Die Lebensrechnerin zählt aufmerksam die Jahre und es entgeht ihr kein einziger Tag dabei. Unermüdlich berechnet sie im Archiv des Krankenhauses das Leben der Nachbarn, der Kollegen und der Patienten und trägt jede noch so kleine Information in ihre persönliche Sterbeliste ein. Selbst Daten, die sie über deren Angehörige im Vorbeigehen aufschnappt, verarbeitet sie am Abend begierig.
Liest sie in der Zeitung vom Ableben eines geschätzten Mitarbeiters oder hört sie in den Krankenhausfluren vom plötzlichen Tod eines Patienten, zuckt sie erschrocken zusammen und irrt durch die neonbeleuchteten Gänge, bis sie glaubt, endlich einen Informanten gefunden zu haben. Sofort beginnt sie, ihn in ein Gespräch zu verwickeln. Dabei vermeidet sie es stets tagespolitische oder gar soziale Ereignisse zu kommentieren. Auch hütet sie sich, mit Mitarbeitern des Personalrates zu sprechen, um nicht in interne Arbeitsrechtsstreitereien oder eine mögliche Kandidatur gebracht zu werden. Stellt sich der Informant ihrer Meinung nach stur, verstrickt sie ihn in konstruierte Fallbesprechungen, neue Therapieverfahren oder unklare Krankheitsbilder. Und nur wenn er nach diesen Versuchen immer noch keine Information hervorbringt, fragt sie nach der Uhrzeit und läuft entsetzt mit wehendem Kittel davon.
Hat sie endlich einen Informanten gefunden, der ihr Details über den Tod des Kollegen oder Patienten geben kann, hört sie ihm mit zusammengekniffenen Augen zu, presst beide Hände an ihre Schläfen, und versucht sich das Portrait des Verstorbenen vorzustellen. Krampfhaft überlegt sie, ob er beim letzten Zusammentreffen bereits an einer Erkrankung litt oder sonstige Anzeichen eines frühen Todes mit sich trug. Ist sie mit den Überlegungen zur Ursache fertig, atmet sie erleichtert aus und öffnet wieder die Augen. Oft fragt sie mit leiser Stimme den Informanten, ob die Todesart häufig vorkomme und was der Verstorbene zur Verhinderung hätte tun können. Beschwichtigt der Informant, dass die Erkrankung selten sei, atmet sie für alle gut hörbar aus und schlendert hüftschwingend, die dicken Krankenakten auf den Kopf tragend durch die Flure. Und es bereitet ihr eine große Freude schon auf dem Stationsgang gedanklich die Anzeige akkurat an der schwarzen Umrandung herauszuschneiden. Nicht selten ertappt sie sich wie ihre Hand die Schneidbewegungen langsam imitiert. Und oft wird sie deswegen von ihren Informanten argwöhnisch beäugt oder daraufhin angesprochen. Gibt hingegen der Informant zu verstehen, dass die Krankheit häufig vorkäme, oder das sie so gut wie nie behandlungsfähig sei, sucht sie fluchtartig die nächste Toilette auf und lässt minutenlang kaltes Wasser über ihre Haare und ihr blasses Gesicht laufen. Und nicht selten passiert es, dass sie von ungläubigen Herren beim Händewaschen angesehen wird oder dass sie ihre Krankenakten auf der Fensterbank zurücklässt.
Kommt die Lebensrechnerin nach einer solchen Nachricht nach Hause, schafft sie es kaum ihre Schuhe auszuziehen. Sie erstellt ohne etwas gegessen oder den Hut abgenommen zu haben in ihrer Straßenkleidung eine ausführliche Kartei mit den Lebensdaten des Verstorbenen. Sie sucht die jeweiligen Tabellen hervor und trägt alle Informationen mit verschiedenen Farben sorgfältig ein. In Fachbüchern vergleicht sie die Diagnose, Therapien und Lebenszahlen, addiert sie mit zitternder Hand und dividiert sie durch die Anzahl der einzelnen Lebenserwartungen. Den Gesamtwert trägt sie hastig und bis auf die zehnte Zahl hinter dem Komma in die Tabelle ein. Häufig wird ihr dabei schwindlig, dass sie erschöpft zu Boden sinkt. Und nur, wenn es ihr gelingt, ihre Lebenserwartung höher als die des Verstorbenen hervorzurechnen, kann sie auf den sonst üblichen Telefonruf des Notarztes verzichten.
Die Lebensrechnerin mag weder Haustiere noch Grünpflanzen. Sie wohnt in einer Wohnung mit stets polierten Parkett und geputzten Fliesen. Freunde empfängt sie selten, da ihr die aufwendige Reinigung nach jedem Besuch zu beschwerlich erscheint. Die Lebensrechnerin isst am liebsten Essen aus der Assiette oder aus dem Einweckglas und verbringt die meiste Zeit mit dem Studium von medizinischer Fachliteratur. In ihren freien Tagen absolviert sie ihre unzähligen Arzttermine. Und Urlaubsorte, die außerhalb Deutschlands liegen, kommen für sie überhaupt nicht infrage. Selbst Feierlichkeiten, zu denen sie manchmal eingeladen wird, verlässt sie prinzipiell noch vor dem Festessen mit der immer gleichen Bemerkung, es gehe ihr heute gar nicht gut.
Bevor die Lebensrechnerin am Abend ins Bett geht, durchdenkt sie nochmals ihre vielen Tabellen. Dabei geht sie gründlich vor, denn sie weiß, all zu oft ist sie wegen einer fehlenden Berechnung in der darauf folgenden Nacht erwacht, hat ihren verschwitzten Körper unruhig auf der klimatisierten Matratze hin und her gewälzt und ist, wenn nötig, aus dem Bett gesprungen und hat hastig die verschobene Berechnung nachgeholt. Und nicht selten ist sie bei dem Zusammentragen der fehlenden Lebenszahlen am Schreibtisch eingeschlafen und am anderen Morgen viel zu spät auf Arbeit erschienen.
Die Lebensrechnerin kennt keine Tagträume. Nachts träumt sie schlecht. In den vielen Albtraumphasen, die sie durchlebt, schreit sie lauthals die Namen aller Krankenschwestern, die dringend eine Kinderfrau für ihre unbeaufsichtigten Sprösslinge suchen, in die Dunkelheit. Selbst bei geschlossenen Fenster sind die langen Namensreihen, die sie bei ihren Stationsbesuchen von den Dienstplänen heimlich fotografiert, noch im benachbarten Viertel zu hören. Und es kommt vor, dass besorgte Bewohner bei ihr klingeln oder die Feuerwehr rufen.
Die Lebensrechnerin geht gern in ihren freien Tagen auf Friedhöfe. Oft nimmt sie die Kinder der Krankenschwestern mit um ihnen die Vergänglichkeit ihres jungen Lebens vor Augen zu führen. Sie spaziert mit ihnen zwischen den Grabreihen hin und her und fordert sie auf, je nach Größe oder Farbe des Steines, die entsprechenden Lebensdaten zu notieren. Anschließend addieren oder dividieren sie die Ergebnisse in ihren Schulheften. Fragen die Kinder, woran die Menschen unter den dunklen Steinen verstorben sind, entsinnt sich die Lebensrechnerin ihrer erfolgreichen Aufführungen im Schultheater und spielt den Kindern ausführlich das Ableben der Verstorbenen vor. Dabei röchelt und jammert sie so laut, dass auch sie selbst in Todesangst gerät. Manchmal beschweren sich vorbeigehende Besucher empört bei ihr oder dem ungläubigen Friedhofspersonal. Und oft wird von den Eltern der Kinder nach solchen langen Spaziergängen erzählt, dass ihre quirligen Sprösslinge in den darauf folgenden Tagen besonders schweigsam gewesen wären.
Die Lebensrechnerin hat viele Fehltage. Oft meldet sie sich früh, kurz vor Dienstbeginn, krank. Auch beklagen sich Ärzte und Verwaltungsmitarbeiter immer wieder, dass einzelne Krankenblätter oder gar ganze Akten für Tage, manchmal sogar Wochen unauffindbar seien.