„Je suis une baleine.“, sagt sie versonnen. Wortlos betritt er das Zimmer. „I am a whale.“ murmelt sie, während sie tippt. Er stellt sich dicht hinter sie. „Du bist ein Wal?“, fragt er vorsichtig und legt seine Hände warm auf ihre Schultern. „Was?“ fragt sie zurück, als sie ihren Blick vom Bildschirm löst und aufsieht. Ihr Scheitel berührt seinen nackten Bauch. „Du bist ein Wal?“, fragt er wieder. „Genau!“, antwortet sie, „Soll ich es dir beweisen?“ Er nickt. Mit zwei Fingern berührt sie eine grüne Fläche auf dem Bildschirm, in der „Check“ steht. Der Rechner gibt einen ermunternden Gong von sich. „You are correct.“ erscheint in großen Lettern auf dem Bildschirm. Sie lächelt fröhlich, er lächelt irritiert.
„Ich bin ein Wal.“, beginnt sie zu erklären, nachdem sie ihre Hände auf seine gelegt hat. „Ich durchstreife die Ozeane. Am liebsten in hunderten Metern Tiefe, dort wo kaum jemals ein Fisch und nie, niemals Sonnenlicht hinkommt. Ich schwimme stundenlang, tagelang, mein Leben lang, abertausende Kilometer weit. Ich will jeden Quadratmeter Ozean bereisen, jede Senke, jede Bank. Mein riesiges Maul ist dabei nie geschlossen. Mit jedem Meter, den ich durch die Tiefen gleite, sauge ich hektoliterweise Meerwasser auf, um jedes Fitzelchen Plankton, das ich erwischen kann herauszufiltern, zu schmecken, zu verdauen, von ihm zu wachsen. Niemals bin ich satt, niemals bin ich zufrieden. Ich werde größer und schwerer und bald bin ich so groß und so schwer, dass mir mein eigenes Gewicht an Land die Lungen zerquetschen würde. Aber da gehe ich nie hin: An Land. Ich bleibe im Wasser, dort, wo keine Menschen sind. Ich will keinen Wegen folgen müssen sondern mich Strömungen hingeben. Ich will nicht höher klettern sondern lieber tiefer sinken. Ich will kein Haus und keinen Unterschlupf, das Meer soll mein Zuhause sein. Nur alle zwei Stunden kehre ich für einen Moment an die Oberfläche zurück um aus- und einzuatmen. Dann gibt es eine riesige Fontäne.“
Er legt die Stirn in Falten, sie lacht. Im bläulichen Licht des Bildschirms sehen ihre Zähne gefährlich aus. „Was machst du?“, will er wissen. „Ich erkläre mich dir, damit du mich verstehst! Darum hast du doch gebeten.“, antwortet sie.
„Hier am Rechner meine ich: Was ist das?“
„Ich lerne Französisch.“
„Aber warum?“
„Weil ich es noch nicht kann! Und Englisch lerne ich nebenbei auch noch mal.“
„Meine Mutter hat dich sprechen hören.“. Mit seinen Daumen streicht er fest links und rechts an ihrer Wirbelsäule, den Hals entlang. „Sie hat gedacht, du sprichst mit ihr, aber auf ihre Fragen hast du nicht reagiert. Sie hat einige Momente an der Schwelle gestanden und dich beobachtet, aber sie versteht nicht, was du hier tust. Sie hat sich nicht getraut, ins Zimmer zu kommen. Du hast in fremden Sprachen gesprochen. Damit ich mal nach dir sehe, hat sie mich aus der Wanne zitiert. Sie hat sich Sorgen gemacht. Wie kommst du darauf, ausgerechnet jetzt Französisch zu lernen?“
„Du hast ja keine Ahnung, wie lustig Französisch ist! Und wie schön. Abeille heißt Biene. Klingt das nicht toll? Abeille! Und weißt du, was Bär heißt? Ours. Ours! So werde ich dich ab sofort nennen: Mon petit ours!“
„Warum sitzt du nicht bei uns? Mutter hat Stolle aufgeschnitten und Kaffee gekocht. Sie wartet. Wenn du willst, mache ich ein Räucherkerzchen an. Und die Pyramide mit den Glöckchen. Die Erzgebirgsgesänge können wir ja weglassen, wenn sie dich stören.“
„Ja, die Gesänge! Das ist interessant!“, sagt sie, als sie ihre Hände von seinen löst und wieder zu tippen anfängt. „Die muss man doch hier irgendwo hören können. Auf YouTube? Bestimmt!“
„Was ist los mit dir?“
„Hör mal. Das ist ein Bartenwal. Psst!“
Auf ihrem Stuhl rollt sie hinüber zur Stereoanlage, schaltet sie an und dreht sie voll auf. Das dumpfe Dröhnen des Meeres kann er in seinen nackten Sohlen spüren. Das helle Seufzen der Wale verschluckt die Weihnachtslieder, die in Fetzen aus dem Wohnzimmer herüberdringen.
„Das ist irre, oder?“, staunt sie.
Er schließt die Augen. „Ja.“ Das auf seiner Haut verbliebene Badewasser sammelt sich in Tropfen an seinen Fingerspitzen. Das kitzelt.
„Du könntest auch ein Wal werden! Dann durchstreifen wir die Ozeane gemeinsam und singen Lieder wie dieses.“
„Nein.“, sagt er und öffnet die Augen. Er schüttelt die Tropfen ab, hockt sich vor den Rechner und klappt ihn zu. Die Gesänge verstummen. „Nicht jetzt. Kein Französisch. Keine Walgesänge. Jetzt: Weihnachten. Kaffeetrinken.“
Sie verschränkt die Arme vor der Brust und seufzt.
„Hast du keine Lust?“, fragt er.
„Natürlich habe ich Lust. Ich habe Lust mit dir zum Flughafen zu fahren, jetzt sofort, und einen Flug zu buchen, für heute Abend noch. Wir fliegen auf die Azoren. Last minute. Very last minute.“, kichert sie.
„Die Azoren?“
„Meine Kollegin war dort, letztes Frühjahr. Es muss herrlich sein!“
„Ich bitte dich!“
„Aber, die Azoren sind perfekt! Man spricht Französisch dort! Ich kann sofort anwenden, was ich gelernt habe. Wir werden eine Bootstour unternehmen, weit raus, aufs offene Meer. Meine Kollegin hat das auch gemacht. Wir werden Wale sehen, echte Wale! Wir werden sie singen hören! Das wird wunderbar!“
Er richtet sich auf und fährt sich durch die nassen Haare.
„Aber man muss aufpassen! Meine Kollegin hat sich eine Mittelohrentzündung eingefangen, weil sie den ganzen Tag im scharfen Wind an der Reeling gestanden hat. Ich werde klüger sein. Ich werde ein Kopftuch tragen.“ Flink rollt sie auf ihn zu und zieht das Handtuch von seinen Lenden. „So ungefähr. Ein perfekter Windschleier. Trägt man das so? Sieht das gut aus? Es riecht gut!“
Er legt die Hände in die Luft, atmet ein und öffnet den Mund, aber er weiß nichts zu sagen. Sie sieht ihn an, legt den Kopf schief und ruft: „Wow! Wo ist deine Kamera?“ Irritiert schiebt er die Brauen zusammen. „Was? Meine Kamera?“ „Nicht bewegen!“, sagt sie, während sie aufspringt und das Windschleierhandtuch von sich wirft. „Diese Pose! Dieser schmale Streifen Licht aus dem Wohnzimmer.“ Mit beiden Händen durchwühlt sie die Schubladen unter der Stereoanlage. „Deine Körperlichkeit! Dein Bauch! Dein Alter! Das ist alles so tragisch. Aber liebevoll tragisch. Weißt du? Schön tragisch. Das muss ich festhalten.“
Er stöhnt, setzt sich auf den Schreibtisch neben den zugeklappten Rechner, zieht die Beine an und legt die Arme um die Knie. „Was ist passiert?“
„Mann! Jetzt hast du dich bewegt!“
„Hat sie etwas gesagt?“
„Und die Kamera ist auch nicht an ihrem Platz!“
„Hat sie dich verärgert mit irgendetwas?“
„Kein Wunder, dass es kaum Fotos von uns gibt!“
Er schreit: „Setz dich hin und sprich mit mir!“ Sie fährt herum und sieht ihn an. Sie setzt sich.
„Thomas?“, ruft es aus dem Wohnzimmer. „Alles in Ordnung?“
„Jetzt nicht!“ Er springt auf und schlägt die Tür zu. Dann geht er zu ihr herüber und kniet sich vor ihren Stuhl. „Hat sie dich verletzt?“ Sie holt eine Strähne hinter dem Ohr hervor und wickelt sie konzentriert um ihren Zeigefinger.
„Unser Stollen schmeckt ihr nicht.“, flüstert sie.
„Das ist alles?“, fragt er und streicht ihr die Strähne wieder hinters Ohr.
„Die Kekse, die ich gebacken habe, schmecken ihr auch nicht. Da fehlt geriebene Zitronenschale.“
„Und deswegen bist du ihr böse?“
„Deine Suppe heute Mittag, hat ihr auch nicht geschmeckt. Sie muss Pupsen davon.“
„Wahrscheinlich verträgt sie Linsen nicht so gut.“
„Sie findet auch, dass du die Frühstückseier zu weich kochst. Hat sie alles ihrem Bruder erzählt. Vorhin, am Telefon.“
„Aber das ist doch nur das Essen!“ Er streicht ihr weitere Strähnen aus der Stirn.
„Aber an Weihnachten geht es doch ums Essen, oder?“
Er küsst ihre Wange. „An Weihnachten geht es ums beieinander sein.“
„Ich will nicht bei ihr sein. Ich will bei dir sein.“ Sie legt ihren Arm um ihn und zieht seinen Kopf auf ihre Brust, so dass sein Ohr auf ihrem Pullover liegt. Sie treibt ihre Nase in seine Haare.
„Sie hat noch etwas gesagt.“ Sie legt auch den zweiten Arm um ihn und klammert sich an ihm fest.
„Was? Was hat sie gesagt?“
Sie zieht ihn noch fester an sich. „Heb mich hoch.“
Er lacht. „Erst, wenn du mir sagst, was sie gesagt hat.“
Sie schlingt ihre Beine um seine Hüften. „Erst, wenn du mich trägst.“
Er fährt mit seinen Armen unter ihre Schenkel und umfasst seine Handgelenke unter ihrem Po. Als er sie anhebt, legt sie ihr Kinn auf seine Schulter. Ihr Haar versperrt ihm die Sicht. Er schnappt danach, bekommt ein paar Strähnen zu beißen und zieht daran. Sie kichert.
„Also, was hat sie gesagt?“
Sie bringt ihre Lippen ganz dicht an sein Ohr. Sie flüstert: „Sie hat gesagt, dass sie Weihnachten hier mit einer Verrückten verbringen muss.“ Für einige Sekunden klemmt sie sich sein Ohrläppchen zwischen die Lippen. „Sie hat gesagt, dass ich verrückt bin.“
Er lacht laut. Sie treibt ihm die Fingernägel in den Rücken, damit er aufhört. „Sie ist eine dumme, alte Frau.“, zischt sie.
„Nein, nein.“, murmelt er, als er sie auf dem Schreibtisch absetzt. Sie denkt gar nicht daran, ihre Umklammerung zu lösen. „Sie ist nicht dumm, Liebes. Sie versteht nur nichts von Walen.“
„So ist es, so ist es! Sie hat überhaupt keine Ahnung von Walen. Null!“, kichert sie.
Er lehnt sich zurück und sieht sie an. Mit beiden Zeigefingern zeichnet er ihre Augenbrauen nach. Dann fährt er entlang ihrer Wangenknochen hinunter zu ihren Lippen. „Wahrscheinlich ist sie Vogelkundlerin.“, sagen diese. „Oder Rassekaninchenzüchterin.“ „Psst!“, sagt er. „Was immer sie ist.“, sagt sie, aber es ist undeutlich, weil seine Zeigefinger noch immer auf ihren Lippen ruhen, „von den Ritualen der Meeresbiologie hat sie nicht den blassesten Schimmer.“ Er zieht seine Finger von ihren Lippen und legt seine Lippen genau dort hin. „Arme, alte Frau.“, flüstert sie, als er den Kuss löst. „Sie hat dich stranden lassen, tonnenschwere Walfrau. Das war brutal von ihr.“, flüstert er.
Während sie mit beiden Händen fest in die Polster an seinen Hüften greift, lacht sie: „Zieh mich zurück ins Meer, tonnenschwerer Walmann, lass uns ein paar Minuten der Strömung folgen.“ Er fährt mit seinen Händen wieder unter ihren Po und hebt sie an. Sie streckt die Arme von sich. „Dreh dich!“, ruft sie, „dreh dich. Und mach die Augen zu. Wir spielen Wale im Strudel.“
Die Dielen knarzen unter dem ungewohnten Gewicht.
„Was ist denn hier los?“
Er öffnet die Augen. Ihm dreht. Er bleibt nicht stehen.
„Was macht ihr?“
In der halboffenen Tür steht seine Mutter. Ungelenk tastet sie nach dem Lichtschalter.
„Willst du dich nicht anziehen, Thomas?“
Wieder und wieder sieht er das entgeisterte Gesicht an sich vorbeiziehen. Das Brillengestell seiner Mutter zeigt hübsche Lichtreflexe.
„Raus mit dir!“, ruft sie, immer noch fest um seinen Hals geschlungen. „Du wirst ertrinken hier draußen!“
„Ich werde was?“
Er stoppt die Drehung und sieht seine Mutter an.
„Wir spielen Ozean, Mutter.“
„Seid ihr jetzt beide völlig übergeschnappt?“
Sie löst die Umarmung und klettert von ihm herunter. „Wir sind Wale, siehst du das nicht? Wir werden ja wohl mal ein paar Minuten abtauchen dürfen.“
„Wir kommen gleich, Mutter.“, sagt er, noch bevor diese etwas antworten kann. Schwankenden Schrittes geht er zur Tür. Seine Mutter nickt wortlos, wendet sich ab und geht zurück ins Wohnzimmer. Er schließt die Tür, dreht sich um und grinst.
Sie schiebt den Laptop beiseite und klettert auf den Schreibtisch.
„Was ist denn jetzt schon wieder?“, fragt er lächelnd.
„Ich habe eine lauschige Sandbank gefunden! Leg dich zu mir.“