Die Eismutter (II/II)

Sie schleicht vorsichtig in die Küche. Den warmen, kleinen Körper hält sie fest umschlungen in den Händen. Sie schaut in den Abfalleimer. Den hat sie heute vergessen. Sie setzt sich auf einen Stuhl und weint. Dann trägt sie den Körper ins Wohnzimmer. Danach wieder in die Küche. Vor der Gefriertruhe bleibt sie ruckartig stehen. Sie legt ihn mechanisch hinein. Den Einkauf packt sie obendrauf.

Erschöpft legt sie sich neben ihren Mann ins Bett. Er schläft geräuschvoll. Sie schiebt ihn sanft auf die Seite und flüstert: „Es ist alles wieder in Ordnung!“ Danach dreht sie sich auf die andere Seite zur Wand. Das ist ihre Lieblingsseite. Dort hängt ihr Hochzeitbild. Sie schaut es jeden Abend an bevor sie einschläft. Auch heute schaut sie in ihr umkränztes Lächeln und schließt schnell die Augen. Sie weiß, daß sie ihre Familie gerettet hat. Sie weiß, dass sie eine gute Mutter ist, und eine gute Ehefrau auch! Sollen doch die Leute im Dorf reden. Die reden über jeden. Sie weiß, das sie nie wieder schwanger werden wird!

Sie spielt mit dem Großen. Manchmal trägt sie ihn Huckepack zum verlassenen Spielplatz. Sie mag es, wenn er sie in die Nase kneift. Dann zeigt sie der Kleinen wie das geht und spricht mit ihr in der Kindersprache.

Sie ist 22. Und sie ist wieder schwanger. Das Andere liegt noch in der Truhe. Sie hat es nicht vergraben. Manchmal arbeitet er im Garten. Sie hat Angst in den Wald zu gehen, dort könnte sie jemand beobachten. Dann wäre es mit ihren Kindern vorbei, und der Ehe auch. Sie weiß, in der Küche wird es sicher sein. Sie legt das Neue einfach hinzu. Und die Leute tratschen wieder im Dorf, sie würde ihre Babys für viel Geld verkaufen. Und sie, sie hofft dass sie nie, nie wieder schwanger wird. Das hat sie sich dieses Mal ganz fest vorgenommen.

Und wieder kniet sie im Bad. Und wieder unter ihr die blutbefleckten Fliesen. Und wieder geht sie in die Küche. Sie öffnet die Gefriertruhe und sortiert zwei Einkaufsbeutel. Den leblosen Körper packt sie einfach dazu. Danach legt sie sich wieder auf ihre Seite neben ihren Mann ins Bett. Sie zieht wieder die Decke weit über den Kopf. Sie schließt die Augen und versucht zu schlafen. Nachdenken kann sie schon lange nicht mehr. Sie hat aufgegeben, nach einer Lösung zu suchen.

Sie steht am Fenster und blickt auf den Hof. Sie zündet eine Zigarette an. Der Große durfte heute anrufen. Die Großeltern haben es ihm erlaubt. Er hat gefragt, ob man da gar nichts machen kann. Sie hatte geschwiegen. Dann hat er gesagt: „Ich hab dich lieb, ganz doll lieb!“ und aufgelegt. 15 Jahre hat der Richter gemeint. 15 Jahre! Warum sie keine Pille nahm. Und warum sie niemanden davon erzählt habe. Und warum sie keine Hilfe geholt habe. Und ob sie sich bewußt wäre, dass das Töten von 3 Kindern ein Verbrechen darstelle. Sicherlich, richtig war es nicht, das mit den anderen, aber ein Verbrechen. Nein, das versteht der Richter nicht, denkt sie. Alle haben auf einmal so viele Fragen. Im Fernsehen kommen Sondersendungen, nur über sie. Die Leute im Dorf sind entsetzt. Die schütteln die Köpfe und antworten in die Kameras, dass sie immer so nett zu den Kindern war. Alle nennen sie nur: „Die Eismutter“. In der Hand hält sie ihre Zeitung. Auch die nennt sie nur “Die Eismutter“ und zeigt sie auf Bildern, wie sie tanzt und lacht, obwohl die Kinder schon lange tot sind.
Sie schließt das Fenster. Mechanisch blättert sie die Fernsehkanäle durch. Danach schaltet sie den Fernseher aus. Sie setzt sich an den Tisch und spielt wortlos mit ihren Händen. Das Telefonat beunruhigt sie jetzt. Sie drückt nach einem lautem Atemzug die Zigarette aus. Die unbenutzte Zeitung wirft sie in den Mülleimer. Sie schaut auf das Foto an der Wand und löscht das Zellenlicht. Sie legt sich in ihr Bett. Die Decke zieht sie weit über den Kopf.
23, ist sie jetzt.

Veröffentlicht von

Michael Elias

So wie er sich in politischen Dingen nicht festlegt - er hat zwei Systeme mit ihren Vor- und Hinterteilen kennengelernt - so ist auch seine Sprachform unentschieden. Er bleibt vielmehr auf der Suche nach den jeweiligen zusammengehörigen Sätzen. Er lebt über den Dächern von Leipzig; zwischen den Zeilen stürzt er sich mit offenen Augen ins Nachtleben.

2 Gedanken zu „Die Eismutter (II/II)“

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