Aus dem Briefkasten fällt ein Umschlag. Ich klemme meine Einkäufe unter den Arm, bücke mich und erwische ihn zwischen Zeigefinger und Mittelfinger. Ich wundere mich darüber, wie dick und weich er sich anfühlt. Ich lese meine Adresse und versuche von der Handschrift auf den Verfasser zu schließen. Meine Hausnummer wurde ausgebessert, aber wer sie falsch hin schrieb und dann korrigierte, erkenne ich nicht. Auf der Rückseite des Umschlags steht ein Wort. Ich kann nicht entziffern, welches. Es besteht aus unterschiedlich hohen Spitzen und Haken, es hat keine Ösen, keine Schlaufen, keine Kringel. Der Handschrift nach eine aggressive Person, denke ich und komme mir albern vor. Ich reiße das Kuvert auf, vorsichtig, an der Seite, damit das Wort auf dem Rücken keinen Schaden nimmt. Ohne den Brief auseinander zu falten erkenne ich an den sich auffächernden Rändern, dass er aus drei Bögen besteht, die von vorn und hinten beschrieben sind.
Ich freue mich darüber, einen Brief erhalten zu haben, zumal einen handgeschriebenen. Während ich die Treppen zu meiner Wohnung nach oben steige, versuche ich mich zu erinnern, wann ich zum letzten Mal einen handgeschriebenen Brief erhielt. Bis zum zweiten Stock fallen mir nur Postkarten ein. Bis zum dritten Stock bin ich frustriert darüber, dass nur Rechnungen und Reklame in meinem Briefkasten landen. Dann denke ich wieder an die Postkarten und ärgere mich über meinen gewohnheitsmäßigen Frust. Bis zum vierten Stock nehme ich mir vor, mehr Postkarten zu schreiben, um im Gegenzug häufiger welche zu empfangen. Aber woher denn, denke ich im Fünften, ich verreise doch so selten. Und an wen denn, denke ich dann, aber da erreiche ich meine Tür.
Ich schließe meine Wohnung auf und werfe meine Schlüssel in den Korb. Den Brief lege ich auf den Schuhschrank, mit der Anrede nach oben, das ist Zufall, wirklich. Die Einkäufe stelle ich auf den Boden und während ich meine Jacke ausziehe, erkenne ich, dass die Anrede auf meinen Namen endet und meinem Namen nur eine sehr kurze Grußformel vorangestellt ist. Als ich meine Schnürsenkel öffne, entschlüsselt mein Gehirn das kurze Wort. „Ach“, sage ich. „Ach“ und mein Name steht da, denke ich, und dann weiß ich, der Brief ist von dir. Niemandes Namen besteht aus so vielen Spitzen und Haken wie deiner: Vinzent.
Ohne mir vorher die Hände zu waschen gehe ich ins Arbeitszimmer und setzte mich an meinen Schreibtisch. Während mein Rechner hochfährt, überlege ich wegen einer passenden Anrede. Ich finde „Ach“ sehr treffend, aber „Ach“ hast Du verwendet und außerdem ist es wehleidig. Während ich ein leeres Dokument öffne, frage ich mich, wie du darauf kommst, dass das bei mir ziehen könnte. Ich schreibe nur „Vinzent,“ und dann warte ich, bis mein Herz wieder langsamer schlägt als die Eingabemarkierung auf dem Bildschirm blinkt.
Ich schreibe:
„danke für Deinen Brief. Ich habe lange keinen Brief mehr erhalten, zumal keinen handgeschriebenen. Vielleicht wünschst Du dir eine handgeschriebene Antwort, aber die schreibe ich nicht. Weil ich es nicht gewohnt bin mit der Hand zu schreiben, bereitet es mir Schmerzen. Außerdem habe ich keine schöne Schrift. Deine Schrift ist auch nicht schön.“
Diesen Satz lösche ich wieder. Es geht nicht um Schönheit. Nicht mehr.
„Es ist komisch, dass ich mich über deinen Brief freue. Ich habe nämlich beschlossen, ihn nicht zu lesen.
In den letzten Tagen ist es mir einige Male gelungen, auf dem Nachhauseweg an Deinem Haus vorbei zu radeln, ohne dabei zu Deinem Fenster hinauf starren zu müssen, um zu sehen, ob du rauchst. Das ist ein Erfolg, denn ich nehme auf dem Nachhauseweg am Straßenverkehr teil und kann mir eine solche Unaufmerksamkeit nicht erlauben. Einmal wäre ich beinahe auf ein ausparkendes Auto aufgefahren und musste mich als Hans-guck-in-die-Luft beschimpfen lassen. Gestern habe ich zum ersten Mal fast nicht an Dich denken müssen. Es ist gemein von Dir, dass Du mir heute schreibst.
Ich habe mich wegen meines neuen Geruchs oft wie von einem Fremden bedrängt gefühlt in den letzten Wochen. Aber ich sah mich gezwungen, mein Deo zu wechseln, nachdem ich jahrelang ohne Erklärung geduldet hatte, dass Du das gleiche verwendest wie ich. Jetzt habe ich mich daran gewöhnt und werde dabei bleiben.
In den letzten Wochen habe ich viel gefroren. Bis auf zwei Paar waren alle dicken Socken, die ich besaß von Dir gestrickt, weshalb ich mir verboten hatte, sie anzuziehen. Am nächsten Dienstag wird der Wäschekorb für die Kleidersammlung vor der Haustür stehen, dort werde ich sie hineingeben, der Sack ist gepackt und verknotet. Ich habe neue Socken inzwischen, die sind zwar nicht so schön bunt aber dafür kann ich sie auch im Büro tragen.
Wenn ich Deinen Brief lese und Du darin endlich erklärst, warum es ausgerechnet Konrad sein musste, könnte es sein, dass wir uns wieder vertragen. Dann wirst du mir vielleicht neue Socken stricken oder Schals. Eines Tages werde ich dann wieder frieren, das ist mir zu riskant. Abgesehen davon habe ich eine Aufstellung gemacht, die ergeben hat, dass die Vorteile des Endes unserer Freundschaft die Nachteile bei weitem überwiegen: Ich habe mehr Zeit zum Lesen. Und ich habe mehr Zeit zum Schreiben. Zum Beispiel fürs Tagebuchschreiben. Anders als Du merkt sich mein Tagebuch die Dinge, die ich ihm erzähle. Und es verwendet sie nicht gegen mich. Weder verschweigt es mir etwas noch erfindet es etwas dazu, das ich nie gesagt habe. Ich werde wieder an Dich denken müssen, wenn ich Deinen Brief lese, dabei gibt es so viel anderes, über das ich dringend nachdenken müsste, zum Beispiel darüber, was ich nun an Weihnachten mache. Wenn ich Deinen Brief lese, werde ich mich wahrscheinlich ärgern, weil Du mir wieder versuchen wirst weiszumachen, dass ich nicht erwähnt hätte, wie schön ich Konrad finde und ich will keinen krummen Mund vom Ärger. Am Schlimmsten wäre, wenn Du „Entschuldigung“ sagen würdest. Man kann nicht einfach so „Entschuldigung“ sagen. Man kann nur darum bitten.
Nach wie vor stört mich, dass Du in die gleiche Wohnung in der gleichen Etage auf der gleichen Seite wie ich gezogen bist, wenn auch sechs Häuser weiter. Aber ich werde Deinetwegen nicht umziehen.
Wenn ich Deinen Brief nicht lese, wird das Ende unserer Freundschaft meine Schuld sein. Wenn wir in einigen Jahren darauf zurückblicken – Du in deiner Wohnung und ich in meiner – werde ich derjenige sein, der die letzte Chance zur Versöhnung ungenutzt hat verstreichen lassen. Ich werde nicht wissen können, ob Du immer noch behauptest, das bisschen Mitdenken wäre zu viel verlangt gewesen. Ob Du mir wieder vorwirfst, dass ich Dir auch viel angetan hätte, ohne aber zu benennen, was. Vielleicht verpasse ich aber auch den historischen Moment in dem Dir eine Einsicht über die Lippen kommt. Ich habe schon manches verpasst, Konrad zum Beispiel, ich bin immer noch da, das halte ich aus.
Bestimmt, findest Du es feige und faul von mir, deinen Brief nicht zu lesen, aber feige und faul sein ist eine Überlebensstrategie, die sich in der Tierwelt sehr bewährt hat und ich mag Tiere. Außerdem war ich sehr fleißig, das Loch, dass Du hinterlassen hast, irgendwie zu stopfen. In den Lücken in meinen Bücherregalen leben jetzt beispielsweise Schwäne und Giraffen aus Papier. Aus deinem Brief ließe sich eine Schildkröte oder einen Fuchs falten, aber das kann ich noch nicht.
Jedenfalls kannst Du jetzt nicht einfach so zurückkommen. Und überhaupt kannst Du nicht zurückkommen. Weil es Dich, wie ich Dich dachte ja nie gegeben hat. Es wäre deshalb besser gewesen, Du hättest Deinen Brief an mich nicht abgeschickt. Den Fehler, der Dir mit der Hausnummer passiert ist, hättest Du als Zeichen lesen sollen. Ich kenne Deine Hausnummer leider noch genau. Aber meine Druckerpatrone ist leer, und ich werte das als eindeutiges Zeichen.
Als ich gefragt werde ob ich speichern möchte, klicke ich auf „Beenden ohne speichern“. Während ich meine Einkäufe ins Regal räume, beneide ich meinen Computer.