Der Beamte tritt kräftig gegen die Querstrebe zwischen den Tischbeinen. Auf seinem Bürostuhl rollt er quietschend zum Drucker. Seine Füße reckt er gerade in die Luft, um sich nicht zu bremsen. „Hui!“ Sein Stuhl kommt exakt eine Armlänge vor dem Dokumentenfach zum Stehen. Der Beamte nickt zufrieden, bevor seine Zunge langsam zwischen seinen Lippen hervor gleitet. Mit Daumen und Zeigefinger zupft er daran, um seine Fingerspitzen zu befeuchten. Seite für Seite sortiert er den Bericht aus dem Drucker. Mit seinem Hintern im Drehstuhl tippelt er zurück zum Schreibtisch. Er staucht den dünnen Stapel Papier auf die Tischplatte, um die Seiten perfekt zueinander auszurichten. Entrückt lächelt er mich über seine Lesebrille an. Er bittet mich, den Bericht gründlich zu lesen und dann zu unterzeichnen. Einen Millimeter über dem Papier malt er mit seinem spitzen Bleistift flink einen Kringel in die Luft. Dann lehnt er sich zurück und verschränkt die Arme auf seinem Bauch. Er seufzt wie nach getaner Arbeit.
Am 5. Juni 2013 erreichte ich meine Wohnung zwei Stunden eher als erwartet gegen 23:10 Uhr. Meine Wohnungstür war ordnungsgemäß verschlossen.
„Ich möchte hier noch etwas ergänzen.“
Der Beamte macht einen Schmollmund. Er schnippst gegen den vor ihm auf dem Schreibtisch liegenden Bleistift, sodass dieser schnurgerade auf mich zu rollt. Ich schreibe: „Doppelt abgeschlossen, wie immer. Mein Türschloss ließe sich auch dreifach verriegeln, aber das finde ich übertrieben.“ Nach kurzem Zögern streiche ich „finde“ und ändere in „fand“.
Schon beim Betreten der Wohnung bemerkte ich den schmalen Streifen Licht, der durch die angelehnte Schlafzimmertür in den Flur fiel. Da ich meine Wohnung an diesem Tag jedoch sehr zeitig und in großer Eile verlassen hatte, vermutete ich, es versäumt zu haben, meine Nachttischlampe auszuschalten. Ich zog meine Schuhe aus und hängte meinen Mantel zu meinen anderen Jacken an die Garderobe. Ich wunderte mich über deren nach außen gekrempelte Taschen, musste jedoch so dringend zur Toilette, dass ich diese nicht näher untersuchte. Im Badezimmer stutze ich über den offen stehenden Medizinschrank, erklärte mir diese Unordnung aber neuerlich mit meiner Eile am Morgen.
Als ich das Bad verließ, raschelte es im Schlafzimmer. Ich erstarrte. Erst, als ich sicher war, das Rascheln erneut zu hören und ich es mir also nicht einbildete, erlaubte ich mir, weiter zu atmen. Auf Zehenspitzen schlich ich zur angelehnten Tür und lukte durch den Spalt. Am Fußende meines Bettes, wippten zwei edle schmale schwarze Lederschuhe. Ihre hellen Sohlen waren staubfrei.
Ich geriet in Zweifel darüber, ob ich mich möglicherweise in der Etage oder im Aufgang geirrt hatte. Da ich keinen meiner Nachbarn näher kannte, konnte ich nicht ausschließen, dass sie ihre Wohnung zufällig genauso eingerichtet hatten, wie ich. Das neben der Tür angebrachte Schlüsselbrett war jedoch zweifelsfrei das meine, mein Neffe hatte es für mich ausgesägt und bemalt. Allerdings widersprach die Reihenfolge der Schlüssel meiner Gewohnheit.
Ich fasste den Entschluss, den Einbrecher zu stellen und wähnte mich im Vorteil, da er mich noch nicht bemerkt zu haben schien. Ich stahl mich in die Küche. Auf dem Küchentisch fand ich meine noch nicht abgeheftete Post durchwühlt. Ich nahm das Brotmesser an mich, denn im Falle eines tätlichen Angriffs wollte ich gewappnet sein.
Der Beamte schnauft amüsiert.
„Ich habe verstanden, dass Sie das leichtsinnig finden. Aber ich bleibe dabei: Das war es nicht! Wenn ich versucht hätte, meine Wohnung zu verlassen, hätte er mich sofort bemerkt. Wenn ich versucht hätte, noch in meiner Wohnung die Polizei zu rufen, erst recht.“
Der Beamte schiebt die Unterlippe nach vorn. Ich seufze und lese weiter.
Zurück an der Schlafzimmertür holte ich tief Luft, schloss die Augen und wartete auf den letzten Funken Mut, um die Tür auf zu stoßen und „Keine Bewegung!“ zu rufen! Mit zitternden Fingern führte ich meine Hand zur Klinke.
„Nun kommen Sie schon rein. Und wenn Sie das mit dem Brotmesser ernst meinen, sollten Sie es in die rechte Hand nehmen. Links haben Sie doch einen Tennisarm, oder?“
Sachte tippte ich gegen die Klinke, woraufhin sich die Tür langsam öffnete. Auf meinem Bett lag eine Person. Schwarzer Anzug, weißes Oberteil mit schmucklosen Knöpfen. Sie hatte sich mein Kissen unter den Rücken gestopft und lehnte mit dem Kopf an der Wand. Ihre Hände waren gepflegt und ohne Makel. Ihr Gesicht war ohne besondere Merkmale.
Der Beamte grunzt belustigt.
„Aber so war es! Ich kann das Gesicht der Person nicht beschreiben, weil es keinen einzigen markanten Punkt gab. Allerweltsaugen, nichtssagende Nase, ein Kinn ohne Charakter. Keine Sommersprossen, keine Muttermale, keine Frisur. Keine abstehenden Ohren, keine hohe Stirn, konturlose Lippen. Nichts, das man sich einprägen könnte, nichts!“
Der Beamte stülpt seine Lippen nach innen und dreht langsam den Kopf hin und her. Ich winke ab.
Die Ordner mit meinen Dokumenten türmten sich aufgeschlagen neben meinem Bett. Aus einer umgefallenen Aktentasche, lukte eine Tüte aus festem Kunststoff. Darin die Kaffeetasse, die ich am morgen nicht abzuspülen geschafft hatte. Meine Kleidung lag vor den Schränken auf dem Boden. Die Kisten mit selten benutzten Dingen, die ich auf den Schränken aufbewahrte, waren davor aufgestapelt. Meine Fotoalben musste die Person aus dem Regal genommen und aufs Bett geworfen haben. Eines von ihnen hatte sie aufgeblättert auf dem Schoß. Sie lächelte mich an.
„Wenn Sie mit dem Messer in der Linken auf mich losgehen, tun Sie sich selbst mehr weh als mir.“
„Woher wissen Sie das mit dem Tennisarm?“
„Auf ihrem Kleiderschrank fand ich einen sorgfältig verpackten Tennisschläger, auf dessen Tasche sich kein Staub gesammelt hatte, im Verbandsschrank im Badezimmer bewahren Sie eine typische Ellenbogenbandage auf und in der rechten Schublade ihres Küchenschrankes einen Kartoffelschäler für Linkshänder. Das war nicht schwer. Es tut mir übrigens sehr Leid, dass Sie diesen Anblick ertragen müssen. Sie sind ein sehr ordentlicher Mensch, das weiß ich. In Ihren Augen muss es hier chaotisch aussehen. Ich habe Sie erst in zwei Stunden zurück erwartet. Sie sind zu früh.“
„Ja. Woher-“
„Sehen Sie! Bei Lichte betrachtet sind es also Sie, die hier alles durcheinander gebracht haben und nicht ich.“
„Was zum Teufel reden Sie da?“
„Wären Sie zwei Stunden später nach Hause gekommen, hätten Sie ihre Wohnung selbstverständlich in bester Ordnung vorgefunden. So haben wir es bei den letzten Malen ja auch gehandhabt.“
„Bei den letzten Malen?“
„Nun, Sie sind seit vielen Jahren mein Klient. Es ist notwendig, Sie in regelmäßigen Abständen zu überprüfen. Sie sehen das sicherlich ein. Nein? Ach, das ist schade. Sie haben immer einen so vernünftigen Eindruck auf mich gemacht.“
„Was überprüfen Sie denn?“
„Alles. Wir suchen nach – sagen wir mal – Unregelmäßigkeiten.“
„Wir?“
„Ich. Als Repräsentant meiner Organisation.“
„Welcher Organisation?“
„Sie sind aber neugierig. Sie können sich denken, dass ich diese Informationen vertraulich behandeln muss.“
„Wer sind Sie?“
„Also erlauben Sie mal, das geht sie nun wirklich nichts an.“
„Für wen arbeiten Sie?“
„Sie sind ein kluger Mann, nicht wahr? Wie dem auch sei: Ich möchte Sie bitten Stillschweigen über die Sache zu bewahren.“
„Einen Teufel werde ich! Sie sagen mir jetzt sofort, wer Sie sind!“
„Mit Wahnvorstellungen wird man heute sehr schnell in Nervenheilanstalten eingewiesen.“
„Drohen Sie mir?“
„Aber nicht doch! Ich berate Sie. Nur zu Ihrem Besten.“
„Sie machen sich lustig über mich!“
„Ich verstehe wirklich nicht, warum Sie sich so aufregen.“
„Weil sie sich unbefugt Zugang zu meiner Wohnung verschafft haben?“
„Befugt oder unbefugt – eine Frage der Perspektive. In jedem Fall kein Grund, so laut zu werden. Sehen Sie nicht, dass Sie ihr Auftritt hier verdächtig macht?“
„Verdächtig wofür?“
„Das wird sich zeigen. Aber sie müssten sich ja kaum so aufregen, wenn Sie nichts zu verbergen hätten, richtig?“
„Das ist meine Wohnung! Mein Privatleben! Das geht Sie nichts an!“
„So beruhigen Sie sich doch. Ich mache nur meine Arbeit. Soweit ich das bisher beurteilen kann, haben Sie nichts zu befürchten. Sie sind ein rechtschaffender Bürger. Geradezu liebenswürdig.“
„Ich erlaube Ihnen nicht, über meine Würde zu sprechen.“
„Aber was haben Sie denn? Das Mäppchen mit den wilden nicht abgeschickten Liebesbriefen habe ich schon durch. Ich habe immer noch eine sehr hohe Meinung von Ihnen. Auch die Kiste mit den delikaten Gegenständen unter Ihrem Bett hat daran nichts geändert. Sie sind völlig unauffällig. Für Sie besteht überhaupt kein Grund zur Sorge.“
„Was suchen Sie?“
„Ich ver-suche, für Sicherheit zu sorgen. Für Ihre Sicherheit. Das alles geschieht in Ihrem Interesse.“
„Blödsinn!“
„Ich darf doch sehr bitten! Haben Sie denn kein Interesse daran, unbehelligt und in Ruhe leben zu können?“
„Unbehelligt? Haben Sie das wirklich gesagt?“
„Ich bin hier, um Sie zu schützen, so sehen Sie das doch ein! Ich schütze Sie! Vor Terroristen! Vor Kriminellen!“
„Auch vor Einbrechern? Wie sind Sie hier rein gekommen?“
„Wir haben unsere Wege, wie Sie sehen.“
„Haben Sie einen Zweitschlüssel von meiner Wohnungsverwaltung?“
„Ihre Wohnungsverwaltung wird Ihnen versichern, dass Sie mit alledem nichts zu tun hat.“
„Haben Sie mein Schloss geknackt?“
„Den Hersteller der Schlösser trifft keine Schuld.“
„Sie hören jetzt sofort auf, meine Sachen zu durchwühlen!“
„Aber wie stellen Sie sich das vor? Ich bin mit ihren Alben noch nicht fertig!“
„Ich vergesse mich gleich!“
„Wenn Sie dabei helfen wollen, die Sache etwas abzukürzen, könnten Sie mir aus dem Regal dort drüben alle Bücher heraus suchen, die Sie innerhalb der letzten zwölf Monate neu erworben und gelesen haben. So würde ich mir den Abgleich mit der Inventarliste vom letzten Jahr sparen.“
„Zeigen Sie mir diese Inventarliste.“
„Dazu bin ich nicht berechtigt.“
„Und danke für den Tipp, das Messer in die rechte Hand zu nehmen.“
„Es wäre dumm von Ihnen, mir zu drohen.“
„Es wäre dumm von Ihnen, mir nicht zu gehorchen.“
„Würden Sie bitte das Messer zur Seite legen? Andernfalls sehe ich mich gezwungen, Sie zu überwältigen und unschädlich zu machen.“
Mein Blick fiel auf den an der Innenseite der Schlafzimmertür steckenden Schlüssel.
„Lassen Sie diese Dummheiten.“ war das Letzte, dass ich die Person sagen hörte. So schnell ich konnte zog ich den Schlüssel von der Innenseite der Schlafzimmertür ab und schloss die Person ein. Dann verließ ich meine Wohnung und schloss meine Wohnungstür von außen dreimal ab. Vom Treppenabsatz aus rief ich die Polizei, die zehn Minuten später eintraf.
Der Beamte räuspert sich.
„Ich weiß, dass sie mich für paranoid halten. Aber da täuschen Sie sich! Ich bestreite nicht, dass Sie meine Wohnung in bester Ordnung vorgefunden haben. Sie müssen jedoch gestehen, dass das noch lange kein Beweis dafür ist, dass sie nicht zehn Minuten vorher in völligem Chaos lag. Ich habe das Chaos gesehen und die Person, die es angerichtet hat. Sie können sich auch nur auf das berufen, was Sie gesehen haben. Ich weiß nicht, wohin die Person ist. Durch die Wohnungstür jedenfalls nicht. Sie ist verschwunden.“
„Verschwunden.“, singt der Beamte.
Der Stift kratzt auf dem Papier, so dass ich die Anzeige mehr graviere als unterschreibe. Beim Punkt über dem i meines Nachnamens, platzt ein winziges Stück Mine ab. Kaum habe ich den schmalen Stapel wieder säuberlich zusammen geschoben, beugt sich der Beamte schon über den Tisch, um danach zu greifen. Nochmals staucht er die wenigen Seiten auf seine Tischplatte. Ohne seine Augen davon abzuwenden, angelt er mit dem linken Arm unter seinem Schreibtisch einen großen, schweren Locher heraus. Routiniert zieht er die Messschiene bis zur A4-Markierung heraus, an der sie klickend einrastet. Konzentriert darauf, die Seiten keinesfalls zueinander zu verschieben, legt er den Bericht unter die Stanzeisen des Lochers. Die Spitze seiner Zunge lugt dabei zwischen seinen Lippen hervor. Er schlägt mit einer solchen Wucht auf den Hebel des Lochers, dass es knallt. Ich erschrecke. Er schmunzelt, ohne mich jedoch anzusehen. Aus dem Regal rechts neben sich greift er einen dicken Ordner auf dessen Rückenetikett in akkuraten Druckbuchstaben der Name des aktuellen Monats und die Jahreszahl geschrieben wurde. Bedächtig und mit präzisen Handbewegungen legt er den Bericht darin ab. Bevor er den Deckel zuklappt, streicht er noch einmal zärtlich über die erste Seite. Nachdem er den Ordner zurück ins Regal gestellt hat, sieht er mich an. Er bedankt sich und wünscht mir einen schönen Tag.