Wir setzen auf Eile am Montagmorgen. Wir schlafen so lange, dass wir beim ersten Piepen des Weckers sofort aufstehen müssen, sonst verpasse ich meinen Zug und du deinen Bus. Während ich im Bad bin, schmierst du mir Brote; während du im Bad bist, packe ich. Wir brauchen 43 Minuten für unsere Routine, deswegen steht der Wecker auf 6:17 Uhr. Früher sind wir 6:15 Uhr aufgestanden, aber dann hatten wir nach dem Rasieren, Deodorieren und dem Tee noch zwei Minuten übrig. Du hast dich dann noch zwei Minuten zu mir gesetzt, wir haben zwei Minuten gesprochen oder ich habe zwei Minuten mit der Hündin gespielt. Dann ging es uns schlechter. Es hat sich bewährt, stattdessen zwei Minuten länger bewusstlos zu bleiben.
Ich ziehe den Reißverschluss bis unter die Nase, damit mir der Regen nicht in den Nacken tropft. Geradeaus gibt es nichts zu sehen; Dunkelheit ist schwarz und Kälte hat keine Farbe. Der Weg ist matschig und schmal, also fällt mein Blick auf den Boden.
Ich befürchte, spät dran zu sein, aber ich bin zu faul, die tief vergrabene Hand aus der Jackentasche zu ziehen um das zu prüfen; zumal ich dadurch nicht pünktlicher würde. Ich versuche mir einzureden, mich auf mein Talent zur Pünktlichkeit zu verlassen. „Sich auf ein Talent verlassen“ klingt besser als „ein Talent missbrauchen“. In Wirklichkeit will ich diesen Zug nicht erreichen; er fährt mich weg von dir. Er fährt mich an einen Schreibtisch, an dem ich der kleinen Uhr rechts unten fünf Tage lang beim Hochzählen zu sehen werde, bevor mich ein anderer Zug zurückbringt. „Wir brauchen das Geld“ klingt besser als „ich brauche meine Freiheiten.“
Mein Telefon vibriert in der Tasche. Du schreibst, dass du mich vermisst, obwohl ich deinen Bart noch auf meiner Wange spüre. Du schreibst, dass ich auf mich aufpassen soll, wenn du es nicht kannst. Das Handy nicht aus der Tasche zu nehmen, um deine Nachricht zu lesen, hat nichts mit Faulheit zu tun. Ich muss mich vorsehen, nicht auszurutschen; außerdem kenne ich deine Nachricht, denn ich kenne dich. Deshalb habe ich meine Pantoffeln nicht neben die Flurkommode gestellt, wo sie deiner Meinung nach hin gehören, sondern tief in den Schuhschrank gestopft. Deshalb habe ich meine Teetasse gespült, sobald sie leer war und selbst zurück in den Schrank gestellt. Und deshalb sieht mein Schreibtisch bei dir montagmorgens wie eine Blumenbank aus.
Etwas ist bunt im Schlamm und ich korrigiere meinen Schritt, um nicht darauf zu treten. Auf den ersten Blick ein Amulett, auf den zweiten ein eingeschweißtes ovales Stück Papier. Es wurde nicht weggeworfen sondern verloren, das ist eindeutig. Dementsprechend habe ich es nicht nur gesehen, sondern gefunden. Ich bücke mich und hebe es auf. Während andere Passanten an mir vorbei zur U-Bahn drängen, krame ich nach einem Papiertaschentuch, um meinen Fund zu reinigen.
Ich glaube, dass man durch Dinge, die man findet etwas über sich selbst erfahren kann. Wenn einem ein Ding nichts sagt, übersieht man es. Das ist wie, wenn man plötzlich nur noch Paare sieht, weil man gerade Single ist oder auf einmal nur noch Singles, weil man jemanden hat. Ich habe das ungelenk ausgeschnittene Porträt eines Mannes gefunden.
Ich trage das Taschentuch zum Papierkorb und betrachte das Bildnis im gelben Gaslaternenlicht. Ein väterlicher Mann. Mit vollem schwarzen Haar und einem stattlichen Bart, der an den Ansätzen weiß wird. Mit festem Blick, fast adlerhaft, wegen der schwungvoll gezogenen Augenbrauen. Mit einem hellen Schein um seinen Kopf, der kitschig in einen hellblauen Hintergrund ausläuft. Auf der Rückseite ein Name: Pater Pio. Darunter ein winziges schwarzes Quadrat. Ich streiche mit dem Daumen darüber und fühle die Erhebung unter der Folie. Es ist ein Stück Stoff, halb so groß nur, wie der Nagel meines kleinen Fingers. Es hat die gleiche Farbe wie das Gewand des Mannes auf der Vorderseite. Es ist ein Teil davon. Es war.
Ich komme zu spät zur U-Bahn, denke ich kurz, aber dann schwindet meine Hoffnung. Die U-Bahnen fahren zu häufig und ich bin zu früh los, als das mir dieses Stück Stoff dabei helfen könnte, meinen Zug zu verpassen. Zumal es ja jetzt, da ich diesen Gedanken gedacht habe, ohnehin kein Verpassen mehr wäre, sondern eine Entscheidung. Im Entscheiden bin ich nicht gut.
In der U-Bahn hole ich mein Telefon aus der Tasche. Pater Pio war Kapuzinerpriester. Er wurde heiliggesprochen weil er die Stigmata trug. Und weil er der Bilokation fähig war. Ich tippe auf das Wort „Bilokation“.
Wenn ich an zwei Orten gleichzeitig sein könnte, bliebe ich hier bei dir und würde nebenbei in die andere Stadt zur Arbeit fahren. Nachmittags würden wir gemeinsam mit der Hündin gehen, während ich meine Freunde treffe. Am Abend würde ich meinen Kopf auf deinem Schoß legen und mit dir fernsehen und anderswo mit den Jungs ausgehen. Nachts wäre ich ganz bei dir. Zusammen würden wir auf Reisen gehen und gleichzeitig das Geld dafür in unseren Büros verdienen.
Die Frau, die mir in der U-Bahn gegenübersitzt, schneidet mit einer Nagelschere das untere Ende eines schmalen Stapels Papier in Streifen. Später, wenn die Plakate an den Laternen hängen, kann man sich so leicht Schnipsel abreißen, auf denen ihre Telefonnummer steht. Die Plakate zeigen das Foto einer Katze und fragen „Wo ist Schrödinger?“. Ich frage mich, ob die Frau Quantenphysikerin ist. Ich habe gelesen von Schrödingers Katze. Das ist ein quantenphysikalisches Gleichnis, benannt nach dem Mann, der es sich ausgedacht hat:
Eine Katze wird in einen Karton gesperrt. Darin befindet sich außer ihr ein Fläschchen Blausäure, ein Hämmerchen, ein Geigerzähler und ein radioaktives Atom. Zerfällt das Atom, springt der Geigerzähler an und das Hämmerchen schlägt auf das Fläschchen: Die Katze stirbt. Ob das Atom aber zerfällt oder wann, kann niemand wissen. Den Gesetzen der Quantenphysik zufolge ist die Katze deshalb zugleich tot und lebendig. Bis sich einer entscheidet, nachzusehen.
Ich bin der Fähigkeit zur Bilokation so nahe, wie ihr jemand ohne Heiligenschein kommen kann. Ich habe zwei Adressen, zwei Kleiderschränke und zwei Paar Hausschuhe. Ich führe ein Junggesellen- und ein Eheleben und habe sowohl einen Hund als auch keinen. Ich begreife, dass keine Entscheidung und zwei Entscheidungen das Gleiche sein können. Ich bin verwirrt.
Wenn ich der Quantenphysikerin meine Hilfe beim Aufhängen der Plakate anbiete, würde sie vielleicht anschließend einen Kaffee mit mir trinken. Sie sieht nett aus und sie hat Humor: ihre Katze heißt Schrödinger. Außerdem sind wir Leidensgenossen: Sie vermisst ihre Katze, ich vermisse dich. Allerdings muss sie Plakate kleben, hoffen und bangen, während ich nur eine Entscheidung treffen müsste. Vielleicht könnten wir über Bilokation sprechen, damit habe ich ein Problem, fürchte ich.
Ich drehe die Reliquie zwischen meinen Händen und versuche es nicht albern zu finden: Man schneidet die Kutte eines Mannes in winzige Quadrate und verkauft sie an Pilger und Touristen. Ich stelle mir vor: Die Kleidungsstücke eines Heiliggesprochenen haben eine schützende Aura; beim Zerschneiden wird die nicht geteilt, sondern vervielfältigt. Mit dem Daumen streiche ich über die Erhebung und denke: Gewebe ist Gewebe, nichts sonst. Eine Aura kann man, wenn überhaupt, nur mit der Nase wahrnehmen. Sie verfliegt.
Als ich aufsehe ist die Frau ausgestiegen, jedenfalls ist sie nicht mehr da. Mein Telefon vibriert in meiner Hand. Nach einem augenzwinkernden Smiley schreibst du: „Du hast wieder meine Jacke genommen, oder?“ Ich vergrabe meine Nase im Kragen. Auf meinem Stammplatz im Zug angekommen antworte ich: „Dafür kannst du meine nehmen.“