Briefe

Unserem Newsletter vom 23.12. haben wir folgendes Foto angehängt.

freunde, unbekannte wünschen Frohe Weihnachten
freunde, unbekannte wünschen frohe Weihnachten

Unser lieber Leser Roland hat dazu eine Interpretation verfasst, die keinesfalls unveröffentlicht bleiben darf. Und bitte:

Bildbesprechung

Vor uns sehen wir die digitale schwarz-weiß Fotografie „PC190201“ eines unbekannten Künstlers. Sie zeigt drei Menschen von denen jeder eine sachgemäß brennende Kerze in der Hand hält.

Perspektive: Frontal.
Bildausschnitt: Totale, angeschnitten.
Beleuchtung: Künstlich, von links.
Ort: In einer Wohnung, wahrscheinlich Wohnzimmer.

Eine männliche Person sitzt mit überschlagenen Beinen barhäuptig in einem Rokoko-Sessel, eine weitere, mit Kopfbedeckung, steht dahinter. Die dritte, ebenfalls mit einer Kopfbedeckung ausge­stattete Person ist weiblich und kann sich sowohl weder für das Sitzen noch das Stehen, als auch für keine der beiden männlichen Personen entscheiden. Sie fläzt sichtlich gutgelaunt zwischen beiden auf der Sessellehne herum. Alle drei blicken auf den Betrachter. Hintergrund dieser vielschichtigen Szenerie bildet eine ganz ansehnliche dem Augenschein nach private Büchersammlung in einem übermannshohen Holzregal auf Laminatboden – auch ein paar Datenträger sind zu erkennen.

Nach eingehender Analyse von Kleidung, Wohnraumausstattung und Bibliothek kann man davon ausgehen, dass dieses Foto kurz nach der letzten Jahrtausendwende in Deutschland entstand.

Auf den ersten Blick könnte man meinen, es handle sich hier um drei fröhliche junge Menschen, die auf ungezwungene Weise ihrer Lebensfreude Ausdruck verleihen.

Weit gefehlt!

Hier bestätigt sich wieder einmal Georg Trakls düsterer Satz: „Jeder Mensch ist ein Abgrund“.

Doch eins nach dem andern:
Versuchen wir erst einmal herauszufinden, auf welcher Bühne dies schaurige Stück spielt, sprich: In wessen Wohnung haben sich diese drei Menschen versammelt?

Diese scheinbar nebensächliche Fragestellung ist an Relevanz kaum zu überschätzen – birgt die Antwort doch die grundlegende Referenz zur Einordnung der unterschiedlichen Ausdrucksmuster, die sich durchaus signifikant unterscheiden zwischen „Zuhause“ und „Inderfremde“ (also jetzt nicht „fremde Inder“, obwohl dem durchschnittlichen Mitteleuropäer die meisten Inder fremd sein dürften, sondern – was wollte ich gleich wieder sagen? … Also „gleich“ nicht im Sinne von „in Kürze“ oder „sehr ähnlich“, und „wieder“ nicht im Sinne von „noch einmal“, sondern „gleich wieder“ eher im Sinne von „denn nun“ … Aber irgendwas wollte ich doch – ach ja, die Klammer schließen ). So.

Auf die Frage „Wer wohnt hier?“ könnten folgende Indizien Aufschluss geben: Die im Regal befindlichen Bücher „Liebesleben“ und „Schweinische Bilder“, beide in der Erstausgabe Anfang dieses Jahrtausends erschienen, lassen auf eine große Aufgeschlossenheit, wenn nicht sogar Fixiertheit des Bibliothekinhabers bezüglich sexueller Themata schließen. Zumal wenn man in Betracht zieht, dass von den einzigen drei Büchern die zu identifizieren sind, bei zweien Sexualität im Mittelpunkt steht.

Das dritte Buch ist der Duden.

Es handelt sich also um eine Person, die auf Sexualität fixiert scheint und der Rechtschreibung nicht gleichgültig ist.

Das bringt uns nicht wirklich weiter.

Doch betrachten wir ein Buch genauer: Nachdem der Protagonist des Romans „Liebesleben“ weiblich ist, wage ich die Behauptung aufzustellen, dass als Wohnungsinhaber aufgrund mangelnder Affinität für weibliche Perspektiven kein Mann infrage kommen KANN. Das macht die Auswahl leichter.

Wir befinden uns also in der Höhle der Löwin. Das erklärt auch das Dekozeug am linken oberen Bildrand.

Wenden wir uns nun der Charakterisierung der einzelnen Personen zu.

Beginnen wir mit dem sitzenden Mann:
Sein Gesichtsausdruck lässt keine klare Aussage über seine emotionale Befindlichkeit zu. Man ist nicht sicher, ob er sich wohlfühlt oder von den beiden anderen gegen seinen Willen festgehalten wird. Die untere Gesichtshälfte trägt zwar deutliche Züge einer positiven, ja freudigen Stimmung, die obere Hälfte jedoch erweckt eher den Eindruck, als verstoße sie gegen das Betäubungsmittelgesetz. Diese Schlussfolgerung könnte allerdings auch einer hohen Dioptrienzahl geschuldet sein. Das alles schließt sich jedoch nicht gegenseitig aus und lässt einen breiten Interpretationsspielraum zu – zumal sich bei genauerem Hinsehen die Mundwinkel auf ganzer Front schon wieder leicht auf dem Rückzug befinden. Legen wir uns diesbezüglich also vorerst noch nicht fest.

Klar festzustellen ist allerdings, dass die Schuhe dieser Person – nennen wir sie einfach „Horst“ (die Person) – in deutlichem Kontrast zur Umgebung stehen. Dem könnte die gleiche Neigung zugrunde liegen, die urbane Menschen beim Autokauf zum Geländewagen treibt.
Also halten wir fest, dass Horsts Rolle ungeklärt ist und seine Bergschuhe eine gewisse Naturverbundenheit erkennen lassen.

Nun zur Person auf der Sessellehne. Ihr Name sei Annette.
Von ihr wissen wir nur, dass sie auf gepflegte Zähne achtet, gerne Kopfbedeckungen trägt, sich nur schwer entscheiden kann, eine starke Libido besitzt und manchmal in den Duden schaut. Außerdem ist ihrer Position zu entnehmen, dass sie dazu neigt Männer zu unterdrücken.

Lassen wir es erst einmal dabei und wenden uns der äußerst vielschichtigen dritten Person, Etiénne-Emmanuèle, zu.
Hier verbirgt sich hinter der scheinbar harmlosen Fassade ein Mann, der genau weiß was er will und dabei nicht davor zurückschreckt, andere der Lächerlichkeit preiszugeben. Zumindest ist das der Eindruck den er gern vermitteln würde um sein wahres Wesen zu verbergen. Wir wissen, dass seine gerundeten Lippen mit dem leicht vorgeschobenen Unterkiefer ein „ö“ intonieren – kein „o“, wie von viele Kollegen fälschlich behauptet. Wir wissen aber nicht, ob er gerade „Oh du fröhliche“ singt oder über die Öresundbrücke referiert. Vielleicht ist er über den Ölpreis besorgt oder findet Ökos blöd. Vielleicht aber ist er auch ein betrunkener Önologe, was zumindest den zweifellos leicht dümmlichen Gesichtsausdruck erklären würde.

Die wahre Bedeutung seiner Mimik werden wir wohl nie erfahren – seine Gestik aber spricht Bände:
Haben wir uns vielleicht anfangs darüber verwundert, warum die linken Arme der beiden Herren nicht zu sehen sind und was sie wohl mit ihren Händen machen, stellten wir später mit Erstaunen fest, dass Annette gar keine Kerze hält: Ihre vermeintliche linke Hand ist die von Horst!

Und Etiénne-Emmanuèle treibt mit seiner linken Hand in altbewährter Weise Schabernack über Annettes Kopf. So meint man zumindest.

Tatsächlich zeigt er mit seinem abgestreckten Mittelfinger, was er von dem hält, worauf sein Zeigefinger deutet: Über seinem Kopf im Regal ist der obere Teil eines Bildes offensichtlich sakralen Inhalts zu erkennen. Dies erklärt auch die ins Ironische überhöhte Größe seiner Kerze.

Trotzdem bleiben drei Fragen:
Erstens: Warum verbirgt Etiénne-Emmanuèle seine tiefe Abneigung gegenüber der Kirche so sorgfältig?
Zweitens: Was macht Annette mit ihrer linken Hand?
Und drittens: Was wollen die drei uns überhaupt sagen?
Ganz einfach: Frohe Weihnachten!