„Guten Tag!“, sagte sie. Das gehörte zu ihrem Job. Und nur die Besten konnten das so, dass es die Kunden auch glaubten. Sie konnte das, wenn sie etwas gegen ihre Kopfschmerzen genommen hatte. In den sechs Jahren, die sie hier war, hatte sich noch keiner über sie beschwert.
Der Stoppelmann nickte, schwieg aber. Manchmal murmelte er etwas. Aber er sprach nie. Sie mochte ihn, er wusste das. Wann immer sie in einer Kassenbox saß, wenn er alles beisammen hatte, zahlte er bei ihr. Oft wollte sie ihn fragen, wie er heißt, damit sie ihn beim nächsten Mal mit Namen begrüßen könnte. Aber eine Frage von ihr hätte eine Antwort von ihm verlangt. Sie respektierte seine Grenze. Job ist Job.
Dabei meinte sie es gut mit ihm. Sie wollte ihm eine Zahnärztin empfehlen. Eine liebe Omi, zu der sich sogar ihr Vater getraut hatte. Die war ganz vorsichtig und redete nicht viel. Der Vater musste da zwar hundertmal hin, aber danach konnte er wieder ungeniert lachen. Und er hatte doch immer so gern gelacht.
Damit die Zähne schön weiß blieben, würde sie dem Stoppelmann später auch den Trick erklären. Sie hatte ihn von der Frau in der Apotheke. Von der, die ihr immer ihre Kopfschmerztabletten verkaufte. Weil sie so oft in die Apotheke ging, dachte die Apothekenfrau wahrscheinlich, sie wären Freundinnen. Warum sonst hätte sie ihr letzte Woche den Trick verraten? Jedenfalls: Mit dem hätte es ihr Vater geschafft, seine schlechte Angewohnheit zu überwinden. Und der Stoppelmann könnte es so auch schaffen.
Er vertraute ihr. Nur bei ihr kaufte er sechs Schachteln auf einmal. Und bei keiner anderen Kollegin legte er gleich zwei Flaschen Pfefferminzlikör aufs Band. Sie beobachtete das vom Backstand, wenn sie dort aushalf. Selbst bei ihr versteckte er die Flaschen unter einer Zeitung, die sie geschickt nur soweit anhob wie nötig, um die Strichcodes zu scannen.
Stoppelmanns Frau musste auch Kassiererin gewesen sein. Sie musste ihm erzählt haben, wie im Pausenraum über Kunden gesprochen wird. Mit seinen zur Entschuldigung hochgezogenen Schultern bat er sie, kein schlechtes Wort über ihn zu verlieren. Und auch den Ladendetektiv nicht auf seine Manteltaschen anzusetzen. Scharf wie ein Terrier war der. Sie versprach es mit einem Zwinkern. Lang genug, damit er es als verständiges Nicken lesen konnte. Kurz genug, um nicht als Schäkerei missverstanden zu werden. Dienst ist Dienst.
Stoppelmanns Frau war schon ewig weg. Der Länge seiner Haare nach zu urteilen, mindestens drei Jahre. Vor einer Weile hatte er wohl eine Freundin in Aussicht. Da hat er ein paar Mal Pralinen gekauft. Ist aber nichts draus geworden. Jetzt kaufte er wieder Knackwurst. So oder so, ihr war er zu alt. Und außerdem: Einen Mann mit schlechten Zähnen küsst keine Frau gern, auch keinen lieben. Da war sie sich mit ihrer Mutter einig. Obwohl sie einen Ehemann nicht wegen schlechter Zähne verlassen würde, wie ihre Mutter. Dass verspricht man sich doch, wenn man heiratet: dass man sich immer hilft. Sie würde ihren Ehemann einmal gut behandeln.
Als der Stoppelmann plötzlich vormittags zum Einkaufen kam, war ihr gleich klar, dass er bald knapp bei Kasse sein würde. Geld ausgeben in der Zeit, in der andere es verdienen, geht nicht gut. Mit den trockenen Schwielen an seinen Händen verschwanden auch die Euros auf seinem Konto. Sie sah das an seinen Einkäufen. Nudeln, Dosenfleisch, Ketchup.
Wie ungerecht das war! Der Stoppelmann war so fleißig! Wie viele Male war er mit putzverkrusteten Hosen einkaufen gewesen? Die waren bestimmt nicht beim Kaffeetrinken schmutzig geworden. Jeder, der seinen verzerrten Mund sah, wenn er sich den Rucksack mit den schweren Flaschen auf den Rücken wuchtete, musste doch kapieren, dass er nicht mehr als Maurer arbeiten konnte. Mit so einem kaputten Rücken! Als Maurer! Sie hätten ihm eine andere Arbeit geben müssen, im Büro, irgendwas, oder als Anstreicher. Aber nichts!
Vielleicht haben sie ihn auch rausgeschmissen, weil sie dachten, er trinkt. Solche Idioten! Haben die ernsthaft geglaubt, er braucht den Pfeffi, damit es dreht? In der Arbeit? Unter der prallen Sonne? Dummköpfe! Wie soll jemand gerade Mauern hochziehen, wenn er besoffen ist?
Ihr Vater hatte ihr damals erklärt, warum man Pfefferminzlikör trinkt. Aus drei Gründen: Erstens will man den schlechten Geruch überdecken. Kaputte Zähne stinken und man kommt nun mal nicht überall durch, stumm wie ein Fisch. Zweitens will man die Zahnfleischentzündungen desinfizieren. Die heilen nur, wenn sie keimfrei sind. Weiß jeder! Drittens will man, dass es nicht mehr weh tut. Wer mal richtige Zahnschmerzen hatte, weiß, dass man alles macht, um sie loszuwerden. Aber wie sollte sie ihm helfen, wenn sie ihn nicht zum Antworten zwingen wollte? Sie musste nachdenken. Aber ihr Kopf!
Mittlerweile kaufte er die Wurstpackungen mit den roten Sonderetiketten und das geschnittene Graubrot in Plastiktüten. Dabei hatten sie am Backstand in der Filiale jeden Tag eine andere Sorte in der Aktion, die leckerer war als seine. Und gesünder. Und billiger, immerhin 60 Cent. Am liebsten würde sie ihn mal fragen, wieso er das macht. Aber er würde ja nichts antworten. Seine Zähne mussten schlimm aussehen. Sie erinnerte sich an die ihres Vaters. Sie verstand seine Scham. Aber wie ihre Mutter, verstand sie absolut nicht, warum Männer ihr Geld so verplempern.
Als er neulich Schweinelende von der Bedientheke aufs Band legte und Wildlachs aus der Eiswürfelkühlung und den teuren Spreewald-Pfefferminz, wollte sie ihm schon gratulieren, zur neuen Arbeit. Mit einem strahlenden Lächeln, nicht mit Worten, natürlich. Dann aber bemerkte sie den blassen Streifen an seinem Ringfinger. Und als sie sah, dass auch die Silberkette um seinen Hals verschwunden war, wurde sie sauer. Während der Stoppelmann die 12,40 € aus seinem Portmonee kramte, erkannte sie das dünne hellblaue Quittungspapier im Geldscheinfach. Es war vom dicken Pfandleiher am Steinweg. Er gab es aus für die wertvollen Dinge, die er sich borgte und dann verscherbelte.
So ein Mistkerl! Den silbernen Anhänger ihrer Omi hatte er verhökert, obwohl der Vater ihm den nur geliehen hatte. Und auch die Granat-Ohrringe waren futsch, als sie sie am Zahltag abholen wollte. Dem Pfandleiher gönnte sie keinen weiteren Reibach, der war fett genug.
Während sie das Wechselgelt für die 15 Euro abzählte, die ihr der Stoppelmann gegeben hatte, nahm sie ihren Mut zusammen. Sie griff den Kuli für die Kartenzahlungen und riss den Kassenzettel von der Rolle. Auf die Rückseite kritzelte sie:
Frau Dr. Oettmeier
Kurt-Eisner- Ecke Kochstraße
Dienstags ab 8 Uhr.
Zusammen mit den Münzen streckte sie ihm den Zettel entgegen: „Ich möchte, dass Sie heute ihren Kassenbon mitnehmen.“
Der Stoppelmann sah sie aus großen Augen an und nickte. Sie zwinkerte noch einmal. Langsam nahm er den Kassenzettel. Wie sie das freute! Wenn dann bald alles wieder in Ordnung ist, mit seinen Zähnen, würde sie ihn beiseite nehmen und ihm den Trick verraten.
Sie würde sagen: „Und wenn sie morgen früh aufstehen, dann lassen Sie die Flasche Pfefferminz einfach zu. Sie brauchen sie jetzt nicht mehr, mit ihren schönen Zähnen. Also müssen Sie die Gewohnheit loswerden, so sparen Sie viel Geld.“ Sie würde ihm eintrichtern, sich vorzunehmen: „Heute trinke ich keinen Pfefferminz. Nur heute nicht. Morgen darf ich wieder. So viel ich will. Aber heute? Nö, heute will ich nicht. Heute lasse ich es. Wird ja kein Problem sein, es einen Tag zu lassen.“ Und sie würde sagen: „Dann lassen sie es. Verstehen Sie? Sie lassen es! An diesem Tag. Und am nächsten Tag“, würde sie kichern, „Am nächsten Tag machen sie es einfach genauso. Und dann wieder. Und so können Sie sich selbst überlisten. Nach ein paar Tagen haben sie den Likör vergessen. So einfach ist das.“
Der Stoppelmann hatte den Bon gefaltet und sorgsam vor die Quittung des Pfandleihers gesteckt. Als er sein Wechselgeld aus ihrer Hand sammelte, sah sie ihn an. Mit geschlossenen Lippen lächelte er, bevor er seinen Einkaufswagen in Richtung Ausgang schob.
Ich wollte zwar immer schon mal einen Kommentar an Euch schicken, doch war die Faulheit bisher immer stärker. Heute will ich jedoch eine Ausnahme machen. Das nicht nur wegen der allgemein tollen Geschichte, sondern weil sie auch noch so toll geschrieben ist.
Herzliche Sonntagsgrüße
Manfred