Als ich mich nach der Zitronenlimonade bücke, spüre ich eine Hand auf der Schulter. Die Berührung ist sanft und mehr durch ihre Wärme als durch ihren Druck zu spüren. Ich drehe meinen Kopf und sehe fein manikürte, klar lackierte Nägel in deren Mitte jeweils ein winziges Steinchen funkelt. Ich sehe einen schmalen goldenen Ring am zierlichen Mittelfinger und einen breiteren silbernen mit schwarzen Ornamenten am Daumen. Die Hand gleitet von meiner Schulter als ich mich aufrichte und verschränkt sich Finger für Finger in der anderen. Ich blicke ins Gesicht einer schmal lächelnden Frau. Der Farbe ihres Pullovers nach zu urteilen, arbeitet sie hier. „Entschuldigen Sie, wir würden den Markt dann gern schließen.“ Ich sehe durch die Eingangstür nach draußen, wo es noch hell ist. „Sie haben ja sicher bemerkt, dass es ein Unglück gegeben hat.“ Die Finger der einen Hand spielen mit den Ringen an der anderen. „Wenn Sie sich dann also bitte zur Kasse bewegen würden, das wäre nett.“ Sie nickt zweimal – langsam, schwach – dreht sich um und geht auf eine kleine, ältere Dame zu, die die Preise zweier Konserven vergleicht. Ich sehe, wie die Angestellte neuerlich die Hände vor dem Bauch verschränkt.
„Tammi?“, rufe ich. Ein Mann mit zwei Flaschen Bier in der einen und einer Tüte Erdnussflips in der anderen Hand dreht sich nach mir um. „Wo bist du?“ Tamara kichert hinter mir und wirft zwei Tüten Mikrowellenpopcorn in den Wagen. Der Mann zieht die Augenbrauen hoch und deutet mit dem Kopf in Richtung Ausgang. „Was wollte die Frau von dir? Kennst du die?“
Mit dem Einkaufswagen hatten wir die schmale Gasse zwischen zwei Krankenwagen passieren müssen, die vor dem Eingang des Supermarktes geparkt waren. „Ist das jetzt ein Krankenhaus?“, hatte meine Nichte gefragt und ich hatte „Nein, nein.“ geantwortet. Bestimmt sei nur jemandem schlecht geworden, so wie es Oma manchmal schlecht werde. Oder schwindlig. Vielleicht sei auch jemandem eine Palette saure Gurken auf den Fuß gefallen, versuchte ich zu scherzen. „Oder eine Mama kriegt ein Baby. Da kommt auch der Krankenwagen.“, hatte Tamara gemutmaßt. „Das kann auch sein.“ „Ein Supermarkt“, überlegte sie, „ist aber ein komischer Ort zum Babys kriegen.“
Ich nehme meine Nichte an die Hand und schiebe den Wagen zur Kasse. Tamara starrt auf die Verbindung unserer beiden Hände als handele es sich dabei um ein wissenschaftlich zu untersuchendes Phänomen. Die Gänge sind schmal, besonders im Kassenbereich, wo sich die Osterhasen und Krokanteier türmen. „Hilfst du mir, die Sachen aufs Band zu legen?“ Während Tamara die Teigmischung, die passierten Tomaten und den Spinat aus dem Wagen angelt, recke ich den Kopf.
Als wir den Markt betreten hatten, sah ich schon von weitem die beiden Sanitäter in neongelben Jacken. Sie knieten über einer Person, die zwischen dem Eierregal und den Stiegen für roten, gelben und grünen Paprika am Boden gelegen hatte. Am Kühlregal weiter hinten war ein Mann mit runder Brille in das Studium der Zutatenliste eines Joghurts vertieft. Eine Münze, die einer Frau an der Kasse aus der Hand gefallen war, rollte einige Meter durch den Markt.
„Bisschen Kupfer haben Sie wohl nicht für mich?“, scherzt die rothaarige Kassiererin. „Ich bin ganz verrückt auf Kupfer heute.“ „Wer den Pfennig nicht ehrt, ist die Mark nicht wert.“, murmelt die dünne Kundin vor mir, während sie mit spitzen Fingern die Münzen aus ihrem Portmonee fischt. „Cent!“, sagt die Kassiererin. „Cent.“, stimmt die Kundin zu. „Tschüss, machen Sie’s gut!“
„Zuerst brauchen wir Tomaten.“, hatte ich vorgeschlagen, damit meine Nichte nicht in den Gang mit dem Eierregal abbog. „Bio oder billig?“, hatte das Kind gefragt, aber ich war abgelenkt gewesen, weil ich mir nicht sicher war, ob der Sanitäter kaum sichtbar mit dem Kopf geschüttelt hatte, als ich an ihm vorbeilief.
„Und jetzt?“, hatte Tamara gefragt, als die Tomaten schon im Wagen lagen. „Kannst du Pizzakäse holen gehen? Aus dem Kühlregal, dort um die Ecke?“ Sie hatte sich mit grazil ausgebreiteten Armen zweimal um die eigene Achse gedreht und mich angelacht. „Das habe ich beim Ballett gelernt!“ „Toll!“, hatte ich sie gelobt. „Zeigst du mir nachher noch mehr? Und holst du jetzt bitte den Käse?“ „Na gut.“, hatte Tamara geantwortet und war Richtung Kühlregal geschlurft.
Von der anderen Seite hatte ich in die Paprikastiege gegriffen und mir zwei große, tiefrote Früchte herausgesucht. Mein Blick war auf den beige gefliesten Boden des Supermarktes gefallen; dann auf einen Schuh, einen schlichten Herrenschuh, schwarzes Leder; dann einen Strumpf, eine einfache Herrensocke, dunkelgrau; dann auf ein Schienbein, breit, blass, schwach behaart und kurz unter dem Knie schließlich auf den Saum einer Jeans, dunkelblau mit gelben Nähten. Dann erst war es mir gelungen, meinen Blick loszureißen.
„Guck mal! Kuhfleckenpudding!“, hatte Tamara gerufen. „Schoko und Vanille! In einem Becher! Darf ich? Bitte!“ Ich hatte genickt und gewartet, bis sie mit ihren Füßen auf den Getränkekistenboden des Einkaufswagens gestiegen war, bevor ich die Gemüseabteilung verließ. „Jetzt Spinat, oder?“ rief das Mädchen, bereits auf halbem Weg zu den Kühltruhen. „Wenn du das magst.“, gab ich zur Antwort „Aber nur den aus Blättern, Onkel Korbi. Nicht den aus Brei. Mutti mag den auch nicht. Entengrütze!“
Aus dem Augenwinkel hatte ich gesehen, dass die Sanitäter oberhalb der Knie eine Decke über den Mann gelegt hatten. Eine braune Wolldecke, die mich an die Kuscheldecke mit Pferdemotiv erinnerte, die mir meine Schwester in unserer Kindheit immer vorenthalten hatte. Ich hatte mich kurz gefragt, wie sie zu dieser Decke gekommen waren, denn zur Ausstattung des Krankenwagens gehörte sie sicher nicht. Den Reißverschluss meiner Jacke zog ich daraufhin bis ganz nach oben; tatsächlich war es etwas kühl.
Erst jetzt, von der Kasse aus, sehe ich, dass die Decke auch den Kopf des am Boden liegenden Mannes umhüllt. Ich fasse Tamara an der Schulter, um zu verhindern, dass sie nach ihrer nächsten Pirouette mit dem Blick in Richtung Eierregal zum Stehen kommt. Eine Sanitäterin passiert den Kassenbereich schnellen Schrittes. An ihrer Hand baumelt eine durchsichtige Mülltüte. Darin aufgerissene Verpackungen von Kompressen, ein dicker Kunststoffbeutel wie von einer leeren Infusion, ein Stückchen Schlauch, kleine Plastikteile, mintgrün. Tamara steckt den Nagel ihres Daumens in die kleine Lücke zwischen ihren vorderen Schneidezähnen als sie ihr nachsieht. „Haben wir denn alles?“, frage ich sie schnell.
„Der Käse!“, ruft Tamara. „Wir haben den Käse vergessen!“ „Aber du wolltest doch welchen holen?“, sage ich. „Ja, aber da habe ich doch den Kuhfleckenpudding entdeckt. Ich hole ihn schnell, ja?“ „Nein, Tammi. Bleib bitte hier, jetzt.“ „Aber wir brauchen den Käse!“ „Nicht unbedingt.“ „Was soll das denn für eine Pizza werden! Ohne Käse!“ „Vielleicht habt ihr noch Käse zuhause.“ „Haben wir nicht!“ „Dann fragen wir Onkel Wolfgang, ob er Käse übrig hat.“ „Und wenn nicht? Ich kann noch Käse holen. Ganz schnell! Ich muss dafür doch gar nicht –“ „Nein, Tamara. Das geht jetzt nicht.“ „Aber wieso?“ „Das erkläre ich dir gleich.“ Ich beiße mir auf die Unterlippe und streiche dem Mädchen über den Kopf.
Zwei Polizisten betreten den Markt. Einer zückt einen Fotoapparat, der andere kramt einen Notizblock und einen Kugelschreiber aus seiner Jacke hervor. Zwei Sanitäter nehmen die Decke von dem Mann und spannen Sie als Sichtschutz auf. Dahinter blitzt es. Meine Hand wandert wieder auf Tamaras Schulter. „Junger Mann?“ Ich drehe meinen Kopf. „13,89, bitte.“ „Du hast geträumt, Onkel Korbi!“, lacht Tamara. „Sie brauchen Kleingeld, oder? Kupfer, richtig?“, frage ich und klaube 89 Cent aus meinem Kleingeldfach zusammen. „Ein Träumchen!“ „Sagen Sie, am Backstand kann man aber noch einkaufen, oder?“ „Du willst wohl noch Kuchen essen mit deinem Onkel?“, fragt die Kassiererin Tamara. Die kichert und nickt.
„Warum machst du das?“, fragt das Mädchen, als ich sie neuerlich an die Hand nehme. „Das machst du nie!“ „Was für Kuchen willst du denn, Tammy?“ Das Mädchen reißt sich los und rennt zur Kuchentheke. Vor uns steht ein dicker Mann in schwarzer Lederjacke und schüttelt entnervt mit dem Kopf. „Umgefallen, umgefallen. Das ist doch Mist!“, zetert er. „Wie lange soll ich denn jetzt hier rumgammeln?“ „Das kann ich Ihnen nicht sagen.“, gibt die Verkäuferin mit rauer Stimme zur Antwort. „So etwas passiert ja nicht alle Tage.“ „Aber der Mann wird doch versorgt.“, mische ich mich ein. „So lange wird es schon nicht dauern.“ Da sieht mich die Verkäuferin an und zieht den Hals ein. Für einen Augenblick tritt ihre Zunge zwischen den Lippen hervor um sie zu befeuchten. „Der Mann wird nicht mehr versorgt.“, sagt sie schließlich. „Der Mann ist tot.“
Unwillkürlich greife ich wieder nach der Hand meiner Nichte und antworte: „Wir nehmen zwei Plunderteilchen mit Obst. Und ein Mürbchen. Und den Windbeutel hier vorn.“ „Kann alles auf eine Pappe?“ „Natürlich.“
Tamara angelt das Kuchenpaket von der Theke und riecht am gelb bedruckten Papier. Ich greife die Plastiktüte. Auf dem Weg nach draußen sehe ich einen Leichenwagen auf den Parkplatz einbiegen. „Onkel Korbi?“, fragt das Mädchen und weil ich mein Portmonee im Mund habe um mit der freien Hand nach meinem Autoschlüssel zu suchen, kann ich nur „Hmm.“ antworten. „Zum Sterben ist ein Supermarkt aber auch ein komischer Ort, oder?“ Ich schlucke. „Hmm, hmm.“, mache ich dann und lasse das Portmonee noch ein paar Sekunden zwischen meinen Zähnen. Erst als endlich das Autoradio angesprungen ist, lege ich es ins Handschuhfach.