Fehlersuche

„Ey, Jungs!“ Wir sehen uns an und sind uns einig, dass wir nicht gemeint sein können. Wir sind lange keine Jungs mehr und kennen niemanden, der uns so laut auf der Straße hinterherrufen würde. „Hey, ihr da!“ Wir bleiben stehen und drehen uns um. Aus einem Fenster im zweiten Stock des blassgelb getünchten Wohnblocks winkt uns eine blondgelockte, schmuckbehangene Frau, Mitte 50. „Könnt ihr mir mal meinen Fernseher einschalten?“ Ich rufe: „Wir müssen weiter.“ Du rufst: „Ist das so schwer?“ „Eigentlich ist es ganz leicht, nur heute geht’s nicht!“, ruft die Frau. „Wir sind keine Elektriker.“, stelle ich klar. „Ihr müsst bei Balzereit klingeln. In der 52. Ich lasse euch rein.“

„Ist das eine Falle?“, flüstere ich im Hausflur. „Du meinst, sie schlägt uns mit bloßen Fäusten K.O., raubt uns aus und kullert uns dann die Treppe runter?“, fragst du. „Blödsinn.“, zische ich. „Siehste.“, kicherst du.

„Na, wer bist du denn?“, ruft die adrett gekleidete Dame, die Ihre Armreifen klappern, als sie den Kragen unserer Hündin grault. „Das ist echt in Ordnung von euch!“, sagt sie, als sie sich wieder aufrichtet und unsere Hündin durch ihre Beine hindurch in der Wohnung verschwindet. „Vor zehn Minuten ist meine Serie losgegangen! Ich verpasse alles! Zum verrücktwerden!“ Aus der Wohnung schlägt uns ein Geruch entgegen, den ich kenne, aber nicht einzuordnen weiß. „Kommt rein!“ „Es ist leichtsinnig von Ihnen, fremde Männer in ihre Wohnung zu lassen.“, sage ich, bevor ich einen Fuß über die Schwelle setze. „Ihr seid doch keine Ganoven, oder? Außerdem habe ich Pfefferspray. Bitte zieht die Schuhe aus.“

Mein Blick fällt auf einen Strauß Trockenblumen auf einem gehäkelten Deckchen. Dein Blick fällt auf einen Glaswürfel auf dem gepolsterten Telefonbänkchen, in welchen die Portraits zweier Kinder gelasert sind. Unsere Hündin steht schwanzwedelnd auf der Türschwelle zum Schlafzimmer. Darin ein hohes blassrosa bezogenes Ehebett, auf dessen rechter Seite sich Decken und Kissen für jede Jahreszeit stapeln.

„Hier entlang, hier lang!“, ruft die Frau und weist uns den Weg ins Wohnzimmer. Wir müssen ein bisschen rangieren, damit wir alle vier Platz darin finden. Die Frau stellt sich vor ihre rotbraune Schrankwand, faltet die Hände vor dem Bauch und richtet ihren Blick erwartungsvoll auf den dunklen Bildschirm. „Der Leonhard wacht doch heute aus dem Koma auf! Und hier ist alles schwarz!“ Ich versuche mich zu erinnern, woher ich diesen Geruch kenne, hier ist er stärker, nicht penetrant, aber unüberriechbar.

„Wie machen Sie ihren Fernseher normalerweise an?“, fragst du. Angesichts der vier abgegriffenen Fernbedienungen auf dem beige gefliesten Couchtisch, halte ich das für eine gute Idee. „Na so!“, ruft die Frau, tritt einen Schritt zurück, schnappt sich eine der Fernbedienungen, richtet sie wie eine Waffe auf den Fernseher und feuert. „Da! Nichts! Schwarz!“ „Hm.“ Du bist ratlos. Ich knie mich vor den Fernseher, um das Fabrikat zu entziffern. Ich vergleiche es mit denen der Fernbedienungen auf dem Tisch. „Wollen Sie jetzt dafür beten, dass es wieder funktioniert?“, lacht die Frau. „Ich versuche es zuerst mit Logik.“, murmele ich. „Oh, ein Studierter!“, lacht die Frau lauter.

Eine Fernbedienung gehört zum Radio, eine zum Receiver der Kabelgesellschaft, eine scheint für Steckdosen zu sein und die vierte kann ich nicht zuordnen. „Wo ist denn die Fernbedienung, die zum Fernseher mitgeliefert wurde?“
„Der wurde nicht geliefert. Mein Mann hat den in den Arcaden gekauft und mit dem Auto her gefahren.“
„Aber es muss doch eine Fernbedienung dabei gewesen sein.“, hake ich nach.
„Müsste eigentlich, oder?“, stimmt die Frau zu und sieht dich hilfesuchend an.
„Ist die Ihnen vielleicht hinter das Sofa gerutscht?“, vermutest du.
„Das Sofa? Nein. Ich sitze im Sessel. Setzen Sie sich doch.“, antwortet die Frau. „Möchten Sie einen Keks?“

Die Beschriftung der Tasten ist nicht mehr zu erkennen. Ich probiere die beiden großen Knöpfe in den oberen Ecken von Fernbedienung Numero vier. Nichts tut sich. Meine Finger fahren den Rahmen des Fernsehers ab. An der Rückseite ertaste ich Knöpfe. Ich drehe den Fernseher etwas aus der Schrankwand und beuge mich in das Fach.

„Also, so habe ich das nie gemacht.“, höre ich die Frau hinter mir. „Ich bin nie in die Schränke gekrabbelt.“ Ich drücke den Einschalter – ohne Ergebnis. Ich verfolge das Kabel des Fernsehers, bis es durch eine Bohrung im Rücken der Schrankwand verschwindet. Mir fällt ein, dass es in der Wohnung unserer Nachbarn genauso roch, am Schluss.
„Sind Sie sicher, dass das Gerät Strom hat?“, frage ich.
„Ich habe alles bezahlt!“
„Vielleicht ist die Sicherung durchgebrannt?“, schlägst du vor.
„Das weiß ich nicht.“
„Wo ist denn ihr Sicherungskasten? Im Flur vielleicht?“

Während du mit der Frau nach verborgenen Klappen in der Holzvertäfelung des Flurs suchst, schalte ich das Radio ein. Die Hündin springt auf und stößt sich an einem Zeitungsständer, als Udo Jürgens grölt: „…und wenn ich dann traurig werde, liegt es daran, dass ich träume von daheim …“ Ich schalte das Radio wieder aus. Die Hündin dreht sich einmal und legt sich wieder ab.

„Ach lassen Sie doch! Der ist doch tot. Ihr würgt den einfach ab! Pietätlos! Furchtbar!“, ruft die Frau vom Flur.
„Hier ist der Sicherungskasten, Frau Balzereit. Alles scheint in Ordnung zu sein.“, erklärst du.
„Ach Leute, darf ich euch was anbieten? Einen Kaffee vielleicht? Oder ein Bier?“

Erst jetzt entdecke ich die kleine Betriebsleuchte oben in der Mitte der Fernbedienung. Die müsste blinken, wenn man eine Taste drückt. Ich öffne das Batteriefach und nehme die Batterien raus. Sie fühlen sich leer an.
„Haben Sie das jetzt aufgeschraubt?“, fragt die Frau zurück im Wohnzimmer. „Machen Sie das mit Ihren Fingernägeln? Meine splittern wie Glas.“
„Haben Sie Ersatzbatterien im Haus?“, frage ich zurück.
„Ich weiß nicht. Sind die denn leer?“
„Wahrscheinlich.“
„Dann muss ich das meinem Mann sagen. Dann muss der neue Batterien kaufen. Das muss der morgen machen.“
„Bei Reichelt gibt es auch Batterien.“, sage ich. „Ist doch gleich die Straße rüber.“
„Ich weiß doch gar nicht, welche ich kaufen soll.“, wendet die Frau ein.
„Dann nehmen Sie die Alten mit, zum Vergleich.“, schlage ich vor.
„Nein, das macht mein Mann. Der ist fürs Handwerkliche.“, erklärt sie. „Ach, darf ich Ihnen etwas anbieten? Einen Saft vielleicht? Ein Bierchen?“
Wir sehen uns an.

„Wir können Ihnen Batterien mitbringen.“, sage ich. „Wir sind sowieso auf dem Weg in die Stadt.“
„Das würdet ihr machen?“, fragt die Frau.
„Kein Problem.“, sagst du. „Wir nehmen eine alte Batterie mit und heute Abend bringen wir Ihnen neue.“
Die Hündin steht auf und schüttelt sich. Wir verabschieden uns.
„Aber lasst mich nicht so lange warten! Ich muss wissen, was mit Leonhard ist“, ruft sie uns aus dem offenen Fenster hinterher. Wir drehen uns noch einmal um und winken. Die Hündin bellt.

„Warum lässt du Ihren Mann nicht die Batterien besorgen?“, fragst du an der Ampel.
„Sie hat keinen Mann.“, sage ich fest. „Hast du das Bett gesehen? Nur eine Hälfte wird benutzt. Das Schuhregal im Flur? Keine Herrenschuhe. Nicht einmal Pantoffeln. Und am Essplatz am Küchentisch: nur ein Platzdeckchen. Sie ist allein.“
„Aber warum hat sie dann ständig von ihrem Mann gesprochen?“
„Vielleicht hatte Sie mal einen. Vielleicht war ihr das doch nicht geheuer mit zwei fremden Männern in ihrer Wohnung.“
„Vielleicht war sie auch verwirrt.“
„Natürlich war sie verwirrt. Sie trinkt.“
„Was?“
„Zweimal hat sie uns Bier angeboten.“
„Und Kaffee. Und Saft. Und Kekse.“
„Ich rieche das. Dieser süße, leicht scharfe, leicht säuerliche Geruch. Du nicht?“
„Kein bisschen. War doch alles ordentlich. Sie hat auch ganz normal gesprochen.“
„Denkst du etwa, Alkoholiker lallen?“
„Also mir kam sie normal vor.“
„Wenn sie normal wäre, hätte sie ihre Nachbarin gebeten, mal nach dem Fernseher zu sehen. So ganz normal ist es ja nicht, wildfremde Menschen von der Straße in die Wohnung zu rufen, damit sie Elektrogeräte in Betrieb nehmen. Oder?“
Endlich wird grün.

Wir vergessen die Batterien in der Stadt. Auf dem Rückweg kaufe ich vier Stück für 1,79 € bei Reichelt die Straße rüber. Du gehst mit der Hündin nach Hause und willst das Essen vorbereiten. Ich suche Balzereit am Klingelbrett, aber als ich klingele, macht mir lange niemand auf. Ich trete zurück vom Klingelbrett, um zu sehen, ob im Wohnzimmer Licht brennt. Durch das geschlossene Fenster richtet die Frau ihren Finger auf mich. Wenige Sekunden später ertönt der Summer.

Auf dem Treppenabsatz öffnet mir ein Mann. Braune Cordhose, grauer Pullover über dem Bauch, Kinnbart, goldene Brille, Halbglatze.
„Ich bringe die Batterien.“, stottere ich.
„Welche Batterien?“, fragt er.
„Für Ihre Frau.“
„Für meine Frau?“ Der Mann kommt aus der Tür und verschränkt die Arme. „Ihre Frau hatte uns heute Nachmittag gebeten, ihr den Fernseher einzuschalten. Der hat nicht funktioniert, wahrscheinlich, weil die Batterien der Fernbedienung leer sind. Ich habe jetzt neue gekauft.“
„Sie? Wer sind Sie überhaupt?“ Er mustert mich von oben bis unten. „Was soll das für ein Trick sein?
„Kein Trick!“, sage ich genervt. „Wir liefen hier zufällig vorbei; ihre Frau hat uns aus dem Fenster nach oben gerufen. Ist ihre Frau da?“
„Meine Frau schläft. Sie waren also heute Nachmittag in meiner Wohnung?“
„Ja. Aber nur wegen des Fernsehers.“
„Wer ist denn da?“, ruft die Frau von drinnen.
„Ich komme gleich.“, ruft der Mann zurück.
Es riecht nach scharf angebratenem Fleisch und Zwiebeln.

Der Mann streicht sich mit einer Hand durch den Bart, als er sich mir wieder zuwendet. „Wir brauchen keine Batterien, danke.“, sagt er und geht zurück in seine Wohnung.
„Aber ich habe sie extra für Sie gekauft.“, sage ich.
„Gut. Was macht das?“ Der Mann wendet sich ab und sucht in den Taschen seiner Jacke an der Garderobe nach seinem Portmonee. Durch die Glaseinsätze in der Stubentür sehe ich das bläuliche Flackern des Fernsehers.
„Nein, so meine ich das nicht.“, sage ich. „Ich will nur, dass sie die Batterien nehmen; ich kann sie wirklich nicht gebrauchen.“
Der Mann stockt kurz, dann nimmt er seine Hände aus den Jackentaschen und fährt sich rechts und links der Nase unter seine Brille. Mehr zur Garderobe als zu mir sagt er: „Meine Frau – aber das können Sie nicht wissen. Meine Frau hat Probleme.“ Schließlich tritt er doch wieder vor die Tür und zieht sie so weit hinter sich zu, dass sie gerade noch nicht ins Schloss schnappt. Noch immer sieht er mich nicht an. „Meine Frau, wie soll ich sagen, ist ein bisschen-“ Er wedelt mit der flachen Hand vor seiner Stirn. „Verstehen Sie?“
„Trinkt sie?“, frage ich und beiße mir sofort auf die Lippen.
„Sind sie bescheuert?“, fährt er mich an. Erst als er mir in die Augen sieht, bemerke ich, dass er den Tränen nahe ist. Er macht einen Schritt auf mich zu und ist mir plötzlich so nah, dass ich mein erschrockenes Spiegelbild in seinen Brillengläsern entdecke. „Meine Frau ist krank! Psychisch. Man weiß noch nicht, was es ist; die Ärzte sind noch auf Fehlersuche. Sie jedenfalls, Sie haben keine Ahnung!“
Nach einer Pause sage ich leise: „Entschuldigung.“

„Was ist denn hier los?“, fragt die Frau auf der Türschwelle stehend mit einem Bissen Boulette auf der Gabel in ihrer Hand.
„Nichts, Täubchen.“, sagt der Mann.
„Ich bringe Ihnen die Batterien.“, sage ich.
„Und wo ist euer Hund?“, will die Frau wissen. „Euer niedlicher Hund! Ich habe hier Boulette für ihn!“

„Es war sehr nett von Ihnen, dass Sie meiner Frau helfen wollten.“, sagt der Mann freundlich und legt den Arm um seine Frau.
„Gern geschehen.“, sage ich und reiche ihm die Batterien.
„Einen schönen Abend Ihnen.“
„Ihnen auch.“
„Die Boulette!“, ruft die Frau und läuft mir in Socken vier Stufen hinterher, um mir den Bissen von ihrer Gabel in die nackte Hand zu reichen.

Die Allenschenkerin

Die Allenschenkerin schenkt immer und überall. Stets findet sie einen Anlass passende Geschenke zu verteilen. Niemand im Krankenhaus ist vor ihr sicher. Und selbst Fremde können sich der Allmacht ihrer kleinen und großen Aufmerksamkeiten kaum entziehen.

Wochenlang beobachtet sie in den den Schwesternzimmern, den Stationsgängen oder den Umkleideräumen des Krankenhauses in dem sie arbeitet, die zu Beschenkenden und filtert jedes noch so kleine Bedürfnis der Gesprächspartner, die sie intensiv belauscht, heraus. Selbst auf der Toilette, in die sie sich gern heimlich einschließt, erhört sie manchen unbedacht ausgesprochenen Wunsch, den der Belauschte im Selbstgespräch äußert. Nicht selten reinigt sie Betten, Schränke und auch Nachttische übergründlich um sich der Bedürfnisse der dabei abgehörten Gesprächspartner  sicher zu sein.

Hat sie diese endlich erkannt, muss sie sie unbedingt kaufen, und kein noch so großes Hindernis hält sie davon ab. Sie schleicht Tage oder Wochen, manches Mal Jahre um die Zu-Beschenkenden, als wollte sie diese mit einem unsichtbaren Netz aus Fäden umwirken. Unnachgiebig sucht sie nach dem passenden Moment das Geschenk zu überreichen. Glaubt sie den idealen Moment endlich gefunden zu haben, überrascht sie den Verwunderten, stellt sich ihm in den Weg und drückt ihm Zeitschriften und Lexika, plastene Zigarettenetuis und metallene Aschenbecher, oder bunt bedrucktes Geschirr in die Hand. In früheren Jahren, als das Arbeitszimmers ihres Vaters noch voller Bücher stand, verschenkte sie seltene Exemplare zu bestandenen Prüfungen, zu Geburtstags-Weihnacht-und Ostertagen. Selbst den Nationalfeiertag nimmt sie gern als geeigneten Anlass kleine Präsente zu verteilen.

Hat die Allenschenkerin endlich ihr aufwendig verpackte Gabe verschenkt, dreht sie sich schüchtern zur Seite oder senkt den Blick auf den von ihr vorher gründlich gesäuberten Stationsboden. Ungeduldig  wartet sie mit der linken Ferse wippend oder an ihren Ohren ziehend auf eine Reaktion des soeben Beschenkten. Und nicht selten prüft sie, nur um sich von der Wartezeit abzulenken, die weißen Fliesen auf etwaige Putzstreifen. Meist hat sie die Verpackung vorher so kunstvoll gefertigt, dass sie dem Beschenkten auf jeden Fall allein aufgrund der Umpackung eine laute Bewunderung entlocken muss.

Wen allerdings die Allenschenkerin in den Kreis der Beschenkten aufnimmt und welche unsichtbare Verbindung zwischen dem Geschenk, der meist männlichen Adressaten und ihr bestehen, bleibt auch für sie im Dunkel.

Jedoch achtet sie bei jedem so präzise zu schenken, dass eine Ablehnung zwecklos wird. Oftmals lässt sie den Beschenkten erst durch das Geschenk sein unbekanntes Bedürfnis erkennen.

Benötigt die Allenschenkerin ein neues Geschenk, schlendert sie anscheinend ziellos durch die Stadt, verharrt hier und da vor den Auslagen und begibt sich in diese und jene Straße um möglichst alles zu erfassen, was verschenkbar ist. Selbst die kleinste Nebenstraße behält sie im Blick. Dabei denkt sie sich immer und immer wieder mit großer Freude in die Bedürfnisse der zu Beschenkenden hinein. Hat sie sich einen Überblick in Schaufenstern, Warenhäusern und Geschäften verschafft, fühlt sie kaum noch Zeit zwischen den Exponaten und dem verbliebenen Geld abzuwägen. Unruhig umkreist sie mehrmals das zum Kauf ausgewählte Objekt, ohne es jedoch zu berühren. Dabei durchzählt sie geräuschvoll den mitgenommenen Geldbetrag mehrmals auf der flachen Hand, da  sie es als unmöglich ansieht ungekauft nach Hause zu gehen. Spricht eine Verkäuferin sie an, kauft sie hastig das Kaufobjekt oder läuft ohne ersichtlichen Grund verwirrt davon. Selbst in ihren Träumen steht sie oft atemlos in langen, hell beleuchteten Regalreihen und erwirbt, ohne einen Rabatt auszuhandeln, eifrig die Bedürfnisse der Nachbarn, Kollegen oder auch die der Verkäuferinnen selbst. Sehr oft stimmt sie am Ende das Einschlagpapier, Format und Band sorgfältig ab oder tauscht Bedürfnisse  zurück und erhält von allen ein dankbares Lächeln. Zum Schluss stellt sie in ihren Träumen eine Rangfolge der einzelnen Personen auf, die sie in den nächsten Tagen mit ihren Aufmerksamkeiten beschenkt. In winzigen Druckbuchstaben schreibt sie die Namen, die in den letzten Wochen ihren Fleiß am häufigsten bemerkten und lobten auf ein kariertes Blatt. Nur nach einer solchen Nacht fühlt sie sich am Morgen ungewohnt wohl und würde, wenn sie endlich den Mut aufbrächte, Selbsterzählend im Bett liegen bleiben und gern für diesen Tag ihre Arbeit im Krankenhaus vernachlässigen.

Die Allenschenkerin lebt allein. Sie wohnt in einem Zimmer mit Schlafnische, die ihre Mutter  sorgfältig vor Jahren einrichtete. Die Allenschenkerin isst am liebsten Nudeln ohne Soße und verbringt ihre freien Tage in den Haupt-und Nebenstraßen ihres Wohnanlage. In Urlaubsorte ist sie noch nie gefahren und Feierlichkeiten, die außerhalb ihrer Häuserzeile stattfinden, lehnt sie prinzipiell ab. Die wenigen Nachrichten, die sie an sich heranlässt, entnimmt sie, seit sie auch den Fernseher verschenkt hatte, den Überschriften von Wurfsendungen oder den Gesprächen der Straßenbahnfahrgäste.

Am Abend, wenn sie das Restgeld des Tages exakt abgezählt hat, faltet sie die dünne Silberkette, die sie seit ihrer Konfirmation jeden Tag trägt, nach einem ganz bestimmten Muster auf dem Fensterbrett zusammen. Manchmal bleibt sie auch am Fenster stehen und spielt mit den großen, schweren Schmuckstücken ihrer verstorbenen Mutter, die sie aus einer unerklärlichen Abneigung nie benutzt. Und nur Selten schaut sie, den schweren Schmuck in den Händen haltend, den Pärchen auf der Straße lange nach. An solchen Abenden schüttelt sie kräftig ihre vielen Kopfkissen, legt sich seufzend in ihr Jugendbett, faltet die Hände zum Gebet und bemüht sich vergebens die Schafreihe laut bis Hundert zu zählen. Selten gelingt es ihr in diesem Moment den unangenehmen Gedanken an die fällige Kreditrate zu vergessen

Die Allenschenkerin arbeitet fehlerfrei. Entschuldigte oder gar unentschuldigte Tage gab es bei ihr nie. Auch hat sie keinem Patienten jemals einen Anlass zu einer Beschwerde gegeben. Selbst der Pförtner, den sie fast 40 Jahre höflich grüßt, könnte nichts Nachteiliges berichten. Würde man ihn nach ihr fragen, fiele es ihm schwer, trotz der Blumen, die sie ihm täglich wortlos ins Sichtfenster stellt, die Allenschenkerin zu beschreiben.

Die Allenschenkerin kann mir immer noch nicht genau sagen, was sie mit ihrem Anteil von 23.572 Euro machen wollte. Möglicherweise hätte sie damit einen ihre vielen Kredite beglichen.