Der Belieber

Nach dem Aufwachen dreht sich der Belieber auf die Seite seines großen Wasserbettes und betrachtet den Körper, an dem er die Liebesleistung der letzten Nacht vollzogen hat. Vorsichtig streichelt er das schlafende Gesicht, dass sich ein leichtes Lächeln entspinnt. Dabei denkt er mit Genuss an die verschiedenen Gesten, die das Gesicht in der zurückliegenden Nacht hervorgebracht hat. Und es ist ihm eine allmorgendliche Befriedigung, die gesamten Liebeleien noch einmal detailliert in Gedanken zu wiederholen. Ist er mit dem Gedankenspiel fertig, hebt er mit Schwung das seidene Bettzeug über den schlafenden Körper, dreht sich zurück auf den Rücken und betrachtet sich im Deckenspiegel. Er beugt sich über den schlafenden Körper und haucht ihm einen Kuss auf den Nacken. Vergnügt steht er auf und schlendert ins Bad. Vor dem Spiegel streckt er die fast haarlose Brust heraus und versucht, die Verspannung, die er sich regelmäßig in den Nächten zuzieht, mit einer eigens entworfenen Gymnastik zu lösen. Hat er in der zurückliegenden Nacht außerordentlich gewagte oder gar gefährliche Liebestaten vollbracht, stellt er sich am anderen Morgen auf den Kopf und schüttelt seinen Unterleib bis ihm das dicke Gemächt an die Stirn stößt. Anschließend lässt er sich wieder auf den Boden sinken. Zusammengekauert rollt er auf dem Badvorleger auf und ab. Fühlt er sich wieder entspannt, springt er in den blasengebenden Whirlpool, in dem er die Liebesspiele der Nacht für gewöhnlich beginnt. Danach stellt er sich wieder vor den Spiegel und rasiert die Haare von Gesicht und Brust. Zum Schluss massiert er sich die Schläfen.

Ist er mit seiner morgendlichen Toilette fertig, föhnt er seinen Körper trocken und kleidet sich vor dem großen Bücherregal im Flur an. Dabei greift er in die Buchreihen und sucht eine kleine Erzählung, einen bunten Bildband oder einen klugen Ratgeber, der zum Wesen der jeweiligen seiner Liebschaften passt. Hat er das Buch gefunden, zieht er es heraus, greift zu einem der vielen Stapel Seidenpapier und umhüllt es kunstvoll. Er geht zum alten Holzkästchen, holt eines seiner vielen samtbestickten Haarbänder und umbindet das Papier. Anschließend schleicht er ins Schlafzimmer. Behutsam legt er das Büchlein mit einem Kuss und dem ehrlichen Wunsche, dass es seiner Nachtbekanntschaft im weiteren Leben helfen möge, auf das aufgeschüttelte Kopfkissen. Er öffnet die dicke Silberkette, die er Tag und Nacht um seinen Hals trägt und zieht die Schere und den Schlüssel, die ihm beide im allnächtlichen Liebestaumel als Metronom dienen, heraus. Er schneidet den Schlafenden eine Strähne oder Locke vom Kopfe, steckt sie in einen farbigen Briefumschlag und beschriftet diesen. Dabei geht er jedes Mal gleichermaßen vor. Er vermerkt zuerst den Tag, danach die Stunden, die angewandten Liebestechniken, die Sehnsüchte der Beliebten und zum Schluss seinen Zufriedenheitsgrad. Ausgiebig beleckt er danach den Brief, verklebt ihn sorgfältig und legt ihn in sein Archiv in den Wandtresor. Stolz addiert er die Zahlenkombination des Tresors um einen weiteren Nenner, denn nur so bleibt er auf dem aktuellen Stand. Nachdem er den Tresor wieder verschlossen hat, hängt er den Schlüssel und die Schere um den Hals und geht in die Küche zum Kühlschrank. Er greift zu einer der wohltemperierten Flaschen Champagner, öffnet sie leise und füllt deren Inhalt in zwei Gläser. Genüsslich trinkt er das erste Glas auf das Wohlergehen der Bekanntschaft aus. Mit geschickter Hand pflückt er drei Blumen aus den breiten Pflanzkästen, die er eigens für diese Stunden angelegt hat. Die erste Blüte arrangiert er liebevoll in das eingefüllte Champagnerglas, welches für seine Nachtbekanntschaft bestimmt ist. Die zweite platziert er gut sichtbar vor dem Badspiegel. Die dritte steckt er sich in den Mund. Mit der Blüte im Mund kocht er Kaffee, füllt ihn in die Thermoskanne, stellt Butter, Käse, viel frisches Obst auf den Frühstückstisch und das Champagnerglas dazu. Erfreut an dem beginnenden Tag, steckt er die Blüte ins Revers, schließt leise die Wohnungstür und rutscht vergnügt das Treppengeländer hinunter.

Der Belieber erscheint stets gepflegt. Schon auf den Fluren des Krankenhauses grüßt er mit übergroßem Lächeln den verschlafenen Pförtner oder die unsichere Reinigungsfrau.
Der Belieber ist höflich und zuvorkommend. Trotz, dass er seit Monaten auf Station seinen Dienst absolviert, klopft er mehrmals leise an die Tür und wartet, bis die jeweilige Stationsschwester ihr schnoddriges Herein ruft. Er öffnet die Tür einen Spalt weit, schiebt zuerst seinen Kopf, danach den schlanken Hals mit der dicken Silberkette und der Schere und dem Schlüssel hindurch und lächelt in den Raum. Erst danach gibt er der Tür einen kräftigen Schwung und betritt das Aufenthaltszimmer. Mit einer angedeuteten Verbeugung grüßt er zuerst die Stationsschwester und nach ihr dem Range folgend alle weiteren Schwestern. Hat er die Begrüßung artig abgeleistet, begibt er sich an das Ende des Tisches und küsst die ungeduldig wartenden Schwestern oder Pfleger. Zum Schluss gibt er ausgewählten von ihnen einen kräftigen Händedruck, einen kleinen Klaps auf die Schulter oder einen unerwarteten Puffer. Aber auch hier hält er eine unsichtbare Reihenfolge ein, deren Wertfolge nur für Eingeweihte erkennbar ist und erarbeiten werden muss. Hat er die allmorgendliche Prozedur vollzogen, hält er einen klitzekleinen Moment inne und setzt sich auf einen der angeboten Plätze zwischen eine der unglücklichen Schülerinnen oder Schüler. Er öffnet eine Flasche Möhrensaft und trinkt diesen in einem einzigen Zuge aus.

Der Belieber arbeitet korrekt. Ohne zu zaudern führt er die ihm übertragenen Aufgaben aus. Und keine noch so ekelerregende Tätigkeit weist er zurück. Vielmehr kämmt er vorab nochmal sein rotblondes, glattes Haar. Er zieht einen seiner samtbestickten Haarschnüre aus der Hosentasche, die wie zum Zeichen seiner Anwesenheit im gesamten Krankenhaus verstreut liegen und bindet den Zopf zusammen. Allzu gern sammeln arglose Schülerinnen die scheinbar verlorenen samtenen Schnüre als heimliche Souvenirs. Und nicht selten streiten Büroangestellte mit den Reinigungsfrauen teilweise heftig um deren Besitz. Neuerdings hat man auch Schüler die albernen Schnüre aufheben sehen.

Kommt der Belieber am Nachmittag nach Hause, schläft er sich erstmal gründlich aus. Am Abend, wenn die Mitarbeiter in die Stadt gehen, steht er auf, macht Fünfzig Liegestütze, Hundert Seilsprünge und mehrere Serien Hantelheben. Anschließend duscht er seinen Körper mehrmals gründlich ab. Er gönnt seinem Haar eine Heil-und Pflegekur und seinem Gesicht eine Honig-Gurken-Maske. Ist er damit fertig, feilt, lackiert, bürstet und cremt er sich für die Nacht zurecht. Zum Schluss rasiert er sich mit einer Schablone in den Intimbereich ein chinesisches Glückszeichen oder eine indianische Liebesformel, die die Beliebten in der kommenden Nacht beeindrucken sollen. Danach kleidet er sich modisch an und wartet ungeduldig auf seinen allabendlichen Besuch. Unruhig schreitet er auf dem ausgetretenen Parkettboden auf und ab, kneift sich in die zusammen geballten Hände, zieht sich an den Ohren oder kämmt sich wieder und wieder das schulterlange Haar. Erst das kurze Leuten der Klingel lässt ihn von seinen Handbewegungen innehalten und zur Tür hasten. Mit einem entspannenden Lächeln öffnet er sie und genießt die kommenden Stunden.

Der Belieber ist für seine gründliche Körperarbeit weltbekannt. Hat er Liebeshungrige erst einmal in seinem Wasserbett, begreift und beliebt er sie ausgiebig und von allen Seiten kunstvoll und ohne Unterlass. Und keine noch so kleine oder verborgene Stelle bleibt von ihm unbetastet.
Ist der Belieber nach vielen Stunden mit seiner Körperarbeit fertig, massiert und küsst er die erschöpften, säuselt ihnen erotische Formeln in verschiedenen Sprachen in die Ohren und schwingt die seidene Bettwäsche über sie. Sind sie eingeschlafen, steht er unbemerkt auf und reinigt ihre Schuhe oder bürstet ihre Sachen aus. Dabei greift er in die verstreuten Kleidungsstücke und bringt die Geldtasche an sich. Vorsichtig öffnet er die diese und prüft gewissenhaft deren Inhalt. Hat er sich von der Geldmenge überzeugt, steckt er kleine Münzen oder Scheine hinein, damit die Beliebten am anderen Morgen wohlbehalten nach Hause fahren können. Stets achtet er darauf, dass die eingelegten Münzen oder Scheine an genau den Positionen platziert werden, an denen sich gleichwertige befinden. Ist er damit fertig, schiebt er die Geldtasche zurück, legt sich ins Bett, lächelt erschöpft in den großen Deckenspiegel und schläft von der ausgiebigen Arbeit zufrieden ein.

Veröffentlicht von

Michael Elias

So wie er sich in politischen Dingen nicht festlegt - er hat zwei Systeme mit ihren Vor- und Hinterteilen kennengelernt - so ist auch seine Sprachform unentschieden. Er bleibt vielmehr auf der Suche nach den jeweiligen zusammengehörigen Sätzen. Er lebt über den Dächern von Leipzig; zwischen den Zeilen stürzt er sich mit offenen Augen ins Nachtleben.

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