Zum Festland, jeden Tag.

„Nur ein Traum.”
„Und was?”
„Nichts.“
„Nichts! Du hast geschrien!“

„Wir leben auf einer Insel. Du und ich.
Ich muss hinüber zum Festland, jeden Tag. Ich habe ein kleines Motorboot.
Es ist Winter. Das Boot liegt fest.
Der Eisbrecher zwischen der Küste des Festlandes und unserer:
Ich darf ihn nicht verpassen, er fährt nur einmal.
Ich warte am Steg, lange, vergebens.
Du kommst hinzu und legst mir die Hand auf die Schulter:
Das Eis ist zu dick geworden, es zu brechen.

Du läufst los, hinaus, weit, um mir zu zeigen, wie fest es trägt.
Ich folge dir, aber du bist schneller.
Du entdeckst zwei Löcher im Eis, zwei Eingänge, dicht an dicht.
Du tanzt um sie, wie ein Kobold.
Du lachst, dass ich ja darin oder darin Boot fahren könnte.

Dann rutschst du aus, strauchelst, schlitterst, stürzt.
Eines der Löcher verschluckt dich.
Wasser schwappt aufs Eis, gefriert, bevor ich blinzle.
Du wirst dir den Tod holen bei der Kälte, denke ich, nass, wie du bist.
Du wirst ersticken unterm Eis, denke ich, du kannst den Atem nicht halten.
Ich muss dich finden, denke ich, schnell, schnell.
Ich knie auf dem Eis, poliere es mit bloßen Händen, dich zu entdecken, irgendwo.
Ich trommle und trample, wo ich dich vermute.
Ich rufe und weine.
Eis bleibt:
Zwischen uns.

Ich taumele hinüber zum zweiten Loch und stürze mich hinab.
Kälte fährt in mich wie spitzes Metall.
Ich wage es, die Augen zu öffnen.
Sonnenlicht fällt blassgelb durch die Decke über mir.
Ich wage es, tiefer zu tauchen.
Wasser, hellblau, stürzt nach unten ins Schwarz.
Ich wage es, auszuatmen.
Luftblasen umgeben mich. Wie Perlen.
Schön, denke ich.“

„Aber du hast geschrien!“
„Weil du nicht da warst. Auch dort nicht.“
„Freilich war ich das.
Deck dich zu, ich mach uns einen Tee.“

wir schlagen auf eis

es friert um uns.
der kleine bär am nordhimmel,
streut die sterne aus dem pelz.
die wipfel biegen sich ein und wir
brechen uns die stalakmiten vom schopfe.

des federvieh-flug meridianabwärts,
und wir auf gefrierpunkt-zwischenstopp.

es klirrt um uns.
wir stapfen barfuß ins gestrüpp und kommen
mit zündhölzern wieder.
wir staunen über unsere atemschlote und bewahren
einander im hinterkopf.

wir schlagen auf eis.

Die Eismutter (II/II)

Sie schleicht vorsichtig in die Küche. Den warmen, kleinen Körper hält sie fest umschlungen in den Händen. Sie schaut in den Abfalleimer. Den hat sie heute vergessen. Sie setzt sich auf einen Stuhl und weint. Dann trägt sie den Körper ins Wohnzimmer. Danach wieder in die Küche. Vor der Gefriertruhe bleibt sie ruckartig stehen. Sie legt ihn mechanisch hinein. Den Einkauf packt sie obendrauf.

Erschöpft legt sie sich neben ihren Mann ins Bett. Er schläft geräuschvoll. Sie schiebt ihn sanft auf die Seite und flüstert: „Es ist alles wieder in Ordnung!“ Danach dreht sie sich auf die andere Seite zur Wand. Das ist ihre Lieblingsseite. Dort hängt ihr Hochzeitbild. Sie schaut es jeden Abend an bevor sie einschläft. Auch heute schaut sie in ihr umkränztes Lächeln und schließt schnell die Augen. Sie weiß, daß sie ihre Familie gerettet hat. Sie weiß, dass sie eine gute Mutter ist, und eine gute Ehefrau auch! Sollen doch die Leute im Dorf reden. Die reden über jeden. Sie weiß, das sie nie wieder schwanger werden wird!

Sie spielt mit dem Großen. Manchmal trägt sie ihn Huckepack zum verlassenen Spielplatz. Sie mag es, wenn er sie in die Nase kneift. Dann zeigt sie der Kleinen wie das geht und spricht mit ihr in der Kindersprache.

Sie ist 22. Und sie ist wieder schwanger. Das Andere liegt noch in der Truhe. Sie hat es nicht vergraben. Manchmal arbeitet er im Garten. Sie hat Angst in den Wald zu gehen, dort könnte sie jemand beobachten. Dann wäre es mit ihren Kindern vorbei, und der Ehe auch. Sie weiß, in der Küche wird es sicher sein. Sie legt das Neue einfach hinzu. Und die Leute tratschen wieder im Dorf, sie würde ihre Babys für viel Geld verkaufen. Und sie, sie hofft dass sie nie, nie wieder schwanger wird. Das hat sie sich dieses Mal ganz fest vorgenommen.

Und wieder kniet sie im Bad. Und wieder unter ihr die blutbefleckten Fliesen. Und wieder geht sie in die Küche. Sie öffnet die Gefriertruhe und sortiert zwei Einkaufsbeutel. Den leblosen Körper packt sie einfach dazu. Danach legt sie sich wieder auf ihre Seite neben ihren Mann ins Bett. Sie zieht wieder die Decke weit über den Kopf. Sie schließt die Augen und versucht zu schlafen. Nachdenken kann sie schon lange nicht mehr. Sie hat aufgegeben, nach einer Lösung zu suchen.

Sie steht am Fenster und blickt auf den Hof. Sie zündet eine Zigarette an. Der Große durfte heute anrufen. Die Großeltern haben es ihm erlaubt. Er hat gefragt, ob man da gar nichts machen kann. Sie hatte geschwiegen. Dann hat er gesagt: „Ich hab dich lieb, ganz doll lieb!“ und aufgelegt. 15 Jahre hat der Richter gemeint. 15 Jahre! Warum sie keine Pille nahm. Und warum sie niemanden davon erzählt habe. Und warum sie keine Hilfe geholt habe. Und ob sie sich bewußt wäre, dass das Töten von 3 Kindern ein Verbrechen darstelle. Sicherlich, richtig war es nicht, das mit den anderen, aber ein Verbrechen. Nein, das versteht der Richter nicht, denkt sie. Alle haben auf einmal so viele Fragen. Im Fernsehen kommen Sondersendungen, nur über sie. Die Leute im Dorf sind entsetzt. Die schütteln die Köpfe und antworten in die Kameras, dass sie immer so nett zu den Kindern war. Alle nennen sie nur: „Die Eismutter“. In der Hand hält sie ihre Zeitung. Auch die nennt sie nur “Die Eismutter“ und zeigt sie auf Bildern, wie sie tanzt und lacht, obwohl die Kinder schon lange tot sind.
Sie schließt das Fenster. Mechanisch blättert sie die Fernsehkanäle durch. Danach schaltet sie den Fernseher aus. Sie setzt sich an den Tisch und spielt wortlos mit ihren Händen. Das Telefonat beunruhigt sie jetzt. Sie drückt nach einem lautem Atemzug die Zigarette aus. Die unbenutzte Zeitung wirft sie in den Mülleimer. Sie schaut auf das Foto an der Wand und löscht das Zellenlicht. Sie legt sich in ihr Bett. Die Decke zieht sie weit über den Kopf.
23, ist sie jetzt.

Die Eismutter (I/II)

Sie ist 10. Ihr Bruder wurde geboren. Die Eltern freuen sich und haben weniger Zeit.

Sie ist jetzt immer so traurig. Die Tage sind irgendwie anders, nicht mehr wie früher. Das Spielzeug läßt sie oft liegen. Sie kann nicht schlafen und sie hat Angst sie könnte vergessen werden. Manchmal ist sie verzweifelt.

Ihre Eltern sind stolz auf ihren Bruder. Er sitzt auf Muttis Schoß. Er lacht und schmatzt und knetet Muttis Nase. Vati zieht dabei Grimassen. Auch er lacht und spricht mit ihm in der Kindersprache. Sie will auch gestreichelt werden und streckt ihre Arme weit hoch, zu den Eltern, so wie früher.

Die Eltern sind fleißige Leute. Das wissen alle im Dorf. Immer öfter kommen die Eltern zu anderen Zeiten nach Hause, manchmal ganz spät. Abendbrot isst sie entweder mit Vati oder Mutti, manchmal auch allein. Dann muß alles schnell gehen und es wird auch nicht mehr so viel erzählt. Das fehlt ihr besonders. Deswegen unterhält sie sich oft mit ihren Händen. Und wenn sie im Bett liegt und ihre Hausaufgaben vergessen hat, schimpfen die Eltern viel. Mutti holt sie aus dem Bett und sie muß die Aufgaben erledigen. Das passiert oft. Wenn das geschieht, schleicht sie heimlich in die Küche und isst das ganze Nutella auf. Das gibt es seit neuesten im Konsum.

Sie ist 13. Sie hat immer mehr Probleme den Lehrer zu verstehen. Sie ist müde und hat Kopfschmerzen. Irgendwie fehlt ihr Kraft dem Lehrer zu antworten. Sie behält die Antworten einfach für sich: in solchen Momenten packt sie wortlos die Einträge und schlechten Zensuren in ihren Ranzen und zeigt sie ihren Eltern, abends vor dem Fernseher. Wenn sie Stubenarrest bekommt versucht sie besonders lieb zu sein. Und auch in der Schule gibt sie sich besonders viel Mühe. Doch dann, dann ist alles so wie vorher. Sie geht wortlos in ihr Zimmer und legt sich auf ihr Bett und zieht die Decke über den Kopf: Sie träumt, wie ihr schwarzes Haar im Wind weht, wie sie ertrinkt und hofft das alle Kinder und auch die Eltern traurig sind. Sie träumt wie Mich Bucannon sie aus dem Wasser trägt, wie sie sich an ihn schmiegt, wie er sie anlächelt und sanft umarmt. Sie spürt wie er in ihr Ohr flüstert. Bei diesem Gedanken drückt sie immer die Hände fest vor die Augen. Und gemeinsam laufen sie am Strand entlang bis die Sonne untergeht. Sie denkt viel an ihn, manchmal auch nachts, bis sie endlich wieder einschlafen kann. Gemeinsam fährt sie mit Michael Knight und KITT davon, ganz schnell: vorbei am Haus der Eltern mit dem Garten und dem kleinen Bruder der darin spielt, vorbei an der Schule mit den Lehrern und den Schülern die erstaunt ihr zuwinken. Und wenn sie aufwacht, dann ist sie irgendwie vergnügt.

Sie ist 17. Und sie ist glücklich! Er schaut sie an. Dann spricht er mit ihr. Sie sieht wie er ruhig und sicher sein Bier trinkt. Sie findet es gut, wie er raucht und wie er mit seinen starken Armen den Kellner zu sich herüberwinkt. Sie lächelt. Er lächelt. Sie tanzt mit ihm fast alle Lieder an diesem Abend. Er umarmt sie, er küßt sie, er umfasst sie, ganz fest. Dann flüstert er ihr ins Ohr. Sie versteht ihn nicht. Er zieht sie vom Festzelt weg, zieht sie hinter sich her, hinter das Schulgebäude, hinter den Appellplatz, zu den Bänken, neben die Mülleimer.

Sie hat ihn gefunden. Sie ist ganz aufgeregt. Die Nächte sind nicht mehr wie früher. Sie kann nicht schlafen. Das stört sie jetzt nicht mehr. Er hat es ihr gleich am ersten Tag gesagt, das mit der Liebe.

Sie ist 18. Und sie ist schwanger. Das ging alles so schnell. Sie hat das ja nur ganz selten gemacht, das hinter dem Appellplatz an den Mülleimern. Die Ausbildung will sie beenden. Sie braucht viel Zeit für das Kind. Sie will heiraten. Ihre Eltern sind dagegen. Die wollen ihren Freund nicht. Das Ungeborene, das auch nicht. Und sie, sie will ihn nicht verlieren. Er gehört ihr, ihr ganz allein. Sie liebt ihn, und seinen silbernen Lastwagen auch.

Sie ist 19. Sie heiratet. Ihre Ausbildung bricht sie ab. Zuviel hat sie mit dem Kind zu tun. Sie streichelt es liebevoll und sie spricht mit ihm liebevoll in der Kindersprache. Ihr Mann hat wenig Zeit. Er muss viel arbeiten. Er ist fleißig. Das wissen alle Leute im Dorf. Und wenn er da ist, geht er manchmal zur Feuerwehr ein Bier trinken. Das geht in Ordnung. Andere Männer machen das auch.

Sie ist 20. Sie wird wieder schwanger. Auch dieses Mal ging alles sehr schnell. Sie mag es wenn der Große sie in die Nase kneift. Dann spricht sie mit ihm in der Kindersprache. Der Mann fährt immer noch einen Lastwagen, jetzt einen blau-weißen. Und wenn er wie immer sein Bier trinkt, geht das fast immer in Ordnung. Nur manchmal, wenn er mit seinen starken Armen sie sehr fest hält, ist sie traurig. Danach bringt er ihr viele Blumen mit und spricht mit ihr. Und zärtlich ist er auch, nachts, meistens jedenfalls. In solchen Momenten ist es wunderbar schön! Er liebt sie. Sie weiß es genau.

Sie ist 21. Sie erinnert sich an den Großvater. Er hat vom Klapperstorch erzählt, wenn eine Familie im Dorf ein Kind bekam. Daran muss sie jetzt denken. Und an die Hände die er ihr immer so lieb in die Haare schob, bis sie kicherte, auch. Und dann, dann war er einfach tot, obwohl er sagte: „bis Samstag, Kleine!“ Und auch die Hände waren weg. Das ist lange her. Sie streichelt sich über den Bauch. Das Kind soll seinen Namen bekommen.

Sie ist ganz aufgeregt. Abends vorm Fernseher will sie es ihm sagen. Sie stellt ausreichend Bier in den Kühlschrank und kocht eine doppelte Potion von seinem Lieblingsgericht. Und er, er wird plötzlich laut, schreit sie an. Erst will er sie und dann die Kinder „alle machen“. Er steht auf und geht sein Bier woanders trinken. Sie weiß was danach passiert.

Sie sitzt am Küchentisch und malt Kreise auf die Decke. Sie weiß, dass Männer so etwas tun, überlegt sie. Sie hat es im Fernsehen gesehen. Die bringen so etwas immer in den Nachrichten. Auch in ihrer Zeitung sieht sie die Mütter mit den Kindern lachen, obwohl sie doch schon tot sind. Die Kinder, denkt sie, die können doch gar nichts dafür. Und warum nur machen Männer so etwas? Sie weiß nicht mit wem sie reden soll. Sie weiß nicht, was sie fragen soll, wo er sie doch liebt, sie und die Kinder auch. Sie ist verzweifelt. Und gegen das Gefühl von früher kann sie einfach nichts machen.

Die Eltern kommen die Enkel besuchen wenn er nicht da ist, sonst gibt es zuviel Streit. An solchen Abenden hören die Nachbarn die Streitereien, und die anderen Dinge auch. Das will sie nicht. Mit ihnen kann sie nicht reden, überlegt sie. Die Kinder leben auf dieser Erde. Das andere, das nicht. Die Kinder sprechen mit ihr in der Kindersprache. Das andere, das nicht. Sie kann sich ihr Leben ohne ihren Mann und ohne ihre Kinder einfach nicht vorstellen. Was wissen die Nachbarn schon von ihr. Die reden über jeden.

Sie ist 21. Es ist Nacht. Der Mann war Bier trinken. Heute hat er ihr nichts getan. Die Kinder hat sie zeitiger ins Bett gebracht. Sie liegt im Bad auf den weißen, kalten Fliesen; neben ihr die Nachgeburt. Es muß alles schnell gehen, denkt sie. In der Hand hält sie den Körper; die Nabelschnur fest um den Hals. Es ist kalt. So viel Blut. Sie muss das alles wegwischen. Sie friert. Und sie ist müde. Jetzt darf keiner ins Bad kommen. Und wohin mit dem Kind, überlegt sie. Sie schaut in den Wäschekorb. Weg von der Erde hat er gemeint. Sie ist zu kraftlos um noch weiter suchen zu können, um noch graben zu können.

(Fortsetzung folgt am 25.Nov. um 10 Uhr.)