Der Lobesfischer

Der Lobesfischer lässt sich von allen und jedem aufs Herzlichste bewundern. Dabei zählt er die ihm entgegengebrachten Hymnen nach ihrer Art, der Zeit, ihrer Intensität und der Zuhörerschaft aufmerksam mit. Haben die Bewunderer ihr Lob vollbracht, lagert der Lobesfischer alle ihre dargebrachten Huldigungen fein säuberlich in seinen endlos scheinenden Kopfspeicher, den er sich seit frühesten Kindertagen mühselig aufgebaut hat.

Schon in der Nacht springt der Lobesfischer nach kurzer Schlafzeit aus dem Bett und putzt Fenster, Treppenflure und Gehwege der arglos schlummernden Hausbewohnerschaft. Kommt der Lobesfischer scheinbar ausgeruht zur Arbeit, stellt er sich in die breite, hell erleuchtete Empfangshalle des Krankenhauses und hilft ungefragt umhereilenden Ärzten, wartenden Patienten oder orientierungslosen Besuchern. Hat er das ersehnte Lob endlich vernommen, atmet er erleichtert aus. Er schließt die Augen und lächelt (klein)kindhaft über das ganze Gesicht. Noch mit geschlossenen Augen zieht er den wortgewaltigsten Lober fest an sich heran, schlingt beide Arme um seinen Hals und hält ihn an sich gedrückt. Ist er sich endlich Gewiss, auch an diesem Tage von allen gelobt zu werden, lässt er den Umarmten abrupt los und rennt mit ausgestreckten Armen durch die schmalen Stationsgänge, an überfüllten Wäscheschränken und offenen Essenwagen vorbei, springt in hohem Bogen über den Wischeimer der verdutzten und schimpfenden Reinigungskraft, bis er auf seiner Station angelangt ist. Überschwänglich beginnt er die ihm zugewiesene Arbeit. Er schnappt sich einen Stapel Schüsseln und betritt mit einem Jauchzen das Patientenzimmer. Er öffnet das Fenster und wedelt frische Morgenluft hinein. Er geht von Bett zu Bett und begrüßt die verschlafenen Patienten mit einem ihnen genehmen Kompliment. Da er sich deren Sonderwünsche allesamt vom Vortage genauestens eingeprägt hat, stellt er ihnen Wasser in der gewünschten Temperatur ans Bett, erkundigt sich nach den jeweiligen Vornamen der Enkeln, deren Fotos auf den Nachttischen stehen und bewundert die Kinderbilder, die an den weißen Wänden mit Pflaster schief aufgeklebt hängen. Verweigern ihm die Patienten das ausstehende Lob, massiert er kräftig deren Nacken oder streichelt sanft über ihre Fußsohlen. Haben sie danach das benötigte Lob immer noch nicht preisgegeben, beginnt er die Patienten rigoros aufs Neue zu waschen. Erst wenn der letzte Patient laut und überdeutlich seine große Anerkennung ausgeliefert hat, verlässt der Lobesfischer beglückt das Zimmer. Schnell eilt er ins nächste Zimmer, denn auch dort gilt es dicke Lobe abzufischen, bevor sie andere Mitarbeiter bekommen. Ist er mit dem zweiten Zimmer fertig, eilt er zum dritten, vierten und fünften. Und nicht selten überredet er Mitarbeiter ihm die Pfegschaft gut lobender Patienten abzugeben.

Beginnt die Frühstückspause, geht der Lobesfischer ins Schwesternzimmer und malt die Daten aller Patienten mit Buntstiften in die Kurven ein. Er beschriftet in Feinschrift Blutentnahmenetiketten, stellt akkurat Apothekenflaschen in die Schränke oder untersucht Urinproben. Und nur wenn ihn die Stationsschwester auf Knien bettelt, lässt er seine Arbeit ruhen und kommt widerwillig und von ihr mit Lobhuldigungen überschüttet und angetrieben, in den überfüllten Pausenraum. Er nimmt seinen Seemannssack aus dem Spind und holt die mittelalterlichen Kuchenspezialitäten und exotischen Gerichte heraus, die er aufwendig in der Nacht angefertigt hat. Diese reicht er stumm aber mit einem beobachtenden Blick der murmelnden Mitarbeiterschaft. Bedanken sich die Mitarbeiter, packt er die restlichen Stücke sofort zusammen und bietet sie mit dem gleichen beobachtenden Blick auf anderen Stationen oder der großen Empfangshalle an, bis auch diese Mitarbeiter sich schmatzend und mit übervollem Mund bedanken. Dabei merkt er sich genau, welche Speise welcher Mitarbeiter besonders belobigt. An manchen Tagen soll es vorkommen, dass Mitarbeiter ihre Bewunderung über das Gebackene verweigern. In diesen Momenten nimmt er ein zweites, drittes und wenn es ihm sinnvoll erscheint, ein viertes Packet zur Hand und stellt es den Lobverweigerern vor die Nase, bis auch sie endlich das überfällige Lob an ihn herausbringen. Notfalls bebäckt er sie über Tage, über Wochen und Monate.

Sind alle Speisen aufgezehrt, streut er die restlichen Krümel auf die Straße, in den Krankenhausgarten oder auf eines der unzähligen flachen Fensterbretter. Dort wartet der Lobesfischer bis der Hund des Pförtners zufrieden mit dem Schwanz wedelt, die Katze der Pförtnersfrau um sein Bein schnurrt oder der Spatz aufgeregt tschilpt und Kreise über seinem Kopf fliegt. Hat er den dankbaren Tieren ihr Lob entlockt, knöpft er die obersten Knöpfe seines Hemdes weit auf und schlendert erwartungsvoll in den Krankenhausfluren umher. Glaubt er, dass einer der neuen Patientinnen sich für ihn interessiert oder ihm einen Liebesbrief zukommen lassen will, bleibt er kurz stehen und öffnet weitere Knöpfe seines stets dünnen Hemdes auf. Er streckt seine muskulöse Brust heraus, die er sich eigens für diese Momente hart über die Jahre antrainiert hat. Auf Zehenspitzen umrundet er die Patientin und verwickelt sie in diffuse Gespräche, in denen er zur Abwechslung loben muss. Dabei nähert er sich der Interessierten geschickt, dass er ihr ausreichend Gelegenheit verschafft, ihren Brief, von ihm scheinbar unbemerkt, in eine seiner breiten Hemdstasche einzuwerfen. Hat er ein Lob von der ahnungslosen Patientin erhalten oder spürt er deren dicke Post in der Tasche, zwinkert er ihr demütig zu. Denn auch ihr Lob ist ihm äußerst wichtig, und er achtet es, obwohl er mit den Sehnsüchten der Patientin nichts anfangen kann.
Ist er mit seinem Stationsdienst fertig, nimmt er lange Einkaufslisten von mehreren Mitarbeitern entgegen und erledigt sie auf dem Heimweg.

Kommt der Lobesfischer nach Hause, klappert er mit dem fetten Schlüsselbund bis einer der aufgeschreckten Hausbewohner die Tür öffnet und sich für die funkelnden Fensterscheiben, die polierten Flurböden oder den gefegten Gehweg mehrfach und mit kleinen Aufmerksamkeiten bedankt. An Tagen, an denen kein Hausbewohner sich bedanken will, klopft und poltert er so lange im Hause herum, bis die gesamte Bewohnerschaft aus ihren Wohnungstüren eilig zusammentrifft und ihm mehrstimmig ein Ständchen singt. Mit einer Verbeugung nimmt er den Dank an, schließt schnell die Tür hinter sich zu und legt sich zufrieden auf das Sofa. Mit aller Welt zufrieden, streckt er die Beine nach den vielen Anstrengungen des Tages von sich. Bei einem großen Glas Milch liest er genüsslich die Liebesbriefe, die er von der schüchternen Patientenschaft zugesteckt bekommen hat, langsam und laut vor. Hat er sich wieder und wieder an den wunderbaren Worten berauscht, wischt er aufgeregt den Michschaum vom Mund. Sorgsam spricht er die Brieftexte auf Band um sie an Tagen, an denen er sich ungeliebt fühlt, in seinen Quadrosoundboxen, bei voller Lautstärke und gegen den pochenden Protest der Hausbewohner, wieder und wieder abhören zu können. Noch nie ist ihm beim Abhören der Texte der Gedanke gekommen, eine der unzähligen und netten Briefeschreiberinnen endlich und persönlich kennen zu lernen. Vielmehr verzückt den Lobesfischer die bloße Vorstellung auch von ihnen hemmungslos begehrt zu werden. Hat er die Briefe auswendig gelernt, springt er vom Sofa und steckt sie in den Reißwolf, damit kein Anderer sein Lob verwenden kann. Er geht in die Küche und beginnt mit den vielfältigsten Vorbereitungen des kommenden Tages. Er sucht seltene Rezepte in alten Kochbüchern und kocht mit unbekannten Kräutern, die er von fremdsprachigen Händlern auf dem Wochenmarkt gekauft hat. Ist er damit fertig, bastelt er komplizierte Geschenke. Bei alledem hat er stets das Telefon im Blick, denn er könnte einen der häufigen Anrufe verpassen, in denen er inständig gebettelt wird, einen Zusatzdienst auszuüben. Für nichts in dieser Welt würde er auch nur eines dieser Telefonate verpassen, sichern sie ihm doch tagelanges, wenn nicht gar wochenlanges Lob seiner aufgeregten Stationsschwester, der besorgten Oberin oder der aufmerksamen Ärzte. Und seit Jahren ist es ihm völlig egal, wann er endlich freie Tage erhält oder in Urlaub fahren kann.

Am Abend, wenn alle Behältnisse mit frisch gebackenem Kuchen, mit rafiniert gewürzten Suppen oder mit knackigen Salaten aufgefüllt sind, legt sich der Lobesfischer tagesmüde ins Bett. Er hält beide Hände an die Wangen und streichelt sich sanft mit kleinen Kreisbewegungen über das Gesicht. Er schließt die Augen und ruft alle ausgesprochenen Lobe einzeln und detailliert auf. Abermals spricht er sich die auswendig gelernten Briefe laut vor und macht das Tschilpen der Spatzen nach. Zum Schluss flattert er mit den Armen und wedelt sich über die Beine. Er bündelt das Lob des gesamten Tages fest zusammen und atmet es mit tiefen Atemzügen weit in seine Lungenflügel ein. Zufrieden stopft der Lobesfischer sein Kopfkissen zusammen, schiebt den Arm unter die Daunen und drückt sein Ohr darauf. Er legt sich auf die Seite und rollt den schmalen Körper zusammen. Mit dem oberen Ohr bewacht der Lobesfischer Nacht für Nacht das Telefon.

Veröffentlicht von

Michael Elias

So wie er sich in politischen Dingen nicht festlegt - er hat zwei Systeme mit ihren Vor- und Hinterteilen kennengelernt - so ist auch seine Sprachform unentschieden. Er bleibt vielmehr auf der Suche nach den jeweiligen zusammengehörigen Sätzen. Er lebt über den Dächern von Leipzig; zwischen den Zeilen stürzt er sich mit offenen Augen ins Nachtleben.

Ein Gedanke zu „Der Lobesfischer“

  1. Ha Ha Ha. Besonders das Ende gefällt mir gut. Ich stelle mir die Hausbewohner vor, wie sie im Treppenhaus für ihn singen. Auch wie er das Lob am Ende zusammenbündelt, kann ich mir bildhaft vorstellen.

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