Die Gastnehmerin, Teil III

Sie knurrt. Ich drehe das Radio leise, den Wasserhahn ab und wiederhole in langsamen Worten meine Frage: „Schmeckt´s dir? Schmeckt´s? Oder bist du schon satt? Wenn Du satt bist, musst du´s mir nur sagen. Dann stelle ich den restlichen Käse auch gern wieder in den Kühlschrank! Der muss ja nicht unnütz auf dem Tisch stehen.“ Ich höre ein weiteres Mal ihr Knurren und ein „Nein, nein, es schmeckt! Stell´ den Käse bloß nicht wieder weg!“ Ich drehe den Kopf etwas zur Seite und sehe wie sie mit der einen Hand hastig zwei Scheiben in ihren Mund steckt, wobei die eine Scheibe für Sekunden wie eine weiße Zunge heraushängt und im Rhythmus ihrer Kaubewegung mitschwingt. Mit der anderen Hand schiebt sie schnell die verbliebenen Käseteile auf ihren Teller. Sie nimmt die mitgebrachte Tüte aus der Tasche und kippt den Käse hinein. Ich drehe den Kopf zurück zur Spüle, schließe die Augen und spüre das Gefühl, dass ich in solchen Momenten immer verspüre. Ich sage mir in Gedanken, dass ich diesem Gefühl des Mitleids ab heute nicht mehr nachgeben will. Außerdem sage ich mir, dass ich mir das seit Jahren jedes Mal vorgenommen habe. Zum Schluss sage ich mir, dass ich aus einem unerklärlichen Grund seit dem letzten Besuch weiß, dass ich von ihr nichts mehr erhoffen kann.
Ich öffne die Augen, schiele auf den Tisch und sehe wie sie das letzte Stück herunterschlingt. Ich bemerke, wie ich die Schnur der Mikrowelle umfasse und in die Steckdose schieben will. Ich schüttle den Kopf, schalte die Herdplatte an, lege meine flache Hand darauf, bis es warm wird und ich ein leichtes Brennen verspüre, starre in das immer deutlicher werdende Rot und spreche lautlos zu mir: „Ab heute, ab heute muss das anders werden! Du hast es dir versprochen!“ Ich lege die Schnur der Mikrowelle aus der einen Hand, nehme die andere Hand von der Platte, schalte den Herd aus und überlege, wann sie endlich mit dem eigentlichen Grund ihres Besuches herausrücken wird. Ich halte meine Hand unter das kalte Spülwasser und bin mir auf einmal sicher, dass ich ihr es ganz gewiss nicht leicht machen werde und sie ab heute mit mir einen wirklich echten Gegner haben wird. Als erstes kommt mir die Idee, ihr Gespräch, zu torpedieren. Da ich weiß, was sie in Wirklichkeit will, dürfte es mir nicht allzu schwer fallen, jedes Mal, wenn sie damit beginnen würde, sie mit einem anderen Thema zu überrumpeln. Ich gieße ihr Kaffee ein. Dieses Mal gieße ich ihn, wie den Tee in chinesischen Filmen, aus großer Höhe ein, damit er schnell kalt wird. Ich weiß, kalten Kaffee mag sie noch weniger als zu heißen. Sie sagt, dass es schön sei, dass es so schnell mit diesem Besuch geklappt habe und sie ein dringendes Anliegen auf dem Herzen habe. Ich frage sie, was eigentlich ihr Herz mache und wie der Befund des Langzeit-EKGs ausgefallen sei. Sie sagt, dass sie es noch nicht geschafft habe, aber gleich nächste Woche zum Arzt gehe. Sie sagt, dass es schön ist, dass es mit diesem Besuch so schnell geklappt habe und sie wieder einmal einen kleinen Wunsch hätte. Ich frage, ob sie denn die Weihnachtswünsche der Verwandtschaft für dieses Jahr schon wüsste und bin völlig erstaunt als sie ja, natürlich sagt und dass sie ja deswegen mich besuchen komme. Ich verdrehe die Augen und sage, dass ich mich über ihren Besuch sehr freue, mir aber dieses Jahr vorgenommen habe, keinerlei Wünsche zu erfüllen. Sie sagt, dass auch sie sich dieses Jahr vorgenommen habe keine allzu großen Wünsche zu erfüllen und es sich sowieso nur wieder um Kleinigkeiten handle. Sie greift in ihre Jackentasche und holt den Weihnachtswunschzettel, den sie auf die Rückseite eines langen Kassenbons geschrieben hat, heraus. Da ich weiß, dass sie mit ihrer Brille nicht allzu viel erkennen kann, gehe ich zum Fenster, sehe hinaus und drehe am Stellrad der Jalousie. Sie beugt sich über den Zettel mit der kindlich krakeligen Schrift und beginnt laut vorzulesen. Ich bin erstaunt, dass sie ihre Schrift immer noch erkennt. Ich schaue wieder scheinbar unbeteiligt durch die Fensterscheibe und drehe ein weiteres Mal am Stellrad der Jalousie. Sie hält den Zettel nah an ihre Brille und liest in ihrer unnachgiebigen Art, die ich bewundere und zugleich fürchte, ihren Wunschzettel vor. Ich sehe weiterhin aus dem Fenster und drehe ein weiteres Mal das Plasterädchen der Jalousie und bin erfreut, mit wie wenig Aufwand ich ihren Willen unterbrechen kann. Sie schiebt den Zettel vor die Brille, reibt ihre Augen und beginnt zu stottern. Ich flüstere in Gedanken, dass ihr das völlig zu Recht geschieht und es die Strafe dafür ist, das von mir erbetene Geld statt für die neue Brille für unsinnige Einkäufe auszugeben. Sie reibt sich erneut die Augen und beginnt zu zittern. Da mir dieser Anblick leidtut, drehe ich das Rädchen der Jalousie zurück. Sofort beginnt sie wieder, diesmal schneller, die Wünsche vom Zettel vorzulesen. Da mich das, aber auch mein gottverfluchtes Mitfühlen ärgert und ich mir nicht sicher bin, was mich mehr von beidem in hilflose Wut versetzt, drehe ich das Rädchen zurück. Sie reibt Kreise über die Karos ihres violetten Hosenkostüms. Ich drehe wieder an dem Rädchen. Sie beobachtet mich und ich überlege, was ihre Beobachtung bedeutet und ob sie gemerkt hat, dass ich das Rädchen gedreht habe. Das macht mich völlig unsicher. Ich schaue noch einmal aus dem Fenster, öffne es, winke und rufe auf die Straße herunter. Ich schließe das Fenster, reibe mit dem Ellenbogen über die Scheibe, gehe vom Fenster zur Spüle, die hinter ihr steht und überlege wie ich ihren Leseschwall unterbrechen kann. Ich hole mit dem schweineteuren Bergkäse, den ich extra für diese Situation beim Händler bestellt habe, meine allerletzte Waffe aus dem Kühlschrank, stelle ihn vor sie und bemerke erst jetzt, dass sie schweigt und ihre Brust sich schnell auf- und abbewegt. Ich glaube puterrot zu werden, drehe mich von ihr weg und sage trotzig, dass ich ihn extra nur für sie gekauft habe, vorhin glatt vergessen habe ihn auf den Tisch zu stellen und nun aber auch möchte, dass sie ihn unbedingt isst und ich ihn ansonsten nie mehr kaufen werde. Sie schaut auf ihren Wunschzettel, auf den Käse, auf den Wunschzettel und von dort langsam auf den Käse und danach mich fragend an. Ich nicke ihr zu und sage im überzeugt lässigen Tonfall, dass es da überhaupt nichts zu überlegen gibt. Sie schaut mich zögernd an und legt in Zeitlupe den Zettel neben den Teller. Ich hobele die Scheiben vom Käse herunter und garniere sie auf den Teller. Sie schaut mich an und beginnt die Scheiben in einem Tempo in den Mund zu schieben, dass ich mit dem Hobeln kaum nachkomme Sie greift zur Kanne und gießt sich mit Schwung Kaffee nach, dass der Kaffee über die Tasse, auf die Untertasse und von dort auf den Tisch schwappt. Sie trinkt ihn mit einem großen Schluck, dass er tröpfchenweise aus den losen Gebisshälften träufelt. Ich beobachte sie und möchte am liebsten zum Fenster stürzen und die Jalousie komplett zudrehen. Stattdessen drehe ich mich wieder zur Spüle, frage sie in einem eingeübt scheinheiligen Ton, was denn dieses Mal der Grund ihres Besuches ist und spüre plötzlich wie mir übel wird und ich mich über meine eben gestellte Frage zu ärgern beginne, da ich ihr nun eine wunderbare Steilvorlage biete, die sie garantiert nutzen wird. Mit vollem Mund, nimmt sie den Wunschzettel in die Hand und beginnt laut vorzulesen. Ich schüttle den Kopf, setze mich an den Küchentisch sehe die vielen Posten, die auf der Vorderseite des Kassenbons aufgetragen sind und spüre das jahrhundertealte Gefühl in mir hochsteigen aus der Wohnung zu laufen, getraue es mir aber nicht. Ich sehe auf die Herdplatte, schüttle den Kopf und bezweifle, ob ich jemals diesem Gast, der auch heute wieder mit einem Selbstverständnis an seinem sogenannten Stammsitz am Küchentisch Platz genommen hat, gewachsen bin. Ich stehe auf, gehe zum Küchenherd, schalte die Herdplatte an und drücke meine flache Hand darauf.

Die Gastnehmerin, Teil II

Im ersten Teil wartet der Erzähler auf seinen Gast und erzählt dabei (aufgeregt) wie aufgeregt er ist und er sich auch dieses Mal gegen dieses unangenehme Gefühl nicht wehren kann. Noch während des Wartens vollzieht sich für den Erzähler und den neugierigen Leser aus (noch) unerklärlichen Gründen eine Wandlung seines sonst üblichen Verhaltens. Diese Wandlung wird heute in Teil II fortgeführt und der Leser wird (un-gewollt) zum voyeuristischen Teilhaber des bizzaren Frühstücksgeschehens am Küchentisch.

Sie greift den Käse, schneidet wie erwartet dicke Scheiben herunter und stapelt ihn auf das Brötchen. Ich beobachte sie und bin verwundert, weil mich ihre Verfressenheit überhaupt nicht aufregt. Stattdessen sage ich, dass es mich sehr freut, dass sie heute ausnahmsweise viel Appetit mitgebracht hat und es ihr so wunderbar schmeckt. Ich nehme die Kaffeekanne, gieße ihr den tiefschwarzen Kaffee randvoll in die Tasse und sage: „Einen recht bekömmlichen und guten Hunger!“ Sie trinkt einen Schluck, antwortet, bei mir hast du das anders gelernt und beschwert sich, dass ich ihr zu viel Kaffee in die Tasse gegossen habe, sie ihn nun nicht mehr mit Milch verdünnen kann und der Kaffee außerdem viel zu stark sei. Sie erinnert mich daran, dass ich doch wüsste, dass sie starken Kaffee seit langem nicht mehr vertrüge und ob ich unbedingt wolle, dass sie wie ihr Großvater Magenkrebs bekomme. Ich entschuldige mich beiläufig und biete ihr mit einem Lächeln Milch an. Ich gehe zum Kühlschrank, öffne mit der einen Hand die Tür, ziehe mit der anderen Hand den Neztstecker der Mikrowellenschnur aus der Dose und stelle ihr die eiskalte Milch, die ich vor ihrem Besuch ins Kühlfach gelegt habe, auf den Tisch. Sie fragt mich, ob ich wenigstens Milch in der Mikrowelle warm machen könne. Ich verneine, drücke stattdessen theatralisch an der unbeleuchtete Tastatur und bedaure, dass die Mikrowelle aus einem mir wirklich unerklärlichem Grunde just gestern den Geist aufgegeben habe und sie die Milch heute leider mal kalt nehmen müsse. Sie sagt nein und trinkt den schwarzen Kaffee in kleinen Schlucken und flüstert, dass sie, wenn sie ihre Diagnose bekäme, wenigstens wisse wer an alledem schuld sei. Ich versichere, dass das nie und nimmer passiert und sie wenigstens Hundert werde. Mit einem Knurren beißt sie in die Brötchenhälfte und zieht wie ein wildes Tier daran. Sie lässt den Teil der Brötchenhälfte wieder aus dem Mund gleiten, dreht den Kopf zur Seite und versucht es noch einmal. Als auch das nicht gelingt, schiebt sie die Lippen vor und lutscht an der Kruste. Sie schiebt ihre Zähne hin- und her, beißt vorsichtig hinein und würgt das abgesägte Stück herunter. Sie flucht und legt die Hälfte des Mohnbrötchens zurück und isst stattdessen den Käse vom Teller. Damit sie nicht mit dem Essen aufhört, gehe ich zum Kühlschrank und nehme den Büffelmozzarella heraus. Ich öffne die Verpackung, rieche daran, lecke mit der Zunge um den Mund, stelle den Mozzarella direkt vor ihre Nase und sage ihr in die Länge gezogen, dass ich den Käse extra nur für sie gekauft habe. Ich hoffe ihr so ein schlechtes Gewissen zu machen und ihre Fresssucht wieder anzuheizen. Wenn ich Glück habe, isst sie wieder alles, was ich auf den Tisch gestellt habe und ihr wird schlecht. Heute scheint mir das nichts auszumachen. Sonst regt mich ihr zu erwartendes Verhalten Tage vorher maßlos auf und ich beschwere mich lautstark vor dem Spiegel stehend über ihre Verfressenheit und mache ihren immer gleichen jammernden Monolog nach, bei dem sie sagt, dass sie wieder viel zu viel gegessen habe und ihr nun schlecht würde. Jedes Mal nehme ich mir vor dem gottverdammten Spiegel stehend vor, ihr endlich zu sagen, dass sie über ausreichend Geld verfügt und ich nicht mehr ihr Goldesel sein möchte. Aber nachdem ich die Vermutung habe, dass sie es ist, die im Hof hinter die Container kotzt, stört mich ihre Fresserei nur noch halb. Am Anfang dachte ich, es seien Jugendliche oder eines von den Hippie-Pärchen aus dem Nachbarhaus, die nach ihren Saufgelagen gern mal in die Ecken kotzen oder pinkeln. Aber nachdem ich festgestellt habe, dass die Kotze immer dann hinter dem Container liegt, wenn sie da war und die Hippies zu der Zeit ihren Rausch ausschliefen, bekam ich diese Ahnung. Ich gebe zu, dass ich manchmal, wenn ich mich wieder über sie aufrege und wütend durch die Bude renne, das Kotzgeräusch nachmache und mich schlagartig dabei wohlfühle. Wenn ich Glück habe, kann ich es heute endlich live erleben. Ich summe ein Lied, schneide den Mozzarella in extra dicke Scheiben und lege ihn breitfächerig auf den Meißner Servierteller meiner verstorbenen Großmutter. Mit gespreizten Fingern nasche ich eine Scheibe vom Teller und summe trotz vollem Munde weiter. Jedes Mal wenn sie den Teller mit dem Streublumenmuster sieht, wird sie unruhig und äußert abwertende Bemerkungen, um auch das letzte bei mir verbliebene Stück meiner geliebten Großmutter, von mir geschenkt zu bekommen, um es anschließend zu verscherbeln. Über die Jahre habe ich es mir abgewöhnt, die Teile, die sie an den Antiquitätenhändler in meiner Straße verkaufte, zurückzukaufen. Anfangs hatte ich mich geärgert, dass sie die Stücke verkauft hat. Später war ich nur noch enttäuscht, dass sie sich nicht einmal die Mühe gab, die mir zuvor abgeschwatzten Teile, so zu verkaufen, dass ich es nicht bemerke. Und als sie mir eher zufällig ein Stück abschwatze, das ich ihr schon einmal geschenkt hatte, ließ ich es, weitere Teile vom Händler zurückzukaufen. Ich streichle über eine der abgebildeten Streublumen auf dem Teller, schmatze nachdenklich, sehe ihr in die Augen und sage, dass das ein wunderschönes Muster ist und ich gar nicht weiß, wer diesen prachtvollen Teller, wenn ich nicht mehr bin, bekommen soll und er sicherlich, wie mein anderer Kram in einer der vielen Haushaltauflösung oder gar im Sperrmüll landen wird. Ich staune, dass mir heute das bei Sammlern begehrte Motiv nicht abschwatzen will und stelle Pfeffer, Salz und Olivenöl wie eine Mauer um den Meißner Teller herum. Ich nehme das Kürbiskernöl, öffne es und sage ihr, dass das Öl vorzüglich zum Mozzarella passe. Ich garniere die Scheiben mit frischen Basilikumblättern und Cherrytomaten und bitte sie sich nicht zu zieren und doch endlich zuzugreifen. Ich gehe zur Spüle, wasche meine vom Käse verklebten Hände und sage ihr, dass der Büffelmozzarella erst neulich im Fernsehen von ihrem Lieblingskoch angepriesen wurde. Ich gehe zurück zum Tisch und erwische sie, wie sie mit ihren dicken Fingern an ihren beiden Gebissen rumruckelt. Erstmals erfreue ich mich bei dem Anblick, dass ihr die Beißer nicht mehr passen und sie seit Jahren deswegen Schmerzen hat. Hätte sie das viele Geld, das sie mir damals über Monate abgepresst hatte, auch wirklich für die Zahnarztrechnung verwendet, müsste sie jetzt nicht mit Schmerzen am Tisch sitzen und mit kaputten Zähnen und einem zu großen Gebiss essen. Ich drehe mich zurück zur Spüle und frage sie in einem Tonfall, bei dem ich mir sicher bin, dass sie in jedem Fall auf meine Frage antworten muss: „Schmeckt´s dir eigentlich? Du sagst gar nichts?“

Die Gastnehmerin, Teil I

Ich warte. Meine Mutter hat sich angemeldet. Sie hatte gestern am späten Abend angerufen und gefragt, ob sie mit mir heute Morgen etwas überaus Wichtiges besprechen dürfe. Es sei dringend, sehr dringend.
Ich kenne ihre Art. Ich kenne ihre unaufschiebbaren Wünsche und auch ihre Hartnäckigkeit. Sie gibt nicht nach. Sie gab noch nie nach. Sie versucht es anfangs freundlich, später indem sie mir ein schlechtes Gewissen macht und zum Schluss mit Vorwürfen. Das alles ist mir vertraut. Nun sitze ich da und warte auf das, was ihr Besuch von mir fordern wird. Ich schalte den Fernseher an und springe von Sender zu Sender. Nachdem ich alle dreiunddreißig Programme durchgeblättert habe, fange ich wieder von vorne an, bis es zwei Mal kurz hintereinander klingelt. Sie klingelt immer zwei Mal. Das ist ihr Zeichen. Das hat sie vor Jahren für uns festlegt. Deswegen ermahne ich die Postträger und die Bewohner des Hauses, falls sie Irgendetwas von mir wollen, bitte, bitte nur einmal zu klingeln. Da sie schon mehrfach erlebt haben, wie mies es mir geht, wenn sie zweimal klingeln, halten sich die meisten an meine ungewöhnliche Bitte, wie sie sie verwundert ein jedes Mal nennen, wenn wir darauf zu sprechen kommen. Wieder klingelt es zwei Mal. Und dann noch zweimal kurz hintereinander. Auch das kenne ich von ihr. Heute stürze ich nicht zur Tür, sondern lasse mir Zeit. Eigentlich wäre jetzt eine weitere Chance, mich endlich still zu verhalten und nicht zu öffnen. Eigentlich. Noch nie habe ich diese Chance genutzt. Komischerweise bereite ich mich aber jedes Mal auf diesen Moment vor. Ich schalte alle Lampen aus, drehe das Radio leise und wenn es draußen dunkel ist, schalte ich sogar den Fernseher ab, damit mich das Geflacker nicht verrät. Noch nie habe ich mich still verhalten. Doch, ein einziges Mal. Mir war das damals so unangenehm, dass ich mich bei ihr entschuldigte, ihr versicherte, sehr, sehr fest geschlafen zu haben und ihr zum Abschied Geld geschenkt hatte.
Ich schalte den Fernseher ab, stehe vom Sofa auf, setze einen Fuß vor den anderen und schleiche so zum Türsummer. Es klingelt zwei Mal kurz. Ich warte einen Moment, bis es wieder und wieder zwei Mal kurz hintereinander klingelt und versuche in gelangweilter Stimme zu fragen, wer da ist. Ich höre ihr: „Hier is´ Mutti! Lass mich rein!“ Über meine gelangweilte Stimme bin ich erschrocken. Schnell drücke ich den Summer und öffne die Wohnungstür. Ich gehe ins Schlafzimmer und hole ein Hemd aus dem Schrank, ziehe es aber nicht an. Stattdessen hänge ich es zurück, gehe ins Bad, nehme ein schmutziges Hemd aus der Wäsche und streife es über. Ich gehe zurück ins Wohnzimmer, werfe mich auf das Sofa, schalte den Fernseher wieder an und drücke wahllos durch die Sender. Das Klingeln hat meinen Puls hochgejagt. Ich reibe die Hände an den Hosenbeinen trocken. Ich fluche und drehe den Fernseher lauter.
Sie klopft an die Tür. Ich rufe vom Sofa aus herein und spüre jetzt das Pochen am Hals. Ich drehe die Lautstärke noch ein Stück auf, bevor ich den Fernseher ausschalte. Früher hätte sie sich zuallererst über die Lautstärke beschwert und verlangt den Ton leise zu stellen. Es wäre ihre erste Anweisung gewesen. Es war immer ihre erste Anweisung wenn sie in mein Zimmer eintrat. Sie hatte diese Begründung auch gern benutzt, um mein Zimmer zu betreten, selbst dann, wenn ich gar keine Musik gehört hatte. Ich wische meine kalten Hände nochmal an den Hosenbeinen trocken und schiebe mich vom Sofa auf.
Jetzt steht sie da, klopft leise an der Stubentür und tritt ein. Ich blicke flüchtig zu der kurzatmigen und unfrisierten Frau in ihrem zu großen violetten Hosenkostüm und nicke. Irgendwie freue ich mich über ihre Kurzatmigkeit. Ich hatte mir vor Jahren angewöhnt in obere Etagen zu ziehen. Irgendwie fühlte ich mich dort wohler. Mit jedem Umzug zog ich eine Etage höher, anfangs noch mit Fahrstuhl. Als ich bemerkte, dass ihr das Treppensteigen immer schwerer fiel, suchte ich speziell nach Wohnungen in Häusern ohne Fahrstuhl. Die Makler wollten mir mein Anliegen erst nicht glauben. Aber nachdem ich ihnen Fitnessgründe dargelegt hatte, suchten sie für mich und erklärten mir, dass das Gesetz jedoch Wohnungen nur bis zur Sechsten ohne Fahrstuhl zulässt. Sicherlich fällt mir das tägliche Treppensteigen schwer und ich verfluche sie manchmal auf einem der Treppenabsätze. Wegen den einhundertneun Stufen trinke ich nur noch Leitungswasser und esse eingeschweißtes Fertigzeug. Und seit ich hier oben in die Mansardenwohnung mit der steilen Wendeltreppe gezogen bin, habe ich sogar mein Bier weggelassen und trage meinen Wocheneinkauf in einem speziellen, rückenschonenden Bergsteigerrucksack.
Sie geht in die Küche, setzt sich auf den Stuhl und ringt um Luft. Ich stelle mich an die Spüle, putze am Wasserhahn und beobachte sie aus den Augenwinkeln. Ich freue mich wie sich ihre flache Brust schnell auf- und abbewegt. Wenn sie wieder Luft bekommt, wird sie mich fragen, ob´s denn hier nichts zu essen gibt. Da mir die Frage wieder unangenehm sein wird, hole ich ein hart gekochtes Ei, Margarine und den vorbereiteten Teller Käse aus dem Kühlschrank. Warum ich mich dieses Mal für hart gekochte Eier und Margarine im Kühlschrank entschieden habe, obwohl weder ich noch sie das Zeug essen, sage ich ihr vorerst noch nicht, stelle es ihr aber demonstrativ auf den Tisch. Ich gehe zur Kaffeemaschine und fülle mehr als die doppelte Menge Kaffeepulver, die ich benötige, in den Filter. Ich öffne den Schrank und hole das Gedeck mit der angeschlagenen Tasse heraus, das ich dachte längst weggeworfen zu haben und stelle auch dieses vor sie. Eigentlich müsste jetzt etwas passieren. Eigentlich. Da nichts passieren will, drehe ich ihr den Rücken zu und suche Brötchen im Fach. Das abgepackte Brot schiebe ich dabei unter die Servietten und das Backpapier, dass sie, wenn sie danach suchen würde, in keinem Fall fände. Ich weiß genau, dass sie keine Mohnbrötchen isst. Trotzdem staple ich sie neben die Margarine und erkläre, dass ich leider vergessen habe ihr Brot mitzubringen und ihr nur frische Mohnbrötchen anbieten kann. Sie sagt in ihrem vorwurfsvollen Tonfall, dass sie überhaupt nicht verstehen kann wie ich ihr Brot vergessen könne und wo ich meine Gedanken wieder hätte und ob ich überhaupt auch wenigstens einmal an sie denke. Sie verzieht die Mundwinkel, greift nach einem der frischen Brötchen, betastet es und legt es wieder hin. Damit sie sich es nicht anders überlegt, schneide ich das von ihr betastete Brötchen auf. Mit einem Lächeln, über das ich völlig erstaunt bin, lege ich die Hälften auf den Teller und gebe ihr ein abgenutztes Messer aus dem Schrank. Sie greift zur Margarine, fragt warum ich keine Butter hätte und ob ich sie jemals Margarine essen sah und beschmiert widerwillig die Brötchenhälften. Ich reiche ihr den vollgepackten Teller mit den verschiedenen Käsesorten und bin gespannt auf das, was jetzt passieren würde.

Blinder Alarm

So, damit sie etwas zur Ruhe kommen, habe ich Ihnen den Fernseher angestellt. Machen Sie sich keine Sorgen. Ich gebe Ihnen die Fernbedienung und dann können Sie sich einen Lieblingsender raussuchen. – Haben Sie Engegefühl in der Brust? Luftnot?

Das Herz hört auf zu schlagen. Sämtliche Organe werden nicht mehr mit Blut versorgt. Sauerstoff und Nährstoffe werden nicht mehr über das Blutkreislaufsystem transportiert.

Nein, im Moment nicht. Das tut alles mir leid, Frau Doktor, dass ich Sie wieder belästige. Aber mir ging es vorhin nicht gut. Wirklich, ich…. Und da hatte ich gedacht, ehe wieder etwas mit mir passiert und ich wie letztes Mal zwei Tage in der Wohnung liege und rufe…

Das Hirn wird nicht mehr durchblutet. Nach drei Minuten ist es dauerhaft geschädigt und es treten Enzyme aus, die die Hirnzellen auflösen.

Sie müssen sich nicht entschuldigen. Ich nehme Ihnen jetzt Blut ab. Das kennen Sie ja. Und in zehn Minuten, wenn wir den Troponinwert haben, wissen wir mehr. Eine Grippe oder Ähnliches hatten Sie nicht in der letzten Zeit? Machen Sie den Arm lang und eine Faust! Das gibt jetzt einen Stich.

Nach dem Stopp der Blutzirkulation sinkt die Temperatur des Körpers.

Wissen Sie, Frau Doktor, mir war schlecht, die Finger waren kalt und ich habe am ganzen Körper gezittert.

Der Haut beginnt kühl und blass zu werden.

Das ist mir alles unangenehm. Seit gestern spielt mein Blutdruck verrückt. Ach, ich mache Ihnen wieder Arbeit. Aber ich, ich hatte auf einmal so ´ne Angst, das Herz klopfte ganz schnell und mir blieb die Luft weg. Ich habe mich gar nicht getraut anzurufen. Und die am Telefon haben zu mir gesagt, dass sie dieses Mal nicht kommen wollen und es sowieso wieder nur blinder Alarm ist. Und dann, dann habe ich all meinen Mut gesammelt und durchs Telefon gerufen, dass ich mir das nicht gefallen lasse.

Nach 15-30 Minuten sterben die Zellen des Herzens ab.

Frau Renner, machen Sie sich keine Sorgen. Jetzt geben wir Ihnen Sauerstoff. Und eine Herzultraschalluntersuchung bekommen Sie auch noch. Strecken Sie mir den Zeigefinger entgegen! Ich lege Ihnen jetzt eine Klammer um den Finger, damit kann die Sauerstoffsättigung besser kontrollieren kann. Und einen weiteren Hub Nitrospray gebe ich Ihnen auch noch.

Nach 30 Minuten sterben die Zellen der Niere.

Wie war denn das mit dem Blutdruck, Frau Renner?

Nach 30 Minuten sterben die Zellen der Leber.

Ich habe wie immer meinen Blutdruck mit meinem Gerät von der Hausärztin gemessen. Und da habe ich gesehen, dass er sehr niedrig war. In der Nacht habe ich kaum geschlafen. Und morgens, da bin ich wie immer aufgestanden, nur etwas früher, weil ich nicht mehr schlafen konnte und habe Frühstück gemacht, aber nichts gegessen, nur Kaffee getrunken. Und dann bin ich schlagartig müde geworden und musste mich auf das Sofa legen.

Leichenflecken entstehen. Blut und andere Flüssigkeiten sinken durch die Schwerkraft langsam an die unteren Stellen des Körpers.

Nehmen Sie Ihre Medikamente regelmäßig ein, Frau Renner?

1-2 Stunden nach dem Tod sterben die Zellen der Lunge.

Ja. Alle 14 Tabletten über den Tag verteilt. Wissen Sie, früher wollte ich nie Medizin nehmen. Nachdem mein Mann von einer Bahn überfahren wurde, habe ich ein Jahr lang daran gedacht, meinem Leben ein Ende zu setzen. Die neugeborene Tochter hat mich aber davon abgehalten. Und jetzt, jetzt komme ich seit Jahren aller naselang als Heulsuse in Ihre Notaufnahme. Ich schäme mich. Eigentlich will ich das alles gar nicht mehr.

Nach 2-4 Stunden setzt die Todenstarre ein. Sie beginnt zuerst am Kiefergelenk und geht auf Hals, Nacken, Rumpf, Beine und Arme über. Nach ca. 6-8 Stunden ist sie voll ausgeprägt. Nach 1-3 Tagen löst sie sich wieder auf.

Dafür sind wir da, Frau Renner. Sie haben schließlich vier Infarkte in 30 Jahren überstanden. Ich hole den Oberarzt, er soll sich noch einmal das EKG ansehen. Sie sagten eben etwas von Ihrer Tochter. Haben Sie die Telefonnummer parat?

Nach 8 Stunden beginnen die Muskeln des Körpers abzusterben.

Muss ich hierbleiben?

Magen und Darm arbeiten noch bis zu 24 Stunden weiter. Danach beginnen sie sich selbst zu verdauen. Schließlich lösen sie sich auf. Der Körper beginnt zu verwesen.

Ja, Frau Renner. Es war dieses Mal eine gute Entscheidung, herzukommen. Ich denke, dass Sie bei uns bleiben werden. Ich bringe nur schnell Ihre Blutentnahme rüber und schaue danach gleich noch einmal zu Ihnen. Dann erzählen Sie mir ausführlich von dem Mut, den Sie damals nach dem Tod Ihres Mannes bewiesen haben.

Unter dir (Teil VI)

Ich lege das rote Samtbündel auf dein Kopfkissen, streichle mit meinen Fingernägeln über deine Handrücken, klopfe auf die Bettdecke und schiebe meine Zunge zwischen den Mundwinkeln hin und her. Lass uns anfangen, sage ich, lass uns endlich anfangen, sonst ist die Nacht vorbei und wir haben es immer noch nicht hinter uns gebracht. Ich sehe auf die Uhr und sage Mist, die kommt jetzt zur Jahresendrunde bevor sie sich auf die Nachbarstation verkrümelt, um literweise Kaffee und Sekt in sich reinzuschütten. Mit einem Schwung rutsche ich vorsichtig unter das Bett und wundere mich nicht, dass ich wieder an dem blöden Metallgestell anecke. Wie vorhergesagt, höre ich das Klappern ihres Schlüsselbundes im Rhythmus ihrer schnellen Schritte. Die Schwester hustet mehrmals, klopft an die Tür, fragt, ob du fertig bist und steckt den Kopf mit dem blonden Pferdeschwanz hindurch. Sie dimmt das Licht an und fragt in die Länge gezogen, ob du deinen heißen Traum schon beendet hast. Sie hustet noch einmal gekünstelt, kommt herein, schaut zum Monitor, geht zurück, haucht dir einen ihrer komischen Luftküsse entgegen und meint beim Lichtausmachen, dass sie nun erst im neuen Jahr wiederkommen wird. Ich schüttle über so viel Übermut den Kopf, sage dir, dass ich ihr Verhalten merkwürdig finde und ich sie selten so aufgekratzt erlebt habe wie heute und denke, dass sie jetzt schleunigst ihren Sekt trinken gehen sollte, ehe sie noch Schaden anrichtet.

Ich räkle mich unter deinem Bett, schlage mit den Fersen abwechselnd auf das gebohnerte Linoleum und merke, dass ich Lust auf dich bekomme. Ich greife zwischen meine Schenkel und beginne an mir rumzuspielen. Am liebsten würde ich meine Finger reinstecken, so wie du es früher immer bei mir gemacht hast und so wie ich es auch oft unter diesem Krankenhausbett extra für dich mache, um dir zu zeigen, wie wild ich immer noch auf dich bin. Da mir das Rumspielen heute nicht gelingen will, morse ich dir an dein blödes Bettgestell, wie einfach ihr Kerle es im Leben habt, dass quietschvergnügt Tag und Nacht an euch rumfummeln könnt und dass ihr euch zur Not auch auf dem Marktplatz neben einer Imbissbude an den Glocken rumspielen würdet. Ich rolle mich unter dem Bett hervor, ziehe mich am Bettgitter hoch, klatsche mir auf den Hintern und zwinkere deinen beiden Bettnachbarn zu. Ich greife dir an deinen Schwanz und flüstere dir ins Ohr, dass ihr Kerle es guthabt, und dass mich das schon früher interessierte und ich dich deswegen auf dem Schulhof gefragt hatte, ob du es dir schon mal gemacht hast. Ich ziehe an deinem Schwanz, hauche dir über die Stirn und erinnere dich, wie du bei meiner Frage früher so wunderbar rot geworden warst. Ich sehe dich an, streichle dir über die blassen Wangen und wünsche mir, dass du zur Abwechslung auch mal wieder rot werden könntest. Mir gefiel das damals so gut, dass ich dich auf unserem Hofpausenrundgang nochmal gefragt hatte, ob du dir´s in der Zwischenzeit wieder gemacht hast. Und wie beim ersten Mal, wurdest du rot, stottertest und verrietest mir ungewollt, was ich wissen wollte. Seit diesem wunderbaren Ereignis lauerte ich dir jeden Tag auf den Schulweg auf, um von dir zu erfahren, was du tags zuvor gemacht hattest, rempelte dich beim Mittagessen ausversehen an und setzte mich an deinen Tisch oder passte dich auf dem Nachhauseweg ab und verwickelte dich in Gespräche über deine und auch meine Zukunft. Ich brachte dich nach unserem dritten oder vierten zufälligem Treffen dazu, dass du mich zu mir nach Hause begleitet hast. Dabei bemerkte ich, wie simpel es war, dich zu führen und die Oberhand zu haben. Und das faszinierte mich. Ich hörte dir neugierig zu, dass du in deiner Freizeit, Orgel, Klavier und Gitarre spielst, zum Modellieren und Zeichen gehst, soeben einen Goldschmiedekurs bei deiner Tante gemacht hattest und an den Wochenenden mit deinem Cousin Bergsteigen oder Kanu fahren gehst. Von der Art, wie du mir das alles erzähltest, war ich völlig perplex. Keine Angebernummer wie bei den anderen Jungs der Schule, kein Gelaber oder blöde Kinderei über Titten und Schneckenkram. Nichts. Du erzähltest mir von deinen Schwierigkeiten beim Zeichnen und Musizieren, was du alles noch nicht beherrschst, du noch alles ändern musst und was ich denn zu alledem sage und welche wertvollen Tipps ich dir dazu geben könne. Du sahst mich mit deinen braunen Augen an, wühltest in deiner schwarzen Lockenmähne, zuppeltest an deinem Bärtchen und bohrtest fortwährend in deinem linken Ohr. Weil ich dir überhaupt nichts antworten konnte und ehrlich gesagt auch völlig neidisch neben dir stand, dachtest du, ich fände dich genauso bescheuert wie die anderen Jungs aus der Schule. Du entschuldigtest dich beim nächsten Treffen mit einem selbst geschriebenen Lied. An diesem Tag hatte ich mich in dich verknallt. Ich war verknallt in deine ungekämmte Lockenmähne und die Haare, die über deine Schultern und über deine Brust hingen. Ich war verknallt in deine braunen Augen mit den fast zusammengewachsenen Augenbrauen, in dein Lächeln mit den zwei schiefen Zähnen im Oberkiefer. Und ich war verknallt in deine langen Finger, die du immerzu in Bewegung hieltest und in die Hosentaschen stecktest, wenn du bemerktest, dass ich auf sie sah. An diesem Tag wusste ich, dass ich dich will, koste es was es wolle. Und ich wusste sofort, dass ich dich, wenn ich dich erst einmal habe, nie und nimmer an irgendeine andere hergeben werde.

Weil du immer noch nicht rot wirst, schlage ich dir links und rechts auf die Wangen und freue mich, dass endlich deine langweilige Blässe verschwindet. Ich frage dich, ob du dich noch erinnern kannst, dass ich dich, als wir zusammen waren, so lange über das Onanieren genervt hatte, bis du aufgabst und mir brav erzähltest, dass du an die wackelnden Brüste der ach so sportlichen Volleyballspielerinnen gedacht hattest, an die ach so supernette Musiklehrerin oder an die ach so durchtrainierten Kanumädels mit denen du Morsekurse übtest. Ich war sauer. Stinksauer. Um mich von dem Gedanken abzulenken, schnipse ich mit den Fingern auf deine Wangen und frage dich, ob du dich auch noch daran erinnern kannst, dass du mir damals gesagt hast, dass du ab und zu an mich gedacht hast und gemacht hattest. Ich hatte dich gefragt, wie oft du an die Volleyballspielerinnen und wie oft du an mich denken musst. Du bliebst mir die Antwort schuldig, an wen du mehr dabei denken musstest und ob du es lieber auf dem Bauch oder auf dem Rücken machst. Was ist das für eine Frage, hast du gesagt, natürlich im Stehen, natürlich vorm Fenster und natürlich in die Vollmondsilhouette. Weil ich mich über die Antwort auch heute noch ärgere, halte dir die Nase zu, schnipse nochmal mit meinen frisch lackierten Fingern kräftig auf deine roten Wangen und flüstere dir ins Ohr, dass du mir schon damals in entscheidenden Fragen ausgewichen bist und ich das in Zukunft nicht mehr dulden werde. Dabei wollte ich doch damals eigentlich nur wissen, mit welchen Mädchen du es vorher getrieben hattest. Du hast mir zwar gesagt, dass wir beide uns entjungfert hätten, aber ich glaube dir das bis heute nicht. Zu viele Mädels schwirrten um dich herum. Außerdem gab es da ein Gerücht, du hättest die hässliche Gruftiliese mit den ungewaschenen schwarzen Haaren und dem Metallzeug im Gesicht aus der Parallelklasse während der Klassenfahrt gevögelt, zumindest hatte sie dieses widerliche Gerücht in der Hofpause unter die Mädels gestreut. Ich war damals so wütend, dass ich erst dich und danach mich vergiften wollte. Und du kannst von Glück reden, dass ich in dem Moment nicht wusste, wie das geht und was man dazu alles braucht. Chemie ist nun mal nicht meine Stärke. Zur Strafe habe dich danach solange mit dem Runterholen genervt, bis du es endlich vor mir gemacht hast. Ich hatte mich mit verschränkten Armen vor dir aufgestellt, dich aufgefordert, mit den Händen geschnipst und gewartet bis es endlich kam. Dann habe ich mich etwas von dir weggestellt, dir zugerufen, ist das alles und dich ein weiteres Mal aufgefordert, dass du es nochmal machen sollst, dieses Mal aber noch weiter als vorher. Als das dann nicht genau vor mir runterkam, fragte ich dich, warum du nicht ordentlich gekommen bist. Bin ich ein Zuchtbulle, bin ich ein Elefant, hattest du geschrien. Ja, hatte ich gesagt, ja, du hast doch gesagt, dass du einen Dinoschwanz hast und immerzu an die Volleyballmädels, die Musiklehrerin und die Kanuliesen in ihren kurzen Hosen denkst. Das war Spaß, einfach nur Spaß, hattest du wütend gesagt. Ich fand das damals gar nicht witzig, überhaupt nicht. Na dann kommst du eben noch einmal, hatte ich geantwortet. Wie oft soll ich denn noch kommen, ich bin doch keine Maschine. Ich glaube, so wütend warst du sonst nur, wenn ich nach den Mitschülerinnen fragte. Da konntest du unendlich genervt sein.
Ich streichle über die Stelle der Bettdecke, unter der dein Ding ist und überlege, wie das ist, einen steifen Penis zu bekommen und wie es wäre wenn mir jetzt so ein riesiges Ding wachsen würde. Dann würde ich jetzt zum Silvesterabend mit so einem harten Teil hier durch das Zimmer wandern.

Das ist Politik

Sie entschuldigen, Sie haben da eine witzige Tätowierung am Arm. Eine Mickey Mouse habe ich ja noch nie als Tätowierungen gesehen.

Ach, das, das ist gar nichts. Schau mal, hier hab´ ich Popeye und hier ist Donald Duck. Und guck mal, hier über dem Rücken, da hab ich ´ne Frau drauf, ganz groß, mit hammermäßigen, naja, du weißt schon. Tja, ich war schon immer einer, der mit Frauen gut kann. Weißt du, ich weiß wie man die richtig flach legt.

Waren Tätowierungen zu DDR-Zeiten überhaupt erlaubt? Ich kannte einen, dessen Tätowierungen wurden fotografiert und katalogisiert und der hatte deswegen Scherereien.

Ja, ja, das war aber erst wenn du in den Knast reinkamst. Da haben die bei mir dann auch mit dem Kram angefangen. Die drei haben sie am Anfang nicht fotografiert, denn die habe ich mir schon mit elf machen lassen, da hatten die Bullen noch nichts zu sagen. Popeye war meine erste Tätowierung, denn den fand ich saukomisch. Und Mickey war ´ne Idee von meinem Kumpel.

Mit elf? Da macht man doch andere Sachen, ich meine…

…Och nö, nö, da habe ich mit `nem Kumpel lieber sowas gemacht. Wir zwei waren schon immer kreativ. Und mit ein bissel Tinte und ner angefeilten Feder von ´nem geklauten Füller kriegste alles hin. Uns konnten sie ja nicht belangen. Ich war elf und mein Kumpel war zehn.

Zehn?

Tja, warum nicht. Alles andere war mir zu langweilig. Meine Mutter hat zwar gebrüllt, aber was wollte sie machen. Wieder eine in die Fresse hauen? Irgendwann ist das auch durch und dann wirkt´s nicht mehr, weißt du.

Also, der den ich kenne, der hat mir gesagt, dass sie ihn bestraft haben, wenn er sich wieder eine neue Tätowierung hat stechen lassen. Wie war das bei Ihnen?

Ja, weißt du, das hat mich irgendwann nicht mehr gestört. Die haben mir sowieso immer eine in die Fresse gehauen, die Bullen. Ich hab die mal gefragt, warum sie mir immer eine reinkloppen, wenn ich die Wahrheit sage und warum sie mir ´ne Zigarette geben, wenn ich lüge. Da haben die mir gleich noch eine reingedroschen. Die waren schon komisch die Bullen. Ich hab die nie verstanden.

Der, den ich kenne, der meinte, dass die Gefangenen untereinander oftmals brutaler waren.

Ach, bei mir nicht, die kannten mich ja irgendwann alle. Ich hab am Fenster geschlafen und meine Ruhe gehabt.

Aber, der den ich kenne, meint, am Fenster durfte nicht jeder schlafen. Das waren die begehrtesten Plätze. Wie sind Sie denn an das Fensterbett gekommen?

Weißt du, wenn ich kam verscheuchte der Stubenälteste den Typen aus dem Nest, der grad drin lag. Und dann war das wieder mein Platz. Nö, nö, Probleme hatte ich nicht. Weißt du, und meinen Arsch haben ´se auch in Ruhe gelassen. Am Anfang war´s schwer, da konntest du keine Nacht ruhig schlafen. Weißt du, da habe ich jede Nacht höllisch aufpassen müssen. Aber dann, dann war´s geklärt. Und so einer, der im Knast erst mit den Kerlen rummacht und dann draußen wieder mit den Weibern anbändelt, nö, nö, so einer war ich nicht. Der Stecher von meiner Mutter, der war so einer. Den hatte ich im Knast kennen gelernt und irgendwann mit nach Hause geschleppt. Warum meine Mutter sich mit dem eingelassen hat, das hab´ ich nie verstanden. Meine Mutter war schon irgendwie krass. Die schickte mich vor der Schule immer Klauen. Weißt du, ich war der Älteste von uns fünfen. Und Hunger, Hunger hatten wir fünf immer. Wenn ich nicht genug mitgebrachte hatte, kriegte ich eine. Wollte mich aber einer ihrer Männer verdreschen, stellte sie sich vor mich hin und ließ nichts auf mich kommen. Das fand ich dann Spitze. Meine Mutter war schon krass. Seit ein paar Jahren telefoniere ich sogar einmal die Woche mit ihr. Weißt du, ihr geht’s nicht mehr so gut. Und außer mir hat sie niemanden. Die anderen Geschwister wollen mit ihr nichts mehr zu tun haben. Ich bin doch der Große, weißt du, ihr Großer.

Also, der, den ich kenne, der meinte, die wären im Bautzenknast untereinander besonders brutal gewesen. Erst im Stasiknast hatte er etwas Ruhe.

Nö, nö, bei mir war´s andersrum. Die haben gleich Stunk gemacht. Deswegen hab´ ich´s ja auch mit die Nerven, bin wegen die Psyche in die Rente geschrieben. Die haben mich geärgert und ich hab´s wieder mal nicht verstanden, was die eigentlich von mir wollen. Die Bullen waren schon immer komisch. Irgendwann war mir das dann alles zu viel, weißt du. Das habe ich dann nicht mehr geschafft und versucht mich zu vernichten. Da haben die von der Stasi dann Schiss bekommen, mich entlassen und mir sogar ´ne Bude besorgt. Aber das hat mir dann auch nichts mehr genützt. Das erste, was ich gemacht habe, als ich in der Bude saß, ich hab wieder versucht mich zu vernichten. Naja, seit der Wende leb ich mit ´nem Hooligan und Nazi zusammen. Da bin ich wenigstens nicht mehr ganz allein. Die gucken ab und zu nach mir ins Zimmer und erledigen ein paar Wege, die ich nicht mehr kann, weiß du. Hat schon was, wenn einer mal nach dir guckt.

Sie haben eine WG? Sind die beiden Mitbewohner nicht… anstrengend?

Nö, nö, weißt du, die habe ich im Griff. Bei mir wird nicht gekloppt. Ich mach das nicht mehr. Und deswegen will ich es auch nicht mehr bei die Demos haben. Ich bin jetzt politisch geworden, weißt du, so richtig politisch. Mir kann keiner mehr was.

Politisch? Sie engagieren sich… politisch? Das, das find ich… vom Prinzip her gut.

Weißt, du, die haben gerade heute im Fernseher gebracht, dass immer mehr Leute politisch mitmachen, weil sie die Schnauze vollhaben von allem. Mehr als 10 Prozent machen jetzt mit, und es werden immer mehr.

Wie meinen Sie das? Es gibt doch mehr Menschen die sich politisch engagieren und…

…sag ich doch. Es werden immer mehr. Ich bin jetzt auch dabei seit der Politische bei mir wohnt.

Ähm, Sie sagten doch, Sie wohnen mit einem Hooligan und einem… einem Nazi…

…einem Politischen zusammen. Der wird verfolgt weil er in der NPD ist. Versteh´ ich nicht. Der kloppt sich nicht mehr rum, ist friedlich, geht arbeiten, macht jetzt in Politik mit. Und seit ich den kenne und wir uns angefreundet haben, kloppe ich nicht mehr und bin jetzt auch politisch. Der hat mich überzeugt. Deswegen wohnt er auch bei mir. Weißt du, bei mir sind die friedlich obwohl die beiden sich nicht ausstehen können. Hoolis wollen kloppen und Nazis wollen das alles politisch klären. Die Nazis sind zu Unrecht verschrien. Die haben mit Hitler auch nichts am Hut. Ich auch nicht. Das war ein Riesenarschloch. Der hat unserer Sache nur geschadet.

Aber wenn Sie mir jetzt hier während unseres Armbades erzählen, dass Sie eine Rente beziehen, wo liegt ihr Ziel bei den Demos, ich meine, was machen Sie auf den Demos?

Du meinst meinen Rollstuhl?

Ach so, Sie fahren, ähm, Sie haben einen, einen Rollstuhl. Ich dachte, Sie sind wegen einer Herzerkrankung hier…

…und wegen der Bandscheiben und wegen meiner Wirbelsäule und wegen dem Knie und wegen dem anderem Knie auch. Alles vom Kloppen. Das geht nun nicht mehr. Deswegen bin jetzt politisch, weißt du.

Sagten Sie nicht soeben, dass Sie im Stasiknast waren?

Ja, weißt du, ich hab das nie begriffen, ich war immer ein Politischer, schon früher, ob ich wollte oder nicht. Und jedes Mal habe ich Ärger bekommen, wenn ich erzählt habe, dass wir zu Hause nichts zu Fressen haben, dass wir arm sind und ich Futter klauen muss. Ich versteh´ nicht, warum die Bullen was dagegen hatten, dass ich das überall rumerzählt habe. Ich hab doch nicht gelogen. Ich kapier´s selbst heute noch nicht. Jetzt wollen die Bullen wieder was von mir, jetzt wollen die mir ´ne Volksverhetzung dranhängen. Versteh ich auch nicht. Ich will doch nur, dass die Ausländer genauso ihre Steuern zahlen wie wir Deutschen. Ich muss doch auch meine Steuern zahlen. Weißt du, wenn die arbeiten gehen, sich benehmen, unsere Kultur achten und nicht ständig ein Haufen Kinder machen und überall ihren Scheiß hinschmeißen, dann sind sie mir völlig egal. Ich kauf auch bei meinem Türken um die Ecke. Der weiß, dass ich ihn so nenne und lacht nur. Ich ess´ gern auch mal ´nen Döner oder so. Also Steuern zahle ich dabei immer, das hat mir der Politische erklärt. Der Türke muss meine Steuern nur an den Staat ordentlich abgeben wie sich´s gehört und nicht ins letzte Kaff nach Anatolien schmuggeln, sagt der Politische. Weißt du, mehr will ich doch nicht.

Aber was hat das mit Politik zu tun?

Weißt du, der Nazi bei mir in der Wohnung, der sich um mich kümmert, der hat mir das mit der Politik mal so richtig erklärt. Und seitdem er mir das ganz genau erklärt hat, versteh ich, wie Politik geht. Weißt du, wenn ein Bulle einem Ausländer eine ordentlich auf´s Maul haut, dann ist das politisch. Und Bullen dürfen nicht politsch sein, die müssen unpolitsch bleiben. Deswegen kloppen die auch keinen Ausländer mehr eine auf´s Maul. Wenn der hingegen einem Deutschen eine auf die Fresse kloppt, dann zählt das nicht als Politik, dann bleibt er unpolitisch. Und weil der Bulle nur den Deutschen eine aufs Maul haut, haut der Hool dem Bullen eine auf´s Maul. Und dann kommen die Bullen zu uns, stören unsere Demo und hauen uns wiederum eine rein. Weißt du, ich kann doch nicht mehr richtig wegen meinem Rollstuhl, deswegen will ich meine Ruhe haben. Wenn die aber Stunk machen, dann schnapp ich mir zur Strafe so ´nen kleinen verkackten Hool und hau ihm eine rein, weißt du, so richtig eine rein und frag ihn dabei, was der Scheiß eigentlich soll. Wir sind jetzt politisch. Wir machen ab jetzt nichts Verbotenes mehr. Uns kann keiner was. Weißt du, das ist Politik. Ich find Politik gut, richtig gut. Aber jetzt muss ich erst mal hier meine zwei Infarkte kurieren. Weißt du, ich bin das erste Mal zur Kur. Warst du schon mal in Kur?

Ja.

Und waren da auch so viele Ausländerärzte wie hier?

Meinen Sie die Ärztin von der Inneren? Bei der Aufnahmeuntersuchung erzählte sie mir, dass sie in den nächsten zehn Jahren keine Stelle in Serbien bekommen wird und sich eher zufällig hier beworben hatte. Wissen Sie, Kureinrichtungen scheinen nicht unbedingt das zu sein, was deutsche Ärzte suchen.

Sag ich doch. Die verdrängen unsere deutschen Ärzte. Und dann musst du dir von so einer, die kaum Deutsch reden kann, helfen lassen. Weißt, du, ich hab nix gegen die. Aber wenn ich krank werde, dann will ich auch unbedingt deutsch behandelt werden. Im Moment komme ich hier nicht weg. Du siehst doch, ich kann nicht mehr richtig laufen und komme früh kaum aus dem Bett. Und die verfluchte Pumpe, die macht nun schon das zweite Mal schlapp. Deswegen muss ich mir die Ausländerärztin auch gefallen lassen. So, ich muss jetzt zur nächsten Anwendung. Aber vorher, vorher da will ich schnell noch eine Durchziehen. Wir sehen uns beim Essen im Speisesall. Und dann können wir uns weiter über Politik unterhalten.

Hat man Ihnen nicht erklärt, dass nach frischen Infarkten eine einzige Zigarette reicht, um einen neuen Infarkt auszulösen.

Weißt du, den Quatsch wollte mir die Ausländertussi heut´ Morgen auch einreden.

Unter dir (Teil V)

Der Schmerz am Hinterkopf lässt nach und ich versuche zu der Stelle zu schauen, in der das Samtbeutelchen steckt. Ich sehe zur Stuhllehne und zu der pinkfarbenen Jacke, die ich vorhin ausversehen achtlos darauf abgelegt habe und in deren linker Tasche sich der rote Samtbeutel befindet. Langsam sehe ich wieder alle Umrisse des Zimmers, höre die Tür aufgehen und das Schlüsselgeklapper, sehe verschwommen das Licht vom Korridor ins Zimmer blenden und den schnellen Schatten im Türrahmen, der die Deckenbeleuchtung anschaltet. Damit mich die Schwester nicht sieht, drücke ich mich an die Wand heran und versuche auf der Seite liegend, etwaige Blutflecken auf dem Fußboden, meiner Kleidung oder meiner Haut zu entdecken. Auf keinen Fall will ich den Vorfall vom letzten Mal nochmal erleben, als die Schwestern Blut auf deinem Bettzeug entdeckten, rumschrien und dich in die Notaufnahme schieben wollten. In diesem Moment hatte ich gedacht, dass es mit uns beiden aus und vorbei ist. Denn meinen Körper an das Unterteil deines Bettes zu heften, habe ich zwar schon mehrfach geübt, jedoch nur an stehenden und niemals an einem fahrenden Bett. Vielmehr befürchte ich, dass es mich an dem Untergestell deines Bettes, das allernaselang an irgendwelchen Kanten und Wänden aneckt, derart durchschüttelt, dass ich früher oder später abgeworfen und entdeckt worden wäre. Glücklicherweise waren es Schwestern, die lieber über Männergeschichten quatschten als dich in die Notaufnahme zu karren. Die eine hatte ständig neue Männerstorys auf Lager, die sie jeder Schwester anders erzählte und die von Woche zu Woche versauter wurden. Ich bin mir sicher, dass sie die untreueste Frau war, deren Stimme ich jemals hier unten mit anhören musste. Untreue kann ich auf keinen Fall leiden. Sie hätte es wirklich verdient, von einem ihrer vielen Liebhaber erschlagen und zerstückelt zu werden. Bei so etwas, kenn ich wirklich kein Pardon.

Ich reibe mir den Hinterkopf und weiß, dass ich eine mordsmäßige Beule bekommen werde, sehe auf die Schrammen an Arm und Schulter und sage, dass das Mist ist und ich ab morgen wieder bei knapp 40° eine geschlossene Bluse tragen darf und ich schon jetzt wieder die Kollegen lästern höre, dass ich zu den verstaubten Gouvernanten übergewechselt bin. Mein ehemaliger Chef hatte mich einmal besorgt gefragt, ob ich überfallen worden sei, oder ob mein Freund mich geschlagen hätte. In diesen Fällen, hatte er gemeint, könnte ich mich vertrauensvoll an ihn wenden. Dann hat er mir die Nummer eines nahe gelegenen Frauenhauses in die Hand gedrückt und gesagt: „Sehr verehrtes Fräulein Büttner, Sie können mich jederzeit, zur Not auch in der Nacht, anrufen!“ Ich hatte mit hochrotem Kopf vor Herrn Doktor Kalbe gestanden und ihm versucht zu erklären, dass ich mich nur beim Putzen unter dem Bett gestoßen hatte. Eigentlich war er ein toller Mann und trotz seiner knapp 60 Jahre noch attraktiv. Warum er sich so brennend für mich interessierte und wie er mein Geheimnis herausgefunden hatte, weiß ich nicht und werde ich wohl auch nie herausfinden. Du kannst dir denken, dass ich das auf keinen Fall gut fand. Nun bin ich auch nicht viel besser dran und habe dafür die meckernde Chefin am Hals. Wenn ich das nur vorher gewusst hätte. Ich glaube, bei ihr kann ich total zerkratzt und blutig ins Büro torkeln, das stört die nicht im Geringsten.

Die Schwester geht an dein Bett, kniet sich auf die Stuhlsitzfläche, um die Infusion abzustellen. Sie nimmt die alte Flasche und stellt sie auf den Stuhl. Dabei fällt ihr die Flasche herunter. Mit aller Kraft presse ich mich an die Wand und sehe wie sie blind nach der Flasche schnappt und zu dir sagt, dass sie heute sehr, sehr ungeschickt ist. Sie stellt die leere Flasche auf den Stuhl und schließt die neue an und sagt, dass ihr heute die Beine wehtun und sie sich in den nächsten Tagen ein paar neue Schuhe zulegen muss, da die alten völlig ausgetreten sind. Sie nimmt die leere Flasche von der Sitzfläche, schiebt den Stuhl vor, lässt sich darauf fallen und schiebt die Füße unter das Bett. Abwechselnd wippt sie mit den Füßen und sagt, dass ihr das jetzt wirklich guttut. Mit der letzten Kraft versuche ich das Unglück zu verhindern, drücke meinen Körper an die Wand und halte die Luft an. Sie wippt mit dem rechten Fuß in mein Gesicht hinein und mit dem linken gegen meiner Hand, mit der ich mich mit aller Kraft gegen die Wand presse. Sie sagt, dass du es auf keinen Fall mit deiner Traumfrau aus gesundheitlichen Gründen übertreiben darfst und sie dich ansonsten melden muss. Sie zieht die Beine zurück und steht mit einem „Na dann will ich mal wieder die anderen Patienten stören!“ auf. Sie hebt den Stuhl an und stellt ihn an den Tisch. Mit einem ungläubigen Blick greift sie die Jacke von der Lehne, sieht sich im Zimmer um, wirbelt die Jacke durch die Luft, riecht an dem pinken Stoff und lobt das kräftige Parfüm. Ich merke wie mir unter deinem Bett der Magen beginnt zu brennen. Sie gleitet mit ihren Armen in die Jackenärmel, sagt, dass sie an ihr auch sehr aussehen würde, dreht sich um die eigene Achse und greift in die Jackentaschen und tastet hinein. Sie nimmt den Samtbeutel heraus. Ich sehe ihr zu, will sie anschreien, dass sie das nicht machen soll, kann aber nicht schreien und spüre stattdessen auf einmal das gleiche Herzrasen, das ich immer verspürte, wenn ich dich wegen einer Frauensache zu Rede stellen wollte. Sie macht das Samtbeutelchen auf und ich trete mit den Fersen gegen die Wand. Sie sieht hinein, schüttelt den Kopf und schnürt es wieder zu. Um nicht in Ohnmacht zu fallen, beiße ich in meinen Daumennagel. Lachend stellt sie sich vor den Spiegel, gibt sich einen Luftkuss und dreht sich noch einmal um die eigene Achse. Sie zieht die Jacke wieder aus, wirbelt sie durch die Luft, legt sie über die Stuhllehne und streichelt über den Stoff. Sie geht zur Tür macht das Licht aus, dreht sich zu euch drei, macht einen ihrer üblichen Luftküsse und wirft vergnügt die Zimmertür zu.

Ich stoße meine angestaute Luft heraus, lege meinen Kopf auf das Linoleum und ringe nach Atem. Zum ersten Mal, seit ich hier unten liege, verspüre ich keine Kraft mehr und fühle mich völlig leer und unfähig unter dir hervor zu krabbeln. Mit dem Gesicht auf dem Linoleum bleibe ich liegen und rieche wie ekelhaft das Reinigungsmittel ist und dass ihr drei das Zeug für den Rest eures Lebens riechen müsst. Ich versuche mich auf den Rücken zu drehen, spüre aber, dass mir die dazu notwendige Kraft fehlt. Ich bleibe liegen und versuche Arme und Beine zu strecken, um wieder ein Gefühl für meinen Körper zu bekommen. Wäre ich wie meine Freundin christlich, würde ich jetzt zu Gott beten und ihn bitten, mir die Kraft zu geben von hier weg zu laufen. Außer der Ehelosigkeit und dem Kloster würde ich ihm so ziemlich alles versprechen, aus dieser Gefangenschaft zu entkommen. Zum allerersten Mal empfinde ich dein Bett als Enge, um nicht zu sagen als Gefängnis.

Wieder versuche ich unter dem Bett hervor zu kommen, merke aber, dass mir die Kraft dazu immer noch fehlt. Deswegen umgreife ich die Räder des Bettes und ziehe mich mit den Armen hervor und stoße mich mit den Beinen an der Wand ab. Auf allen Vieren sortierte ich meine Kleidung und die Tasche unter dem Bett hervor, stützte mich auf meine Knie, mache die Taschenlampe an und kontrolliere deinen Katheterbeutel. Damit sie dich in dieser Nacht nicht doch noch einem Arzt vorstellt, robbe ich zum Waschbecken, hole in einem Becher Wasser, robbe zurück und drücke dir mit der Spritze, die die Schwester auf dem Nachtisch liegen gelassen hat, Wasser über die Abflussöffnung in den Katheterbeutel. Ich ziehe mich am Bettgestell hoch, schüttle den Krampf aus den Waden und merke wie mir schwindlig wird. Mit beiden Händen halte mich am Nachttisch fest, falle aber auf das Bett deines Nachbarn und entschuldige mich bei ihm. Ich richte von ihm auf, gehe zum Stuhl und hole das Samtbeutelchen hervor. Ich knülle die Jacke zusammen, packe sie in die vorgeholte Tasche und bin froh, dass ich mir über die Zeit angewöhnt habe, dünne, knitterfeste Jacken zu kaufen, damit sie problemlos in die Tasche passen ohne viel Platz wegzunehmen. Erschöpft setzte ich mich auf den Stuhl, hole Luft und sage, dass das heute sehr, sehr knapp war, ich den verflixten Tag habe kommen sehen, ich überhaupt nicht verstehe, dass sie mich nicht erwischt hat und ich erleichtert bin, dass sie meine Jacke nicht ins Schwesternzimmer geschleppt hat, so wie im letzten Winter, wo ich bei Minus 17 Grad in einer Bluse aus der Klinik verschwinden musste und mich die Leute auf der Straße blöd angegafft haben. Ich frage dich, was wir beide gemacht hätten, wenn sie die Jacke mitgenommen hätte und bekomme von dir wieder einmal keine Antwort. Mit einem Seufzen umgreife ich das Samtbeutelchen, küsse es und merke wie ich auf den Stoff weine. Ich strecke dir den roten Beutel entgegen und sage dir, dass sich unsere gemeinsame Erlösung darin befindet und du wie ich schon lange auf diesen Moment gewartet hast. Taumelnd stehe ich vom Stuhl auf, halte das Beutelchen in die Luft und sage dir, dass wir unbedingt jetzt anfangen müssen, damit wir rechtzeitig fertig sind, bevor die Nacht zu Ende geht. Denn nach dieser Nacht kann uns keiner mehr trennen.

Unter Dir, Teil IV

In den ersten beiden Teilen legt sich die Freundin des Patienten unter das Bett und versucht im Dunkel der Nacht mit ihm „Kontakt“ aufzunehmen.
Im dritten Teil entkleidet sie sich vor ihrem Freund und dessen beiden Mitpatienten.
Im heutigen vierten Teil sucht sie ein Samtbeutelchen, das sie trotz intensiver Suche nicht finden kann. Wie in den vorangegangenen drei Teilen wird sie auch in diesem Teil bei ihrem nächtlichen Treiben von der Schwester gestört. Und wie immer, muss sie, wenn sie Schlüsselgeklapper von Fern vernimmt, unter das Bett rollen. Unter ihm liegend, hofft sie, dass sie auch in dieser (letzten) Nacht unentdeckt bleibt.

Ich krabble wieder unter dem Bett hervor, stelle mich breitbeinig vor dir auf und frage dich im nachäffenden Schwesternton, was du heute für schlimme Sachen machst und wie wild deine Träume mit deiner Traumfrau sind. Ich nehme deinen Beatmungsschlauch, drücke ihn zwischen Daumen und Zeigefinger zusammen und frage dich nochmal, ob sie dir wirklich besser gefällt, seit wann du auf kräftige Schwestern stehst, obwohl du mir doch immerzu gesagt hattest, dass ich die beste Figur der ganzen Schule habe und ob du wirklich denkst, dass ich deine Weibergeschichten nicht bemerke. Ich löse den Daumen vom Zeigefinger und lege den Schlauch auf seine alte Stelle. Wütend schiebe ich dein Gesicht auf dem Kissen zurecht, bis es exakt unter meinem liegt. Damit du mich besser sehen kannst, ziehe ich eines deiner Augenlider hoch, halte den Lichtkegel der Taschenlampe hinein und frage dich, woher du verdammt nochmal weißt, dass die Schwester unbemannt ist. Ich ermahne dich, dass du ab jetzt schön artig sein musst, dass du mir in unserer ersten Nacht etwas versprochen hast, dass ich mich für dich aufopfere und dass ich es überhaupt nicht fair finde, dass du in unserer heutigen alles entscheidenden Nacht genauso einen Blödsinn machst, wie du ihn in der Nacht deines Unfalls gemacht hattest. Ich schüttle den Kopf, lege die Taschenlampe auf den Nachttisch, streichle dich und flüstere dir ins Ohr, dass ich dir den Weiberkram letztmalig verzeihen werde und nach dieser Nacht sowieso für uns beide alles anders wird.

Ich schiebe mich unter das Bett, suche meine Tasche hervor und krame nach dem roten Samtbeutelchen. Da ich es nicht finde, bekomme ich Panik und schüttelte die Tasche über deiner Bettdecke aus. Ich halte die Hände vor den Mund, schließe die Augen, drehe den Kopf im Kreis und überlege, wo ich das Samtbeutelchen hingelegt habe. Da ich von jeher vergesslich bin, versuche ich deine Methode des rückwärtigen Denkens anzuwenden. Ich atme tief ein, lege die Finger an die Schläfe und lasse die Luft herausgleiten. In langsamen Kreisbewegungen gehe ich vom Krankenhaus zurück in die Wohnung, wo mich deine nervige Mutter wieder mit einem ihrer vorwurfsvollen Blicken empfängt. Ich sehe wie sie einen frischen Strauß Blumen neben dein Foto stellt, höre mich sagen, dass du kein bisschen tot bist, ich alles in meiner Macht stehende tun werde, dass du am Leben bleibst und ich auch nie und nimmer zustimmen werde, die medizinischen Geräte abzustellen. Ich höre mich mit deiner Mutter streiten und ihr vorwerfen, dass sie dich viel zu wenig besucht und dein Schicksal endlich ertragen soll und sehe wie sie wieder mit einem Heulkrampf dein Zimmer verlässt, dass ich seit deinem Unfall bewohne. Ich gehe zurück ins Großraumbüro zu den Kollegen, die mich permanent zu irgendwelchen Feiern einladen und jedes Mal beleidigt sind, wenn ich dankend ablehne. Ich gehe zurück in die übervolle Kantine an den Tisch zu den Azubis, höre ihre dummen Anmachwitze und höre wie der eine mir unterstellt, dass ich die Chance heimlich nutze und mich mit irgendwelchen Typen rumtreibe. Dabei spüre ich den dumpfen Schmerz in der Hand, als ich dem Neuen aus der Presseabteilung, der mir die Zunge zu einem angedeuteten Kuss rausstreckt eine Ohrfeige verpasse. Ich gehe zurück in den Supermarkt, um dir deinen Lieblingsschokoriegel und dein Lieblingsbier zu kaufen. Ich sehe die überschminkte Kassiererin mit dem aufgetürmten Dutt, höre wie sie mich fragt, wie es ihrem ehemaligen Lieblingskunden derzeit geht, wie sie mir ellenlang versichert, dass ihr die ganze Sache von damals immer noch leid tut und sie hofft, dass du irgendwann wieder bei ihr einkaufen kommst und sie mit deiner freundlichen Art und deinem schönen Lächeln wieder erfreust. Ich spüre mein Unbehagen an der Kasse und meine Angst, sie könnte mir wieder eine ihrer unzähligen langweilen Kindergeschichten von dir und ihrem Sohn erzählen. Und ich erinnere mich, wie ich das viele Restgeld liegenlasse und davonrenne. Von der aufdringlichen Verkäuferin gehe ich Schritt für Schritt dein riesiges, stuckverziertes Zimmer mit dem Marmorkamin und der zweiflügligen Tür ab, in dem ich seit unserer ersten Nacht unbedingt leben wollte. Weil ich mich immer noch nicht an das Samtbeutelchen erinnern kann, kneife ich die Augen fester zusammen, drücke auf die Schläfen bis sie schmerzen und fordere dich auf, mir zu helfen, denn schließlich wäre der Inhalt des Samtbeutelchens, die für uns beide lange erhoffte Lösung. Immer stärker schwinge ich dabei meinen Kopf. Ich sehe das große Stahlregal mit deinen zerflederten Märchenbüchern, sehe deine schweren Kunstbände mit den Abbildungen, die außer dir, kein Mensch versteht, sehe deinen verschnörkelten Schrank, in dem deine anatomischen Skizzen zuhauf aufgestapelt liegen und von denen ich mir die allerschönsten Männerakte ganz gern vor dem Schlafengehen ansehe, und von denen ich mir die die besonders schönen Akte auf dein Kopfkissen lege und mich so lange streichle, bis ich wieder ruhig werde und endlich einschlafen kann. Ich sehe den übervollen Mülleimer, in den ich in der letzten Woche Aktzeichnungen von Frauen hineinwarf, weil ich felsenfest davon ausging, dass sie allesamt nur misslungenen Schweinskram darstellten. Und ich erinnere mich, dass ich die zerrissenen Zeichnungen unbedingt morgen früh wegwerfen muss, bevor sie deine Mutter findet und ein Heidentheater anstellt. Ich sehe das Schränkchen mit deinem Modellierkram und dem unfertigen Gipsportrait von mir. Ich sehe unser schönes weiches Bett mit den vielen Kissen, sehe unsere gemeinsame Hängematte, die wir manchmal aus Jux benutzt haben und ich sehe dein Faltboot, in das ich ab und zu ein paar Löcher stach, damit wir nicht ständig in irgendwelchen Seen an den Wochenenden paddeln mussten und stattdessen gemütlich im Bett zwischen den vielen Kissen liegen bleiben konnten.

Ich öffne die Augen, seufze, umgreife deine Hände, ziehe sie zu mir hoch, küsse sie und bitte dich, mir doch bei der Suche des Samtbeutelchens ein bisschen zu helfen. Da deine Hände unendlich schwer sind, lasse ich sie auf die Bettdecke gleiten und entschuldige mich bei dir, dass mir im Moment die Kraft und auch die Nerven fehlen, sie weiter an mich zu drücken. Ich lege sie vorsichtig neben deinen Körper und massiere deine Handrücken entlang den Venen bis zu den Fingerspitzen deiner Ringfinger und bitte dich, mir doch endlich zu helfen. Ich küsse deine Handrücken und tupfe mit der Nase darauf. Ich schließe wieder die Augen und ziehe deine linke Hand zu mir hoch. Ich schiebe deinen Zeigefinger auf meine Lippen, lächle und erinnere mich, wie du früher versuchtest, Klavier zu spielen, wie ich dich neidisch dabei beobachtet hatte und, um dich davon abzubringen, von dir verlangte, dass du mit deinen Fingern genau das Gleiche mit mir machst, was du mit dem doofen Klaviertasten getan hattest. Ich puste zufrieden Luft aus und erinnere mich an den Moment, als ich es nach einer tollen Nacht endlich geschafft hatte, dich dazu zu bringen, die Klimperei abzumelden und das Klavier aus der Wohnung abholen zu lassen. Ich knabbere an deinem Nagel und schiebe deinen Zeigefinger zwischen meine Lippen, sauge daran und höre dich sagen „Jetzt nicht, ich muss üben, jetzt nicht, du blonde Hexe, gibst du denn nie Ruhe!“ Ich erinnere mich wie ich dich fragte, ob du denkst, dass die Musiker früher ohne Sex gelebt hätten, wie ich dir die Hose nach der Frage aufmachte und mit meinen Fingern anfing an deinem Ding zu üben, wie ich mir vorstellte ein Instrument zu spielen. Auf deine Bedenken, dass das alles auf den Tasten des geborgten Klaviers landen könnte, reagierte ich nie.
Ich öffne den Mund, lasse deinen Finger hinausgleiten, reibe deine Hand über meine rote Wange und bin erstaunt wie beweglich deine Finger wieder geworden sind. In den letzten Wochen haben die Schwestern die Fingermassage vernachlässigt, obwohl ich sie mehrfach gebeten habe, dass sie intensiv üben sollen. Deswegen habe ich mich Nacht für Nacht hingestellt, jeden deiner Finger massiert und sie so auf den heutigen Abend vorbereitet. Da deine Hand mir zu schwer wird, lege ich sie behutsam auf die Bettdecke zurück und bemerke, dass sie dir wieder ein langweiliges Krankenhauslaken über die Matratze aufgezogen haben. Wie oft habe ich den Schwestern unsere Lieblingswäsche mitgebracht! Da ab jetzt sowieso alles anders wird und mir hier in eine paar Minuten keiner mehr etwas vorschreiben kann, ärgere ich mich nicht und hole stattdessen das blau-gelb karierte Laken aus der Tasche, auf dem wir es zum ersten Mal gemacht haben und auf dem wir uns ewige Treue geschworen haben und in dem wir auch gemeinsam begraben werden wollen. Gleich können mir die Schwestern nichts mehr von Krankenhaushygiene sagen und mir auch nicht mehr deine Bettwäsche mitgegeben. Plötzlich fällt mir ein, wo ich das Samtbeutelchen abgelegt habe. Ich sage dir, dass ich dir für deine Methode des rückwärts gerichteten Denkens unendlich dankbar bin und ich vom ersten Tag wusste, warum ich nur mit dir zusammen sein wollte und nicht Melvin aus der Parallelklasse oder dem ekligen Schulcasanova Chris. Ich gebe dir einen Schmatzer auf deine Stirn, einen weiteren Schmatzer auf deine Nase und einen auf deinen kahl rasierten Kehlkopf. Ich ziehe dir abwechselnd an den Ohren, lecke abwechselnd in sie hinein und pople dir auch abwechselnd in deinen Nasenlöcher. Da ich jetzt weiß, wo ich das Samtbeutelchen hingelegt habe, stelle mich auf das Bett, winke den beiden anderen Patienten zu und mache ausladende Schwanenbewegungen. Wie die Nachtschwester, strecke ich meine Hand aus und hauche den beiden fette Luftküsse zu, zwinkere und höre von Ferne Schlüsselgeklapper. Vor Schreck verliere ich das Gleichgewicht, falle von deiner Bettdecke herunter und lande mit einem Knall auf dem harten Linoleum. Benommen krieche ich unter das Bett, stoße mich dabei diesmal an der Stirn, dass mir schwindlig wird und ich für einen klitzekleinen Moment nichts mehr sehen kann. Ich fluche, stoße mit dem Ohr an einen Längsträger und ärgere mich, dass mir das in letzter Zeit immer öfter passiert, obwohl ich doch das Darunterrollen fleißig übe. Nur für dich, mein Schatz, habe ich mir teure Sportkleidung gekauft. Und nur für dich schleiche ich einmal pro Woche am Abend, wenn alle Kinder zuhause sind, in den nahe gelegenen Stadtteilpark und rolle mich immer und immer wieder unter die unterste Strebe des verrosteten Klettergerüstes hindurch und höre erst auf, wenn ich es mindestens fünf Mal in Folge fehlerfrei geschafft habe. Danach jogge ich in die Altbauwohnung deiner Mutter zurück, dusche mich ausgiebig mit ihrem Warmwasser ab, stelle die Lieblingsmusik auf volle Pulle, frisiere und schminke mich, obwohl ich ganz genau weiß, dass du das als aufgedonnerten Schnickschnack abtust, plündere anschließend die leckersten Sachen aus dem Kühlschrank und mache mich danach vergnügt auf den Weg zu dir

Unter dir (Teil III)

Im ersten Teil legt sich die Freundin (wie jede Nacht) unter sein Bett und wartet, dass die Nachtschwester ihren Rundgang durch die Zimmer unternimmt. Diese Zeit nutzt sie, um über diese und andere Krankenschwester und ihre Mühen, unter das Bett zu gelangen, nachzudenken.

Im zweiten Teil „beschäftigt“ sie sich mit ihrem Freund, der im Bett liegt und „bereitet“ ihn für das „Ereignis “ vor, wobei sie (wie auch im folgenden Teil) von der Nachtschwester gestört wird.

Ich lege mein Ohr auf deinen Körper, höre dein Herz schlagen und schließe zufrieden die Augen. Ich zähle laut deine Herzschläge und wiederhole jeden einzelnen mit meinen Fingerkuppen auf deiner Wange. Im Rhythmus deines Herzens puste ich auf deine Brustwarzen, bis ich spüre, dass sie hart werden. Weil mir das Gepuste zu anstrengend wird und weil ich auch weiß, dass es dir als Linkshänder wichtig war, schiebe ich vorsichtig meine Zungenspitze heraus und betupfe zuerst deine linke und danach deine rechte Brustwarze. Als ich keine Lust mehr darauf habe, gebe ich dir einen Schmatzer auf dein glatt rasiertes Babygesicht und sage, dass ich ganz genau weiß, dass du mich wahnsinnig liebst und ich auch heute wieder deine versteckte Morse-Botschaft aus deinem Herzschlag herausgehört habe. Ich streichle zwischen deinen Brustwarzen über den ovalen Leberfleck, sehe dich an und flüstere „Schokopudding mit Vanille“.
Plötzlich höre ich Schlüsselgeklapper auf dem Flur. Ich fluche, ob das jetzt unbedingt sein muss und bin der Schwester wieder dankbar, dass sie mit ihrem Geklapper meilenweit zu hören ist und mir somit ausreichend Zeit gibt, mich schnell unter dein Bett zu verkrümeln. Nur bei dieser Schwester kann ich mich auf die Uhrzeit verlassen und auf ihr pünktliches Schlüsselgeklapper. Meiner Meinung nach ist sie die lauteste, aber auch die zuverlässigste aller Schwestern. Ich ziehe dein Hemd zurecht, lege die Bettdecke glatt, gebe dir einen Klaps auf die Wange, rolle mich unter das Bett und überlege, ob ich ihr nicht ein Glöckchen für das Schlüsselbund wichteln sollte. Meinen Rücken schiebe ich so lange auf dem gebohnerten Boden zurecht, bis ich die passende Position unter deinem Körper gefunden habe. Denn nur so habe ich ein Gefühl dafür, ob das, was die Schwestern mit dir tun, auch wirklich gut für uns beide ist. Wenn ich hier unten liegend die leise Vermutung bekomme, dass mich die pflegerische Anordnung stört, mache ich sie, wenn die Schwester gegangen ist, sofort rückgängig. Bei ihr hatte ich jedoch noch nie Bedenken und weiß, dass sie alle ärztlichen Verordnungen gewissenhaft ausführt. Vor ein paar Wochen wollte ich sie sogar loben. Aber dann hatte ich Angst, sie könnten sie zur Stationsschwester ausbilden und dann hätte ich keine pünktlich klappernde Schwester mehr gehabt. Bei den anderen Schwestern habe ich manchmal meine Schwierigkeiten, rechtzeitig unter das verflixte Bett zu kommen. Und das geht dann meist nicht ohne blaue Flecken und Schrammen. Es gibt Nächte, die knapp an der Katastrophe vorbei gehen und am nächsten Tag sehe ich zerkratzt aus und meine Kleidung ist eingerissen oder an einem meiner hohen Schuhe fehlt der Absatz.

Ich lausche. Wie üblich erklärt sie dir alle Handgriffe bis ins Detail. Übertrieben laut erläutert sie dir, welche medizinische Verordnungen sie machen muss und warum, und fragt immerzu, ob du damit einverstanden bist. Du bist doch nicht schwerhörig. Ständig habe ich das Gefühl, dass die hier alle Selbstgespräche führen. Bei einigen Schwestern habe ich sogar Mühe, nicht lachen zu müssen. Im Allgemeinen finde ich ihre Erklärungen aber wichtig. Nur manchmal, wenn die Schwestern zu persönlich werden, wenn sie, irgendetwas von Schatz, Liebling, oder schöner Mann faseln, wenn sie beim Waschen meinen, dass sie dich nicht von der Bettkante stoßen würden, dann werde ich fuchsteufelswild und muss mir vor Wut in die Hand beißen. Am liebsten würde ich in diesen Momenten hervorkriechen und alle ordentlich verdreschen. Diese Schwester hingegen hielt sich von Anfang an mit solcherlei Sprüchen zurück. Trotzdem oder vielleicht deswegen muss ich auch bei ihr höllisch aufpassen.

Sie geht zur Tür, dreht sich zu dir um, haucht dir einen ihrer Luftküsse entgegen und löscht das Licht. Langsam schiebe ich mich unter dem Bett hervor, krame im Dunkeln die Taschenlampe aus der Tasche, knipse sie an und kontrolliere, ob sie die von ihr aufgezählten Verordnungen richtig ausgeführt hat. Einige der Schwestern sind nämlich unzuverlässig, um nicht zu sagen schlampig. Auch diese Schwester arbeitet an manchen Tagen ungenau. Damit ich die Schwestern überprüfen kann, habe ich mir Fachbücher gekauft und lese, wenn meine meckernde Chefin nicht da ist, stundenlang im Internet und arbeite alle über Nacht angestauten medizinischen Problemfälle, die dich betreffen, in Foren nach und nach ab. Mit der Zeit kenne ich die Foren und kann sehr gut mitdiskutieren. Und werden neue Heilmethoden besprochen, flechte ich sie beharrlich in die Arztgespräche, die ich einmal pro Woche führe, ein. Einer der Assistenzärzte hat doch wirklich mal gedacht, ich sei Medizinstudentin. Und nur wenn ich früher überhaupt nicht weiter wusste, ging ich zu meinem Hausarzt und gab die Beschwerden an, die mich interessierten. Den Termin beim Psychologen nahm ich aber nur einmal war. Seitdem wechsle ich die Fachärzte nach deinen jeweiligen Beschwerdegruppen. Mein Lieber, es gibt Tage, da überlege ich, ob ich meine Arbeit für dich hinschmeiße und ein Medizinstudium beginnen sollte. Spätestens seitdem mein Chef gegen eine Chefin ausgetauscht wurde, denke ich fast täglich diesen wunderschönen Gedanken. Dann könnte ich nach dem Studium ganz offiziell bei dir arbeiten und den Schwestern jede Menge Anweisungen in einem wehenden weißen Kittel erteilen. Leider habe ich aber nicht die Superabiturnoten wie du dafür. Vielleicht sollte ich dein Zeugnis fälschen und meinen Namen eintragen. Dann bekäme ich auf jeden Fall den Studienplatz, den du partout nicht wolltest. Du weißt, für dich mache ich alles.

Damit du mich gut sehen kannst, hebe ich dein Kopfende nach oben. Ich lege die Taschenlampe auf den Nachttisch, stelle mich in die Mitte des Lichtkegels, beuge mich zu dir und zu deinen beiden Mitpatienten und applaudiere. Ich strecke die Arme zur Zimmerecke, lasse sie langsam auf meinen Busen sinken und knöpfe die Bluse auf. Vorsichtig löse ich die Schnallen der Glitzerschuhe und sammle die Schuhe mit dem Mund auf. Da meine tollen Glitzerschuhe im Taschenlampenlicht blenden, kneife ich die Augen zu und versuche die schweren Dinger blind auf dein Bett zu zielen. Nachdem ich das geschafft habe, öffne ich meine Hose mit dem Ringelmuster, die ich bei unserem ersten Kennenlernen anhatte und die du von jeher so furchtbar gefunden hattest. Ich beuge mich nach vorn, ziehe sie herunter und schieße das Ringelding mit dem großen Zeh im hohen Bogen zu dir hinüber. Mit den Füßen ziehe ich abwechselnd meine Socken aus, sammele auch sie mit dem Mund auf, hänge sie mir über meine beiden Ohren und schüttle den Kopf, bis sie runterfallen. Ich hebe sie auf, knülle sie zusammen und werfe sie dir genau ins Gesicht. Weil ich dich getroffen habe, strecke ich meine Arme aus und schlage ein Rad. Ich gehe an dein Bett und ziehe endlich meine Bluse aus und lege alle Kleidungsstücke, die du noch nie an mir gemocht hattest, auf deiner Bettdecke aus, als hättest du sie allesamt an. Ich zupfe die Klamotten faltenfrei und flüstere dir ins Ohr, dass du ein tolles Mädchen in den klamotten abgeben würdest. Ich richte die Taschenlampe auf dein Bett, hole mein Handy mit dem neuen Kameratyp und der Videofunktion und mache Fotos von dir und den Klamotten. Ich schiebe die Lampe zurück, tipple auf meinen Zehenspitzen in den Lichtkegel, lächle euch drei stummen Zuschauern zu, drehe mich einmal um die eigene Achse, öffne mein hochgestecktes Haar und halte es für euch ins Licht. Wie wild schüttle ich es auseinander und sehe durch die Strähnen zu euch hindurch. Mit beiden Händen umfasse ich zwei Haarbüschel und winke dir zu. Ich verbeuge mich vor euch, schlage, weil es mir vorhin so gut gefallen hat und weil ich merke, dass ich davon endlich wach werde, noch einmal ein Rad und komme vor deinem Bettgiebel zum Stehen. Ich umwickele das glänzende Metall mit meinen langen Haaren und sage dir, dass ich die völlig durchgeknallte Rapunzel aus einem deiner unzähligen geliebten Märchenbücher bin, und dass ich dich jetzt mitnehmen will. Ich sage dir, dass ich vorher aber noch meinen Prinzen vernaschen muss. Plötzlich höre ich ein Alarmsignal aus einem deiner vielen Geräte. Ich schnappe die Bluse, die Hose, die Socken, die Schuhe von der Bettdecke, greife mir die Taschenlampe und rolle mich unter das Bett. Dabei stoße ich mich zuerst am Fuß und dann an der Schulter, dass die frisch verheilte Schürfwunde wieder aufplatzt. Die Tür geht auf und die Schwester kommt ohne zu klappern ins Zimmer gerannt. Sie macht Licht, hantiert an den Geräten, streichelt über dein Haar und fragt, was heute mit dir los ist. Sie sieht zum Katheterbeutel und sagt zu den anderen Patienten, dass dein Urin verdächtig trübe aussieht, sie einen Harnwegsinfekt vermutet und dass sie das nach dem Wochenende unbedingt dem Stationsarzt vorstellen wird. Muss der Infekt heute sein, denke ich und spüre einen stechenden Schmerz im Fuß und in der Schulter. Zu gern würde ich ihr zurufen, dass ich verblute und auch mal dringend einen Arzt bräuchte. dabei spüre ich, dass ich mit meinem Rücken am Linoleum festklebe. Sie geht zurück zur Tür, zwinkert dir den üblichen Luftkram zu, macht das Licht aus und ruft beim Rausgehen, dass du heute besonders wilde Träume mit deiner Geliebten haben wirst, sie dir viel Spaß wünscht und sie deinen Katheter wechselt, wenn du dich ordentlich ausgetobt hast. Ich schüttle den Kopf über ihre Sprüche, äffe sie nach und weiß, dass ich gleich morgen früh alle Foren zum Thema Urin, Katheter, Infekt und Komplikation durchforsten werde. Zur Not lasse ich mich am Montag krankschreiben, gehe zu meinem Urologen und sage, dass mir die Blase höllisch wehtut und der Urin verdächtig aussieht. Und vielleicht sollte ich die Krankschreibung auch nutzen, um dein Einser-Abiturzeugnis zu kopieren und mit meinem Namen zu versehen.

Unter dir (Teil 2)

Wenn ich dir früher einen Knutschfleck an jeder Seite deines Halses verpasste, meckertest du, dass du dir markiert vorkamst und bandest dir eines deiner albernen Tücher um. Aber diese gemeine Bemerkung verzieh ich dir meist schon in der darauffolgenden Nacht. Ich streichle über die feucht glänzende Stelle, die ich dir soeben gemacht habe und sage, na dann eben nicht. Ich bin mir auch nicht sicher, ob ich das Risiko eines Knutschflecks heute eingehen sollte. Heute Abend darf uns auf keinen Fall irgendwer stören; zulange habe ich mich auf diese alles entscheidende Nacht vorbereitet. Beim letzten Knutschfleck haben sie gedacht, du hättest eine innere Blutung und dich übergründlich untersucht. Für mich war das grausam, da ich die ganze Nacht hinter dem dussligen Vorhang stehen musste. Der Gedanke daran macht mir schon wieder Angst.

Da meine Füße schmerzen, ziehe ich die Schuhe mit den vielen Glitzersteinen, die ich extra für Heute angezogen habe und die du von jeher besonders albern findest, aus. Ich sage, von Schuhmode hast du keine Ahnung und werfe sie unter das Bett. Ich gehe zum aufgeräumten Nachttisch, dessen Sauberkeit die Schwester soeben ausgiebig gelobt hat und sortiere die darauf liegenden Dinge zusammen. Was ich für unnütz halte, werfe ich in den leeren Eimer. Weil das Desinfektionsmittel in der Nase juckt, pople ich und schnipse ab und zu einen der rausgeholten Popel durch den Raum. Misstrauisch lese ich die Handschriften der Briefe deiner vielen Freunde und rieche an den Absendern die mir unbekannt sind. Die Briefe mit den Handschriften, die mir besonders verdächtig vorkommen oder die ich nicht kenne oder von denen ich meine einen mir fremden Parfümduft zu erriechen, zerrreiße ich in klitzekleine Schnipsel und streue sie zufrieden in das Seitenfach meiner Handtasche. Die ungefährlichen lege ich gut sichtbar in den Nachttisch zu den Stapeln der anderen. Ich schiebe das Nachttischfach zu, gähne in die Länge gezogen und spüre den anstrengenden Tag in meinen Beinen. Um mich fit für die Nacht zu machen, beuge ich mich nach vorn, strecke beide Arme zu den lackierten Zehen und danach zur Lampe der Zimmerdecke. Ich halte mich am Nachttischgriff fest, schiebe das linke Bein langsam in Augenhöhe, lasse vorsichtig den Nachttischgriff los und drehe mich ballarinamäßig einmal um die eigene Achse. Ich tipple an das Bett deines linken Mitpatienten, strecke ihm das Bein und den Fuß entgegen, ziele über den großen Zeh und sage laut Peng, Peng, jetzt bist du tot. Ich tipple zum rechten Mitpatienten, strecke das rechte Bein und erschieße auch ihn. Nachdem ich sie beiden zur Strecke gebracht habe, klatsche ich in die Hände, mache einen Sprung in die Luft, verbeuge mich vor den drei Betten, bedanke mich für den Applaus und fühle mich bereit für die Nacht.

Ich lege mich zu dir ins Bett, rolle mich zusammen und kuschle mich an dich heran. Ich betrachte dein wunderschönes schlafendes Gesicht mit den starken Wangenknochen. Ich nehme den kleinen Zeigefinger und ziehe eine Linie von dem Haaransatz, über die hohe Stirn, zum schnurgeraden Nasenrücken zu den Nasenflügeln mit den kleinen Härchen. Dabei stecke ich meinen Fingernagel in jedes Nasenloch und hole deine Popel raus und schnipse sie im hohen Bogen durch den Raum. Ich sehe wieder in dein Gesicht. Ich öffne deine Lippen, schiebe den Zeigefinger in den Mund, ziehe ihn heraus, schiebe ihn wieder rein und raus und sage vorwurfsvoll, ehe du mich beißt. Mit dem kleinen Finger umrunde ich das breite Kinn, den Hals bis zum Adamsapfel, bleibe dort stehen und pikse mit der roten Fingernagelkuppe in den Apfel und zähle die kleinen schwarzen Härchen die dort aus der Haut wachsen und überlege, wie lange es brauchen wird, bis die Härchen sich krümmen und die von mir geliebte Form des Kopfhaares annehmen. Als ich früher in dein Gesicht schaute und deine Barthaare zählte, wunderte ich mich wie schnell die dicken schwarzen Haare dir aus der gebräunten Haut wuchsen. Schon damals schob ich meine knallrot lackierten Finger durch dein Haar und zirbelte den Bart. Die Kombination von Knallrot, Schwarz und Braun machte mich wild, auch wenn dir meine rot angepinselten Krallen, wie du sie abfällig nanntest, nie wirklich gefielen. Hier rasieren die Schwestern dich, bevor ich deinen Bart zu sehen bekomme. Außerdem, mein Lieber, ist deine Haut wie weiße Babyhaut geworden. Dass sie weiß ist, stört mich nicht wirklich, das habe ich dir schon oft ins Ohr geflüstert. Ich finde, dass sie mich sogar anmacht. Aber dass sie dein Kinn und deinen Hals babyglatt rasieren, bringt mich auf die Palme. Deswegen habe ich auch ab und zu Lust Haare mitzubringen, die ich zuhause heimlich in den Kartons unter deinem durchgelegenen Jugendbett aufbewahre, um sie dir zu einem Bart anzukleben. Oder, dass ich wenigstens ab und zu ein paar Haare mit meinem schwarzen Filzstift, mit dem ich täglich die pflegerischen Anordnungen der Schwestern auf den Karteikarten unter dem Bett benote, anmalen zu dürfen. Aber das geht nun wirklich nicht, das sehe ich ein. Dann denken die womöglich hier, dass ich völlig durchgeknallt bin. Ich seufze, schließe die Augen, reibe blind über deinen rasierten Kehlkopf mit den Stoppeln und stelle mir vor, dass dort ganz viele schwarze, gelockte Haare wären. Ich streichle um den surrenden Schlauch, der aus deinem Hals ragt und flüstere dir zu, dass es mir leidtut, was die vergesslichen Schwestern mit dir hier alles anstellen. Ich verspreche dir, heute wird das Alles für dich und mich ein Ende haben.

Ich richte mich aus meiner Embryonalhaltung auf, küsse deinen glatten Kehlkopf und lasse die nasse Zunge darüber gleiten. Mit dem Daumen massiere ich die glänzende Stelle und sage, dass gefällt dir, mein Lieber? Stimmt. Ich schaue kurz auf die Leuchtanzeige meiner Uhr und horche, ob vom Gang her ein Geräusch zu hören ist und mache, nachdem ich nichts höre, weiter. Ich umgreife deine Ohren und schiebe dein Gesicht auf dem Kopfkissen unter mein Gesicht. Ich stütze meine Hände auf deine Schultern und bewege meine Hüften, als ob ich tief in dich eindringen würde. Als du noch nicht hier lagst, tat ich das nämlich immer, weißt du das noch. Wie damals ärgere ich mich auch jetzt, dass ich kein Mann bin und in dich eindringen kann. Ich mochte es, wenn du dir auf mir zu schaffen machtest. Ich mochte es, wenn du mit deinen langsamen, tiefen Stößen in mich eindrangst und ich dein langes, dickes und schneeweißes Ding in mir spürte. Und ich mochte es wenn dein schwarzes Kopfhaar im Rhythmus über deine Schultern mitschwang. Ich umklammerte erst deinen muskulösen Hintern mit meinen Beinen und danach mit den Händen und klopfte dabei so lange und so heftig auf deine Arsch, bis alles aus dir raus war. Mach weiter, mach weiter, du kleine Hexe, hattest du mir zugeflüstert. Oft habe ich danach meine rot lackierten Finger genommen und sie an deinen Hüften entlanggekratzt. Ich kneife mich links und rechts in meinen Hintern, öffne die Augen und sehe zu deinen beiden Mitpatienten, die wie immer still daliegen. Ich hebe deine Bettdecke an und schaue mit einem prüfenden Blick, ob noch alles an dir dran ist. Es hat sich nichts geändert, genau wie der Rest deines Körpers. Nur, dass er jetzt komplett weiß ist. Dein ganzer schöner zwei Meter und einen Zentimeter langer Körper. Früher konnte ich mich an dem weißen Streifen, der an dem braunen Körper herunterbaumelte, nicht sattsehen. Pinsel hab ich zu deinem Ding gesagt. Quast hast du geantwortet. Das ist ein Quast. Dein Ding war so weiß, dass ich damals dachte, dass es nur deswegen so weiß war, weil du es in mich reinschobst, weil ich ja innen auch weiß war wie eine Farbdose. Aber das war quatsch. Dein Hintern war ja auch weiß. Wie du deinen Hintern damals anhobst, im Rhythmus immerzu im Rhythmus anhobst, immer und immer wieder. Ich weiß warum ich auf Musiker stehe. Ich schließe die Augen und flüstere, schön, das war damals wunderschön. Manchmal zählte ich deine Haare während du in mich eindrangst. Weit war ich damit aber nie gekommen. Gleich kriegst deine Narkose, hattest du gesagt, warte, gleich kriegst du, du kleine Hexe. Du sagtest das, wenn du merktest, das ich über deine Schulter sah und deine Haare an den zuckenden Gesäßmuskeln zu zählen begann. Und weil ich damit nie sehr weit gekommen war, hatte mich das laute Zählen deiner Gesäßhaare irgendwann an meine Narkose erinnert. Die Anzahl deiner Haare hatte ich dabei jedes Mal genauso vergessen, wie die Zahl bei der Narkose. Und dann ärgerte ich mich wieder, dass ich kein Mann war. Wenn du fertig warst und tief Luft holtest, fragte ich dich, wie das ist, was für ein Gefühl das ist und ob du mir dieses Gefühl erklären kannst, ob du mir Beispiele nennen kannst, damit ich dich besser verstehe, wenn du es in mir treibst. Schließlich wollte ich alles wissen, was du machst. Alles. Meist lächeltest du und sagtest in die Länge gezogen, geil, einfach nur affentittenobergeil. Ich war mir sicher, dass du damit meinen Körper meintest, fragte dich aber vorsichtshalber, ob das Gefühl bei allen Mädchen gleich geil war. Du sagtest ja, ja, und deutetest mit weit aufgerissenen Augen einen Orgasmus an. Es machte mich jedes Mal wütend, das du mir nicht sagen wolltest, wieviel Mädels du nun vor mir hattest. Und wenn ich deswegen in Wut geriet, konnte ich dir sogar mit voller Wucht auf deinen steifen Penis schlagen. So sehr ich mich bemühte, ich konnte mich bei dem Thema einfach nicht beherrschen. Und wenn ich merken würde, dass du wegen einer der Schwestern einen Steifen bekommst, dann würde ich, glaube ich, es wieder tun. Mein Gott, wie ich dich in diesen Momenten abgrundtief gehasst habe. Da ich aber jetzt nicht schon wieder an die blöden Missverständnisse denken will, schiebe ich mich weiter auf deinem Körper hin und her. Meine Haare lasse ich dabei in deinem Rhythmus über meine Schulter herunterschwingen. Mit den Haarspitzen reibe ich deine Nase, bis du schnaubst. Empört sage ich, das passt dir wohl nicht. Ich ziehe eine Schnute, knicke deinen Schlauch zusammen und beobachte wie lange es dieses Mal dauert, bis du endlich reagierst. Ich öffne dein albernes Krankenhaushemd. Typisch, die Schwestern haben dir wieder eines aus ihren Beständen verpasst. Ich lege mein Ohr an deine Brust, reibe über deine Haut und flüstere, dass ich dir dein Geschnaube verzeihe. Wie zu Beginn, macht mich deine warme Haut an meinem Ohr wieder etwas schläfrig und ich gähne. Ich weiß, sage ich, ich muss aufpassen, dass ich nicht auf dir einschlafe. Wenn mir das jetzt passiert, flüstere ich dir ins Ohr und die mich erwischen, sind alle Vorbereitungen umsonst gewesen und ich bin geliefert und die schmeißen mich im hohen Bogen raus. Deswegen habe ich mir etwas einfallen lassen. Heute Nacht, mein Schatz, heute Nacht ist es endlich soweit.

Unter dir (Teil 1)

Mit einem Schwung, den ich mir mühsam über die letzten Jahre antrainiert habe, rutsche ich unter das Bett. Ich schiebe meinen Hintern auf dem glänzenden Linoleum hin und her, bis ich das Gefühl habe, genau unter deinem Körper zu liegen. Ich schließe die Augen, achte auf das surrende Geräusch deiner Atemanlage und höre einen ungewohnten Ton heraus. Sofort versuche ich anhand deines Atems herauszufinden, was dir in den letzten 24 Stunden passiert sein könnte. Damit ich deine passende Frequenz schneller finde, halte ich meine Atmung an. Meist gelingt es mir so, schnell in deinen Rhythmus einzudringen. Nur manchmal bockst du. Aber gegen meine Yogaübungen, die ich nur für unseren gemeinsamen Rhythmus zu Hause übe, bist du völlig machtlos. Warum es mir diesmal nicht gelingt, kann ich nicht sagen, bringe es aber zum einen mit meiner Chefin in Zusammenhang. Zum anderen damit, dass wir beide heute unseren besonderen Tag haben und ich seit dem Morgen aufgeregt bin. Bei dem Gedanken an unsere besondere Nacht, schiebe ich meinen Körper unruhig auf dem gebohnerten Fußboden hin und her und stoße mich mit dem Knie an einer der Querstreben des Bettes. Ich fluche. Um mich von dem Schmerz abzulenken, klopfe ich mit den Fingern abwechselnd Morsezeichen an das blöde Metallgestell. Dabei fällt mir ein, dass du es warst, der mich damals auf die Idee mit dem Morsen gebracht hatte. Immer wenn ich dich fragte, mit wem du bei den Pfadfindern morst und ob auch Mädchen mitmachen, fühltest du dich genervt. Und das brachte mich auf die Idee, mich ebenfalls dort anzumelden, um dich bei deinem Schweinskram mit den anderen Mädels auf frischer Tat zu ertappen.
Ich werde müde und klopfe lauter und schneller an das Metallgestell. Manchmal fange ich unter dem Bett liegend, zu Schnarchen an. Vor deinem Unfall hattest du mir in unseren Nächten oft vorgeworfen, zu schnarchen. Alte Schnarchguste, hattest du zu mir gesagt. Du schnarchst wie meine Oma. Beleidigt gab ich dir jedes Mal einen Klaps auf deinen muskulösen Hintern und sagte, dass deine Oma tot ist und ich lebe. In manchen Nächten werde ich von der eintönigen Büroarbeit schlagartig müde und muss hier unten aufpassen, nicht doch einzuschlafen. Dann frage ich mich jedes Mal, wie das alles enden soll, wenn wir beiden irgendwann ein altes Ehepaar sind.
Ich gähne und baue dir meine heutigen Tageserlebnisse vorsichtig in den Rhythmus des Atems hinein, den ich vorgebe. Ich sage dir, dass ich glaube, dass meine Chefin ahnt, dass ich jede Nacht zu dir gehe. Glücklicherweise kann sie es aber nicht beweisen. Deswegen, glaube ich, gibt sie mir in der letzten Zeit zum Feierabend neue Aufgaben. Ich hoffe sehr, dass sie schwanger wird. Wenn es geht Zwillinge oder gleich Drillinge. Dann hat sie massig Scherereien und lässt mich in endlich Ruhe.

Das Schlüsselgeklapper beendet meine Unterhaltung an dich und schiebe mich näher an die Wand. Dabei stoße ich mich an der Schulter. Die Tür geht auf und eine Stimme erzählt überlaut, dass sie jetzt hier wäre und du dich jederzeit melden könntest, wenn du etwas benötigt. Sie sagt das Wort jederzeit in einem vertraulichen Ton, der mir einfach nicht gefällt. Trotzdem bin ich froh, dass die Schwester mit der überlauten Stimme und dem Schlüsselgeklapper heute Nachtdienst hat. Sie steht über das Bett gebeugt und scheint dich zu streicheln, zumindest kommt es mir hier unten an meiner linken Wange und auf der Stirn so vor. Es krabbelt. Mit einem lobenden Satz über den sauberen Nachttisch geht sie zur Tür zurück und dimmt das Licht. Lobende Worte spricht nur diese Schwester. Das gefällt mir an ihr. Auf einmal habe ich den Wunsch, sie näher kennen lernen zu wollen. Früher, als ich begann, mich unter das Bett zu dir zu legen, um nicht mehr in den Nächten allein zu Hause zu sein, hatte ich sie wie alle anderen Schwestern gründlich beobachtet und viele Notizen in meine Karteikarten eingetragen. Tagsüber war ich ihr müde hinterhergelaufen und wusste recht schnell wie sie heißt, wo sie wohnte, was sie alles einkaufte, mit wem sie rumlungerte und wohin sie in den Urlaub fuhr. Bei keiner anderen Schwester habe ich jemals soviel Mühe aufgewandt. Ich weiß auch, dass sie, wie ich, keine Geschwister hat und allein bei ihrer Mutter lebt und manchmal deren teures Auto fährt. Und ich weiß, dass sie immer noch keinen Freund hat. Eine Zeit lang hatte ich überlegt, ob ich ihr einen Freund suchen sollte. Ich hatte für sie Annoncen aufgegeben und ihr über Wochen hinweg die Briefe unter den Scheibenwischer geschoben, in der Manteltasche oder einem ihrer fremdsprachigen Reiseführer versteckt. Genützt hatte es aber nichts. Soweit ich weiß, hat sie nie einem der vielen Bewerber zurück geschrieben. Da hatte ich ihr dann die Liebesbriefe, die ich dir in der Schule geschrieben und in deiner Schultasche versteckt hatte, einfach abgeschrieben. Zum einen um sie endlich mit einem netten Mann zusammenzubringen, denn unbemannte Schwestern sind so ziemlich das Gefährlichste was es gibt. Und zum anderen, weil sie doch immer so lieb zu dir ist. Aber nachdem sie in der Kantine allen erzählt hatte, dass ihr eine unnachgiebige Lesbe Liebesbriefe schriebe, lies ich die Schreiberei bleiben. Ich vermute, meine Handschrift hatte mich damals verraten. Im Verstellen war ich leider noch nie gut. Von jeher mag ich keinen Fasching, kein Ostereiersuchen und auch kein `Ich-sehe-was, -was-du-nicht-siehst`.
Was macht sie da bloß? Sie hantiert immer noch am Bett. Das dauert heute länger als sonst. Ich sehe auf ihre Schuhe, sie hat immer noch ihre alten Birkenstockdinger an. Seit ich ihre Füße hier unten sehe, trägt sie diese alten ausgelatschten Dinger. Vielleicht sollte ich ihr zu Weihnachten ein paar neue Wichteln. Das gäbe eine schöne Verwirrung. So etwas kann ich gut. Verwirrungen stiften, ja das mag ich sehr. Welche Größe sie hat, habe ich in meinem Merkbuch eingetragen. Es ist ca. die 40. Beim Gedanken ans Wichteln, sehe ich, dass sie die Fußnägel knallrot lackiert hat. Ich schüttle den Kopf und bin mir sicher, dass ich ihr doch noch einen Mann besorgen muss. Dich bekommt sie jedenfalls nicht!
Endlich öffnet sie die Krankenzimmertür. Sie dreht sich nochmal um, hält dir die ausgestreckte Hand entgegen und macht einen ihren üblichen Luftküsse. Früher machten mich ihre Luftküsse rasend und ich wollte in die Verwaltung gehen und protestieren oder ihr zumindest in die Waden treten. Aber dann hatte ich mir gedacht, dass sie es sowieso abstreiten würde und ich es ja auch nicht beweisen könnte ohne mich dabei zu verraten. Schließlich hatte mich die Angst abgehalten, sie könnte dir etwas antun, oder zumindest nicht mehr so freundlich zu dir sein. Und das wollte ich dir auf keinen Fall zumuten. Manchmal empfand ich ihre Luftküsse auch als eine Art Liebenswürdigkeit und ich war mir nicht sicher, ob sie diese Luftknutscherei auch mit anderen Patienten machte, denn dann wäre sie ein Miststück, oder ob sie diese Liebelei nur mit dir machte, dann war es ihre Art von liebenswürdiger Aufmerksamkeit für dich. Durch meine jahrelange Beobachtung war ich eher der Meinung, dass es Aufmerksamkeit ist. Egal. Ich wusste vom allerersten Tag unserer Beziehung, dass ich höllisch auf dich aufpassen muss. In der Schule, wenn du halb angezogen vom Sport kamst, drängelten sich unsere Klassenkameradinnen um dich, trugen dir die Sporttasche und den Rest deiner Kleidung hinterher oder wollten mit dir ins Schwimmbad gehen. Am Schlimmsten war es, wenn du aus dem Musikunterricht kamst und verträumt vor dich hinschautest. Die Mädchen wollten dann von dir wissen, was du im Unterricht gespielt hattest, was für ein Instrument sich im Beutel befand und ob sie mit dir mal am Abend ein paar Stücke üben durften. Seit ich das mitbekam, wartete ich vor der Schule und begrüßte dich vor allen Mädchen der oberen Klassen, in dem ich dich umarmte. Anschließend ging ich mit dir Hand in Hand Eis essen oder nach Hause.

Mit einem Schwung kullere ich mich unter dem Bett hervor. Ich ziehe mich langsam am Gitter hoch und begrüße dich mit einem überlauten Kuss. Ich mag dieses schmatzende Geräusch, das die Stille in dem wenig beleuchteten Raum beendet und mich unmissverständlich bei euch drei Patienten ankündigt. Manchmal küsse ich dich so oft und so laut und verlängere dabei die Geräusche, bis ich keine Luft mehr bekomme oder Angst habe, du könntest davon aufwachen oder die Schwestern könnten ins Zimmer kommen.
Ich öffne den Nachttisch und krame den großen Silberkamm, den ich mir von dir von unserer ersten gemeinsam besuchten Haushaltauflösung erbettelt hatte und mit dem ich stundenlang alle Haare deines Körpers kämmen konnte, aus dem unteren Fach. Weil du es wahnsinnig geliebt hast, stelle ich mich vor dir auf und kämme mit dem Silberkamm in Zeitlupe durch meine Haare. Dabei drehe ich dir den Rücken zu, schaue über die Schulter und binde die durchgekämmten Haare zu einem Dutt zusammen. Ich strecke meinen Po zu einem Entenhintern heraus, wackle im Watschelschritt eine Runde um den Nachttisch herum und mache dabei das Geräusch einer Ente. Ich stelle mich wieder vor dir auf, schüttle den Kopf und wühle mit einer wischenden Handbewegung deine brave Frisur durcheinander. Ich mag sie nicht. Ich mag die langweiligen Frisuren, die sie dir hier kämmen, überhaupt nicht. Stundenlang habe ich den Schwestern erklärt, dass ich keinen Mittelscheitel, Seitenscheitel oder sonst so einen Opakram haben will; aber keine hat jemals auf mich gehört. Vor Wut frisiere ich dein schwarzes, lockiges Haar wild durcheinander, kämme dir sexy Haarsträhnen über die Augen bis zur Nase und kitzle dich mit deinen eigenen Haarspitzen. Irgendwie bekomme ich jetzt, wo du wieder die tolle, wilde Frisur aus unserer Campingzeit hast, den Wunsch, dir einen megafetten Knutschfleck zu verpassen. Ich beginne exakt an der Stelle unter deiner sichelförmigen Narbe meine Lippen aufzulegen und zu saugen, an der ich mich früher gern zu schaffen gemacht habe. Ich finde deine Haut riecht heute wieder nach Krankenhaus. Sicherlich hat dich am Morgen die ältere Schwester gewaschen. Sie nimmt ständig die Krankenhauskosmetik, obwohl ich es ihr hundertmal verboten habe. Ich rieche noch einmal über deine Krankenhaushaut und öffne mein kleines Fläschchen, das ich mir eigens für diese Momente zugelegt habe und am Hals in einer deiner vielen handgefertigten Lederhüllen unter dem T-Shirt trage. Vorsichtig schiebe ich die Bettdecke und dein Hemd um die Schläuche herum. Ich tropfe einzelne Tropfen aus dem Fläschchen zuerst auf deine Stirn, auf deine Augenlider, auf deine beiden Brustwarzen, in deinen Bauchnabel, auf die beiden Hoden, die Armbeugen, auf jeden Finger, auf deine Oberschenkel, die beiden Knie und zum Schluss auf jede deiner Zehen. Ich tropfe, bis das kleine Fläschchen völlig leer ist. Mit den Fingerspitzen verreibe ich die Flüssigkeit auf deinem immer noch schönen Körper. Ich schließe die Augen, lege mein Ohr auf deine linke Brustwarze und lausche dem Rhythmus deines Herzschlages. Zufrieden atme ich tief ein und rieche an deiner weißen und nun gut duftenden Haut. Da ich mich auch heute nicht benehmen kann, strecke ich die Zunge heraus, lecke an deiner Haut und habe Lust dir endlich den überfälligen Knutschfleck zu verpassen. Knutschflecke konnte ich schon immer schöne machen. Die wurden bei mir besonders bunt und blieben lange bestehen. Dafür war ich in der Schule berühmt. Ich glaube, mein erster Freund hatte sich deswegen geschämt und ist auch deswegen weggerannt. Ich hole noch einmal tief Luft und sauge an der Stelle, an der ich für gewöhnlich früher meine Knutschflecke hinknutschte. Ich weiß, dass du Küsse magst und dass du auch das Machen der Knutschflecke liebt. Und ich weiß, dass du früher dabei eine Erektion hattest und vorschnell kamst. Manchmal schob ich meine Hand vor dein Glied und wartete bis es bei dir losging und alles auf meiner Hand landete. Ich wusste vom ersten Tag an, dass wir uns lieben und für immer zusammengehören. Und vom allerersten Tag an, wusste ich auch, dass ich es niemals zulassen würde, dass uns irgendwer ungestraft auseinanderbringt.
Ende Teil I

Dann bin ich eben ein Nazi

Was ich dich zum Ende unseres Telefonates noch fragen möchte: wen wirst du wählen?

Ach, wieder dein altes Problem. Du überlegt Wochen im Voraus, fragst und bist dir in der Kabine immer noch nicht sicher. Da haben wir Anderen längst per Briefwahl unser Kreuz gemacht.

Naja, ich überlege, weil ich meine Stimme bestmöglich abgeben will.

Was heißt bestmöglich? Wir machen nur nicht so ein furchtbares Gejammer. Ändern können wir doch sowieso nicht viel. Finde dich damit ab.

Finde ich nicht. Ich genieße es förmlich in die Wahlkabine zu stolzieren. Und wenn ich rauskomme, stelle ich mich für ein paar Sekunden vor der Urne auf und werfe meinen Umschlag wie so ein mediengeiler Politiker in die Urne. Unter Honeckers Portrait konnte ich das nicht. Da bin ich gar nicht erst hingegangen.

Ja, und? Die da oben machen doch sowieso alle was sie wollen. Glaub mir, es gibt wichtigere Dinge im Leben als einen verkackten Wahlschein auszufüllen. Heute kann ich wählen gehen oder auch nicht, aber praktisch ist meine Stimme auch ohne Honeckers Portrait für die Katz.

Zumindest kann ich jetzt frei zwischen den aufgestellten Parteien wählen.

Du Träumer. Wer´s glaubt wird selig. Das macht doch keinen Unterschied. Die Sache mit den Ausländern, ich meine mit den Migranten, die getraut sich nur keiner richtig anzusprechen. Wegen dem Dreckshitler scheißen sich doch gleich alle ein. Sobald ein Politiker auch nur ein Wörtchen sagt, wird er von der Presse als Nazi beschimpft. Na und, dann bin ich eben in der Wahlkabine ein Nazi. Ich weiß, dass ich keiner bin. Mit den Morden von damals und so hab ich nichts am Hut. Das ist nun mal geschehen. Aus und vorbei und kommt nicht wieder. Basta.

Ihr macht euch viel zu viel Sorgen. Ein Großteil der Asylanträge werden nach wie vor in Deutschland abgelehnt. Ich verstehe die ganze Aufregung der Leute gar nicht. Der Libanon hat eine Million Flüchtlinge und ist damit wirklich überfordert. Aber wir doch nicht?

Wenn wir nicht aufpassen, wird das bei uns auch ein Problem. Die Parteien hängen doch alle zusammen. Im Endeffekt wollen die doch immer mehr von der Bagage, ich meine von den Migranten, bei uns reinlassen. In meiner Straße gibt´s mittlerweile acht Dönerbuden. Das sieht aus, alles voller Dreck, die Eimer quellen über, und den Gestank kann ich auch nicht mehr ertragen. Meine Lieblingskneipen haben dicht gemacht und ich höre nur noch deren komische Musik. Und wenn ich mal ´was Essen will, muss ich zum Dönerheini gehen. Sonst gibt’s doch nichts mehr in meiner Nähe.

Naja, ich fand es bis jetzt eine Bereicherung. Außerdem fand ich die Grünen bei Migrationsfragen gut. Früher zumindest.

Ich bitte dich! Findest du es gut, dass die Grünen den komplett zugeschleierten Weibern und ihren Machotypen, also deinen lieben, lieben Migranten, alles in den Hals schmeißen wollen? Doppelte Staatsbürgerschaft und so´n Quatsch? Ich habe auch keine doppelte Staatsbürgerschaft. Mir reicht eine. Und auf die bin ich stolz! Egal was die von mir denken! Deine vermummten Migranten können sich doch aussuchen wann, wo und wie sie unsere von der ganzen Welt geachtete Staatbürgerschaft haben wollen. Und wenn sie ihnen nicht mehr passt, wischen die sich den Arsch damit ab. Sind wir den ein Ramschladen geworden?

Für einige bedeutet die doppelte Staatsbürgerschaft aber auch, dass sie in ihrem Heimatland zur Armee gehen müssen. Aber ich gebe dir Recht, dass sie unsere Staatbürgerschaft achten müssen und dass das…

Im Moment findest du die Politik auch nicht mehr gut. Gibt´s doch endlich zu! Ich habe nichts gegen Ausländer, wirklich nicht, aber wenn sie ihre lärmende Bagage aufs Amt hinterherziehen, das geht gar nicht. Wenn ich aufs Amt muss, stellen die Bearbeiter immer neue Forderungen, um an mir Geld zu sparen. Stell dir vor, wenn ich danach ´nen Kaffee trinken gehe, höre ich kaum noch ein deutsches Wort. In der Straßenbahn das Geschrei, das Rumgetrampel der unerzogenen Kinder, einfach kein Benehmen. Und wenn ich was sage, werden die frech. Neuerdings beschimpfen die den Straßenbahnkontrolleur als Nazi. Von wem sie das wohl gelernt haben. Kein Deutsch reden, aber Nazi rufen. Das geht doch nicht. Soweit kommt´s noch, dass ich wegen der Bagage ausländisch lernen muss. Die sollen Deutsch lernen wie wir Anderen auch. Das hat überhaupt nichts mit dem Hitler zu tun. Wirklich nichts. Entschuldigung, aber es ist doch so. Oder?

Mir fallen Sprachen auch schwer. Und die deutsche Sprache soll ja besonders schwer sein…

Ach, denen wird es zu leicht gemacht. Unter dem Deckmantel, wir bräuchten mehr Arbeiter, werden die massenweise ins Land gelockt, vermehren sich zigmal schneller als wir, und wir Deutschen kommen kaum noch nach. Den wird das Kinderkriegen einfach zu leicht gemacht. Die setzen gedankenlos einen Balg nach dem anderen in die Welt und wir müssen sie ernähren. Nee, da muss ich eben ein bisschen dagegen wählen. Das ist mein gutes, demokratisches Recht!

Gegen die Aufnahme politisch Verfolgter bist du doch nicht wirklich. Oder? Das ist ja eine der Lehren aus der NS-Zeit. Naja, und dass die Verfolgten ihre Familien gern bei sich haben wollen, kann ich verstehen…

Keine Frage, ich bin jederzeit dafür, politisch Verfolgten aus den Muschkotenländern Unterschlupf bei uns zu gewähren. Das ist für mich wirklich keine Frage. Aber die sind nun mal Anhänger eines fremdländischen Volkes und wir sind nun mal die Abendländische Kultur. Und das passt überhaupt nicht zusammen. Haben sich die Politiker überlegt, dass wir bei dem Kinderwahn, den die Ausländer hier fabrizieren, irgendwann mal Ausländer im eigenen Land werden? Und das hat doch nun wirklich nichts mit dem Hitler zu tun. Mit dem hab ich nichts zu schaffen. Der ist mir völlig egal. Aber eine Völkerwanderung ´gen Deutschland bringt hier nur Unruhe rein, belastet unsere Sozialsysteme, überfüllt die Schulen und dann, dann haben wir nämlich wieder den Nährboden für den Dreckshitler und sind wieder die Bösen. Nee, auf nen neuen Hitler hab ich keinen Bock.

Statistisch gesehen bekommen die Migranten gar nicht mehr so viele Kinder, zumindest die Migranten der zweiten Generation, die…

Du redest genau so einen Unsinn wie die Anderen. Die wollen alle und jeden reinlassen. Eigentlich willst du dir doch nur nicht eingestehen, dass du mit der Politik auch nicht mehr einverstanden bist. Wir gönnen denen große Moscheen an unseren sauberen Hauptstraßen und wir dürfen in deren Ländern nicht einmal ein Kreuz am Hals tragen, ohne verhaftet zu werden. Findest du das richtig? Ich nicht. Nee, dann bin ich eben ein bissel anders. Das ist mein gutes Recht.

Ich bin mittlerweile auch der Meinung, dass wir mehr fordern und fördern müssen. Und dass mit den Kreuzen, find ich auch nicht gut. Da muss die Politik irgendwas ändern.

Ach, hör auf! Wenn du mit den Parteien zufrieden wärest, hättest du doch längst gewählt. Ich finde, dass du unehrlich bist. Wenn es jetzt schon soweit kommt, dass die Türken lieber in Deutschland im Knast rumsitzen, als in ihrem Land, muss man sich ernsthaft die Frage stellen, ob wir nicht langsam zu einem Drecksland werden. Denen wird doch ein Flachbildschirm nach dem anderen in die Zelle gestellt und zwischendurch huschen die mal kurz zur Antigewalttherapie. Wir bezahlen denen die sauberen Knastplätze, geben denen ordentlich zu Essen und wenn sie sich den Magen mit ihren Drogen verdorben haben, schicken wir sie auch noch zum Arzt. So gut sind bei denen nicht einmal ihre besten Hotels. Bestimmt hältst du das jetzt wieder für rassistisch. Und mit Hitler hat das auch überhaupt nichts zu tun. Glaub mir, der hätte ganz andere Seiten aufgezogen.

Über die Ausweisung Krimineller habe ich mir auch schon des Öfteren Gedanken gemacht. Das gebe ich zu. Ich finde aber Integration wäre das Schlüsselwort.

Hör auf! Deutsche, die sich nicht benehmen können, würde ich ebenfalls im hohen Bogen rausschmeißen. Aber die können wir doch nicht rausschmeißen, denn es sind ja unsere Deutschen. Aber Ausländer, die sich nicht benehmen, dürfen von meinen Steuern keinen Euro bekommen. Du hast Recht, die müssen sich integrieren lernen. Wir haben uns als Kinder auch Manieren angewöhnen müssen. Und wenn nicht, gab´s eine hinten drauf. Und das hat schließlich noch Niemandem auf der Welt geschadet. Zu DDR-Zeiten wusste jeder wo er hingehört. Und die Ausländer kannten auch ihren Platz. Warum soll das heute nicht mehr funktionieren? Ich frage dich, warum nicht?

Ich kannte zu DDR-Zeiten keinen einzigen Ausländer persönlich, zumindest hatte ich niemals einen angefasst. Komisch. Ich hätte gern mal so einen Schwarzen berührt, einfach nur so. Leider ergab sich nie die Gelegenheit dazu. Weder im Kindergarten, noch auf der Arbeit. Nirgends. Das fand ich später am Westen so toll, dass ich überall zu denen fahren durfte. Und als Deutscher war ich irgendwie beliebt, egal ob ich Ost oder West gesagt habe. Aber ich weiß immer noch nicht, wen ich nun wähle.

Das liegt daran weil wir denen so viel helfen. Das scheint ein urdeutsches Problem zu sein. Und da ist es das Mindeste, dass die etwas Freundlicher zu uns sind. Außerdem bleiben wir doch nur zwei Wochen.

Ich denke, für die Ausländer ist es auch nicht unbedingt einfach, sich in einem fremden Land zurechtfinden zu müssen und von heute auf Morgen ne neue Kultur zu erlernen. Naja, ich weiß immer noch nicht, wen ich dieses Mal wählen soll.

Das kann ich dir sagen. Suche dir die Partei, die die beste Integration verspricht. Wenn es nach mir geht, dürfte nur noch eine Ausländerfamilie, ich meine natürlich, eine deiner Migrantenfamilie pro Mietshaus leben. Dann ergibt sich der Rest von selbst. Der deutsche Einfluss wäre dann so dominant, dass sie in unserer Sprache mit uns reden müssten, ob sie nun wollen oder nicht. Das hat überhaupt nichts mit Hitler zu tun. Aber da macht keine von den großen Parteien mit. Ich sage ja, die Politik ist absoluter Mist. Und dann wundern die sich, wenn ich Mist wähle. Wenn´s nicht anders geht, bin ich eben ein Nazi.

Aber welche Partei will eine Zwangsassimilierung? Es geht doch anders viel besser. Es werden kostenfreie Kindergartenplätze speziell für Migranten mit Sprachproblemen angeboten. Zwangsassimilierung?

Aber, du musst doch zugeben, dass die sich dann schneller mit unserer wertvollen Kultur vollsaugen und das Rumgeschrei der Bälger und der Burkakram der Weiber endlich von unseren Straßen verschwinden würde. Vielleicht würden die dann auch mal Goethe und so lesen. Schaden kann denen das wirklich nicht.

Denkst du, so können wir die Probleme mit den Ausländern, ich rede ja schon wie du, ich meine natürlich mit unseren Migranten lösen? Witzig fände ich es schon, Goethe auf Arabisch zu hören. Klingt bestimmt schräg. Allein schon wegen der Intonierung.

Du merkst doch selbst, dass die Parteien keine wirklich klaren Ideen haben. Die sehen doch überhaupt nicht mehr durch. Uns entgleitet unsere Kultur Stück für Stück. Und dann haben wir wieder Anarchie im Land. Die sind doch nur neidisch, dass sie meine Stimme nicht bekommen. Das könnte denen so passen.

Das wollte ich dich schon immer fragen: warum wählst du, wenn du, wie du sagst, sowieso nichts ändern kannst?

Weil es mir ein schönes Gefühl schafft, meine Stimme nicht verfallen zu lassen. Und weil ich den Parteien endlich klarmachen will, das sie Mist machen. Ich denke, hier müsste nur für ein einziges Mal die richtige Partei ans Ruder und dann wäre der Spuk schnell wieder vorbei.

Ich weiß nicht. Ich bin mittlerweile auch der Meinung, dass die Parteien nicht immer ehrlich zu uns sind. Trotzdem glaube ich, ich werde wohl ein letztes Mal Grün wählen.

Du bist zu dir selbst unehrlich. Mit den so genannten Parteien bist du doch schon lange im Clinch und willst es dir nur nicht eingestehen. Es wird Zeit, dass auch du das erkennst. Sonst haben wir Chaos. Und dann geht es deinen Ausländern wirklich schlecht.

Ich kann doch nicht, nur weil ich mit den Parteien derzeit total unzufrieden bin, irgendeinen Quatsch wählen? Also, das kommt für mich nicht in Frage.

Du willst es dir nur nicht eingestehen. Du musst dir nur ein einziges Mal einen Ruck geben. Nur ein einziges Mal.

Wie wirst du wählen?

Ich habe schon gewählt. Die werden sich wundern. Na und, ich war halt in der Wahlkabine anders. Ich bin mit mir im Reinen. Bist du es auch?

17. Juni

 Tag: 18. Juni

Zeit: Neun Uhr

Ort1: halb geöffneter Türeingang eines Reihenhauses.

Ort 2: geschlossenes Wohnzimmer, darin: stark abgenutzte Sitzgarnitur der 30siger Jahre; schwarzer Tisch mit gehämmerter Messingplatte und passendem Raucherset und Siegel; schwarze Uhr mit gehämmertem Ziffernblatt; brauner Bücherschrank mit Kunstzeitschriften in verschiedenen Sprachen; hellblauer, rechteckiger Hifi-Glastisch mit Fernseher; achtarmiger Holzleuchter mit Messingbeschlag an dem eine Fliegenrolle hängt; eine passende Stehlampe aber mit modernem Lampenschirmbezug; verblasste halblange Gardinen und grau-gelbe Stores dazu grüne Auslegware; diverse Bilder, keine Fotos; auf Putz gelegte Stromleitungen; vergilbte Tapete mit Blütendekor, teilweise löchrig; Berliner Ofen mit weißer Sitzbank davor.

Gesprächs-Person 1: Frau Charlotte Martha Banner, eine 72jährige Frau, leicht ergraute und zu einem Dutt gebundene Haare, lebt seit der Verhaftung ihres Mannes (August 1945) und der späteren Flucht ihrer Tochter (27.6.1961) mit deren einzigen Sohn in dem stark reparaturbedürftigen Haus. Kleidung: cremefarbene Spitzenbluse/bunte Schürze/schwarze geputzte Schuhe/ leicht beschädigte Strumpfhose/kein sichtbarer Schmuck/ungeschminkt. Stimme: tief, wenn sie sich ärgert, fast männlich.

Sie wird anfangs die Arme in die Hüften stemmen. Später wird sie auf der Dielentreppe sitzen und die Hände vor die Augen pressen.

Gesprächs-Person 2: Herr Torsten Banner, ein 26 jähriger Mann, schlank, groß, lange, gelockte rote Haare, ungekämmter Mittelscheitel, Sommersprossen, Ausbildung im VEB Bauhandwerk, Abteilung Reko, tätig als Tischler, erfolglose Studienbewerbungen für Architektur in Berlin-Weißensee und Rostock, Malerei in Dresden, Formgestaltung in Halle. Kleidung: Feinrippunterhose/ kaputte Jesuslatschen/ ansonsten unbekleidet/ silberner Ohrring/ Halslederband mit silbernem Kreuz/ Holzring an linker Hand/ Stimme: kindlich, manchmal, wenn er sich aufregt, fast stimmbruchhaft.

Er wird anfangs die Arme über den Kopf kreuzen und breitbeinig auf seiner Lieblingsstelle auf dem Sofa sitzen. Später wird er unentwegt an Nase, Hals, Brust und die Knie kratzen.

Gesprächs-Person 3: Herr Rolf Lang (Name laut Ausweis), ein ca. 45jähriger Mann, klein, schlank, dennoch kräftig, nordischer Hauttyp, blond, akkurat gekämmte Haare, Seitenscheitel, Beruf unbekannt, Kleidung: helles gestreiftes Hemd/ offene cremefarbene Lederjacke/ beigefarbene Kordhose/ dunkelbraune glatte Lederschuhe/ dunkelbraune Handgelenktasche/ schmaler Ehering. Stimme: klar, manchmal, wenn er sich aufregt, dröhnend bis einschneidend.

Er wird anfangs die Arme über der Brust kreuzen. Später wird er aufstehen, im Zimmer umherlaufen, wahllos Bücher und Gegenstände in die Hand nehmen und wieder hinstellen.

Gesprächs-Person 4: Herr Ronny Kurz (Name laut Ausweis), ein ca. 22jähriger Mann, groß, schlaksig, südländische Hauttyp, schwarze, glatte, lange Haare, Beruf unbekannt, Kleidung: dunkelblaues T-Shirt/ halb geschlossene Jeansjacke/ sehr enge Schneejeans/weiße Mokassins/ Aktenmappe aus Kunstleder/ silberne Halskette mit Kreuz. Stimme: unbekannt, da er während des gesamten Besuches kein einziges Wort sprechen wird.

Er wird die gesamte Zeit wortlos auf das Papier starren und in krakeliger Handschrift das Protokoll schreiben.

 

Meine Herren, Sie wünschen…

Frau Banner, wir möchten uns mit ihren Enkel unterhalten!

Sie sind,… meine Herren?

Frau Banner, wir sind Freunde Ihres Enkels.

Freunde? Aha, soso!

Frau Banner, bitte zweifeln Sie nicht an unserer Freundschaft?

Wundert Sie das, meine Herren?

Frau Banner, warum misstrauen Sie uns?

Meine Herren, die Freunde meines Enkels haben nie geputzte Schuhe. Nur wenn ich sie putze, sehen so blitzblank aus, wie bei Ihnen. Und sind es geputzte Schuhe, dann sind es meist nicht seine Freunde. So einfach ist das! Reicht Ihnen das als Antwort, meine Herren?

Frau Banner, wir kommen sozusagen als gute Freunde!

Außerdem, meine Herren, sind seine Freunde nicht so akkurat gekleidet. Die haben weder gebügelten Hemden, noch gekämmte Haare. Und diese albernen Handgelenktaschen… die kenne ich auch von keinem seiner Freunde. Nur kaputte Rucksäcke, meine Herren! Nur kaputte Rucksäcke…

Frau Banner, können wir trotzdem mit ihren Enkel reden?

Meine Herren, das ist im Moment nicht möglich!

Warum?

Weil mein Enkel im Moment ein Standbad nimmt!

Ein Standbad, Frau Banner?

Mein Gott… er wäscht sich, meine Herren!

Ah, Standbad?

Meine Herren, falls es Ihnen entgangen sein sollte, wir haben heute Sonntag! Und da gehen ich und mein Enkel zum Gottesdienst. Ich dachte, das wäre Ihnen hinlänglich bekannt? Wenn die Herren sich einen Moment gedulden wollen, ich kann meinen Enkel fragen, ob er fertig angekleidet ist. Torsten, Torsten, kommst du mal? Hier stehen zwei Herren mit Armgelenktasche, die sagen, Sie seien Freunde von dir. Hast du neuerdings neue Freunde?

Schick die Schnurchelheinis weg! Meine Freunde wissen, dass ich sonntags zuerst in die Kirche und danach in die Jugend gehe! Nur rote Socken und Ladendiebe belästigen brave Leute zum Sonntagvormittag! – Warte, Oma, ich schau selber nach den Schnurchelnasen! – Wer seid ihr? Ihr könnt´ gleich wieder abdampfen!

Herr Banner, wir wären an einem freundschaftlichen Gespräch interessiert.

Um diese Zeit? Nur Schnurchelnasen und Ladendie…

… und Ladendiebe, Herr Banner, wir wissen, das haben Sie eben gesagt. Hier unsere Ausweise! Wir wollen Ihnen ein paar Fragen stellen. Je eher Sie mit uns kooperieren, umso schneller können Sie in ihre Kirche gehen. Falls Sie nicht mit uns kooperieren, müssten wir Sie bitten mitzukommen!

Na, das ist ja ein Ding! Kommen Sie… Kommen Sie rein! – Muss ich Sie überhaupt reinlassen?

Her Banner, Sie sollten! Wir danken Ihnen für Ihre Mithilfe!

Wollen Sie sich setzen? Was habe ich denn nun wieder Schlimmes gemacht? Habe ich etwa während des Schlafes eine Bank mit wertvollem DDR-Geld ausgeraubt? Ich kann Ihnen versichern, dass ich garantiert Besseres zu tun hatte…

Wir denken, dass Sie sehr genau wissen warum wir hier sind! Wir interessieren uns für Aussagen, die Sie uns zu dem Vorfall geben werden!

Hallo? Ich versteh´ nur Bahnhof! Welche Antworten? Welcher Vorfall?

Wir glauben einen konterrevolutionären Spruch von Ihnen gelesen zu haben!

Was? Von mir? Ne Konterrevolution! Na Super. Da wüsst´ ich aber ´was von! Wann soll denn die stattfinden? Ach, da wär´ ich doch gern dabei!

Herr Banner, bleiben Sie sachlich! Dafür ist ihre Situation zu ernst! Wir wissen sehr genau, wer im Einzelnen alles hinter der staatsfeindlichen Aktion steckt. Wir denken aber, dass Sie uns das sicherlich jetzt freiwillig erzählen werden. Nur so können Sie ihre missliche Lage verbessern! Herr Banner, wir geben Ihnen jetzt die Chance das wiedergutzumachen! Nutzen Sie diese! Wir bieten sie Ihnen nur ein einziges Mal!

Was wollen Sie mir wieder anhängen? Ich weiß von keinem Text! Ihre Konterevolution, die findet doch nur in Ihren Köpfen statt. Alles nur Erfindung, alles nur Schikane!

Wir sind zu einer anderen Meinung gekommen! Wir sind uns sicher, dass Sie mit der kriminellen Aktion, etwas zu tun haben. Geben Sie den Widerstand auf. Nur wir helfen Ihnen mit heiler Haut davonzukommen. Sicherlich sind Sie da einfach nur reingerutscht. Und in so einem besonderen Fall würden wir Ihnen gern aushelfen. Wir sind wie gesagt keine Unmenschen.

Mit welcher Sache? Womit? Ich bin… ich bin nirgendwo… ich weiß gar nicht… nichts! Lassen Sie mich in Ruhe!

Sie verstehen uns sehr gut! Sagen Sie uns etwas über den Text und die Anstifter… Leugnen bringt doch nichts, Herr Banner. Sie wissen sehr wohl, was wir meinen! Außerdem wollen Sie doch heute noch in Ihre Kirche. Da sollten Sie keine Zeit verlieren. Wir hören Ihnen aufmerksam zu! Beginnen Sie, Herr Banner! Beginnen Sie!

Verdammt nochmal, welcher Text? Ich, ich…ich besitze nicht einmal eine Schreibmaschine! Da müssen Sie sich irren. Ich habe überhaupt nichts gemacht, das müssen Sie mir glauben. Das können Sie alles nachprüfen, alles. Ich habe nichts gemacht!

Glauben ist wohl eher Ihre Sache, Herr Banner! Uns interessiert vielmehr: Besitzen Sie Wandfarben? Haben Sie Pinsel?

Was soll die Frage? – Ja !

Sie geben also zu, schon einmal Wandfarben und Pinsel gekauft zu haben?

Ja, natürlich… andere auch. –Sie wohl nicht?

Wir interessieren uns für Ihre Farben und Ihre Pinsel. Wo haben Sie die Farben gekauft? Wann? Allein oder mit anderen? Wieviel?

Das weiß ich doch nicht mehr. Manchmal brauche ich Farben für´s Haus.

Sehen sie, Somit sind Sie zu Recht unser Hauptverdächtiger. Und die Farben und Pinsel mit denen Sie die Schmiererei gemacht haben, die werden wir auch noch finden. Oder wollen Sie behaupten, dass Sie keine Farben und Pinsel hier im Haus deponiert haben?

Ja, aber… das, das ist doch gar nicht mein Haus!

Aber Sie wohnen hier! Oder irren wir uns? Sie sind doch Herr Torsten Banner! Weisen Sie sich aus!

Was? Sie wollen zum Sonntagmorgen… jetzt meinen Ausweis hier im Wohnzimmer sehen? Schikane, Ich habe aber doch gar nichts gemacht! Überhaupt nichts! Wirklich nichts! Lassen Sie mich endlich in Ruhe. Bitte! Bitte!

Haben wir uns undeutlich ausgedrückt oder wollen Sie sich einer staatlichen Ausweiskontrolle widersetzen? Dann müssen wir Sie sofort mitnehmen.

Nein, natürlich nicht, aber ich bin doch in der Unterhose…

Aber was, Herr Torsten Banner? Was? Wir möchten sofort Ihren Ausweis sehen, Herr Banner! Jetzt holen Sie ihn! Sofort! Den haben Sie stets bei sich zu tragen!

Den muss ich holen. – Bitte, bitte, hier ist der Lappen!

Geht doch Herr Banner! Geht doch! Warum dieser zwecklose Widerstand, der führt doch zu nichts! Wir behalten ihren Ausweis. Reine Vorsichtsmaßnahme! Wir sind bemüht, Ihnen den Ausweis nach unserem Gespräch zurückzugeben. Das liegt ganz allein bei Ihnen! Sie helfen uns bei unseren Fragen und wir geben Ihnen danach den Ausweis zurück. Sie wissen, ohne den Ausweis dürfen Sie nicht weggehen. Also, lassen Sie uns jetzt rasch unsere Fragen abarbeiten. Und denken Sie daran, Sie wollen heute noch in Ihre Kirche gehen, wir nicht! Also, halten wir fest: wir wissen, Sie haben jede Menge Farben und Pinsel in dem Haus, in dem Sie amtlich gemeldet sind. Wir halten weiterhin fest: die Schmiererei wurde in Ihrer Straße unweit Ihres Hauses an einer Mauer gemalt. Und wir halten fest: die Schrift an der Wand ähnelt doch sehr Ihrer Schrift. Wir haben Fotos. Die Beweise zusammenzuführen ist für uns eine Kleinigkeit. Was haben Sie uns dazu zu sagen, Herr Torsten Banner?

Spinn´ ich! Was ist denn das für´n Scheiß´?

Antworten Sie einfach nur auf unsere Fragen. So schwer sind die doch gar nicht! Wir meinen die Schmierereien am Spezialhandel der sowjetischen Streitkräfte. Das ist kein Zufall, Herr Banner! Herr Banner, Sie haben sich das sehr genau überlegt!

Sie meinen den Spruch an der vergammelten, halb eingefallenen Wand?

Sehen Sie, Herr Banner, wir wussten, dass Sie ganz genau wissen, warum wir hier sind. Sie leugnen also nicht mehr. Prima, sehr gut, dass Sie sich für uns entschieden haben! Vertrauen sie uns weiterhin! Nur wir wissen wie Sie aus dem Schlamassel rauskommen!

Welchem Schlamassel? Den Spruch, den blöden Spruch, den, den hat doch jeder gesehen! Der ist doch harmlos, völlig harmlos, den, den, den, den kennt doch jeder!

Na, dann fragen wir mal anders: Was haben Sie denn gelesen? Was hat dort gestanden?

Das, was alle Anderen an dem Morgen auch gelesen haben!

Und was haben die anderen Leute gelesen?

„Nieder mit dem antiimperialistischen Schutzwall! – Brücken bauen statt Mauern“

Aha? Das haben Sie gelesen, Herr Banner? Und warum haben sie das geschrieben? Wollten Sie uns damit provozieren? Wer hat Ihnen geholfen? Wurden Sie vom Westen gesteuert? Was haben die Ihnen gezahlt? Wir wissen, dass ihre Mutter im Westen lebt.

Ich habe überhaupt nichts geschrieben… überhaupt nichts! Wirklich, ich… ich war das nicht! Das können Sie mir nicht so einfach an die Backe nageln!

Herr Banner, so einfach nageln wir Niemanden etwas an die Backe. Sie selbst haben uns doch eben gestanden, dass Sie das gelesen haben!

Ja, wie alle anderen auch!

Was die Anderen gelesen haben, können Sie doch gar nicht wissen. Wann haben Sie denn das gelesen?

Als ich auf Arbeit gehen wollte.

Uns interessiert: an welchen Tag und zu welcher Uhrzeit? So genau wie möglich, Herr Banner!

Am 17. Juni , so gegen halb fünf?

Halb fünf? Oder etwas früher? Oder doch etwas später?

Nein, nein halb fünf!

Halb fünf, das wollen wir mal so aufschreiben. Was uns weiterhin interessiert Torsten: Hast du jemanden gesehen?

Ich habe niemanden gesehen!

Ich denke, das haben alle anderen gelesen? Du willst jemanden decken? Wer waren die Anderen?

Weiß nicht, eine Frau und…

Wie sah die Frau aus? Wir interessieren uns sehr dafür. Beschreib´ sie so genau wie möglich!

Weiß nicht!

Erinnere dich! Du willst doch heute noch in deine Kirche!

… jung… blond… Locken… gelbe Strickjacke… weißer Rock, kurz, sehr kurz… mehr, mehr weiß ich nicht!

Gut, dein Geständnis wollen wir mal so notieren! Und der Mann, wie sah der aus?

Älterer Herr… schlank, kariertes Hemd… Aktentasche, ja eine Aktentasche!

Was für eine Aktentasche, Wie alt war der Mann? Wo wohnt er? Passen Farben zum Beschmieren der Wände in die Tasche?

Lederaktentasche… braun… eine dunkle…. ja, eine dunkle Hose. Ich habe da nicht darauf geachtet. Ich glaube, er wohnt in der Wilhelm–Pieck-Alle, in der eins. Manchmal sehe ich ihn auch mit seiner Frau im Konsum.

Gut, das Geständnis wollen wir mal so notieren. Was uns besonders interessiert: Waren noch andere Bürger zu dieser Zeit auf der Straße? Haben weitere Bürger diese Schmierereien gelesen? Das waren doch Schmierereien? Nicht wahr, Herr Banner? Torsten? Torsten?

Weiß ich nicht. Ja, ja natürlich waren das… ich weiß nicht, ich glaube, ich denke, das ist, das war doch nur ein harmloser Spruch von, von Wolf, Wolf Bier…mann…

Herr Banner, Sie und wir wollen diesen Asozialen Elementen, die nur die Zerstörung unserer sozialistischen Heimat wollen, keine handbreit Land geben. Der Meinung sind Sie doch auch! Oder?

Ich, ich… ich, wissen Sie, ich… ich…

Oder? Herr Banner!

Ja!

Na also! Dein spätes aber vernünftiges Geständnis wollen wir so notieren. Was uns aber noch dringend interessiert ist: Hat außer dir, der Frau und dem Mann noch jemand die antisozialistische Schmiererei am Spezialhandel der sowjetischen Streitkräfte gelesen? Torsten, du weißt, du bist zur Mithilfe bei der Aufklärung eines staatsfeindlichen Verbrechens verpflichtet. Sonst machst du dich strafbar. Und dann können wir dir nicht mehr helfen. Da endet unsere Freundschaft!

Ich… ich weiß. Ich habe niemanden außer die beiden gesehen. Wirklich. Ich habe Sie Ihnen doch so genau wie möglich beschrieben. Und wo der Mann wohnt, das habe ich Ihnen doch auch gesagt.

Gut. Sie haben also keine weiteren Bürger gesehen, Herr Banner? Sehr gut. Hier haben Sie Ihren Ausweis wieder. Und wenn Sie sich beeilen, schaffen Sie es noch in Ihre Kirche.

Danke, ich bringe, ich… ich bringe Sie, wenn Sie wollen… bringe ich Sie noch zur Tür!

Lieb von dir, Torsten. – Ach, zum Schluss unseres freundschaftlichen Besuches haben wir noch eine kleine Frage. Sagen Sie mal, wenn Sie die Schmiererei gelesen haben – und das haben Sie ja eben gestanden – warum haben Sie diese staatsfeindliche Hetze nicht umgehend angezeigt? Herr Banner, das ist Mithilfe zu konterrevolutionären Aktionen. Sie wissen, darauf steht mehrjährige Haftstrafe!

Ich hatte das nicht so als… verstanden… eher… verstanden… so wie Völker… verständigung unter Bruder… ländern. Ich weiß doch auch nicht… na so wie… wir das in der Schule gelernt haben, dass wir alle Gesellschaftsschranken… ab… also niederreißen. Tut mir leid. Das tut mir alles wirklich…

Da wir aber als deine neuen Freunde gekommen sind, bieten wir dir, lieber Torsten, eine Chance. Deswegen werden wir in den nächsten Tagen nochmal auf dich zukommen. Und was den kleinen Freundschaftsbesuch heute anbelangt: Das hat niemanden zu interessieren!

Frau Banner, bleiben Sie auf der Treppe sitzen, wir wollen Sie auf den Weg in ihre Kirche nicht länger aufhalten. Wir finden allein heraus. Vielen Dank.

Waltraud

+ Barbarusia möchte jetzt mit Ihnen reden +

Wer ist in der Leitung?

+ Auf alle Fragen eine klare Antwort +

Ich bin´s wieder, die Waltraud!

Hallo Waltraud, wie kann ich mit meinen universellen Tiefenkräften behilflich sein?

Ich wollte nach meinem Ältesten fragen… er ist seit über acht Monaten spurlos verschwunden und die Polizei kann ihn immer noch nicht finden. Und da dachte ich… da wollte ich… da möchte ich Sie nochmal bitten, Frau Barbarusia, ob Sie in der Zwischenzeit erfahren haben, ob er lebt, was er macht, ob es ihm gutgeht? Ich meine… ich weiß nicht weiter?

Ja, und was ist jetzt deine Frage, Waltraud? Wohin soll ich meinen engelsenergetischen Strahl schicken?

+ Sie können der Nächste sein. Rufen Sie sofort an +

Frau Barbarusia, richten Sie ihren Strahl zu meinem guten Jungen, ich… ich. Wissen Sie nicht mehr? Frau Barbarusia? Ich bin´s, die Waltraud! Ich habe Sie doch in den letzten Monaten immer wieder angerufen. Ich habe gespart, ich habe alle Sachen, die Sie mir empfohlen haben, gekauft. Alle! Ich habe wieder etwas Geld. Ich mache alles so, wie Sie es gesagt haben.

Ach, du bist´s, meine liebe Waltraud. Ich habe deinen Anruf vorhergesehen, ich wusste, dass du mich heute wieder anrufen würdest. Und deswegen habe ich einen Teil meiner kostbaren Energien für dich zurückgehalten, um sie dir jetzt zu schenken…

+ Barbarusia hilft Ihnen aus ihrer Lebenskrise. Rufen Sie an +

Meine liebe Waltraud, ich habe in den letzten Tagen mehrfach versucht mit deinem Jungen Kontakt aufzunehmen, aber die uritanischen Wolken verschleiern durch einen monofensorischen Einfluss meine Sicht… ich habe wirklich alles versucht, aber die uritanischen Wolken von links, die trisurdischen Gegenschwingungen von rechts, von oben die intergalaktische Fehlwolkenbildung und dazu noch der sehr, sehr kräftige monofensorische Einfluss… naja, Waltraud, da weißt du ja selber…Waltraud, gell, ich schaue jetzt trotzdem nochmal in die hochenergetische Kugel…

+ Rufen Sie an und Barbarusia gewährt Ihnen ein Telefonat ins Jenseits +

Lebt er noch, Frau Barbarusia? Wo ist er? Hat er genug zu Essen? Mir ist ganz schlecht… ich habe wieder die Nacht nicht geschlafen!

Also, Waltraud, soweit ich´s sehe, im Jenseits, im Jenseits ist er jedenfalls n-o-c-h nicht gelandet.

Das können Sie erkennen, Frau Barbarusia? Können Sie mir das versprechen? Stimmt das wirklich?

Ja, Waltraud, seit meinem fünften Lebensjahr sehe ich Verstorbene. Ich bin mit ihnen in reger Verbindung, unterhalte mich mit ihnen, so wie ich mich mit Dir unterhalte. Du hörst mich doch auch Waltraud, oder e-t-w-a nicht…?

Ja, ja, ich höre Sie sehr gut, Frau Barbarusia, sehr gut…

Das ist für mich mit meinen angeborenen transnistischen Engelsenergieströmen ü-berhaupt kein Problem, da mach´ dir mal keine Sorgen, gell´, den Transnismus, den habe ich schon während meiner Geburt in mich eingesogen. Meine Mutter war eine Engelsfrau, also bin ich eine Engelsgeborene, da kann ich auch nix für…also, deswegen kenne ich mich mit dem Jenseits aller-bestens aus, da bin ich sozusagen zu Hause. Im Jenseits, meine liebe Waltraud, ist dein Junge jedenfalls nicht eingegangen, das sagen mir soeben meine befreundeten Engel vom goldenen Tor.

+ Wählen Sie sich in eine der noch wenigen freien Leitungen ein, Barbarusia ist gleich für Sie da +

Wissen Sie, mein Frank ist ein guter Junge, der hat mir in all den Jahren nie Kummer gemacht… über 50 Jahren wohnt er nun schon bei mir. Und seit mein geliebter Mann einfach nicht mehr wieder gekommen ist… und die beiden anderen Jungs…auch sozusagen raus sind… den einen, den darf ich jeden Monat einmal von Amtswegen besuchen und der andere, naja, die Frau hat ihn gegen mich aufgehetzt… seit, seit die beiden anderen Jungs also auch raus sind, da hat doch mein Frank das Zimmer für sich ganz allein und kann sich Nacht für Nacht alle Sendungen von Ihnen angesehen und anrufen. Erst habe ich geschimpft, wissen Sie, ich… wir sind ja eigentlich katholisch… da habe ich geschimpft, weil er sein ganzes, sein sauer verdientes Geld… also das schöne Geld dafür ausgegeben hat. Wissen Sie und jetzt bin ich heilfroh, dass ich Sie über die Lieblingssendung von meinem Frank kennen gelernt habe. Ich wüsste gar nicht… was ich ohne Sie, Frau Barbarusia…

… Waltraud, als deine treue Helferin aus dem Jenseits werde ich jetzt nur für dich nochmal die Erdoberfläche mit meinen hochenergetischen Kristallschwingungen absuchen, vielleicht finde ich ihn dieses Mal. Wenn nicht, musst du wohl noch ein Weilchen Geduld haben und noch eins… zwei… vielleicht auch ein drittes Mal bei mir anrufen. Wie war das den nun am letzten Tag mit euch beiden, Waltraud, erzähl mir mal schnell? Erzähl´ es mir, lass es raus, ich sauge es in mich auf, ich neutralisiere es für dich, meine liebe Waltraud, ich neutralisiere alles was du mir jetzt sagst, al-les!

+ Sichern Sie sich heute die Reichtumsenergie +

Ich habe ihm gesagt, er soll das Radio nicht so laut machen und die Klospülung nicht bei jedem Bisschen benutzen und er soll pünktlich nach Hause kommen. Jedes Mal warte ich an der Tür… Er hat wie immer geschimpft und ist ohne sich zu verabschieden auf Arbeit gegangen, …aber dort ist er nicht angekommen. Und wiedergekommen ist er auch nicht. Frau Barbarusia, ich brate seit acht Monaten jeden Tag sein Lieblingsessen, Bratkartoffeln mit Kümmel und Buletten mit viel Estragon, um mich… wenn er wieder nach Hause kommt, zu entschuldigen. Ich… ich stelle jeden Tag das Essen in den Kühlschrank, und wenn das Kühlfach voll ist, räume ich es…. Ich weiß doch auch nicht, was ich sonst noch machen soll? Frau Barbarusia, er ist doch ein so guter Junge. Wissen Sie, ich bin so froh, dass ich ihn durch die Schulzeit bekommen habe… er hat mir nie, nie Kummer gemacht. Ich bin so froh, dass ich ihn damals aus der Mopedclique bekommen habe, er ist ein guter, ein guter Junge, das mit dem blauen Moped hatte er auch wieder schnell vergessen, Sie wissen doch, die Jungs und ihre Flausen …

Lass die schlechten Energien raus, Waltraud, immer raus damit, ich atme das alles in mich hinein! Lass sie raus, ich neutralisiere das alles für dich, ich neutralisiere die schwarzen Energien aus deinem Körper, ich sauge sie in mich auf, ich mache sie weiß, mache sie schneeweiß, hochweiß, ultraweiß, Waltraud…

Auch die Kleidung lege ich jeden Tag für ihn hin, Frau Barbarusia… und seine fünf Euro spare ich für ihn in seinem Sparschwein. Das Geld kann er nachzählen, das ist alles da. Die zwei Glücksschweine stehen auf seinem Nachttisch, 880 Euro sind zusammengekommen, 880 in Ein-Euro-Münzen. Ich gestatte ihm auch ein Moped, wenn er will… ein Moped wollte er immer… wenn er doch nur wiederkäme, ein Moped, ich habe schon nachgefragt, ein blaues… blau mochte er…

Genau, das meine ich, Waltraud! Da musst du wohl unbedingt g-a-n-z tief in dir nachsehen, da musst du in dich w-e-i-t reingucken, da musst du in dir kom-plett aufräumen, da ist etwas mit euch beiden in eurem schönen Glückshaus passiert, mit eurem Karma, etwas, das so nie-mals mit euch hätte passieren dürfen, verstehst du Waltraud! Da sind Strahlen gebrochen worden. Strahlen… das geht nicht ohne Bruch von Lebenskarma. Kein Wunder, dass es dir schlecht geht. Kein Wunder, dass du nicht schlafen kannst. Das ist alles ü-berhaupt kein Wunder. Wundert mich ü-berhaupt nicht. Aber wir beiden, du, meine liebe Waltraud und ich, wir beiden bekommen das schon wieder in den Griff. I-c-h bringe den Frank zurück und d-u erneuerst in der Zwischenzeit dein zerbrochenes Karma, gell´, meine liebe Waltraud!

Frau Barbarusia, dann bin ich wohl doch an allem Schuld?

Waltraud? Wenn du g-a-n-z tief in dich hineinschaust, dann kennst du die Antwort genau! Das muss ich dir doch nicht sagen, Waltraud. D-u und nur D-u kennst die Antwort! Stimmt´s, Waltraud! Ich empfehle dir dringend eine spirituelle Selbstreinigung mit Kristallquarzpaste, dann siehst du alles unverstellter, klarer, mit gereinigtem Blick. Mit der wertvollen Paste kann ich dir auch zwischendurch aushelfen, wenn du… ich meine… wenn sie dir im Moment fehlt. Ich weiß, du brauchst sie drin-gend. Waltraud, alles kein Problem, wenn du willst, Waltraud, kannst du sie gleich bei mir bestellen, kostet für dich… ich meine wegen der Sache mit dem Frank, fast nichts, für dich so gut wie gar nix. Waltraud, ich bin doch kein Unmensch! Als Engelsgleiche hat Geld für mich sowieso keinerlei Bedeutung, kei-ner-lei Bedeutung!

+ Ihr Schicksal in Barbarusias Händen +

Frau Barbarusia, ich habe mich immer um ihn gekümmert. Ich habe ihm das Essen gemacht, ich habe seine Wäsche gewaschen, sein Zimmer aufgeräumt, jeden Tag ein frisch gebügeltes Hemd über den Stuhl gehängt, täglich eine Schachtel Zigaretten und Kaugummi in die Tasche gesteckt, jeden Tag fünf Euro Taschengeld in geputzten Ein-Euro-Stücken auf seinen Platz gelegt und habe die Brote dick mit Wurst beschmiert und meinen Jungen danach geweckt. Nicht einen einzigen Tag ist er zu spät auf Arbeit gegangen, egal wie lang er sich ihre Sendungen ansah. Dafür habe ich gesorgt. Frau Barbarusia, was habe ich denn verkehrt gemacht? Was? Ich verstehe das alles nicht? Nacht für Nacht stelle ich mir die Fragen, die Sie mir in den letzten acht Monaten gestellt haben. Irgendwann hätte er ein tüchtiges Mädchen mit heimgebracht und wir hätten viele Kinder gehabt. Irgendwann. Manchmal habe ich ihn auch gefragt, warum er keine mitbringt… da hat er dann immer laut reagiert. Ich hätte gewiss gegen ein ordentliches Mädchen überhaupt nichts gehabt, Frau Barbarusia.

Waltraud, du musst g-a-n-z dringend ein spirituelles Sitzbad nehmen, nur dann, und nur dann wird´s besser mit dir und deinem… Wenn ich mich nicht täusche, empfange ich jetzt ganz schwache Signale von deinem, vom…

…von meinem Frank?

Ja, von deinem gu-ten Frank, Waltraud!

+ Hier erfahren Sie die ganze Wahrheit über ihre Sterne +

Was sagt er, Frau Barbarusia? Geht´s ihm gut? Was macht er? Hat er genug zu essen?

Das kann ich nicht sagen, dafür ist das Signal auch dieses Mal zu schwach, Waltraud, was du aber auf jeden Fall drin-gend machen musst, ist eine energetische Vollwaschung, am besten mit Amethrincreme, Bergkristallwasser und doppeltem Alttitansalz. Und nimm dazu meine spezielle Sondermischung Gravitationsstaub! Dann kann nix mehr schiefgehen, überhaupt nix! Meine Mischung wird dir auf dem Weg ins Licht die notwendigen Kräfte bringen. Ich kann dir die kostbaren Sachen besorgen, ü-berhaupt kein Problem. Musst du nur bei mir bestellen. Ich würde dir einfach die doppelte Menge reinpacken, die doppelte, weil ich weiß, dass du im Moment die doppelte Menge brauchst, gell´, Waltraud, einfach das Doppelte reinpacken, das Doppelte, für dich, meine liebe Waltraud, natürlich wie immer für dich zum halben Preis…

+ Keine ungeklärten Fragen – auf alles eine klare Antwort +

….und nachdem, was ich in der Kugel außerdem se-he… meine liebe Waltraud…

Ja, Frau Barbarusia?

… besitzt du bis zum Jahresende den Selbstheilungsmodus. Danach ist der Modus für den Rest des Lebens restlos aufgebraucht. Da brauchst du g-a-n-z dringend das neue Selbstheilungsstarterset, Waltraud, ohne das geht bei dir gar nichts mehr, ü-berhaupt nichts mehr, hörst du ü-berhaupt nichts! Gell´, meine liebe Waltraud. Dann schläfst du auch wieder besser. Das ist alles, alles kein Problem, da würde ich dir etwas abgeben von meinen privaten Reserven, einfach abgeben. Natürlich, nur wenn d-u willst… d-u wirst auch heute wieder bestellen. Ich weiß, d-u machst das! Etwas von meinem Privaten abgeben, Waltraud, gell´, von meinem wenigen Engelskontingent! Gebe ich gern, Waltraud… für dich… wegen Frank!

Frau Barbarusia, wann kommt mein guter Junge den nun zurück?

Die hochfrequenten supraleitenden Schwingungen aus der Kristallkugel lassen nach, aber Frank will, sagt er, dass du weiter für ihn sein Lieblingsessen machen sollst und dass du auf ihn warten sollst. Er sagt, er wird sich bei dir melden, das hat er mir soeben noch gesagt… nicht heute. Wann? Das weiß er noch nicht, aber an eurem Lieblingsplatz wird er sein, an dem ihr so gern gesessen habt, du weißt schon, du sollst in der Zwischenzeit in dich gehen… du weißt warum, sagt er… die Signale werden schwach… er sagt, er ist schon im Licht, er badet im Licht, seine Seele glänzt, er ist in einer glücklichen Situation, er erneuert sich ganzkörperlich… die transnistrischen Schwingungen in meiner Kugel lassen nach, Waltraud, ich kann unseren Energiestrom nicht mehr, nicht mehr aufrechterhalten, tut mir leid… tut mir, tut mir leid… die Verbindung ist abgebrochen… ich hö-re, blau, irgendetwas von einem blauen Fahrzeug…

Ein Moped? Bestimmt ein Moped, Frau Barbarusia, ein Moped, das wollte er schon immer, aber wegen der Prophezeiung, die Sie ihm gegeben haben… da habe ich´s versucht, zu verhindern. Können Sie das verstehen, Frau Barbarusia?

 

… blau, ein blau-es mit viel Chrom, Waltraud, das hat er eben gesagt!

Was sagt er noch! Was sagt mein Frank… an unserem Lieblingsplatz, der Gartenbank? Wann soll ich nochmal bei Ihnen anrufen, Frau Barbarusia? Was brauche ich alles für meine Selbstreinigung?

+ Bitten Sie Barbarusia um ihre kostbare Engelsenergie +

Waltraud, das Selbstreinigungsstarterset schicke ich Dir natürlich so schnell wie möglich zu, ich merke doch, dass du es dringend, g-a-n-z dringend brauchst. Eine kluge Entscheidung! Du spürst genau was du brauchst. Bleib´, bleib´ in der Leitung, wir nehmen nur schnell deine Daten auf. Setz Dich auf die Gartenbank, hat er mir eben noch gesagt, denke an ihn, hat er gesagt, brate Buletten mit ganz viel Estragon, hat er eben gesagt, denke über euch beide nach, du weißt warum. Warte auf der schönen, gemütlichen Gartenbank und kaufe das blaue Moped, kaufe es von seinem Geld, hat er noch zu mir gesagt. Stell´ das Moped neben die Gartenbank und warte, warte auf ihn, warte…dann wird alles gut!

+ Mit Barbarusia zur Reichtumsenergie +

Frau Barbarusia, wann können Sie wieder eine Verbindung herstellen? Geht es gleich jetzt nochmal? Bitte noch einmal!

Die Zeit ist schon wieder vorbei, Waltraud. Tschüssi, meine liebe. Dir alles Gute. Ich hoffe, ich konnte Dir auch heute wieder helfen. Tschüssi. Dir alles, alles Liebe, Waltraud!

+Barbarusia bringt auch Ihnen die Stimmen aus dem Jenseits direkt nach Hause+

Frau Barbarusia… ich bin´s… die Waltraud… Hallo…Hallo, ihre Waltraud, ihre Wal… Wal…?

Deutschlandhalle

Sie öffnete den Mund, streckte ihre Zunge heraus, legte die Tablette auf die Zungenspitze und spülte sie mit einem Glas Wein herunter. Sie atmete tief ein, nahm die zweite, der in Reihe gelegten Tabletten vom Tisch und schluckte auch diese. Sie mochte weder den Weißwein, den sie im letzten Jahr zu ihrem Geburtstag vom Zivi geschenkt bekommen hatte und den sie anfangs vereinzelt vor dem Zubettgehen, später beim Mittagessen und seit einigen Wochen regelmäßig auch zum Frühstück trank, noch die Tabletten die sie unter dem Bett ihres Sohnes im Jugendzimmer gefunden hatte und die sie seit seiner Flucht fast täglich probierte. Sie öffnete wieder den Mund, schluckte eine weitere Tablette herunter und hoffte, das die Wirkung des Weines und die beruhigende Wirkung der Tabletten heute besonders schnell einsetzten. Sie nahm die Geburtstagskarte vom Küchentisch, drehte sie auf den Kopf und flüsterte: “Jetzt bin ich einundachtzig Jahre und einen Tag alt!“. Sie legte die Karte zurück auf den Tisch, griff die schwere Armbanduhr ihres Schwiegervaters und hob sie vor ihre Augen. Sie küsste auf das beschädigte Glas und lächelte. Sie streichelte mit beiden Daumen über die zerkratzte Oberfläche, roch an ihr und glaubte die wohlriechende Haut ihres Schwiegervaters zu spüren. „Elf Jahre“, flüsterte sie auf das Glas,“ Elf Jahre hast Du jeden Handgriff, den ich hier in der Küche gemacht habe, von dem hohen Sofa unter dem Fenster mit vielen Komplimenten beobachtet. Elf Jahre habe ich Dich dafür bekocht und gepflegt!“ Sie verglich die Zeit auf der goldenen Uhr, auf dem bunten Küchenwecker und dem weißen Zifferblatt des Kirchturmes: es war viertel Zwölf. Sie knöpfte die gemusterten Dederonschürze auf, zog sie aus und faltete sie über die Stuhllehne. Sie streifte ihre beiden dünnen Eheringe vom Finger, hielt sie vor ihre Augen, überflog die kaum lesbaren Gravuren und legte sie auf das Kopfkissen des Sofas. Seit der Schwiegervater auf diesem Sofa verstorben war, vermied sie, sich darauf zu setzen oder wenn sie von ihren Hausarbeiten müde wurde, darauf zu legen. Sie saß viel lieber auf der hellblauen Sitzfläche des Küchenstuhles, an dessen Griffen lederne Handtaschen und Plastikbeutel klemmten und über dessen Lehne sich in den Jahren Schürzen aufgetürmt hatten. Sie konnte auf diesem Stuhl stundenlang zu den drei Kinderbildern im Buffet schauen. Sie konnte, wenn es dabei dunkel geworden war, ohne ein einziges Wort an dem Tag gesprochen zu haben aufstehen und ins Bett gehen. Sie öffnete wieder die Augen und sah sich prüfend in der Küche um: der Mülleimer war geleert, der Fußboden gewischt und gebohnert, die Gardine gewaschen und gestärt, die Gläser poliert und zu exakten Reihen in den Schränken verstaut, das Gas abgestellt, die Wohnungstür verschlossen. Sie stand auf, ging zum Buffet und schob den Stecker des Radios in die Steckdose. Seit Jahren schaltete sie mit diesem Trick den Kasten mit den vielen Knöpfen an und aus. Sie hörte Applaus aus dem Lautsprecher. Sie stellte das Radio leise. Seit sie in einer Dokumentation sich als HJ-Mädchen in der Deutschlandhalle wild applaudierend wiedererkannt hatte, mochte sie weder politische Reden noch das widerliche Geräusch des Applauses zu Partei-oder Brigadeveranstaltungen. Sie fühlte sich seit diesem Tag um ihre wunderbaren Erinnerungen von Damals betrogen und konnte bis heute nicht verstehen, dass er das, was die über ihn behaupteten, zugelassen hatte. „Wir haben viel erreicht, meine sehr verehrten Damen und Herren“ klang die Frauenstimme zur Festtagsrede zum 65. Jahrestag der Republik. „Angela“, sprach sie zur Skala des Radios schauend, “Angela“, so hätte meine Tochter ursprünglich heißen sollen. Sie strich sich die nicht vorhandenen Falten aus ihrem Kleid und ging zurück zum Tisch. Sie sah auf das vergilbte Weiß der Tapete und hörte für Sekunden wieder die schrille Stimme ihres verstorbenen Ehemannes, der beim Einzug in diese Wohnung auf dem Weiß aller Decken und Wände bestanden hatte. Sie zuckte zusammen, beugte sich für einen Moment nach vorn und sah aus dem Fenster zu jener Stelle am Haus, an der er über die Jahre ihre Dinge zerschlagen hatte. Sie stand auf und ging ins Schlafzimmer. Sie stellte sich an das Fußende der Betten, streckte die Händen auf die frisch bezogene Wäsche und streichelte über das Lieblingsmuster ihres Ehemannes, das sie am Morgen aufgezogen hatte: weißer Stoff mit blauen Wolken. Sie ging an sein Kopfkissen, betrachtete das Wolkenmuster und verließ, wie er es von ihr stets gefordert hatte und wie sie es seit jeher gewohnt war, auf Zehenspitzen das Schlafzimmer. Sie schloss mit einem Zeigefinger, den sie zwischen Türblatt und Rahmen schob, die Tür und ging zurück in die Küche. „Unsere Republik hat sehr viel erreicht, meine sehr verehrten Damen und Herren“, klang die freundliche Frauenstimme aus dem Lautsprecher. „Wir leben in einem Land, das jedem Wohlstand und Sicherheit garantiert!“ Applaus! Sie schlich noch einmal zur Schlafzimmertür, öffnete sie leise und warf sie mit einem Krachen zu. Sie ging zurück in die Küche und hörte wie der Applaus verstummte. „Im Namen der Bundesrepublik gratuliere ich Ihnen allen, meine sehr verehrten Damen und Herren“ Sie stellte das Radio, aus der die freundliche Frauenstimme klang, laut und sah in die Kindergesichter, die aufgereiht im Küchenbuffet abgelichtet standen. Sie zog die Schublade auf und holte die rote Wäscheleine mit dem Seemannsknoten heraus. Sie tastete über den Knoten den sie von ihrem Großen gelernt hatte und den sie seit Monaten vor dem Buffet stehend fast täglich übte. Sie hatte dabei sehr oft an die denen schönen Abende denken müssen, an denen der Große Seemannsgeschichten erzählte, die damals alle bezweifelten und die sie gegen jeden Zweifler heftig verteidigte. Sie erzählte noch Jahre danach ihrem Mann, der wenige Wochen nach seiner Pensionierung eines Morgens im Bett liegen geblieben war, diese wunderschönen Geschichten. Sie erzählte diesem Ehemann, der keine dunklen Farben ertrug, der stets eine Schaufel, eine Flasche Wasser, etwas Essen und eine Taschenlampe unter dem Bett liegen hatte, an jeden Morgen und an jeden Abend diese Geschichten, um ihn endlich wieder zum Aufstehen zu bewegen. Selbst mit dem Tag, an dem sie allein in dem Bett  lag, erzählte sie sich diese Geschichten und ertappte sich, wie sie diese oder jene Begebenheit durch neue Inhalte variierte. Sie erzählte die Geschichten ihres ältesten Sohnes, wenn sie im Bett liegend an diesen denken musste, manchmal so oft und so laut, dass sie glaubte, dieses lachende Gesicht im Küchenbuffet aus dem Schiff herausholen zu können. Sie legte die rote Wäscheleine in die Schublade zurück und schob die Lade zu. Sie ging zum Tisch, setzte sich auf den Stuhl, seufzte und wischte mit der flachen Hand über die giftgrüne Wachsdecke mit den pinkfarbenen Pusteblumen. Sie mochte weder die Farben noch die neumodischen Formen. Sie hatte anfangs kleine, später große Einrichtungsgegenstände in den Farben und Formen, die ihre Tochter liebte, gekauft, um, wenn sie endlich einmal käme, sie damit beeindrucken zu können. Sie schob eine weitere Tablette, die das letzte Kinderbild tütenweise unter der Matratze zurückgelassen hatte auf die Zungenspitze,  goss mit einen kräftigen Schwung Weißwein in ihr Glas, spülte die Tablette herunter und hoffte wieder, dass die wohltuende Wirkung der letzten Wochen und Monate heute besonders schnell einsetze. Sie lachte. „Wie beim Arzt“, sprach sie belustigt zu den Kinderbildern! Sie sah zu dem dritten Kinderbild und war sich immer noch nicht sicher, ob sich der Jüngste noch auf der Flucht vor den schlechten Freunden befand, ob er eine Offizierskarriere wie der Große begonnen hatte, oder ob er…. Sie lallte: „Ein guter Junge bist du, ein Guter, du bist der Beste von allen. Bestimmt bist du auch Offizier geworden, wie der Große!“ Sie öffnete das Kuvert mit den vielen Geldscheinen die sie über die Jahre von ihrem ältesten Sohn geschickt bekommen hatte und war sich für einen Moment nicht sicher, ob es für ein ordentliches Begräbnis reichen würde. Sie spürte wie die Tabletten des Jüngsten endlich zu wirken begannen. Sie griff nach den verbliebenen zwei Tabletten, drehte die Zunge heraus und warf belustigt eine der beiden in den Mund. Sie hob die zweite in die Luft, küsste sie laut, schob sie zwischen ihre Zähne und biss darauf. Sie schlürfte mit offenem Mund Weißwein. Sie würgte und brach die beiden Tabletten wieder heraus. Sie beugte sich nach vorn und tastete nach den Tabletten. Sie nahm sie in die Hand, wischte sie trocken, schob sie wieder in den Mund und schluckte sie mit dem Rest Wein herunter. Sie hörte wie die Kinderbilder im Buffet zu sprechen begannen: Das erste Bild rief: Mama, wo ist mein Lexikon; Das zweite weinte: Mama, meine Farben sind alle; Das dritte rief: Mama, ich habe wieder eine Fünf und einen Eintrag bekommen. Sie hielt sich die Ohren zu und sah wie die lachenden Kinderbilder sich übereinander schoben. Sie hörte wie die Bilder durch ihre verschlossenen Ohren im Kinderchor sangen: „Mama, wir haben Hunger, Hunger, Hunger; wir haben Hunger, Hunger, Hunger; wir haben Hunger, Hunger, Hunger; wir haben Durst!“ Sie riss die Hände von den Ohren und drückte sie vor ihre Augen. „Wir haben aus unserer Vergangenheit gelernt und sind jetzt ein in aller Welt geachteter Staat, meine sehr verehrten Damen und Herren“, hörte sie die freundlich klingende Frauenstimme aus dem Lautsprecher sagen. Applaus! Sie hob ihren Arm. Sie schüttelte den Kopf. Sie presste beide Hände wieder auf ihre Ohren. Sie starrte auf den grauen Fliesenboden und sah ihren Ehemann aus einer der Fliesen mit einer Schaufel herausklettern. Sie drehte den Kopf ruckartig zur Seite, blickte hinüber zum hohen Sofa unter dem Fenster und sah den Schwiegervater in seiner hochdekoriert Uniform. Sie ging zum Fenster, setzte sich auf das Sofa und fühlte wie er seine weiche, wohlriechende Hand mit der schweren, goldenen Armbanduhr, die er aus dem Krieg mitgebracht hatte unter ihr Sommerkleid schob. Applaus! Sie stand auf und ging zurück zum Tisch. Sie hörte aus dem Applaus eine kräftige Stimme rufen “Mein Sohn, mein Sohn ist ein jämmerlicher Versager. Applaus. Wir Deutschen lassen uns vom Iwan nicht unterkriegen. Applaus. Wollt ihr den totalen Krieg? Stürmischer Applaus. Du hättest mich, mich und nicht diesen elenden Volksverräter heiraten sollen!“ Sie hörte den Applaus verstummen und die Hymne in der Deutschlandhalle erklingen. Sie stand auf, hob noch einmal die Hand nach oben und winkte. Sie öffnete die Augen und verglich die Zeiger auf der Kirchturmuhr, auf dem Küchenwecker und der Armbanduhr. Sie spürte zwei kräftige Glockenschläge auf ihrer Stirn; sie spürte den Sekundentakt in ihren Ohren; sie spürte das Armband um ihrer Brust. Sie nahm die Hand herunter und ließ sich auf die hellblaue Sitzfläche des Stuhles zurückfallen. Sie beugte sich über die grüne Wachsdecke, griff die Armbanduhr und presste sie wie den Orden, den sie damals von ihm bekommen hatte, zwischen ihre Handinnenflächen. Sie formte ihre Lippen zu einem Kuss. Sie holte tief Luft und atmete zufrieden aus.

Soweit mein Auge reicht

In dieser Nacht hatte ich kaum geschlafen und stand müde und unruhig vor der gewohnten Weckzeit auf. Ich fuhr in die Kühlanlage der Schlachterei, in der ich seit über 45 Jahren fehlerfrei arbeitete, schaltete die Lichtanlage an und nahm das Fleisch für den Tag heraus. Vorsichtig begann ich das erste Schwein zu filetieren. Ich legte die Rippenbögen frei, trennte die Schulterteile ab und schnitt Lunge und Magen aus dem Bauchraum. An der Blase machte ich eine Pause. Für gewöhnlich machte ich an dieser Stelle immer eine Pause, bevor ich die weiteren Innereien behutsam herauslöste. An diesem Morgen genoss ich das Herauslösen der Innereien besonders, speziell der Blase. Ich hielt die blutverschmierte Blase in das Neonlicht, spülte sie lauwarm aus und tupfte die Wasserreste sorgfältig auf. Dabei schwitzte ich. Manchmal schwitzte ich so sehr, dass einzelne Tropfen von meiner Stirn auf die Blase oder gar in sie hineintropften. Das fand ich jedes Mal eklig, wahnsinnig eklig. Wenn das passierte, säuberte ich sie nochmals; eine schweißverdorbene Blase durfte ich auf gar keinen Fall in mein Haus bringen. Deswegen achtete ich an diesem Morgen besonders auf meinen Schweiß und tupfte, sobald ich ihn bemerkte gründlich mit meinen Fingern über die Stirn. Ich faltete die Blase und legte sie in meinem Taschentuch nach einem jahrelang erprobten Prinzip zusammen. Vorsichtig steckte ich das Taschentuch in die linke Hosentasche. Ich steckte die Blasen immer in die linke Tasche. Links und nur links; etwas anderes kam für mich nicht in Frage. Warum ich das tat, wusste ich nicht, fühlte mich aber dabei wohl. In letzter Zeit tat ich immer häufiger das, was die Psychotante seit meiner Kindheit vorbetete: immer nur das zu tun, was mir Spaß macht.

Nachdem ich die Blase in die Hosentasche verstaut hatte, konnte ich das Arbeitsende kaum erwarten. Die Mittagspause verbrachte ich Zigaretten rauchend auf dem Werkhof. Ich zählte fingerhebend immer wieder die einzelnen Gehwegsteine, die ich vorher grübelnd nach einem bestimmten Ritual auf- und ablief. Wie an solchen Tagen üblich, konnte ich nur wenig essen und musste öfter als sonst die Toilette benutzen. Als mein Chef „Feierabend“ rief, fuhr ich nicht meinen täglichen Weg zur Kirche, sondern gleich nach Hause. Ich warf die Autotür zu ohne sie zu verschließen, öffnete hastig die Haustür, schielte mit einem flüchtigen Blick in den fast immer leeren Postkasten und rannte schnaufend in die obere Etage meines geerbten Elternhauses. Durch die Gardine sah ich hinüber auf das penibel gepflegte Grundstück meiner neugierigen Nachbarin. Diese Frau beobachtete mich seit meiner Kindheit mit halb zusammen gekniffenen Augen durch ihre immer gleiche ovale orangefarbene Hornbrille hinter einer Hecke stehend, beim Straßefegen oder beim Blumen verschneiden; zuerst mit ihrem meckernden Mann und, seit der endlich tot ist, allein. Neugierige Menschen konnte ich noch nie leiden, weder die Neugierde meiner Eltern, die ständig in meiner Abwesenheit mein Zimmer durchschnüffelten, noch die Neugierde meines neuen Chefs, der heimlich meinen Spind in meinen freien Tagen durchwühlt. Gegenüber der Neugierde der Nachbarin fühlte ich mich genauso machtlos, wie damals gegenüber den Schnüffeleien meiner – endlich verstorbenen – Eltern oder meines – immer noch lebenden – Chefs. Mit einem Ruck zog ich die Jalousie herunter und blickte noch einmal kurz durch die Lamellen. Da mir die Erinnerung an die Vergeltungsaktionen gegen die Neugierigen unangenehm war, legte ich mich auf den Fußboden. Ich streckte die Arme und Beine erst in die Luft und danach auf dem Fußboden auseinander und hauchte, wie von meiner Psychotante empfohlen „Mir geht`s gut!“, in den Raum. Langsam schob ich meine Hand in die linke Tasche und holte vorsichtig das Taschentuch heraus. Ich spürte wie die Wärme von meinen Beinen in den Kopf strömte. Ich hielt das Taschentuch in die Luft, drückte dem Stoff einen lang gezogenen Kuss auf, legte ihn auf meinen Körper und atmete tief ein und aus, dass mein Bauch sich wölbte und zusammenzog. Mit einem Schwung stand ich auf und legte das Taschentuch exakt in die Mitte des Tisches. Ich zog die kleine silberne Spülschale unter dem Tisch hervor, nahm die Konservierungsmittel aus dem Wandschrank, holte das dazugehörige Sezierbesteck aus dem Kunstlederköfferchen, stellte die OP-Lampe auf den Tisch, setzte meine beleuchtete Lupenbrille auf und richtete den Lichtstrahl auf das Taschentuch. Als wollte ich mein tägliches Nachtgebet sprechen, legte ich meine Hände ineinander und kniff danach die Finger so fest zusammen, dass sie zu schmerzen begannen. Ich faltete das Taschentuch auseinander und tupfte meine verschwitzte Stirn sauber. Ich nahm das Besteck und begann die Blase lehrbuchmäßig zu konservieren. Prüfend hielt ich sie immer wieder zwischen den einzelnen Handgriffen in das starke Licht der OP-Lampe und begutachtete aufmerksam die Äderchen, die die Haut überzogen. Eine schadhafte Blase durfte ich auf keinen Fall in meinem Haus haben. Auf gar keinen Fall. Meine Blase musste perfekt sein.
Nachdem ich mit der Konservierung fertig war, umwickelte ich die Blase mit einer Angelsehne. Ich nahm die Leiter aus dem Schrank und stieg fünf Stufen hinauf ich hob die Blase feierlich nach oben und hängte sie an die Decke. Dabei rief ich „Wunderschön! Einfach Wunderschön!“. Es war der letzte freie Platz in meinem Kinderzimmer. Der allerletzte. Endlich! Ich sprang von der Leiter, knipste die farbige Lichtanlage an und stellte mich mit geschlossenen Augen in die Mitte des Raumes. Ich genoss den Gedanken an den Moment in dem ich alle alabasterfarbenen Blasen beleuchtet sehen konnte. Ich blinzelte und öffnete, weil ich es einfach nicht mehr aushielt, die Augen. Ich hielt die Hände wie mein geliebtes Vorbild, Johannes Paul, nach oben und freute mich über den wunderbaren Anblick. Es war wie in der Tropfsteinhöhle, als ich meine Eingebung hatte. Ich bin mir nicht sicher, aber manchmal habe ich das Gefühl, ich bin nur deswegen Metzger geworden, ich bin nur Metzger geworden, weil ich mich damals in einer Tropfsteinhöhle verlief. Heute war mir diese Frage völlig egal. Heute waren mir alle schlechten Träume der letzten Jahre, die mir Nacht für Nacht Sorge bereiteten, unwichtig. Ich glaube, ich war glücklich. Vielleicht war ich so glücklich wie nie in meinem Leben. Obwohl ich wusste, wie viele Blasen an der Zimmerdecke hingen, begann ich sie laut und in die Länge gezogen zu zählen. Feierlich sprach ich die einzelnen Zahlen. Erst als ich bei der letzten Blase angelangt war und leise die Zahl „Sechshundert“ zählte, beruhigte ich mich etwas. Ich legte mich wieder auf den Fußboden und spreizte Arme und Beine. „Sechshundert“, flüsterte ich schläfrig, dabei streckte ich die Finger zur Zimmerdecke. „Sechshundert“, flüsterte ich kaum hörbar und drehte mich auf die Seite. „Fünfhundertsiebenundneunzig Schweineblasen soweit das Auge reicht!“
Ich spürte, an diesem Abend musste ich irgendetwas Besonderes anstellen, etwas völlig Außergewöhnliches, irgendetwas, zum Beispiel endlich wieder einmal ins Kino gehen und danach Pizza essen oder ein kleines Bier trinken. Ich schloss die Augen und stellte mir vor, wie es aussehen würde, wenn Schweineblasen von der getäfelten Zimmerdecke hingen, wenn Schweineblasen im teppichausgelegten Flur, in der marmorgefliesten Küche, wenn meine Schweineblasen überall im gesamten Haus an durchsichtigen Angelsehnen herunterhingen. Zum ersten Mal empfand ich kein unangenehmes Gefühl bei dem Gedanken das Haus in eine große, dunkle, kalte Tropfsteinhöhle zu verwandeln.

Wieder stellte ich mir die Frage, warum die zwei Nächte in der Tropfsteinhöhle eine Strafe Gottes auf mein sündenbehaftetes Leben gewesen sein soll und ob meine Eltern und auch der Nachbar aus der Kirchgemeinde wirklich damit recht hatten.

Ich stieg noch einmal die Leiter hinauf und schlug auf die ersten drei Blasen und fluchte: „Von Dir, von Dir und von Dir lasse ich mich nicht mehr einsperren!“

Die Sprachspielerin

Noch in der Hängematte sitzend, überlegt die Sprachspielerin, welche ferne Kultur sie sich für den Sonntag ausdenken möchte. Wahllos plappert sie Lautgebilde in verschiedenen Tonlagen ineinander und übt die dazugehörige Gestik und Mimik. Ist sie damit fertig, klettert die Sprachspielerin aus der selbst geflochtenen Schlafschaukel zwischen den deckenhohen Papppalmen herab und denkt sich die dazu gehörige Speise aus. In ihren großen Töpfen rührt sie die Zutaten zusammen und übt nebenbei ihre frisch erfundene Wochenendsprache.

Wird es Abend, holt sie die passende Verkleidung aus dem Schrank, schminkt sich ausgiebig, zieht eine ihrer unzähligen Perücken über den Kopf und steckt farbige Ringe und Armbänder an. Als fremdländische Besucherin stolziert sie für alle geschwätzigen Nachbarn gut sichtbar langsam auf der Treppenanlage des ererbten Elternhauses auf und ab. Wie in ihren Kindertagen stolpert sie scheinbar hilflos die dunkel werdenden Straßen entlang. Kommt sie außer Puste an die Haltestelle, greift sie sich ans gepuderte Doppelkinn oder kratzt ihr grau meliertes kurzes Haar unter der Perücke. Geräuschvoll reibt sie mit den vielberingten Fingern an der Glasfläche des Fahrplanes. Spricht sie einer der Wartenden an, verneigt sie sich verlegen und beginnt im gekünstelten Tone hastig zu stottern. Im grammatikalisch falschem Deutsch fragt sie nach dem Weg zum Krankenhaus in dem sie arbeitet, erkundigt sich nach der Stadt in der sie seit ihrer Geburt wohnt oder nach dem Flugplatz, den sie noch nie benutzt hat und auch niemals zu betreten beabsichtigt. Generös öffnet sie ihre große Handtasche und holt selbst gestaltete Geldscheine heraus, die stets bei sich trägt. Für jede Antwort verschenkt sie einen bunten Schein. Wortlos steigt sie in die Bahn, winkt den Wartenden mit einem Lächeln zu und fährt davon.

Gelangt die Sprachspielerin am Sonntagabend zur Tatortzeit ins Krankenhausgelände, klopft sie ans Fensterchen des Pförtners und begrüßt ihn mit ihrer eigens entwickelten Wochenendsprache. Sie übergibt ihm Zettel mit Vokabeln oder Grammatikübungen und erklärt ihm geduldig die von ihr neu entwickelten orthografischen Finessen. Es gibt Mitarbeiter die immer wieder behaupten, dass die fremdländische Besucherin nur dann nachts in Erscheinung treten soll, wenn der Pförtner einen seiner seltenen Wochenenddienste leistet. Hat die Sprachspielerin dem Pförtner ihr frisch erfundenes Land und ihre Verkleidung für den Abend ausführlich erklärt, wartet sie bei einem Pott schwarzem Tee und liebevoll verziertem Gebäck der Pförtnersfrau bis es im Turm des Mutterhauses endlich Zehn schlägt. Verlässt der Spätdienst die Stationen und klettert der Belieber am herabgelassenen Betttuch einer ungeduldig wartenden Schülerin ins Schwesternwohnheim hinauf, nimmt die Sprachspielerin den Schlüssel von der Wand und schließt die nach Reinigungsmittel riechende Wäscherei auf. Unbemerkt schleicht sie an der Besungenen vorbei, die Liebeslieder vor sich hinträllert und unentwegt in den meterhohen Haufen der verschmutzten Patientenwäsche nach Nachrichten wühlt, die an sie gerichtet sein könnten. Mitleidig schüttelt die Sprachspielerin den Kopf, stellt sich in den Fahrstuhl und fährt ins Dachgeschoss. Dort beginnt sie ihre Route, die sie immer nur zur Sonntagnacht absolviert. Sie schlüpft in dunkle Zimmer und unterhält sich mit Patienten über ihr fernes Land. Meist reicht sie ihnen eine angeblich landestypische Speise oder Wunder wirkende Essenzen seltener Kräuter in alkoholischen Auszügen. Dabei führt sie ihnen die mitunter sehr merkwürdigen Sitten und Gebräuche ihrer unbekannten Kultur vor oder massiert sie nach jahrtausendealten und absolut bewährten Heilmethoden. Immer wieder wird auch von unglaublichen Begebenheiten in den dunklen Patientenzimmern berichtet. Regelmäßig kommt es am darauf folgenden Morgen vor, dass sich Patienten für die schmackhafte Speise wortreich beim ungläubigen Koch bedanken. Einige der Patienten humpeln noch vor dem Frühstück in die Krankenhausbibliothek um in dicken Bildbänden nach dem unbekannten Land zu blättern. Und berichten Patienten zur Visite voller Freude von wilden Nächten und betteln sie im Anschluss nur noch von der unbekannten Nachtschwester gepflegt zu werden, verordnet der Stationsarzt umgehend Psychopharmaka und weist sie in die geschlossene Abteilung ein.

Seilt sich bei Sonnenaufgang der Belieber am Betttuch einer frisch abgeliebten Schülerin hinab und zieht die von ihm Beliebte seufzend das zerknitterte Laken wieder herein, beendet die Sprachspielerin abrupt ihren Rundgang. Sie schleicht durch den dunklen Keller zurück zur Wäscherei an der nun eingeschlafenen Besungen vorbei. Wieder erinnert sie sich, dass sie eine eigens verfasste Nachricht für die Besungene mitbringen und in den schmutzigen Wäschehaufen verstecken wollte. Mit dem ehrlichen Wunsche, diesen Vorsatz am kommenden Sonntag auf keinen Fall zu vergessen, schließt sie leise die Tür ab und eilt zum Pförtner. Sie hängt den Schlüssel an das Wandbrett und gibt ihm einen dicken Kuss für seine treue Verschwiegenheit. Sie nimmt die von ihm frisch ausgefüllten Übungsblätter entgegen und rennt zur Straßenbahnhaltestelle. Findet sie auf der Heimfahrt einen der Fahrgäste unsympathisch oder will sie dessen Platz in der überfüllen Bahn ergattern, rempelt sie ihn an und beschwert sich in ihrer Wochenendsprache laut über ihn. Aufgeregt verlangt sie den Ausländerbeauftragten oder gar die Polizei. Und nur wenn der Betreffende sich entschuldigt, setzt sie sich an dessen nun leeren Platz und knabbert geräuschvoll die von der Pförtnersfrau aufwendig verzierten Plätzchen. Danach schläft sie erschöpft ein. Kommt der schüchterne Kontrolleur vorbei und fleht er sie an, ihm doch endlich einen gültigen Fahrschein vorzuzeigen, plappert sie wieder so lange auf ihn ein, bis er auch an diesem Morgen heulend von ihr Abstand nimmt und beschämt die Bahn verlässt. Gähnend schaut sie dem Flüchtenden aus dem werbebeklebten Fenster hinterher.

Kommt sie zuhause an, setzt sie sich an den Frühstückstisch und isst die Reste der zubereiteten Patientenspeise. Mit fettigen Fingern blättert sie neugierig in den dicken Reisekatalogen, ohne jedoch den Wunsch zu verspüren jemals selbst eine der dort angebotenen Reisen antreten zu wollen.
Pünktlich zum Montagmittag fährt sie mit ihrem kaputten Fahrrad und in studentisch wirkender Verkleidung in die nahe gelegene Universität. Mit einem gut gefälschten Semesterausweis geht sie zu verschiedenen Vorlesungen. In der Mensa erklärt sie ausschweifend und unter Tränen dumm fragenden Studenten ihre frisch erfundene Heimat, die leider vom Rest der Welt immer noch nicht diplomatisch anerkannt wurde. Bei Seminaren, in denen sie eifrig mitdiskutiert, ist es mehr als einmal vorgekommen, dass Professoren resigniert die Kreide nach ihr warfen. Das hält sie aber überhaupt nicht davon ab, weiterhin zu ihren Sprachspielen ausführliche Hausarbeiten zu verfassen und namenlos in die überfüllten Postfächer der Professoren zu legen. Und sie ist mehr als zufrieden, wenn es eine ihrer unzähligen Arbeiten schafft, Gegenstand von Diskussionsrunden zu werden.

Kommt die Sprachspielerin am Abend ins leere Elternhaus zurück, holt sie eine Flasche Wein aus dem gut sortierten Weinkeller. Sie bürstet die unscheinbare Robe für den langweiligen Rezeptionsdienst aus, den sie seit Jahren in der Aufnahme des Krankenhauses unauffällig absolviert. Lustlos bügelt sie über das weiße Hemd, putzt die schwarzen Schuhe und steckt das messingfarbene Namensschild verkehrt herum an das Revers.
Angetrunken erklimmt sie mühsam die Papppalme und lässt ihren kräftigen Körper mit einem Tarzanschrei in die Hängematte fallen. Sie rollt sich zusammen und denkt an die schönen Stunden die sie mit dem Belieber in ihrem selbst gebauten Urwald erlebt hat. Sie schließt die Augen und bastelt weiter an der betörenden Liebessprache, die es dem Angesprochenen unmöglich machen soll, der Erzählenden zu widersprechen. Und sie weiß sehr genau, wem sie mit diese Sprache zuerst wehrlos machen wird. Damit es auch weiterhin ihr Geheimnis bleibt, tastet die Sprachspielerin in einen der vielen Beutel, holt ein breites Pflaster heraus und drückt es auf die plappernden Lippen.

Würde man den Pförtner nach ihr befragen, würde er die Hände ineinanderschlagen und antworten, dass es ihm bei aller Mühe immer noch nicht gelungen sei, herauszufinden, warum sie zu DDR-Zeiten keine Abiturprüfungen ablegen durfte. Nachdenklich würde er sich am Hals kratzen und flüstern, dass ihr Spiel spätestens nach seiner Pensionierung auffliegen wird.

Der Damalige

Der Damalige weiß ganz genau, wie es früher zuging. Deswegen kauft er vereinzelt vorhandene Vorräte aus alten Lagerbeständen und liest politische Bücher von Verlagen vergangener Zeiten.

Springt der Damalige von der durchgelegenen Feldliege auf, schiebt er zu Beginn des Tages eine Kassette mit zackiger Militärmusik in den Radio-Recorder oder legt eine Schallplatte mit beliebten Schlagern aus der guten alten Zeit auf den Plattenspieler. Er marschiert ins Bad, putzt die Zähne mehrere Minuten mit Elkadent-Creme, wäscht seinen schlanken Oberkörper mit Nautic-Seife und rasiert über den kaum vorhandenen Bart mit dem stumpfen bebo-sher-Gerät. Im Laufschritt rennt er ins Zimmer zurück, zieht das weiße Turnhemd mit dem aufgenähten Staatsemblem an und hebt schwere Hanteln für die Körperertüchtigung. Von den Übungen hellwach, setzt er sich an den Frühstückstisch und liest die Junge Welt und das Neue Deutschland. Und bis auf den Wetterbericht glaubt er seinen Zeitungen jede darin abgedruckte Nachricht. Er isst Burger-Knäckebrot mit Nudossi-Brotaufstrich, knabbert Filinchen mit Fruchtmarmelade und schlürft zwei große Tassen Trink-Fix. Tagesgestärkt verlässt er die Wohnung und stolziert einmal um den ungepflegten Innenhof des Wohnblockes. Feierlich stellt er sich vor der verrosteten Teppichstange auf und entrollt die Flagge der Internationale. Mit viel Mühe bläst er die Trompete. Werden die Fenster geöffnet, rennt er zur nahe gelegenen Garagenanlage. Ist sein Motorroller wegen fehlender Einzelteile wieder zerlegt, eilt er im Stechschritt und viel zu spät die Straßen entlang bis zur Krankenpflegeschule. Sieht er den Pförtner am Schlagbaum stehen, geht er ihm so weit als möglich aus dem Weg. Kann er ihm nicht entweichen, winkt er ihm verlegen den Sozialistischen Gruß entgegen. Hört der Pförtner diese Worte, ruft er den Damaligen einen ahnungslosen Spinner, eine elende rote Socke oder einen völlig verwöhnten Westbalg. So als würde er die Beleidigungen des Pförtners nicht mitbekommen, spurtet der Damalige schnellen Schrittes ins Klassenzimmer. Und obwohl er weiß, dass die anderen Pflegeschüler seit Jahren von seinem übertriebenen Kollektivgefühl genervt sind, grüßt er auch sie mit einem zünftigen Kammeradengruß. Verpetzt ihn ein Schüler deswegen bei der Mutter Oberin, beschimpft er ihn als üblen Vaterlandsverräter und rührt ihm das Abführmittel Regulax heimlich ins Essen. Gibt ihm hingegen eine ältere Krankenschwester Tipps für die Grundpflegeprüfung oder flüstert ihm die Lehrerin Informationen ins Ohr, dass eine junger Kollege eine Leistungskontrolle anstrebt, lobt er die Frauen gönnerhaft als beherzte Agentinnen der gerechten Sache, schenkt ihnen abgelaufene Schlager-Süßtafeln und Märchenriegel oder legt ihnen verbeulte Medaillen in die Taschen und Mäntel. Einmal in der Woche wartet der Damalige als selbst ernannter Gruppenratsvorsitzender bei Club-Cola und Rotgardistenmusik im Keller der Krankenpflegeschule vergebens auf Neumitglieder für die von ihm gegründete FDJ-Gruppe. Und er ist sehr stolz, einer verfassungsfeindlichen Vereinigung anzugehören, die nichts weiter zum Ziele hat, als das Lebensglück aller Menschen zu ermöglichen. In diesem Zusammenhang wird gemunkelt, dass er einen Fluchtkoffer im Krankenhaus und einen in der Wohnung bereithält.

Hat der Damalige wieder handgeschriebene Zettelchen mit Zitaten aus dem Kommunistischen Manifest auf Stühle, in Gesangsbücher oder gar auf den Altar in der Kapelle angeklebt und will ihn die Oberin deswegen bestrafen, schickt sie ihn von Station zu Station und lässt ihn lästige Botengänge verrichten sowie Schwerkranken Gottes gütige Worte verkünden. Im Namen des Auftrages geht er eifrig mit der Bibel unterm Arm die langen Flure entlang und ballt die Ernst-Thälmann-Faust für jedermann gut sichtbar zum Gruß. Und so mancher ältere Patient steht bei diesem Anblick stramm oder schiebt erschrocken das Gehbänkchen in die Ecke und erleidet einen schweren Herzanfall. Sieht der Damalige auf dem Rückweg ins Klassenzimmer in den überfüllten Warteräumen Patienten in gut erhaltener Ost-Originalkleidung sitzen, schleicht er mehrfach um sie herum, verstrickt sie in wortreiche Gespräche und begleitet sie mit allerhand freundlichen Hilfereichungen ins Patientenzimmer. Bettelnd verfolgt er sie anschließend in den Garten und dreht mit ihnen Runde um Runde bis sie sichtbar entnervt das gewünschte Kleidungstück vor ihm stehend ausziehen und frierend übergeben. Seit Neuesten wird wiederholt von Fällen berichtet, dass auf der Intensivstation Malimo-Bademäntel spurlos verlorengingen.
Steht der Damalige in der Kantine und hört er den Kassierer am Buffet aufgeregt seine wirren Wahrheiten an die neugierige Mitarbeiterschaft verteilen, unterbricht er ihn ungeduldig und fragt im forderndem Tone nach nahrhaften Ostspeisen. Verneint der Kassierer das Anliegen, oder meint er, dass er diese Speisen gar nicht kenne oder fragt er misstrauisch ob sie überhaupt genießbar seien, nennt der Damalige ihn vor allen Anwesenden empört einen hundsgemeinen, hinterhältigen Konterrevolutionär. Tags darauf kann man den Damaligen beobachten, wie er ihm mit Duosan-Rapid die Kasse verklebt oder den Sitz mit Chemisol-Kleber einreibt.

Geht der Damalige nach einem anstrengenden Kampftag mit geschwellter Brust aus der Krankenpflegeschule, rennt er zu einer der unzähligen Haushaltauflösungen, stürmt die Treppenanlage zur Wohnung des Verstorbenen empor, drängelt sich zwischen all den anderen Interessenten nach vorn und ersteigert ungesehen die Altbestände, um auch diese wertvollen Produkte des Sozialismus vor der Müllkippe zu bewahren. Sieht er auf dem Weg dorthin ein ehemals messeprämiertes Glasserie-oder Gastronomiegeschirr aus einer seltenen Herstellungsreihe in der Auslage eines Geschäftes, stürzt er erregt hinein. Minutenlang drückt er die kostbaren Stücke an die Brust, dreht sich euphorisiert im Kreise und küsst oder streichelt sie fortwährend. Begeistert verwickelt er den verdutzten Verkäufer in leidenschaftliche und ellenlange Fachgespräche. Und so manches Mal hat er dabei dem im Nachhinein verärgerten Verkäufer eine museumsreife Rarität zum Selbstkostenpreis abgeschwatzt. Hat er das Gesehene vom gestohlenen Geld aus der Brieftasche eines Privatpatienten gekauft, läuft er im Marschschritt nach Hause und stellt es wie eine Karl-Marx-Büste in eine der wenigen noch freien Ecken oder Regale. Sodann setzt er sich an die Erika-Reiseschreibmaschine, zündet sich eine Duett-Zigarette nach der anderen an und arbeitet den Stapel unzähliger Beschwerden sorgfältig ab. Geduldig schreibt er ausführliche Änderungsvorschläge an die Intendanten der ARD, wenn für längere Zeit keine Schwarz-Weiß-Filme vom Fernsehfunk der DDR gezeigt wurden. Empört verfasst er leidenschaftliche Appelle an verschiedene Westfirmen, wenn diese wieder die Produktion einer beliebten Ostware einstellen. Und manchmal schreibt er auch bitterböse Proteste an die Stadtverwaltung, wenn sie seiner Meinung nach wieder völlig zu Unrecht den Straßennamen eines verdienten Stalinisten ändern. Sind die Briefe verfasst, beendet er sie stets mit sozialistischen Grüßen und klebt alte Briefmarken darauf. Danach setzt er sich an den Rechner und sucht fieberhaft im Internet nach Jahressätzen des Neuen Deutschland und der Jungen Welt. Um sich von der Fleißarbeit zu erholen, kocht er zwei Tassen starken Rondo-Kaffee in der Kaffeeboy-Maschine, gießt Bitterlemon ins Limonadenglas und legt eine Dokumentation über die großen sozialen Erfolge der DDR in den Videorecorder. Zufrieden schläft er bei den Sozialistischen Erfolgen über flächendeckende Kindertagesplätze, medizinische Versorgung und das Wohnungsprogramm auf der Doppellbettcouch Dagmar als zukünftiger Staatsratsvorsitzender ein. Weckt ihn die Kuckucksuhr, zieht er sein blaues FDJ-Hemd über und legt den Stapel liebevoll gefertigter Handzettel mit den vielen Vorteilen einer neuen DDR in den dicken Armee-Rucksack. Wahllos verteilt er sie auf Straßen und Plätzen und vor Schulen an verdutzte Passanten und an die neugierige Schülerschaft.
Kommt er nach der Agitation über eine sozialistische Zukunft erschöpft nach Hause, zieht er die Jesuslatschen aus und badet stundenlang mit einem Pionierlied auf den Lippen in Badusan. Läuft am Abend ein beliebter Fernsehfilm der DDR, lädt er seine Freundin oder gleichgesinnte Genossen in die vollgestellte Wohnung ein. Im Wohnzimmer lümmeln sie auf der breiten Sesselgarnitur aus dem Politbüro, kochen Gulasch mit Makkaroni in Töpfen aus dem Kulturministerium, trinken Sekt aus Gläsern vom Amtssitz der Staatsicherheit und naschen Gebäck aus Glasschalen von Wandlitz. Gemeinsam sehen sie begeistert die künstlerischen Leistungen der verstorbenen Schauspieler und knabbern Unmengen Knusperflocken und Halloren-Kugeln.
Beschläft der Damalige nach solch einem Abend seine Freundin auf der ehemaligen Ruheliege von Erich Mielke, flüstert er ihr als Ansporn zu höheren Liebesleistungen Kampflosungen aus dem Vaterländischen Kriege abwechselnd in die Ohren. Darf sie irgendwann nach den vielen Losungen endlich eingeschlafen, verlässt er auf Zehenspitzen und in voller Kampftruppenmontur die Wohnung. Geübt schraubt er Straßenschilder von Geächteten über neue Namen, führt stolz Kontrollen an Kreuzungen durch, inspiziert Autokinos oder entrollt Transparente mit SED-Parolen auf alterschwachen Dächern. Ab und zu setzt er sich auch in Gaststätten und belauscht begierig die konsumkritischen Meinungen der Anwesenden ab. Und bis weit nach Mitternacht notiert er eifrig deren Gedanken über den im Absterben befindlichen Kapitalismus in seinen knallroten Schulhefter.
Kommt der Damalige mit der unerschütterlichen Gewissheit für die gerechte Sache unterwegs zu sein wieder in den verschmutzten Wohnblock, wirft er die tagesgenaue Junge Welt und das Neue Deutschland in den kaputten Briefkasten. Er schleicht in die Wohnung, stellt den Ruhla-Wecker und legt sich neben seine Freundin. Dankbar steckt er ihr einen seiner zahllosen Orden an das Nachthemd. Neben ihr liegend, überlegt er beim Schimmer des Metalls ob es nicht an der Zeit wäre, eine neue Einheitspartei zu gründen. Er schließt die Augen und ist sich sicher, dass die sozialistische Idee niemals untergehen darf. Um das zu verhindern, ist er aus der Wohngegend seiner reichen Eltern mit den nörgelnden Nachbarn zu den Ausgestoßenen des Kapitalismus gezogen. Außerdem hat er seine Wohnung liebevoll mit Alltagsgegenständen aus der DDR vollgestellt, damit diese ihn immerzu an den großen Traum der Menschheit erinnern.
Fährt der Damalige in den Ferien endlich in den Urlaub, wandert er zum Verdruss seiner Freundin, den antifaschistischen Schutzwall mehrfach auf und ab, steigt begeistert auf Armeekontrolltürme oder spielt leidenschaftlich Passkontrolle an einem der vielen verlassenen Grenzübergänge.

Würde man den Pförtner nach dem Damaligen befragen, würde er die rechte Hand zur Faust ballen um sie danach flach über den nicht vorhandenen Scheitel zu wischen. Anschließend würde er an der Oberlippe kratzen und im oberösterreichischen Dialekt aus dem Kapital zitieren. Weiterhin würde er mit nicht ernst gemeinter Stimme versprechen, die gestohlenen Teile aus dem Pitty-Motorroller reumütig wiederzugeben.

Die Besungene

Hört die Besungene die ersten Töne aus dem kleinen Radiowecker, dreht sie sich auf ihrem durchgelegenen Schlafsofa müde auf die Seite. Sie schielt auf die blinkende Leuchtziffernanzeige und vergleicht die Zeit mit der auf dem Ziffernblatt ihrer ramponierten Armbanduhr. Hat sie sich von der Richtigkeit der Zeitangabe überzeugt, löst sie die Armbanduhr vom Handgelenk und schiebt sie unter das Kissen. Gähnend zieht sie die Wolldecke weit über den Kopf und massiert im Halbschlaf ihre Waden. Ist sie an den Füßen angelangt, tastet sie behutsam über die vielen schmerzenden Stellen auf den Fußsohlen. Wird dabei im Radiowecker ein Liebeslied gespielt, träumt sich die Besungene unter der dicken Decke liegend, in das Schicksal der Besungenen hinein. Erschrocken hält sie den Atem an oder drückt die zierlichen Hände kichernd auf ihre schmalen Lippen oder die immer noch faltenfreie Stirn. Voller Mitgefühl beginnt sie zu weinen und reibt die Augen rot.

Kommt die Besungene endlich unter der Wolldecke hervor, schleicht sie ins Bad, zieht ihr vollgeträntes Nachthemd aus und sucht einen leeren Platz auf der Leine, die sie spinnennetzartig über die Badewanne gespannt hat. Noch in tiefer Trauer befindlich, schlurft sie zurück ins Schlafzimmer, stellt sich mit gebeugtem Rücken vor den Spiegel und betrachtet ihr verheultes Gesicht. Will sie ihr Gesicht nicht mehr sehen, öffnet die Besungene die Türen des Kleiderschrankes und macht sich für den Tag zurecht. Dabei orientiert sie sich stets am Text des ersten Liedes. Wählerisch wühlt sie in den Stapeln der Regalfächer und Schubladen. Wurde im ersten Lied von einem glücklichen Ausgang der Liebenden gesungen, tanzt die Besungene in einem dünnen Sommerkleid aus schimmerndem Stoff vor dem Spiegel und dreht sich selbstverliebt um die eigene Achse. Hatte hingegen einer der Verliebten ein tödliches Ende gefunden, zieht sie schweigend einen schwarzen Hosenanzug an und tupft sich fortwährend Tränen aus dem verweinten Gesicht. Ist sie endlich angekleidet, schließt sie die Schranktür mehrfach ab und versteckt den Schlüssel in einen der unzähligen Kartons unter dem durchgelegenen Schlafsofa. Anschließend geht sie in die kalte Küche und trinkt ein Glas Cranberrysaft oder schlürft angewidert an der Zitronenlimonade.

Auf dem Weg zur Arbeit durchlebt die Besungene immer und immer wieder das gehörte Lied. Oft schüttelt sie heftig den Kopf und überlegt, wie sie das Unfassbare zu einem guten Ende hätte führen können. Hat ihr hingegen der Text gefallen, pfeift sie aufgeregt auf ihrem Stuhle sitzend das Liebeslied. Sie winkt den vorbeieilenden Passanten freundlich durch das Straßenbahnfenster und schwelgt sich in die starken Arme des Sängers hinein. Dabei reibt sie ihre blonde Zopffrisur am Fensterglas oder am Kopf des verdutzten Vordermannes oder der kreischenden Vorderfrau. Und mehr als einmal hat sie wegen der starken Arme die Haltestelle verpasst und eine ernste Ermahnung von der Wäschereileiterin erhalten.

Schon von weitem erkennt der Pförtner den Inhalt ihres Morgenliedes. Steht sie in Tiefschwarz vor ihm, drückt er sie minutenlang fest an sich heran. Steht sie hingegen im grellen Gelb, im feurigen Rot oder gar in Azurblau an seiner Seite, verneigt er sich, nimmt ihre Hand und tanzt mit ihr um den herabgelassenen Schlagbaum. Danach öffnet er ihn, schreitet mit ihr feierlich hindurch und bringt sie höchstpersönlich bis an die Tür.

Kommt die Besungene in die dämmsige Wäscherei, wühlt sie zu Beginn ihres Dienstes den Stapel Mitarbeiterwäsche nach absichtlich abgelegten Zettelchen durch. Findet sie auch an diesem Tage wieder keine an sie adressierte Nachricht, sucht sie emsig in den Körben mit Patientenkleidung nach vergessenen Fotos, Handys oder anderen persönlichen Dingen. Manchmal wühlt die Besungene so unermüdlich in dem Berg verschmutzter Kleidung, dass sie die Pause vergisst und von der Leiterin an die Heißmangel strafversetzt wird. Nur widerwillig legt sie dort die Bettbezüge zusammen, nutzt jedoch jedes Mal die Möglichkeit, handgeschriebene Nachrichten in der gebügelten Wäsche zu verstecken. Mit der Morgenmusik auf den Lippen, belädt sie im Anschluss die Wäschekisten und fährt sie auf die Stationen. Sind die Mitarbeiter oder Patienten beim Frühstück, greift sie blitzschnell Fotos vom vollgestellten Schreibtisch der Schwestern oder den unaufgeräumten Nachttischen der Patienten. Herzklopfend stopft sie die Fotos in die Tasche oder die leeren Wäschekisten. Hat sie alle eingesammelt, geht sie auf die Nachbarstation, um auch dort unbeobachtet Fotos von gut aussehenden Männern an sich zu bringen. Hastig rumpelt sie mit den leeren Kisten die langen Gänge zurück, hinunter in die Wäscherei. Sie schließt sich auf der Toilette ein und holt die Taschenlampe und das Vergrößerungsglas aus ihrer Jackentasche. Mit großen Augen und offenem Mund betrachtet sie die mitgenommenen Männerportraits. Findet sie einen der portraitierten Männer unattraktiv oder meint sie zweifelsfrei zu erkennen, dass er zu keinerlei aufrichtiger Liebe fähig sei, zerreißt sie von ihm angeekelt das Foto und wirft es zerschnipselt in die Toilette. Empört zieht sie ihre Hose herunter, setzt sich auf die Toilettenbrille und presst sich notdürftig ein Geschäft ab. Und meist schläft sie darüber ein und holt für kurze Zeit einen Teil ihres fehlenden Nachtschlafes nach. Kommt die Besungene am Nachmittag nach Hause, geht sie in die Küche und reiht die eingeheimsten Fotos an der Mittelfalte des Leinentuches auf. In aller Ruhe betrachtet sie die Portraits und ordnet sie nach einer ihr unerklärlichen Wertigkeit. Ist sie mit der Bewertung fertig, liebkost sie gründlich jedes Portrait mehrfach ab. Akribisch notiert sie auf der Rückseite die erküsste Liebesfähigkeit und ordnet sie bestimmten Liedern oder Interpreten zu. Sorgsam steckt sie die Portraits in die unzähligen und nach Jahreszahlen beschrifteten Schuhkartons. Den persönlichen Tagesfavoriten hingegen schiebt sie in die große Sichtfläche ihrer Brieftasche oder legt ihn gut sichtbar auf den Nachttisch. Und so mancher Mitarbeiter behauptet beharrlich, die Besungene des Öfteren im Laden beobachtet zu haben, wie sie sich in die längere Warteschlange einreiht und das Kleingeld in der Brieftasche mehrfach mit einem Lächeln abzählt. Hat die Besungene endlich alle Fotos zugeordnet, steht sie zufrieden vom Küchentisch auf und wischt mit einem Seufzen über die Mittelfalte des nun leeren Leinentuches. Im Stehen isst sie schnell ein trockenes Brötchen und trinkt dazu heißen Kakao. Noch mit vollem Mund stellt sie die Tasse und den Teller in die Spüle, hebt den Stuhl auf den Tisch und schiebt ihn an den Schrank. Ungeduldig streift sie die glitzernden Hausschuhe ab und wirft sie in die Ecke. Sie lässt das Rollo herabsausen und hängt die bunte Diskoleuchte und die Lichtschlange ins Fensterkreuz. Leise schließt sie die Küchentür, löscht das Licht und schaltet das Radio an. Sie stellt sich auf die Stelle mit dem abgenutzten Linoleum und beginnt zu tanzen. Behutsam umgreift sie ihre Schultern und streichelt sanft über Ohren und Nacken und die immer noch schlanke Taille. Ohne sichtbare Müdigkeit träumt sie sich barfuß in die besungenen Schicksale hinein. Und bis weit nach Mitternacht hört die Besungene Lieder, die sie seit Jahren allesamt auswendig kann.

Würde man den Pförtner nach ihr befragen, würde er gutmütig den Kopf schütteln und meinen, dass man der Träumerin einfach nicht böse sein kann. Außerdem würde er sagen, dass er selbst an seinen freien Tagen früh morgens noch vor ihrer Weckzeit bei verschiedenen Radiostationen anruft und romantische Liebeslieder bestellt.

Herr Auskunft

Schon in der Aufwachphase überlegt Herr Auskunft noch in seinem flauschigen Bette liegend, welche Informationen er für den beginnenden Tag abgeben möchte. Er gähnt in die dicken Kissen und murmelt zusammenhangslose Worte in den Raum. Verschlafen dreht sich Herr Auskunft auf die Seite und spielt mit den Fingerkuppen sanft über die Lippen. Blubbern weitere Worte heraus, formt er sie zu Sätzen zusammen. Er legt sich auf den Rücken, öffnet die Augen und schiebt die Hände unter den Kopf. Seelenruhig durchdenkt er das Geblubber und vermengt es mit den verbliebenen Erinnerungsfetzen seiner nebulösen Nachtträume. Und nur, wenn wenigstens zwei reißerische Nachrichten für den Tag entstehen, verlässt er sein kuschliges körperwarmes Bett. Anderenfalls bleibt Herr Auskunft trotzig zwischen den vielen aufgestapelten Kissen liegen, greift zum Telefon, das in auf dem Nachttisch steht, verstellt die Stimme und meldet sich mit starkem Halsweh oder einem Fieberschub krank.

Auf dem Weg zur Arbeit streut Herr Auskunft erste Informationen in den Fahrgastraum der Straßenbahn. Will er deren Wirksamkeit prüfen, spricht er den genervten Fahrer, rumklapsende Schulkinder oder prahlende Jugendliche an. Haben sie ihm die Information abgenommen, unterfüttert er diese mit weiteren Details. Dabei studiert er aufmerksam die Reaktion der Zuhörer. Konnte er sich einen ersten Eindruck über die Wirkung seiner Nachrichten verschaffen, verlässt er hastig den Wagon und eilt in den zweiten und dritten, um auch dort seine Nachrichten unter die müden oder morgenschwatzenden Fahrgäste zu bringen.

Gelangt Herr Auskunft nach der vielen Rumfahrerei endlich an die Krankenhauspforte, versucht er auch dem sprachfaulen Pförtner eine seiner vermeintlich heißen Nachrichten zuzuflüstern. Dieser schüttelt meist ungläubig den ergrauten Schopf, kratzt sich demonstrativ an der faltigen Stirn oder puhlt mit beiden Händen gleichzeitig in den abstehenden Ohren. Misswillig winkt er den säuselnden Herrn Auskunft unter der geschlossenen Schranke hindurch. Erscheinen ihm jedoch die Informationen absolut abstrus, öffnet er mit einem breiten Lächeln den Schrankenbaum und verbeugt sich. Und während Herr Auskunft versucht darunter hindurch zu schlüpfen, schließt der Pförtner die Schranke.

Mit einer Beule am Kopf schleicht er in den Umkleideraum der Kantine. Dort erzählt er, seinen Hinterkopf reibend, beiläufig Neuigkeiten über eine bevorstehende Scheidung oder das Verschwinden von Kindern beliebter Mitarbeiter, den Ruin eines vermögenden Chefs und dessen logischen Freitod. Sind die Kollegen davon gesättigt, eilt Herr Auskunft zufrieden in die Küche, schneidet den bereit liegenden Berg Brötchen auf und schmiert sie schnell mit Butter, Wurst und Käse. Hastig sortiert er das Frühstückbuffet in die Auslage und wartet auf den Zehen wippend ungeduldig an der Kasse auf die ersten hungrigen Mitarbeiter. Kommen diese mit knurrendem Magen an sein Buffet, rechnet er deren Einkauf langsam und in aller Ruhe ab. Meist muss er die angeblich abgelaufene Abrechnungsrolle wechseln, wegen vermeintlicher Rückenschmerzen seinen Stuhl anders ausrichten oder seine schwitzende Stirn unter Stöhnen abtupfen. Die Zeit nutzt er vor den Wartenden selbstredend um von einer Kündigungswelle, einer Totalpleite des Unternehmens und unausweichlichen Lohnabschlägen leidenschaftlich zu berichten. Stets bereitet es Herrn Auskunft größte Freude dackelhaft in die erstaunten Gesichter zu sehen und sie dabei mit freundlicher Stimme nach weiteren Essenswünschen zu fragen. Vergessen die Mitarbeiter vor Entsetzen das Tablett mit dem Becher Kaffee und den frisch belegten Brötchen, ruft er ihnen hilfsbereit hinterher. Unter konspirativem Geflüster, rückt er näher an die Mitarbeiter heran und reicht das eben Vergessene. Zittern sie und schwappt infolge dessen der Kaffee auf das Tablett oder purzeln die Brötchen auf den Fußboden, umgreift er sorgenvoll deren Hände, drückt diese an seine Brust und versichert im geheimnisvollen Tone, dass es schon nicht all zu arg kommen werde. Fast unhörbar flüstert Herr Auskunft, dass er sie weiterhin unaufgefordert und unter eigener Gefahr unterrichten werde. Mit dieser Methode verfährt er, bis alle ausreichend abgefertigt wurden.

Zum Mittagsbuffet, wenn Herr Auskunft die Salate liebevoll angerichtet hat, die warmen Speisen in den Töpfen dampfen und mit mediterranen Kräutern garniert sind, streut er an seiner Kasse sitzend, eine zweite und noch gewaltigere Information in die Kantine. Hat sich diese in allen Fluren und Zimmern des Krankenhauses ausgebreitet, kommt es vor, dass die Geschäftsführung die überfüllte Kantine oder andere Teile des Krankenhauses absperren lässt. Und es ist mehr als einmal passiert, dass panische Patienten wegen falschen Feueralarms evakuiert werden mussten, dass Mitarbeiter mit Mundschutz ängstlich auf Arbeit erschienen und dass das Hygieneamt hektisch Fußböden und Decken desinfizieren ließ. Selbst die Antiterrorgruppe scheint seit Jahren Dauergast zu sein und hat verschiedene Kellergewölbe, Wände und die Kanalisation nach versteckten Waffenlagern durchbrochen, hat blumengeschmückte Gartenanlagen wegen vermeintlicher Fliegerbomben durchpflügt, hat abgestellte Koffer gesprengt und verdächtige Pulverhäufchen geprüft.

Kommt Herr Auskunft nach solch einem ereignisreichen Tag in seine kleine Wohnung, zieht er den Hausanzug an und legt sich zufrieden ins flauschige Bett. Er schließt die Lider und lässt noch einmal genüsslich die angstverzerrten Gesichter in Zeitlupe an seinem inneren Auge vorbeiziehen. Sorgfältig analysiert er alle abgegebenen Informationen. Hat er die Analyse abgeschlossen, greift er im Nachttischfach nach der selbst gebauten Messskala und benotet sich selbstkritisch von eins bis zehn. Anschließend steht er auf, kocht Kaffee, holt den am Abend vorgebackenen veganen Kuchen aus dem Kühlschrank und erwärmt zwei Stück in der Mikrowelle. In kleinen Kringeln sprüht er Dosensahne auf den Zuckerguss und beobachtet wie sie schmilzt.

Zufrieden setzt sich Herr Auskunft auf das Plüschsofa, schaltet den Fernseher an und legt die Stoppuhr zwischen Kuchengabel und Fernbedienung. Geduldig wartet er auf den ersten Anruf. Klingelt das Telefon,
beantwortet er mit vollem Mund bereitwillig alle ihm gestellten Fragen. Ab und zu unterbricht er den Anrufer mit geheimen Informationen, die er ihm flüsternd und exklusiv zusteckt. Ist das Telefonat beendet, klatscht er in die Hände, streckt die Arme abwechselnd rhythmisch in die Luft. Hat hingegen ein aufgebrachter Abteilungsleiter angerufen oder eine erstaunte Stationsschwester stundenlang mit ihm telefoniert, springt er vom Sofa, dreht sich mehrfach um die eigene Achse und tanzt nicht weniger als vier Mal ausgelassen um den Wohnzimmertisch. Vor dem Fernsehgerät bleibt er anschließend atemlos stehen.

Geht Herr Auskunft nach den unzähligen Telefonaten am Abend schlafen, schreibt er exakt alle eingegangenen Anrufe auf. Je verzweifelter die Stimmen aus dem Hörer klangen, desto breiter malt er den Strich in das dicke Heft. Er legt es unter eines seiner vielen Kissen, kuschelt den Lockenkopf mit den vielen Sommersprossen in die Federn und fühlt sich seinem Traum nah, dass bald die Krankenhausleitung, der Staatsminister oder gar die verschiedenen Radiosender bei ihm anrufen würden. Mit diesem Gedanken schließt Herr Auskunft die Augen, dreht sich auf die Seite und gähnt. Verspielt zupft er an den Lippen, murmelt unverständliche Wortfetzen in den Stapel Kissen und schläft sorglos ein.