Erschossen haben sich schon so viele.

„Wir sind alle Sternenstaub. Weißt du das?“
„Das stimmt nicht. Es gibt keinen Sternenstaub. Sterne sind aus Gas.“
„Dann eben Planetenstaub. Alles ist Planetenstaub!“
„Von mir aus.“

Die vier sechsgeschossigen Neubaublöcke, die sie umgeben sind wie Wände.
Der abgesteckte Würfel Luft ist ihr Raum.
In der Mitte steht eine Tischtennisplatte aus Beton.
Darauf liegen sie und starren in den Himmel.
Die einzige Richtung, in der ihr Blick nicht an einer Mauer endet, ist himmelwärts.

„Aber das ist doch toll! Wir sind aus dem gleichen Stoff, wie das Funkeln dort oben!“
„Nein. Was du siehst sind Sterne. Wir sind aus Planeten. Aber Planeten leuchten nicht.“
„Doch, die Venus leuchtet. Du hast sie mir gezeigt! Da, rechts neben der Antenne der blassgelbe Punkt.“
„Die Venus leuchtet nicht. Sie reflektiert nur. Weil sie von der Sonne angestrahlt wird!“
„Ist mir egal, warum die leuchtet. Hauptsache, sie tut‘s. Was ist denn los mit dir?“

Mit lautem Hauch lässt Mathias den Rauch aus seinen Lungen entweichen. Weil die Luft still ist, schwebt die Wolke noch lange über ihnen.
Achtlos aber gekonnt schnippt er den Zigarettenstummel ins Gebüsch.
Er räuspert sich.

„Wenn du dich umbringen wolltest: Wie würdest du es anstellen?“
„Ich will mich nicht umbringen.“
„Ja, aber wenn du wolltest, wie würdest du es machen?“
„Keine Ahnung. Ich will leben.“
„Los jetzt, gib dir mal Mühe!“
„Geht doch alles erst los gerade. — Schlafmittel?“
„Funktioniert nicht mehr. Die mischen mittlerweile irgendwelches Zeug unter die Tabletten. Du musst kotzen, wenn du zu viele nimmst.“
„Mofa gegen Baum setzen?“
„Zu gefährlich. Wenn das schief geht, endest du als Krüppel im Rollstuhl. Ist beim Aufhängen das Gleiche.“
„Pulsadern aufschneiden?“
„Dauert ewig. Und am Ende rufst du dir doch einen Krankenwagen.“
„Vor einen Zug würde ich mich jedenfalls nicht werfen. Der Lokführer kann ja nichts dafür. Wofür eigentlich? Wieso willst du dich umbringen?“
„Ich will mich nicht umbringen.“
„Und worüber reden wir dann?“
„Darüber, wie ich es tun würde, wenn ich wollte.“
„Aha. Und wie würdest du es tun?“
„Ich würde von einem Hochhaus springen.“

Es war ein heißer Tag.
Inzwischen ist die Luft soweit abgekühlt, dass sie sich wie ein feuchtes Tuch auf die Körper der Jungen legt.
Der Stein der Tischtennisplatte hat noch Wärme.
Bereitwillig gibt er sie in ihre Rücken ab.

„Ich stelle mir das toll vor. Der Moment, wenn du an der Kante stehst, mit den Zehen schon darüber. Dein T-Shirt flattert im Wind und deine Haare. Und dann breitest du die Arme aus, holst tief Luft – zum letzten Mal – und lässt dich ganz langsam nach vorn fallen.“
„Und dann bist du tot.“
„Nein! Erst fliegt der Horizont nach oben aus deinem Blick, dann merkst du, wie die Gravitation dich anzieht und du immer, immer schneller wirst. Dann dröhnt der Fallwind in deinen Ohren. Dein Gesicht fängt an zu schlabbern. Und dann siehst du keine Bäume, Autos, Menschen mehr sondern nur noch Streifen und dann – Bamm! – ist es dunkel.“
„Aber dann bist du tot.“
„Ja. Kann aber sein, dass ich das gar nicht mehr mitkriege, weil ich schon im Flug ohnmächtig geworden bin. Wegen dem Schock und dem Adrenalin und so. “
„Wenn du tot bist, kriegst du sowieso nichts mehr mit. Ist doch scheiße.“
„Aber vielleicht kriege ich den Aufprall noch mit. Wie meine Knochen brechen und mein Schädel.“
„Auch scheiße.“
„Aber ein cooler Abgang.“
„Was ist denn daran cool?“
„Keiner traut mir so etwas zu. Riesending. Alle werden von mir reden.“
„Werden?“
„Würden.“
„Du spinnst doch!“
„Alle würden kapieren, dass ich doch mutig bin und – krass.“
„Aber daran zweifelt doch niemand!“
„Und alle würden kapieren, dass sie mir gar nichts zu sagen haben. Dass sie mich am Arsch lecken können, weil ich mein eigenes Ding mache.“
„Du machst gar nichts mehr!“
„Und dann würde ich ihnen fehlen und es würde ihnen leid tun, dass sie so scheiße zu mir waren und sie würden mich vermissen.“
„Wer?“
„Was?“
„Wer war scheiße zu dir?“
„Weiß nicht. Alle eben.“
„Sag mir, wenn jemand scheiße zu dir ist.“
„Und dann?“
„Dann kriegt er paar aufs Maul.“
„Von dir!“

Simon tastet nach seinem Rucksack auf dem Boden.
Er angelt eine Dose Bier heraus und öffnet sie.
Es zischt. Mathias kann ihn trinken hören.
Dann reicht ihm Simon die Dose herüber.

„Es ist wegen Steffi, oder?“
„Merkt man das?“
„Ich bin doch nicht doof.“
„Wissen es die anderen?“
„Keine Ahnung. Ich weiß es.“
„Ich liebe sie.“
„Mann!“
„Was denn?“
„Sie liebt dich nicht. Die merkt nicht mal, dass es dich gibt.“
„Aber warum nicht?“
„Weil sie eine eingebildete Ziege ist?“
„Sie ist toll!“
„Nein, sie ist dämlich.“
„Wieso denn?“
„Weil sie dich nicht will.“

Der Blick ins Weltall wird nicht erwidert.
Der Mond klebt am Himmel, wie eine Mandrinenspalte.
Es riecht nach Gewitter, aber es sieht nicht danach aus.

„Ich habe ihr einen Brief geschrieben.“
„Wann?“
„Vor zwei Wochen.“
„Was stand drin?“
„Na, dass ich sie mag und ob wir mal zusammen klettern gehen wollen.“
„Und?“
„Was und?“
„Was hat sie geantwortet?“
„Gar nichts.“
„Ich sag’s doch: Das ist eine blöde Ziege.“
„Ja, vielleicht.“

Mathias setzt sich auf und trinkt.
Er zielt auf den Mülleimer am Sandkasten.
Er versenkt die Dose scheppernd.
Als er sich wieder niederlegt, landet sein Kopf auf Simons Arm.

„Wir können ja zusammen klettern gehen.“
„Aber du hast doch Höhenangst.“
„Ja. Aber da sind doch Seile und Gurte und so. Oder?“
„Da! Hast du das gesehen? Eine Sternschnuppe!“
„Jetzt dürfen wir uns was wünschen.“

Jonathan hat ein Foto zu seinem Album hinzugefügt

S: In diese Einöde? Mit Sack und Pack?

J: Jawohl. Und mehr als einen Koffer werde ich nicht mitnehmen.

S: Du machst Witze!

J: Nein. Ich mache Ernst. Neue Kleider kriege ich dort. Ich werde nur ein paar Fotos und ein Tagebuch behalten.

S: Und dein Rechner?

J: Bräuchte Strom.

S: Und dein ganzes Zeug?

J: Kannst du haben, wenn du willst.

S: Okay, nehme ich.

J: Wirklich?

S: Klar, weißt du,  ich leihe mir den Transporter von Andreas und komme nächste Woche einfach mal vorbei.  Wenn ich in meinem Zimmer eine Zwischendecke einziehe, kann ich deine Möbel auch noch stellen…

J: Tolle Idee. Ich fliege aber schon am Sonntag.

S: Du hast die Tickets schon?

J: Das Ticket. Ja.

Sarah scheibt.

Sarah ist online.

Sarah scheibt.

Sarah ist online.

J: Ich lasse alles hier. Du kannst dir holen, was du magst. Was übrig bleibt, fährt Jens irgendwann zum Sperrmüll.

S: Nichts dabei, woran dein Herz hängt?

J: Doch. Aber ich will ein freies Herz.

Sarah ist online.

S: Hast du noch mehr Bilder?

J: Natürlich. Sekunde.

Ziehe Fotos, Musikstücke oder Videos auf diese Fläche, um sie mit Sarah zu  teilen.

S: Herrje, gibt es außer dieser Hütte noch irgendetwas anderes dort?

Klicke hier, um die Ortsmarkierung an einen Freund zu senden.

S: Jonathan, dieses Nichts wird dich auffressen! Du wirst umkommen vor Langeweile!

J: Ganz im Gegenteil: Man führt dort ein sehr geregeltes Leben, wenn man sich erst einmal daran gewöhnt hat.

S: Du verarschst mich doch!

J: Wieso?

S: Man führt dort ein sehr geregeltes Leben, wenn man sich erst einmal daran gewöhnt hat? Ganz ehrlich: Schreib diesen Satz auf einen Zettel und wenn du wieder nüchtern bist, lachen wir gemeinsam darüber.

J: Was meinst du?

S: Was meinst DU? Jonathan, wer ist „man“? Du? Du willst „man“ sein? Das ist lächerlich!

J: Kapiere ich nicht.

S: Ist ganz einfach: Du bist nicht „man“. Du bist Jonathan. Der, der im Sommer Strickmützen trägt und im Winter Sneakers. Der, der sich rasiert, weil alle Jungs Bart tragen.  Der, der sich eine Fee auf den Oberarm tätowieren lässt, weil das sonst keiner hat. Seit ich dich kenne, tust du alles um Jonathan zu sein! Und bloß nicht „man“!

J: Sind doch alles Äußerlichkeiten.

S: Ah, verstehe! Äußerlichkeiten spielen keine Rolle mehr, plötzlich?

J: Genau.

S: Moment:  Als ich dich zum letzten Mal besucht habe, standen zwei  Riesendosen Muskelaufbau-Eiweißpulver neben der Hantelbank in deinem Zimmer. Was ist DANN passiert?

J: Nur die Hütte ist passiert. Seitdem ich dort war ändert sich alles.

S: Das merke ich. Gefällt mir nicht.

Jonathan ist online.

S: Und die Wahrheit ist: Ich glaube dir nicht! Du hasst Alltag! Du willst kein geregeltes Leben führen! Das bist nicht du!

J: Das bin nicht ich. Gefällt mir. Doch, ich will ein geregeltes Leben. Mit fester Struktur und klaren Notwendigkeiten.

S: Mit Müssen? Jonny, du bist allergisch auf Müssen! Sehr.

J: Ich meine nicht Müssen.

S: Dinge, die notwendig sind, muss man.

J: Ich werde eine klare Rolle haben. Eine Aufgabe. Mit Bedeutung für andere.

S: Weißt du schon welche?

J: Sie brauchen einen Wasserträger.

S: Nee, is klar.

J: Um das Wasser vom Brunnen in die Hütte zu bringen.

S: Und dafür hast du studiert? Um hauptberuflich Wasser für Grüntee ranzuschleppen?

J: Nicht nur für den Tee. Auch für die Waschungen. Und die Speisen.

S: Oh, das sehe ich ein! Bei so viel Wasser braucht man ein abgeschlossenes Studium.

J: Natürlich nicht. Ich brauche kein Studium mehr.

S: Außer Selbststudium, nehme ich an.

J: Das stimmt. Achtsamkeit, Konzentration, Meditation, Beten.

S: Gerade gefiel dir noch Nicht-Ich-Sein. Jetzt willst du dich selbst studieren. Ich sag’s nur.

J: Ich will endlich zu mir kommen.

S: Mir wäre ja lieber, du würdest zu mir kommen.

Sarah lächelt.

Jonathan lächelt.

S: Und dann? Wenn du bei dir bist?

J: Dann will ich mich überwinden.

Sarah lacht laut.

J: Man MUSS zu sich kommen, um sich zu überwinden. Ich glaube das!

S: Und warum? Und was soll das bedeuten?

Jonathan ist online.

J: Ich selbst sein hat jedenfalls nicht funktioniert.

S: Weil du dich nie getraut hast!

J: Und du so?

S: Es geht um dich, gerade.

J: Es geht immer um mich, Sarah! Das ist ja, was so nervt!

S: Häh?

J: Mein Leben ist ein Hoppserlauf von Strohfeuer zu Strohfeuer. Deine Worte.

S: Hab ich gesagt, ich weiß. Sehe ich immer noch so. Finde ich mittlerweile aber völlig in Ordnung. Solange. Du. Brennst.

J: Ich brenne nur nieder. Ich entfache nichts.

S: Das ist esoterisches Geschwurbel, Jonathan! Was soll das heißen?

J: Ich weiß nicht, wozu ich hier bin.

S: Und da dachtest du dir: Mensch, auf der anderen Seite des Planeten suchen sie einen Wasserträger, das wär‘ doch was für mich!

J: Die brauchen einen Wasserträger. Er fehlt dort. Ich bin hier zu viel.

S: Schaff dir Kinder an, wenn du zu viel Zeit hast!

J: Ich will keine Kinder, bevor ich weiß, worum es geht.

S: Es GEHT um Kinder, Jonathan! Es geht immer um Fortpflanzung! Überall!

J: Das ist sinnlos.

S: Und wenn schon. Es funktioniert.

J: Nicht für mich.

S: Jonny, Sinn ist eine Erfindung der Menschheit. Juckt die Natur kein bisschen, wenn der fehlt.

Jonathan ist online.

S: Bei Wikipedia steht, dass die nur miteinander sprechen, wenn es unbedingt nötig ist. Übst du wohl schon?

Jonathan lächelt.

J: Ich habe jedenfalls nichts zu sagen, gerade.

S: Du wirst das nicht aushalten, wenn du dich erst einmal daran gewöhnt hast. Alles, an das du dich jemals gewöhnt hast, hast du aufgegeben.

J: Ich weiß. Aber diesmal –

S: Mich auch.

J: Ja.

Jonathan küsst Sarah.

Jonathan ist offline.

Graufahrer

„Guten Abend, ein Ticket bitte.“
„Es gibt keine Tickets mehr.“
„Aber am Automaten gibt es doch Tickets?“
„Normalerweise ja.“
„Aber?“
„Der Automat ist kaputt.“
„Aber wenn der Automat kaputt ist, verkaufen Sie doch die Tickets.“
„Das stimmt.“
„Also dann hätte ich gern eins.“

„Ich verkaufe keine Tickets mehr.“
„Aber wieso?“
„Weil der Automat kaputt ist und deshalb alle ihre Tickets bei mir gekauft haben.“
„Aber warum kann ich dann keins bei Ihnen kaufen?“
„Weil sie alle sind.“
„Ich bin alle?“
„Die Tickets.“

„Aber wo kaufe ich jetzt ein Ticket?“
„Sie können kein Ticket kaufen.“
„Aber was mache ich denn dann?“
„Na was schlagen Sie denn vor?“
„Ich fahre ohne Ticket mit?“
„Ja.“
„Gut!“
„Oder haben Sie eine bessere Idee?“

„Ich könnte Sie bezahlen und Sie merken sich mein Gesicht.“
„Sie wollen mich dafür bezahlen, dass ich mir ihr Gesicht merke?“
„Nur für den Fall, das eine Kontrolle kommt.“
„Und dann?“
„Dann sollen Sie sich an mich erinnern und sagen, dass ich bezahlt habe.“
„Sie wollen mich dafür bezahlen, dass ich sage, was sie wünschen?“
„Ich würde sie dafür bezahlen, dass sie die Wahrheit sagen.“
„Seltenes Angebot.“

„Also was jetzt?“
„Ich kann nicht einfach so Geld in die Kasse stecken. Und in meine Taschen schon gar nicht. Oder wollen Sie mich bestechen?“
„Ich will keine 40 Euro bezahlen müssen, wenn eine Kontrolle kommt.“
„Es kommt keine Kontrolle.“
„Sind Sie sich sicher?“
„Ja, weil ich die Kontrolle bin. Und ich will keine Gesichtskontrolle sein.“

„Stimmt was nicht mit meinem Gesicht?“
„So vermummt wie Sie sind, kann ich das nicht sagen.“
„Entschuldigung, es ist kalt.“
„Wenn Sie endlich richtig ein- oder richtig aussteigen würden könnte ich die Tür zu machen und es würde wieder wärmer.“
„Gut. Danke.“

„Sie könnten wenigstens Bitte sagen.“
„Was?“
„Bitte!“
„Was?“
„Verstehen Sie das nicht? Sie wollen nett sein. Aber Sie sind nicht nett.“
„Ich werde fürs Busfahren bezahlt.“
„Aber nicht von mir, heute.“
„Und fürs Nettsein hätten Sie was gegeben?“