daran. Es roch genauso wie dasjenige, welches er benutzt hatte. Er versuchte sich zu erinnern, ob er dieses fremde Bett mit jemandem geteilt hatte. Er legte den Kopf auf das andere Kissen und wartete auf einen Fetzen Erinnerung. Er legte den Kopf zurück auf sein Kissen und wartete auf irgendetwas. Er hatte Kopfschmerzen.

Er schreckte auf, kniete sich aufs Bett und untersuchte das Laken unter auf Flecken. Er fand welche. Ein größerer roch nach Bier, zwei weitere, kleinere rote Flecken rochen leicht süßlich. An anderer Stelle war offensichtlich ein Splitter Schokolade unter einem warmen Körper geschmolzen. Ansonsten nur viele tiefe Falten im Laken. Wer auch immer hier schläft, schläft unruhig. Er suchte nach einem Haar, er fand keines, nicht einmal ein kurzes. Ein langes, blondes Haar hier zu finden, hätte ihn beruhigt. Aber Mira war weg.

Er hielt seine Finger unter die Nase. Sie rochen neutral, etwas salzig vielleicht. Mit den Daumen schob er einige Fingerkuppen zurück und sah unter seinen Fingernägeln nach. Alles sauber. Er untersuchte seinen Bauch, seine Schenkel, sein Schamhaar. Nichts verklebt. Gutes Zeichen. Er sah unter seiner Vorhaut nach. Keine Ahnung. Er lehnte sich aus dem Bett und kuckte darunter. Er fand eine braune Herrensocke, aber kein benutztes Kondom. Trotzdem kein Beweis. Er prüfte seinen Körper auf Kratzspuren und blaue Flecke. Nichts. Er überlegte, nochmal hinüber zum Spiegel zu gehen. Dort wäre auch die Untersuchung seines Rückens möglich. Und die seines Hinterns. Aber er blieb auf den eigenen Fersen sitzend im Bett. Sein Hintern fühlte sich normal an, aber auch das bewies gar nichts. Er wollte Duschen. Er ekelte sich. Vor dem Bett, das so fremd roch. Vor dem Körper, der diesen Geruch ursprünglich verströmte. Vor dessen Händen, sofern sie ihn berührt hatten. Und vor dem Rest dieses fremden Körpers auch. Erst recht. Sogar vor seinem eigenen Körper ekelte er sich, weil er diesen fremden Geruch anzunehmen schien.

Er war durstig. Er sah sich nochmals im Zimmer um. Am Grunde des leeren Wasserglases auf dem Nachttisch fand er Rückstände eines weißen Pulvers. Er befeuchtete seinen Zeigefinger und nahm ein paar Krümel auf. Sie schmeckten so, wie der geltenden Meinung der chemischen Industrie zufolge tropische Früchte schmeckten. Um diesen Geschmack wieder los zu werden, brauchte er noch dringender etwas zu trinken. Aber hier war nichts. Er würde das Zimmer verlassen müssen um seinen Durst zu stillen. Außerdem musste er pinkeln. Und duschen.

Er beschloss, zu rufen. Vorher schlüpfte er wieder unter die Decke. Falls da jemand war, wollte er ihm nicht in Boxershorts begegnen. Trotz und gerade wegen letzter Nacht. Er rief. Seine Stimme war belegt und rau. Offenbar hatte er gegrölt gestern. Er lauschte. Nichts. Sein Hals brannte. Er räusperte sich. Er rief wieder. Seine Kehle war trocken und seine Zunge pelzig. Er lauschte. Nichts. Er holte tief Luft und brüllte. Sein Atem roch nach Alkohol und sein Kopf dröhnte. Er lauschte. Kein Geräusch außer dem Knacken seiner Kiefergelenke und seinem leise pfeifend ausströmenden Atem.
Er sank wieder ins Kissen. Wahrscheinlich war er allein. Das enttäuschte ihn. Das Gesicht des anderen oder zumindest dessen Rede hätten seiner Erinnerung vielleicht auf die Sprünge geholfen. Die große Irritation wäre vorüber gewesen. Man hätte ihn wieder aufs Spielfeld gesetzt. Es wäre weiter gegangen. Gleichzeitig war er erleichtert. Er fürchtete die Konfrontation mit dem Anderen. Dem Anderen? Warum nicht den Anderen? Woher konnte er wissen, dass er es nicht mit mehreren zu tun hatte? Was, wenn er in die Fänge einer Schleuserbande geraten wäre? Menschenhändler? Organhändler? „Absurd.“, murmelte er, als er einsah, dass ihn eine Menschenhändlerbande wahrscheinlich nicht in einem Zimmer mit Balkon zur Straße untergebracht hätte. Mit Daumen und Zeigefinger rieb er sich den Schafsand aus den Augen. Seine Einsamkeit gab ihm Zeit, wieder zu sich zu kommen. Vielleicht wüsste er, wo er war, wenn er nur endlich dieses Zimmer verließ.
Die Messinggriffe der großen Flügeltür waren ihm schon vorhin aufgefallen. Er wollte sie berühren. Ihre glatte, kühle Anmutung lockte ihn. Durch das Milchglas zeichnete sich ein weiterer heller Raum ab. Dem Schattenwurf nach zu urteilen, musste es ein großes Fenster darin geben, vor dem der Wind mit einer mächtigen Baumkrone spielte. Der Raum schien freundlich. Der Raum jagte ihm Angst ein.

Ohne seine Erinnerung war er blind. Blind fühlte er sich wehrlos. Wehrlos wollte er den tanzenden Schatten hinter dem Milchglas nicht gegenübertreten. Er schloss die Augen und wartete auf einen Fetzen Erinnerung. Er wusste seinen Namen: Kay. Er wusste seine Adresse. Er kannte sein Alter: 36. Und er wusste das Passwort zu seinem Rechner im Büro: 8hrs2go!. Ihm war bewusst, in welchem Jahr er lebte. Und mit wem: Mira. Er erschrak. Falsche Zeitform.

Ihm war schlecht. Erneut hob er seine Beine aus dem Bett und stand auf. Er war ein geduldiger Mensch, aber dieses Warten auf nichts machte alles dringender. Er ging hinüber zur Flügeltür. Es knarrte. Er fror ein. Er selbst musste dieses Geräusch ausgelöst haben, als er über die Dielen lief. Er war allein in der Wohnung. Er hatte gerufen und keine Antwort erhalten. Außer dem Klicken vorhin und diesem Knarren jetzt hatte es kein Geräusch in der Wohnung gegeben, seitdem er wach war. Er hatte gute Ohren. Er verlagerte sein Gewicht wieder auf den anderen Fuß, aber es knarrte kein zweites Mal. Er ging zurück zu seiner Ausgangsposition und lief den Weg erneut. Es knarrte nicht. Vielleicht war das ein Spiel, das der Andere mit ihm spielte. Vielleicht lauerte er hinter der Tür, um ihn mit einem „Buh!“ zu Tode zu erschrecken, sobald er sie öffnete. Vielleicht saß der andere seit Stunden schweigend in seinem zur Tür gewendeten Lesesessel, nur um aufzusehen und ihn schweigend aber breit anzugrinsen, sobald sein Schlafgast heraustrat. Vielleicht hatte sich eine Tragödie abgespielt und der andere lag direkt vor der Tür in einer riesigen Blutlache, die – um die Überraschung nicht zu gefährden – kurz vor der Schwelle zum Schlafzimmer endete. Bestimmt.

Er konnte da nicht raus gehen. Nicht so. Er machte drei Schritte in Richtung Kleiderschrank, weil ihm die Idee gekommen war, ein paar Kleider des Anderen anzuziehen. Er stockte. Nach allem, was er bisher wusste, mochte er diesen Anderen nicht. Nicht seinen Geschmack, nicht seinen Geruch und vor allem nicht seine Abwesenheit. Er wollte diese Sachen nicht tragen. Er ging zum Bett und nahm sich ein Kissen. Wie ein Schild drückte er es sich auf den Bauch und verschränkte die Arme davor, als würde er sich daran festhalten. Das half, er fühlte sich sicherer. Er machte wieder einen Schritt in Richtung Tür. Was aber, wenn der Andere ebenso orientierungslos war wie er? Was, wenn er ihn angreifen würde? Was, wenn er in die Fänge eines Psychopaten geraten war, der ihn auf der anderen Seite des Milchglases mit gewetzten Messern erwartete? Er konnte da nicht rausgehen. Nicht so. Er ging zurück zum Bett und hängte sich die Bettdecke um die Schultern. Dabei registrierte er sehr wohl, dass es nur eine große Decke war, nicht zwei. Er weigerte sich allerdings, über diesen Fakt nachzudenken. Nachdenken hatte ihm bis hierher nicht viel genützt. Er machte wieder drei Schritte in Richtung Tür. Die Steifheit des Federbettes um seine Schultern und das Kissenpolster vor dem Bauch gab ihm das Gefühl eine Rüstung zu tragen, wenn auch eine lächerliche. Ein letztes Mal sah er sich im Raum um. Diesmal auf der Suche nach einer möglichen Waffe. Einem Kerzenständer, einer Flasche, einer Hantel vielleicht. Nichts. So unbewaffnet konnte er da unmöglich rausgehen.

Er schwenkte ab in Richtung Balkon. Er öffnete die Tür und trat nach draußen. Er beugte sich über die Brüstung um zu sehen, ob sich nicht doch ein Weg finden ließ, nach unten zu klettern. Es fand sich keiner. Er drehte sich und sah am Gebäude nach oben, um zu prüfen, ob er vielleicht über das Dach entkommen könnte. Es war aussichtslos. Auf dem Nachbarbalkon – der Höllenhund.

Als wäre er auf Menschen abgerichtet, ging er auf ihn los. Mit einem kraftvollen Satz versuchte er, die Brüstung zu erklimmen. Er drückte sich das Kissen vors Gesicht, dann wieder vor den Bauch, dann vor die Brust. Der Hund konnte nicht über die Brüstung. Er ließ das Kissen sinken. Von seinen Lefzen schleuderte der Hund Geiferfetzen um sich, so rasend war er. Er aber wurde ganz ruhig. Was für ein dummer, armseliger Hund das war. Er hielt das Kissen nur noch an einem Zipfel, der gegenüberliegende streifte den Boden. Er wandte sich dem Tier zu und sah im direkt in die Augen. Das irritierte den Hund. Er hielt kurz inne, dann verstand er die Provokation des Fremden. Sein Nackenfell stellte er zum Hahnenkamm, seine Vorderläufe hängte er bis zu den Knien über das Balkongeländer. Er zog seine Lefzen so hoch, dass sein eindrucksvolles Gebiss bis zu den Backenzähnen zu sehen war. Er knurrte ein tiefes, dunkles Knurren. Der Fremde stand da und starrte dem Tier in die Augen. Solange, bis der Hund einsah, wie verzweifelt hoffnungslos und gnadenlos lächerlich seine Drohung war. Solange, bis er endlich Ruhe gab, und sich setzte. Eine Windböe trieb Schnee vom Dach. Der Fremde blieb regungslos stehen. Der Schnee schmolz zwischen in seinen Nackenhaaren. Er wischte ihn beiseite. Er hatte keine Lust auf einen kalten, theatralischen Tropfen, der ihm wie eine eisige Fingerspitze unter dem wärmenden Federbett den Rücken hinab fuhr. Der Hund legte sich auf den Boden und rollte sich ein, den Blick demonstrativ Richtung Hof gewandt. Als im Bürogebäude gegenüber ein Fenster geöffnet wurde und zwei Frauen zum Vorschein kamen, von denen eine herzhaft lachte und die andere freundlich winkte, wandte sich der Fremde ebenfalls ab und ging nach drinnen. Der König verließ den Balkon vor den Augen des Volkes. Der König musste Pinkeln.

Er suchte nach einer Vase, einer Topfpflanze, einer leeren Flasche. Er wollte nicht ins Wasserglas urinieren. Sein Blick fiel auf den Kristallaschenbecher auf dem Nachttisch. Er ging hinüber und hob ihn an. Er nickte. Das Gewicht des Aschenbechers, seine spitzen Ecken und seine Kühle gaben ihm das erleichternde Gefühl, nun endlich wehrhaft zu sein. Erst kürzlich hatte eine Frau ihren Mann mit seinem Aschenbecher erschlagen, das hatte er irgendwo gelesen. Er las alles. Seit ihm in der Bank ein Arbeitsplatz zugewiesen worden war, dessen Bildschirm von niemandem eingesehen werden konnte, verbrachte er den Großteil seiner Arbeitszeit mit dem Lesen von Nachrichten im Internet. Ihm entging nicht, wie seine Gedanken abschweiften. Er kannte sich gut genug um sich nicht darüber zu wundern. Er wollte da nicht rausgehen. Er fürchtete sich davor. Angst ist ein guter Ratgeber, sagt Mira. Angst zeigte dir, welchen Weg du zu gehen hast. Sein Weg führte durch die Flügeltür.

1. Erwachen

Endlos und leer lag die Ebene vor ihm. Ohne jeden Makel, sogar ohne jegliche Textur. Seit Stunden stellte er sich gegen die Kälte, die sich immer tiefer in seinen Körper fraß. Dutzende Kilometer hatte er hinter sich gelassen, aber die Ebene vor ihm veränderte sich nicht. Längst hatte er eingesehen, dass er die Hütte heute nicht mehr erreichen würde. Weit in ihm, hinter dem Fauchen des Windes in seinen Ohren, zog seine Angst zischend in Zweifel, ob er die Hütte jemals fände. Er sehnte sich nach dem wärmenden Feuer, das in ihr brannte, aber er würde in der kommenden Nacht wohl darauf verzichten müssen. Der Himmel hatte schon von weißlich blau auf petrol gewechselt und würde sich bald in Richtung schwarz recken. Seine Hunde wurden langsamer und brauchten eine Pause. Wie er. Wenn er nicht sofort anhielt um sein Nachtlager zu bereiten, würde er in der Dunkelheit vor Erschöpfung vom Schlitten kippen und bis morgen früh erfroren sein. Ihm war das klar, doch ängstigte es ihn nicht genug, als dass er den Singsang der Glöckchen an den Halsbändern seiner Hunde dafür stoppen würde. Er mochte ihr Lied und er fürchtete sich vor der betäubenden Stille, die sich binnen weniger Augenblicke wie eine schwere Wolldeckte über die Ebene legen würde, sobald seine Hunde zur Ruhe gekommen waren. Also schloss er die Augen und konzentrierte sich auf das Gleiten der Kufen unter seinen Füßen; konzentrierte sich auf seinen Atem, atmete tief, ließ den Atem entweichen, versuchte seinen warmen Hauch auf der Haut zu spüren, spürte nichts. Er öffnete seine Augen und sah, dass ein Sturm aufzog.

Der Horizont, der die Ebene messerscharf vom Himmel trennte, geriet aus dem Gleichgewicht, geriet in Wallung, warf hohe Wellen. Es war, als würden die Böen auch unter dem schneebedeckten Boden wüten wie unter einem gespannten Laken. Die Ebene verlor ihre Stabilität. Sie öffnete sich wie ein riesiger Schirm vor ihm, umfing ihn, ließ sich von den Kufen seines Schlittens spuren, und einen Moment später entzog sie ihm; zog sie sich so weit zusammen, dass nur ein winziger weißer Spalt blieb von ihr, verschwand schließlich ganz, warf ihn ins Nichts.

Sein Schlitten kippte und begrub ihn unter sich, weich aber schwer. Er wartete auf den Schmerz, aber es schmerzte nicht. Er konnte seine Hunde nicht mehr sehen. Er musste sie wiederfinden, er wäre verloren ohne sie. Dass er ihre Glöckchen noch singen hören konnte, beruhigte ihn. Er schloss die Augen, atmete und lauschte. Er mochte den weichen Schnee unter seiner Wange. Er beschloss, eine Weile liegen zu bleiben, auszuruhen und sich vom Gewicht seines Leibes wärmen zu lassen. Kurz bevor man erfriert, wird einem ganz warm, sagt man.

Er öffnete die Augen. Die petrolfarbenen Vorhänge filterten die Sonne und tauchten das Zimmer in ein fahles, kaltes Licht. Nur ganz unten, ein fingerbreit über dem Boden, dort wo der Horizont die Ebene abschnitt, tanzte ein warmweißer Fetzen auf den hellen Dielen. Vom geöffneten Fenster her fuhr ein eisiger Hauch ins Zimmer, der von fern das Klimpern der Glöckchen an den Halsbändern seiner Schlittenhunde zu ihm herübertrug.
10:42 Uhr. Ein schöner Wecker. Mit Klappzahlen und Radio. Aber nicht seiner. Ebenso wenig wie das schneeweiche Kissen, die Matratze mit der tiefen Kuhle oder das flache Bett, in dem er lag. Er stützte seinen Oberkörper auf seine Ellenbogen und sah sich um. Sein Nacken schmerzte. Er ächzte.
Nichts hier gehörte ihm. Nicht der helle Plüschteppich auf dem das Bett stand, nicht die matten, hellen Dielen auf denen er lag und nicht die kargen hellgrauen, Wände an denen sie endeten. Er setzte sich auf. Nichts von dem, was ihn umgab, kannte er. Den riesigen weißen Schrank nicht, nicht seinen Inhalt und nicht den, dem er gehörte. Das einzige, was ihm unangenehm vertraut vorkam, war der Andere, der ihn ernst, zerzaust und irritiert aus einem mannshohen weißen Holzrahmen neben der Flügeltür anstarrte.

Er legte sich wieder hin, kniff die Augen zu und ließ sie ein paar Sekunden geschlossen. Er sah ein, dass die weite, klare Schneelandschaft unwiederbringlich dem fast schwarzen Dunkelrot hinter seinen Lidern gewichen war. War er tatsächlich wach? Er biss sich auf die Unterlippe. Es tat weh, aber wer konnte sich sicher sein, dass es nicht wehtun würde, sich im Traum auf die Lippe zu beißen? Vorsichtig setzte er seine Füße auf den Plüschteppich, so vorsichtig, dass es ihn kitzelte. Langsam verlagerte er sein Gewicht und stand auf. Weil jemand seinen Schädel über Nacht mit Beton gefüllt hatte, gelang es ihm erst nach einigen Sekunden seinen Körper im Gleichgewicht zu halten. Ihm war schwindlig und im Traum war ihm noch nie schwindlig gewesen.

Er taumelte zum Holzrahmen hinüber. Aus dunklen Augen in tiefen Höhlen starrte ihn ein alter Mann an, aufgedunsen, irritiert und feindselig. Sein Körper war ohne Wunden, aber wegen seiner gekrümmten Haltung wirkte er verletzt. Mit der linken Hand berührte er seine Rechte, die reglos an seinem Arm hing. Dann seine Wangen, seine Brust, seinen Bauch. Seine Haut war aus Latex. Sie schimmerte in blassem Violett. Darunter waberte Flüssigkeit, lauwarm. Er berührte seine Lippen. Silikon. Weich, aber trocken und ohne Gefühl. Er steckte seine Hand in seine Shorts. Er spürte die Berührung stärker als die anderen, weil er sie nicht sah. Aber er fühlte nichts. Trotzdem: Er war es, auch wenn er sich nur ähnelte. Er stammelte „Wer?“, „Wo?“ Seiner Stimme fehlte der Bass. Er wandte sich ab.

10:49 Uhr. Ein schöner Wecker auf dem Nachttisch. Ein leeres Wasserglas. Daneben ein schwerer großer Kristallaschenbecher. Dunkelblau. Leer aber nicht unbenutzt. Wie er. Weiter daneben Magazine. In gewollter Unordnung. Wie er. Wer schläft hier, wenn er hier nicht schläft? Wieso war er hier aufgewacht?

Er taumelte zu den petrolfarbenen Vorhängen und ließ die Stadt herein. Seine Fremde endete nicht an den Grenzen seines Körpers. Auch nicht an den Wänden dieses Raumes. Durch eine schmale Tür trat er auf einen halbrunden Balkon. Die frostige Luft füllte seine Lungen und nahm einen Teil seiner Benommenheit mit sich. Der grobe Beton unter seinen Füßen riss ein Loch in die Watteschicht, die ihn umgab. Das geschwungene Eisengeländer zwang ihn, zuzugreifen. Er stutzte: Dort unten fand ein Tag statt. Busfahrer fuhren Busse, Paketboten lieferten Pakete und durch die großen Fenster des Gebäudes gegenüber sah er Büros, in denen Sachbearbeiter Sachverhalte bearbeiten. Die Maschine lief.
Auf den Balkon nebenan war ein Schäferhund gesperrt. Der schlief. Er selbst nahm seinen Mut und seine Konzentration zusammen und beugte sich über die Brüstung nach unten. Weit, so weit, bis er das metallene Windspiel auf dem Balkon eine Etage tiefer sehen konnte. Die Glocken der Schlittenhunde. Ursache und Wirkung bedeuteten ihm viel.

Er ließ seinen Blick schweifen und entdeckte das Wintergartenhochhaus. Er war noch in Leipzig. Volkmarsdorf, Neuschönefeld oder Reudnitz. Er erkannte kein anderes Gebäude in seinem Sichtfeld. Er war kein Leipziger. Seine Augen schafften es nicht, den Straßennamen auf dem Schild an der Ecke zu entziffern.

Ein Bellen wie eine Sturmböe warf ihn auf die andere Seite. Er schrie. Adrenalin flutete ihn. Der Hund vom Nachbarbalkon hatte sich in einen tollwütigen Werwolf verwandelt. Mit den Vorderläufen hing er über der Brüstung und kläffte, fletschte, knurrte, dass der Speichel spritzte. Er gehorchte und ging nach drinnen. Sorgfältig verriegelte er die Balkontür.

Er war Herzschlag. Er pumpte. Das Pochen seiner Schläfen erinnerte ihn daran, dass Zeit verging. Das war tröstlich. Er würde klarer werden, mit der Zeit. Er würde herausfinden, wo er war. Und wo seine Kleidung. Und ob es diese Hütte gab. Und warum sich der Hund gegen ihn wandte. Er entdeckte die Heizung hinter dem Vorhang und drehte sie auf.

Er ging zum Kleiderschrank. Der wies ihn ab wie ein Monolith außerirdischen Gesteins. Seine weiße Hochglanzoberfläche wollte nicht berührt werden. Nicht von ihm. Er war schmutzig, fettig und voller Keime. Der Schrank hatte keine Türgriffe, keine Griffmulden, keine Schlüssel oder Schlösser. Der Schrank stand vor ihm, im vollen Bewusstsein der eigenen Anmut. Der Schrank ignorierte ihn. Er trat zur Seite um seinen Winkel zum einfallenden Licht zu verändern. Das Spiegelbild des Raumes war makellos. Kein Fingerabdruck, kein Kratzer, keine Spur. Er untersuchte die Kanten nach Vertiefungen oder Tastern. Sie waren glatt, ebenmäßig und kalt – nichts sonst. Er trat zurück, um den Schrank als Ganzes sehen zu können. Er wollte ihn verstehen. Der Schrank schien sich abzuwenden. Er trat heran, als würde er Anlauf nehmen, streckte die Hand aus und drückte sie fest gegen das porenfreie Weiß. Es klickte merklich unter seiner Hand. Die Tür trat hervor und fuhr langsam aber präzise geführt zur Seite.
Im Inneren offenbarte sich das, was von außen vehement geleugnet wurde: ein ordinärer Kleiderschrank aus weiß furniertem Pressspan. Das Versprechen der Perfektion wurde nicht gehalten, das wird es nie. Die Kleidungsstücke und Gegenstände im Inneren waren zwar nach Art sortiert aber ohne große Sorgfalt aufeinander gestapelt, nebeneinander gelegt und übereinander gehangen.

Er fand Hemden, kariert zumeist, wenigstens zwanzig. Und Hosen aus Cord, hellbraun, dunkelbraun, beige, schwarz, blau. Vielleicht zehn? Jeans, sieben Mal das gleiche Modell aber eindeutig unterschiedlich alt. Cordwesten und Cordjacketts. Boxershorts, die engen. Gürtel, alle braun, alle Leder, einer mit einer Schnalle in Form eines Bullenkopfes. In einer Ecke Cowboystiefel mit Sporen. Das reichte ihm. Seine Sachen waren da nirgends. In der Sekunde, in der er die Tür wieder schließen wollte, stutzte er.

„Cowboystiefel?“ Er hob einen Stapel T-Shirts, zog einen Stapel Pullover aus dem Fach, um dahinter zu schauen, prüfte einige Kleiderbügel darauf, ob unter den Hemden vielleicht Blusen hingen. Aber nichts. Dies war ohne Zweifel der Kleiderschrank eines Mannes. Dies war ohne Zweifel das Schlafzimmer eines Mannes. Aber er war nicht der dazugehörige Mann. Er legte die Hände vors Gesicht und rieb sich die Augen. Er schlug sich mit den Handballen auf die Stirn um klarer zu werden, aber sein Schädel antwortete mit stärkerem Dröhnen.

Er berührte die Tür erneut, woraufhin der Schrank die Kleidung des Fremden wieder verschluckte. Er schauderte: Der Fremde. Das war er. Er war in einem Bett aufgewacht, in das er nicht gehörte. Er war derjenige, der hier nicht stimmte. Dem Nachbarshund war es gleich aufgefallen. Er fand sich in der Mitte des Zimmers wieder und drehte sich langsam um die eigene Achse.

(Fortsetzung 2. Ausrüsten)

Als ich blieb

Wir schreiben Listen mit Dingen, die wir besser machen wollen. Ab jetzt. Ab gestern. Ab als ich blieb.

Ich will ordentlicher werden und du weniger pingelig. Ich will ruhiger bleiben und du sachlicher. Du willst klare Ansagen und ich mehr Zärtlichkeit.

„Absurd ist das.“, sagst du und stützt den Kopf auf deine Faust. „Absolut.“, sage ich, nehme die Brille ab und reibe mir die Augen. „Hätte ich so eine Liste vor fünf Jahren geschrieben, es wäre die gleiche Liste gewesen.“ „Es sind immer wieder die gleichen Dinge, an denen wir zu scheitern drohen.“ Als ich ‚scheitern‘ sage, stocke ich und du unterbrichst mich. „Scheitern? Wobei?“. Ich klicke die Kulimiene rein, raus, rein raus.

„Es gibt solche Phasen“, sagst du, „die gibt es in jeder Beziehung.“ „Aber das hier ist unsere!“, sage ich. „Man muss sich an das erinnern, was gut war. Gut ist.“ „Was lief eigentlich schief?“ „Nicht viel.“

Du hast gelacht über die Schmiererei auf dem Plakat gegenüber der Haltestelle und ich konnte nicht mitlachen. „Ich kann das nicht lesen auf die Entfernung.“ „Deine Augen sind schlechter geworden.“ „Meine Augen werden andauernd schlechter.“ „Ich mache dir einen Termin beim Augenarzt.“ „Das mache ich selbst.“ „Aber wann?“ „Wenn ich soweit bin.“ „Wann?“, „Dann!“ Und so weiter, und so fort.

Du kennst mich. Du weißt, dass ich mich andauernd vor Arztterminen drücke. Du weißt, dass ich eine irrationale Angst davor habe, zu erblinden. Aber du kapierst einfach nicht, was Gängelei ist und wie sehr ich es hasse, gegängelt zu werden. Ich kenne dich. Ich weiß, dass du deinen Tonfall von der Armee mitgebracht hast und es nicht erträgst, wenn ich unentschlossen bin. Aber ich glaube dir nicht, dass immer alles nur zu meinem Besten sein soll. Wir kennen uns. Vielleicht zu gut. Oder zu lange. Manchmal sind wir keine Wunder mehr sondern Selbstverständlichkeiten. Alltäglichkeiten. Unannehmlichkeiten, sogar.

Du plapperst ständig und ich erzähle nichts. Du putzt zu viel und ich achte die Dinge zu wenig. Du flippst aus, wenn etwas nicht nach Plan läuft und ich habe keine Pläne. Oft haben wir gesagt, dass es nichts anderes als Liebe sein kann, das uns zusammenhält. Kann man Liebe aufbrauchen?

Man muss sich an das erinnern, was gut war. Gut war, als ich neulich mit dem Kopf auf deinem Schoß lag und du mir vorgelesen hast. Gut war, als wir uns eines Nachts auf den kühlen Balkon gelegt haben und Musik hörten, bis es wieder heiß wurde. Dann sind wir rein und haben geschlafen. Gut war, als wir uns letztens im Spreewald verliefen.

Jetzt sind wir ein trockener Wald, ausgezehrt vom erbarmungslosen Sommer und jeder Satz kann die herumliegende Scherbe sein und jede Laune das Licht, dass sich ungünstig darin bricht und andauernd drohen wir abzufackeln mit allem was wir hatten. Haben. Was weiß ich?

Ich hatte meine Tasche schon gepackt, gestern. Ich bin nur noch einmal in die Stube, um mich zu entschuldigen, dass ich nicht alles wegkriege. Da habe ich das zerknitterte Taschentuch in deiner Hand gesehen, und deine Haltung, gekrümmt wie ein Fragezeichen und wie dein Rücken gebebt hat. „Wir dürfen nicht streiten.“, hast du geschluchzt.

Doch, ich will streiten, manchmal. Ja, ich will, dass wir vom Hundertsten ins Tausendste kommen. Ich will die alten Kamellen durchkauen, den Schnee von gestern aufwärmen, all das wieder rauskotzen, was wir geschluckt haben, denn irgendwo da drin muss einer von uns eine Erklärung finden.

Aber wenn du weinst, vergesse ich, was ich wollte, dann will ich nur eines noch: dich trösten. Ich kann das. Außer gestern, da bist du mir um den Hals gefallen und hast mich angesteckt. Und dass ich weine, kannst du nicht aushalten. Gestern habe ich deinen Hals vollgeweint, deine Haare und dein T-Shirt und konnte mich überhaupt nicht beruhigen. Erst heute kommt es mir grotesk vor, dass du gefragt hast: „Was ist denn nur los?“

Du musst alles sofort reparieren, wenn ich weine, deswegen schwörst du mir, dass alles Mögliche nicht mehr passieren wird. Du wirst mir nichts mehr vorschreiben, mich nie wieder anschreien und nie wieder stundenlang schweigen, schon gar nicht wegen so einem Mist. „Ich glaube nicht an ‚immer‘ und ‚nie‘, deswegen hat es zehn Jahre gedauert, ehe ich dich geheiratet habe.“, „Aber du hast mich geheiratet.“, „Und ich wusste, warum.“, „Weißt du das noch?“, „Ja, ich weiß es.“, „Sicher?“, „Ich weiß es!“

Ich werde nächste Woche 34 und ich habe in meinem Leben bisher drei Menschen geliebt. Alle drei liebe ich noch immer. Meiner Erfahrung nach, höre ich nicht mehr auf, jemanden zu lieben, wenn ich einmal damit angefangen habe. Auch nicht, wenn die Beziehung in die Brüche geht, oder ich die Person völlig aus den Augen verliere. Ob ich dich noch liebe ist leicht zu beantworten. Aber ob ich gehen soll oder bleiben, das weiß ich nicht.

Gut sind deine Bouletten ohne Fleisch, deine Idee, gezuckerte Erdbeeren mit Schlagsahne aufzugießen und wie der grüne Tee schmeckt, wenn du ihn brühst. Gut ist dein kleiner, runder Bauch und wie du die Grammatik verdrehst in deinem Vogtländer Dialekt. Gut sind deine stachligen Wangen.

Entweder habe ich das in einem Beziehungsratgeber gelesen, oder es ist mir selbst eingefallen, jedenfalls glaube ich, dass Liebe die Summe unzähliger Entscheidungen ist. Deshalb sind die kleinen Dinge so wichtig. Jede Entscheidung füreinander ist ein Investment in die Zukunft. (Manchmal platzen Investmentblasen; ich arbeite in einer Bank, das tut mir nicht gut.) Doch, es war ein Beziehungsratgeber. Da stand auch, gleich im Klappentext, dass man das Buch nicht kaufen soll, wenn man nur noch aus Gewohnheit zusammen ist. Dann solle man sich lieber gleich trennen. Ich habe das Buch gekauft.

„Kann es vorkommen, dass sich Zwei lieben und es trotzdem nicht aushalten miteinander?“ Ich nehme mir fest vor, dich zu verlassen, wenn du jetzt sagst: „Wege kreuzen sich, Wege trennen sich, vielleicht ist unser gemeinsamer Weg hier zu Ende.“ Stattdessen fragst du: „Wie sollen es Zwei, die sich lieben nur ohne einander aushalten?“

„Vielleicht müssen wir das versuchen.“, sage ich. „Ich würde gern mal eine Weile ohne dich sein, ich war noch nie ohne dich.“ Vielleicht fliege ich an den Wochenenden nach Helsinki, Amsterdam und Rom, ich hätte ja keinen Hund mehr, auf den zu achten wäre. Vielleicht tanze ich endlich wieder nächtelang durch, da wäre dann ja keiner, der mich um halb neun weckt. Vielleicht gehe ich endlich für ein Jahr nach England, hier würde mich ja niemand vermissen. Bestimmt hätte ich Sex mit Fremden. Bestimmt fehlst du mir.

Gut ist dein schelmisches Lachen, deine kleine Zahnlücke, deine bunten Augen, und wie du damit funkeln kannst. Gut ist, wie du zum Radio singst und tanzt, wenn du dich unbeobachtet fühlst. Gut ist, dass du mich aushältst.

“Ein Glas wird nicht davon wieder heile, dass du ‚Entschuldigung‘ sagst, nachdem du es hingeworfen hast.“, flüsterst du und stierst zum Fenster hinaus. Ich sehe dich an.

Außerplanmäßige Unterbrechung

„Wenn ich die Uhr nur zurückdrehen könnte!“, rufst du. „Du klingst wie ein Schlagertext.“, sage ich. „Nur diesen Bruchteil einer Sekunde!“, rufst du. „Jetzt wie ein Actionfilm.“, sage ich. „Aber ich fühle mich wie ein Drama.“, schimpfst du und weinst. „Unsere einzige Chance ist, dass gar nichts passiert ist, weil wir nur träumen.“, sage ich. Aber selbst dann müssen wir etwas tun, denke ich weiter, denn ich kann deinen Knochen sehen und das ist nicht richtig.

„Tatsächlich! Blut ist dicker als Wein.“, schluchzt du, während es dir aus dem Finger aufs Bett spritzt. Nein, es heißt dicker als Wasser, denke ich, aber ich sage „Lass die Sprüche!“, denn ich muss nachdenken. Du läufst zurück zum Fenster, um zu verstehen, was passiert ist, mir genügt der Anblick deines Fingers, um das zu kapieren; ich laufe raus auf den Gang und rufe um Hilfe.

Wir treffen uns im Bad; du lässt Wasser über deine Wunde laufen und als ich das aus Blut und Wasser gemischte Rosa im Waschbecken strudeln sehe, denke ich, da fließt sie also dahin, unsere Reiseplanung. Ich reiße deine Hand aus dem Wasserstrahl, damit du nicht noch mehr Keime in die Wunde spülst und raunze dich an „Streck die Hand über deinen Kopf, dann lässt die Blutung nach!“. Du taumelst, ich gebe dir einen Schups, der Toilettendeckel stößt in deine Kniekehlen, deine Knie beugen sich, du sitzt. Gut, denke ich, wie weiter? Das Blut lenkt mich ab, wie es aus deinem Finger läuft und die Haut auf deinem Unterarm in einzelne Felder zerteilt, so wie Flüsse Länder in Schollen zerteilen. Vorgestern haben wir das aus dem Flugzeug gesehen, aber in Rot sehen die Flüsse viel dramatischer aus.

Du schreist unentwegt Flüche und endlich platzt Linda in den Raum um zu fragen, was zur Hölle passiert ist. „Das Fenster!“, stotterst du und ich gehe hin und zeige es ihr. Linda stürzt zum Telefon um einen Arzt zu rufen, ich lasse mich in den Sessel fallen und atme ein bisschen, du musterst noch einige Sekunden lang schimpfend die roten Klekse auf dem Fliesenboden. An der Rezeption sagt man Linda, sie soll das Management anrufen, beim Management sagt man ihr, sie soll das mit der Rezeption klären und an der Rezeption verweist man sie ans Management. „Two – oh – nine, two – oh – nine!“, ruft Linda. Du kommst aus dem Bad und kannst dir nicht verkneifen, sie mit „Tu! Oh, nein!“ nachzuäffen. Dann wird Linda ganz laut und wir werden ganz leise. „Urgent heißt dringend.“, flüstere ich noch, aber Linda macht das schon.

Du lässt dich neben mich in den Sessel fallen. Deine Augen treiben haltlos in ihren Höhlen umher, du sagst: „Mir ist schwindlig.“ Ich sage: „Reiß dich zusammen!“ Du sagst: „Es geht nicht.“ Ich sage: „Diese umherschwimmenden Augen sehen gruselig aus! Außerdem musst du noch ins Krankenhaus heute und ich nicht weiß, wie ich dich dort hinbekommen soll, wenn du ohnmächtig bist.“ Ich sage: „Du musst dich zusammenreißen!“ Du sagst: „Ich versuch’s ja.“

Ein junger Mann stürmt herein. Er trägt ein hübsches kariertes Sakko und auf dem Schild an seinem Revers steht Carl. Carl wirft sein Aluköfferchen aufs Bett. Gut, denkst du, so sieht er die Blutspritzer auf der Bettwäsche nicht und wir müssen die Reinigung nicht bezahlen. Wir bezahlen hier gar nichts, denke ich und bitte denke du jetzt nicht an Geld. Carl fragt, was passiert ist und während ich es ihm erkläre, unterbrichst du mich und entschuldigst dich: „Ich wollte nur kurz lüften.“ Aber Carl hört sowieso nicht zu; lieber legt er deine Hand in seine und reißt erschrocken die Augen auf. Und obwohl er sonst nichts weiter tut, entspannt sich die Falte über deiner Nase, als hätte er dir schon geholfen. Linda sieht mich fragend an, ich nicke ihr zu, sie nickt zurück. Sie schnappt sich Carls Köfferchen, öffnet es und schüttet seinen Inhalt aufs Bett. Dann zerrt sie ihre Reiseapotheke aus dem Rucksack und schüttet sie daneben. Ausrüstungsvergleich, Carl gewinnt. „Wir brauchen ein Desinfektionsmittel.“, sage ich. „Das in meinem Koffer ist leer.“, sagt Carl. „In meinem Beutel war gar keins.“, sagt Linda. Sie greift wieder zum Telefon.

Ein weiterer junger Mann springt herein. Er hat kein Sakko an, aber eine schmucke gestreifte Weste, auf seinem Namensschild steht Morten. Wie der süße Sänger von a-ha, denkst du. Nein, wie morden mit t, denke ich. Morten ruft „Wo ist der Finger? Wo ist der Finger?“ und klappert aufgeregt mit den Eiswürfeln in dem großen Glas in seiner Hand. Ich überlege kurz „Keine Ahnung. Im Garten?“ zu antworten, weil mich die Vorstellung, Morten auf Knien durch den Garten robben zu sehen sehr fröhlich macht. Aber du sagst schon: „Hier, an meiner Hand!“ und schiebst ein paar Sekunden später „Noch.“ nach und dann ist es schon vorbei mit meiner Fröhlichkeit. Morten wischt sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn, geht zum Waschbecken, füllt das Eis mit Wasser auf und serviert es als Drink. Wir trinken.

Du sagst: „Mir ist nicht mehr schwindelig. Dafür ist mir jetzt schwarz vor Augen.“ Ich sage: „Das ist von der Panik, du musst dich beruhigen!“ Dann muss ich an diese Komödie denken, neulich; die, in der diese blasse Frau zum ersten Mal in eine große Stadt kommt und immerzu in eine Chipstüte atmen muss, um nicht bei jedem vorbeifahrenden LKW zu hyperventilieren. „Du musst in eine Tüte atmen.“, sage ich, aber die einzige Tüte, die wir griffbereit haben ist die von Lindas Reiseapotheke. Sie ist aus fester Folie, hat einen Zipper und könnte nicht ungeeigneter sein. Zum Glück bemerkst du das nicht; vielleicht denkst auch an diese Komödie, dort hat es ja geholfen.

Morten zeigt uns seinen rechten Zeigefinger und ruft: „Ich hatte das auch, seht nur, es ist alles gut geworden, es wir alles gut werden!“ Ich frage ihn, ob es auch an diesem Fenster passiert sei. „Nein“, sagt er, „bei mir war es eine Tür und mit einer Tür geht das genauso gut.“ Anerkennend sagst du: „Schöner Finger.“ Morton lacht, ich mache das schmatzende Geräusch, das du so hasst.

Die Frau von der Rezeption kommt ins Zimmer gerannt. Sie trägt ein geblümtes Tuch und auf dem Schild, das sie daran festgemacht hat, steht Diane. Diane ist die Göttin der Jagd, denkst du. Ja und der Name eines hässlichen Silberbestecks, das mir meine Oma einst löffelchenweise schenkte, denke ich, aber da schlägt sich Diane schon theatralisch eine Hand vor die Augen und erklärt, sie könne kein Blut sehen. In der anderen Hand hält sie eine Sprühflasche, die sie nun wortlos in den Raum streckt. „Desinfektionsmittel?“, fragte Morton. „Gute Idee.“, sage ich, „Na endlich!“, ruft Carl. Linda greift zu.

Du hast inzwischen bemerkt, dass es nichts bringt, in diese Tüte zu atmen, lässt sie fallen und verkündest: „Jetzt sehe ich Sterne.“ Wir müssen dich ablenken, denke ich, das hilft bestimmt, aber ich weiß nicht, womit. „Schöne Turnschuhe!“, sagst du plötzlich, und ich ärgere mich, dass dir das zuerst aufgefallen ist, denn Carls blau-weiß gestreifte Schuhe mit den roten Sohlen sind wirklich der Knaller. „Wo hast du die gekauft?“, frage ich, damit Carl nicht sofort wieder die Klappe hält, nachdem er sich brav für das Kompliment bedankt hat. „Was sollen die Schuhe bedeuten?“, fragst du und weil Carl noch weniger als ich versteht, was du durch diese Frage zu erfahren hoffst, erklärt er uns den Weg zu diesem kleinen Laden in Hexham, in dem es die ausgefallensten Sneaker des Landes zu kaufen gibt.

Als Linda sieht, dass Carl nichts anderes tut, als deinen Finger wieder und wieder mit Desinfektionsmittel einzureiben und uns die Schuhmoden Englands zu erläutern, schlägt sie vor, doch lieber einen Arzt zu rufen. „Heute ist Bankfeiertag“, sagt Morten, „da haben die Ambulanzen viel zu tun. Man wartet besser nicht auf einen Krankenwagen, sondern fährt selber zum Krankenhaus.“ „Aber ihr fahrt alle auf der falschen Seite! Wir haben keine Chance, das Krankenhaus lebend zu erreichen.“, maulst du. „Hat jemand von Ihnen einen Wagen und kann uns fahren?“, frage ich. „Ich habe Ihnen ein Taxi gerufen.“, gibt Diane bekannt, „Mehr kann ich nicht tun.“ Weil ihr räumliches Sehen durch die Hand vor ihren Augen eingeschränkt ist, muss sie dreimal nach der Türklinke greifen.

„Warum brauchen Ambulanzen so lange an Bankfeiertagen?“, fragst du. „Weil viele Unfälle passieren.“, antwortet Carl und fängt an, eine Binde um deinen Finger zu wickeln. „Und warum?“, fragst du. „Weil viele betrunken sind.“ „Aber warum?“ „Weil Bankfeiertag ist.“ „Und was bedeutet Bankfeiertag?“, frage ich, damit du nicht „Warum?“ fragen kannst. „Dass alle Büros geschlossen bleiben und die Leute frei haben.“ „Und was wird gefeiert?“, fragst du. „Dass Mai ist.“ Carl zuckt mit den Schultern und macht endlich einen Knoten in die Binde. Wir nicken.

Das Taxi hupt und ich springe auf. „Jemand muss dir deine Schuhe anziehen!“ „Bitte nicht die Wanderschuhe, die sind voller Kuhmist!“, rufst du. „Füße her.“, sagt Linda und bevor du dich für deine Schweißfüße entschuldigen kannst, sage ich „Danke!“ und Linda bindet deine Schnürsenkel.

Die Taxifahrerin trägt kein Schild, aber sie stellt sich vor; sie heißt Amanda. So hieß eine Schildkröte, die dir als Kind gehört hat, denkst du. Ja, denke ich, auch das Auto passt dazu; es sieht aus, als hätte es den Kopf eingezogen. Linda steigt vorn ein, damit wir hinten nebeneinander sitzen können. Im Radio läuft klassische Musik. Uns regt das auf, aber Linda mag es. Amanda gibt zu, dass sie immer klassische Musik laufen lässt, wenn sie Touren ins Krankenhaus fährt. „Man weiß nie, wie schlimm es ist.“

Entweder ist es Amandas Ausstrahlung oder die auf 14 Grad eingestellte Klimaanlage, jedenfalls beruhigst du dich, hörst aber nicht auf, komische Fragen zu stellen. Zum Beispiel danach, was denn „eco“ sei an ihrem Eco-Taxi oder was dieser Aufkleber bedeutet, da vorn in der Scheibe. Der Sticker zeigt einen Stern, in dessen Zacken die Symbole aller großen Religionen gestopft sind. Das ist Bahai, sagt Amanda. „Aha.“, sagst du zufrieden und ich denke, was aha, du bist kein bisschen schlauer als vorher. „Ist Bahai auch eine Religion?“, fragt Linda. „Genau. Ich bin eine Bahai.“, sagt Amanda und erklärt, dass ihrer Meinung nach jeder Glaube den gleichen wahren Kern hat, der nur immer wieder anders verpackt ist, damit ihn die Leute am Ort und zum Zeitpunkt seiner Entstehung mögen können. „Also remixt sich jeder selber, was er glaubt?“, fragst du. „Es gibt Grundsätze, die in allen Religionen gelten.“, sagt Amanda. „Zum Beispiel?“, frage ich. „Zum Beispiel den, dass man sich lieber dem hingibt, was ist, anstatt Plänen nachzutrauern, die vom Schicksal durchkreuzt sind.“ Amanda fährt zwei Runden im Kreisverkehr, Linda runzelt die Stirn, ich rolle mit den Augen und du zeigst uns leise grinsend deinen weiß bandagierten Mittelfinger.

Lieber Kai,

was passiert ist, siehst Du. Wenn es Dich überrascht, war es richtig. Wenn nicht, erst recht. Kai: Ich verlasse Dich.

Auf der Heimfahrt von Svenjas Taufe habe ich Dich gefragt. Ob mein Gefühl mich täuscht, dass Du mich nicht mehr willst. Ob es wahr ist, dass ich Dir auf die Nerven gehe, sobald ich spreche. Ob es stimmt, dass Du meine Nähe suchst, aber doch nur deine Ruhe willst. Alles Blödsinn, hast du geantwortet. Wie ich darauf komme und was das soll! Dann bist du eingeschlafen. Ich spüre es, Kai. Ich spüre, dass Du zuhause sein willst bei mir. Dass du zu mir gehören willst. Dass Du Dich führen lassen willst, wann immer Du meine Hand greifst. Ich will Dich aber nicht führen. Ich kenne Deinen Weg nicht. Und unser Weg ist lange zu Ende.

Du machst mich nicht mehr glücklich. Und Du bist es nicht mehr. Dein wacher Blick ist ganz schmal geworden, deine Haare kommen mir wie Stroh vor und deine Hände sind kalt. Wann hast Du das letzte Mal mit mir geschlafen? Zählen die fünf Minuten nach meiner Geburtstagsparty? Wann hast Du mich das letzte Mal geliebt? Auf dem Zimmer nach Martins Hochzeit? Du warst betrunken! Wann hast Du mich zum letzten Mal angesehen? Mir einen Kuss gegeben, kein Küsschen?

Wenn Du sprichst, wünsche ich mir, dass Du Dich räusperst, um das Fisteln von deinen Bändern zu wischen. Ich wünsche mir, dass Du etwas sagst. Du sprichst über bedingungsloses Grundeinkommen, über strukturellen Sexismus, über grüne Energie. Je weiter ein Thema von Dir weg ist, umso leidenschaftlicher sprichst Du. Über Dich sprichst Du nicht. Über mich immer nur gut. Wenn ich frage, streiten wir. Das heißt: Ich streite. Du schweigst.

Was hat Dich so grau gemacht? So schwach? So müde? Wir mieten kein Wohnmobil. Wir gehen nicht tanzen. Wir kochen nicht. Wir gehen nicht paddeln, weil dir übel wird. Du grölst nicht mehr mit, wenn sie im Radio einen Ärzte-Song spielen. Du magst Die Ärzte nicht mehr. Funktioniert Dein Lachen noch? Ich erinnere mich kaum.

Ich habe mich verliebt in das, was Du könntest. In Deine Träume, in Deine Ideale und in Deine Klarheit. Du willst einen Roman schreiben, aber du bist seit zwei Jahren auf Seite 34. Du hast eine flache Windenergie-Turbine erfunden, aber der Prototyp verstaubt halbfertig im Keller. Das alte Segelboot hat dein Vater inzwischen verschrotten lassen. Du bewachst dein Potential wie einen Schatz. Du überhöhst Dich mit Deiner Intelligenz. Du behauptest, jeden übertrumpfen zu können, aber du trumpfst nicht auf. Wenn andere scheitern, sagst Du, Dir wäre das nicht passiert. Dir kann nichts passieren, wenn du nichts tust. Du pokerst im Internet. Du guckst Filme. Du verplemperst Dich.

Du verachtest Deine Chefin, aber Du dienst ihr treu. Du verabscheust die Dunkelheit dieser Wohnung, aber wir ziehen nicht um. Nachts drehst Du Dich weg von mir aber Du bleibst in meinem Bett. Warum, Kai? Jede Spinne rettest Du aus dem Bad in die Freiheit. Aber Dich befreist du nicht. Ich auch nicht. Ich habe es lange versucht. Ich glaube, du willst, dass ich dich gefangen halte, weil du dich vorm Freisein fürchtest. Ich bin Deine Ausrede für alles, was Du nicht tust.

Du fürchtest Dich, Kai. Vor dem Kämpfen, vor dem Scheitern und vor dem Gewinnen auch. Mir aber graut vor dem Stillhalten. Erinnerst Du Dich an den furchtbaren Abend beim Italiener? Unser Jahrestag? Die Bilanz und die Diskussion über eine Paartherapie? Du leugnest. Du wiegelst ab. Du spielst Zufriedenheit. Du bittest um Geduld. Alles wird sich fügen. Nichts fügt sich! Warum sollte sich jemals etwas fügen? Du bist unglücklich, ich bin unglücklich!

Ich bin eine tolle Frau, hast Du mir an die Akademie geschrieben. Eine starke, wache, kluge! Ich sei makellos, sinnlich, warm. Warum schreibst Du das in E-Mails, Kai? Warum sagst Du, wir können alles schaffen? Wir schaffen nichts!

Wir sind jung! Wir sind schön! Das hier sind unsere besten Jahre. Wir dürfen die verschwenden, ja! Aber wir müssen glücklich dabei sein. Wir dürfen sie nicht an uns vorbeiziehen lassen, während wir auf richtige Momente warten. Wenn Du wirklich Kinder willst, dann ist jetzt die Zeit dafür. Ich will Kinder. Ich werde Kinder haben. Aber Du bist selbst ein Kind und ich werde keine Zeit mehr verlieren. Du wirst nicht ihr Vater sein.

Siehst Du nicht, wie uns alle überholen? Wie Sven und Caro eine Familie werden? Wie Toni und Anja das Haus ihrer Oma umbauen? Wie Luise Karriere macht? Und Katja? Liest Du die Karten, die uns Enzo aus Indien schreibt? Wie nennt man dieses Vakuum, das wir leben? Wir lügen uns an. Wir spielen diese Rollen, weil wir wissen, dass sie sicher sind. Weil nichts passieren kann. Es muss aber was passieren.
Wer bist Du, Kai? Was willst Du? Leben mit mir? Warum hast Du es dann nie fest gemacht? Mich nie geheiratet? Nie einen neuen Bus mit mir finanziert? Kein Haus mit mir gekauft? Das ist spießig, wir brauchen das nicht. Ich höre, wie Du das sagst! Kai: Warum haben wir kein Kind?

Du bist dir nicht sicher. Du weißt nicht, ob Du das willst. Ich weiß, dass du es nicht willst. Du hast es mir gesagt. Deine Augenbrauen. Wie sie zusammengerutscht sind, als ich Dich auf dem Flohmarkt gefragt habe, ob wir diesen Stubenwagen kaufen wollen. Du warst so irritiert. So erschrocken. Der Gedanke war Dir so fremd. Ich weiß nicht, was du willst. Du weißt es auch nicht. Ein Kind jedenfalls nicht. Du bist feige. Ich auch.

Schon in diesem Moment, da ich diese Zeilen an Dich schreibe, weiß ich dass ich feige bin. Es wäre aufrichtiger gewesen, Dir das alles zu sagen, während Du mir an diesem Tisch gegenüber sitzt und die Nachbarn zum Fenster rein glotzen, weil wir immer noch keine Gardinen haben. Aber das ging nicht. Ich habe mir dieses Gespräch in den letzten Tagen oft vorgestellt. Ich bin Argument und Gegenargument, Rede und Widerrede durchgegangen und immer endete es in der gleichen Katastrophe. Einige Sätze, die ich Dir hier schreibe, habe ich vor dem Badspiegel einstudiert. Ich wollte sicher sein, dass an ihren Rändern nicht doch das eine Gefühl zu Dir herüberblitzt, das ich Dir so gern ersparen möchte. Mitleid.

Du hättest versucht mich zu halten, Kai. Das weiß ich. Warum, weiß ich nicht. Du hättest Zugeständnisse gemacht, Einsicht gezeigt und Besserung versprochen. Du hättest Pläne geschmiedet, Termine vereinbart und Farben zum Renovieren gekauft. Du hättest geweint und gefleht und gebettelt, dass ich bleibe. Du hättest vor mir auf den Fliesen gekniet und deine Würde verloren. Ich will Deine Würde nicht, Kai. Du brauchst sie, das Bisschen, das Du hast.

Es gibt nichts, das Du hättest tun können, um mich umzustimmen. Es gibt nichts, dass Du hättest sagen können, um mich zu überzeugen. Es gibt überhaupt nichts mehr zu sagen, Kai. Meine Entscheidung steht. Ich will sie Dir mitteilen, auch ihre Hintergründe. Aber ich will sie nicht diskutieren. Du findest das arrogant und egozentrisch. Du findest, ich sollte mir auch Deinen Teil der Geschichte anhören. Ich sollte wissen, was meine Worte in Dir auslösen. Womit ich vielleicht recht habe, vor allem aber, womit ich falsch liege. Aber ich bin fertig, Kai. Jede Diskussion wäre Schauspiel meinerseits.

Bitte suche mich nicht. Du würdest mich nicht wiederfinden auch wenn Du mich fändest. Ich möchte nicht länger die sein, die ich in deiner Gegenwart bin. Und ich will, dass Du frei bist. Wozu auch immer. Bitte rufe mich nicht an. Bitte hole mich nicht von der Arbeit ab. Ich will, dass Du kämpfst, ja. Aber nicht um mich.

Lebe wohl, Kai.
Und ich meine das: Lebe wohl!

Mira

Durch eine mit einer rot-weiß-gestreiften Plastikhülle überzogene Büroklammer ist ein weiterer Bogen Papier an dem Brief befestigt. Darauf:

Dinge, die ich Dir lasse, obwohl sie uns beiden gehören:
– Vorräte
– Polstergarnitur
– Messerblock und Induktionstöpfe

Dinge, die ich mitgenommen habe, obwohl sie uns beiden gehören:
– Stehlampe im Wohnzimmer
– iPad
– das gute Geschirr
Das Besteck habe ich geteilt.

Dinge, die ich die hier lasse, obwohl sie mir gehören
– Lavalampe
– Schaukelstuhl
– Orchideen

Dinge, die ich mitnehme, obwohl sie Dir gehören
– Nudelmaschine
– Schmale graue Kunstlederkrawatte
– Heizdecke

Dinge, die ich verkauft habe, obwohl sie Dir gehören:
– Mikrowelle
– Playstation
– Model-Lokomotvien
Das Geld ist im Umschlag. Kauf Dir was Schönes.

M.