Endlos und leer lag die Ebene vor ihm. Ohne jeden Makel, sogar ohne jegliche Textur. Seit Stunden stellte er sich gegen die Kälte, die sich immer tiefer in seinen Körper fraß. Dutzende Kilometer hatte er hinter sich gelassen, aber die Ebene vor ihm veränderte sich nicht. Längst hatte er eingesehen, dass er die Hütte heute nicht mehr erreichen würde. Weit in ihm, hinter dem Fauchen des Windes in seinen Ohren, zog seine Angst zischend in Zweifel, ob er die Hütte jemals fände. Er sehnte sich nach dem wärmenden Feuer, das in ihr brannte, aber er würde in der kommenden Nacht wohl darauf verzichten müssen. Der Himmel hatte schon von weißlich blau auf petrol gewechselt und würde sich bald in Richtung schwarz recken. Seine Hunde wurden langsamer und brauchten eine Pause. Wie er. Wenn er nicht sofort anhielt um sein Nachtlager zu bereiten, würde er in der Dunkelheit vor Erschöpfung vom Schlitten kippen und bis morgen früh erfroren sein. Ihm war das klar, doch ängstigte es ihn nicht genug, als dass er den Singsang der Glöckchen an den Halsbändern seiner Hunde dafür stoppen würde. Er mochte ihr Lied und er fürchtete sich vor der betäubenden Stille, die sich binnen weniger Augenblicke wie eine schwere Wolldeckte über die Ebene legen würde, sobald seine Hunde zur Ruhe gekommen waren. Also schloss er die Augen und konzentrierte sich auf das Gleiten der Kufen unter seinen Füßen; konzentrierte sich auf seinen Atem, atmete tief, ließ den Atem entweichen, versuchte seinen warmen Hauch auf der Haut zu spüren, spürte nichts. Er öffnete seine Augen und sah, dass ein Sturm aufzog.
Der Horizont, der die Ebene messerscharf vom Himmel trennte, geriet aus dem Gleichgewicht, geriet in Wallung, warf hohe Wellen. Es war, als würden die Böen auch unter dem schneebedeckten Boden wüten wie unter einem gespannten Laken. Die Ebene verlor ihre Stabilität. Sie öffnete sich wie ein riesiger Schirm vor ihm, umfing ihn, ließ sich von den Kufen seines Schlittens spuren, und einen Moment später entzog sie ihm; zog sie sich so weit zusammen, dass nur ein winziger weißer Spalt blieb von ihr, verschwand schließlich ganz, warf ihn ins Nichts.
Sein Schlitten kippte und begrub ihn unter sich, weich aber schwer. Er wartete auf den Schmerz, aber es schmerzte nicht. Er konnte seine Hunde nicht mehr sehen. Er musste sie wiederfinden, er wäre verloren ohne sie. Dass er ihre Glöckchen noch singen hören konnte, beruhigte ihn. Er schloss die Augen, atmete und lauschte. Er mochte den weichen Schnee unter seiner Wange. Er beschloss, eine Weile liegen zu bleiben, auszuruhen und sich vom Gewicht seines Leibes wärmen zu lassen. Kurz bevor man erfriert, wird einem ganz warm, sagt man.
Er öffnete die Augen. Die petrolfarbenen Vorhänge filterten die Sonne und tauchten das Zimmer in ein fahles, kaltes Licht. Nur ganz unten, ein fingerbreit über dem Boden, dort wo der Horizont die Ebene abschnitt, tanzte ein warmweißer Fetzen auf den hellen Dielen. Vom geöffneten Fenster her fuhr ein eisiger Hauch ins Zimmer, der von fern das Klimpern der Glöckchen an den Halsbändern seiner Schlittenhunde zu ihm herübertrug.
10:42 Uhr. Ein schöner Wecker. Mit Klappzahlen und Radio. Aber nicht seiner. Ebenso wenig wie das schneeweiche Kissen, die Matratze mit der tiefen Kuhle oder das flache Bett, in dem er lag. Er stützte seinen Oberkörper auf seine Ellenbogen und sah sich um. Sein Nacken schmerzte. Er ächzte.
Nichts hier gehörte ihm. Nicht der helle Plüschteppich auf dem das Bett stand, nicht die matten, hellen Dielen auf denen er lag und nicht die kargen hellgrauen, Wände an denen sie endeten. Er setzte sich auf. Nichts von dem, was ihn umgab, kannte er. Den riesigen weißen Schrank nicht, nicht seinen Inhalt und nicht den, dem er gehörte. Das einzige, was ihm unangenehm vertraut vorkam, war der Andere, der ihn ernst, zerzaust und irritiert aus einem mannshohen weißen Holzrahmen neben der Flügeltür anstarrte.
Er legte sich wieder hin, kniff die Augen zu und ließ sie ein paar Sekunden geschlossen. Er sah ein, dass die weite, klare Schneelandschaft unwiederbringlich dem fast schwarzen Dunkelrot hinter seinen Lidern gewichen war. War er tatsächlich wach? Er biss sich auf die Unterlippe. Es tat weh, aber wer konnte sich sicher sein, dass es nicht wehtun würde, sich im Traum auf die Lippe zu beißen? Vorsichtig setzte er seine Füße auf den Plüschteppich, so vorsichtig, dass es ihn kitzelte. Langsam verlagerte er sein Gewicht und stand auf. Weil jemand seinen Schädel über Nacht mit Beton gefüllt hatte, gelang es ihm erst nach einigen Sekunden seinen Körper im Gleichgewicht zu halten. Ihm war schwindlig und im Traum war ihm noch nie schwindlig gewesen.
Er taumelte zum Holzrahmen hinüber. Aus dunklen Augen in tiefen Höhlen starrte ihn ein alter Mann an, aufgedunsen, irritiert und feindselig. Sein Körper war ohne Wunden, aber wegen seiner gekrümmten Haltung wirkte er verletzt. Mit der linken Hand berührte er seine Rechte, die reglos an seinem Arm hing. Dann seine Wangen, seine Brust, seinen Bauch. Seine Haut war aus Latex. Sie schimmerte in blassem Violett. Darunter waberte Flüssigkeit, lauwarm. Er berührte seine Lippen. Silikon. Weich, aber trocken und ohne Gefühl. Er steckte seine Hand in seine Shorts. Er spürte die Berührung stärker als die anderen, weil er sie nicht sah. Aber er fühlte nichts. Trotzdem: Er war es, auch wenn er sich nur ähnelte. Er stammelte „Wer?“, „Wo?“ Seiner Stimme fehlte der Bass. Er wandte sich ab.
10:49 Uhr. Ein schöner Wecker auf dem Nachttisch. Ein leeres Wasserglas. Daneben ein schwerer großer Kristallaschenbecher. Dunkelblau. Leer aber nicht unbenutzt. Wie er. Weiter daneben Magazine. In gewollter Unordnung. Wie er. Wer schläft hier, wenn er hier nicht schläft? Wieso war er hier aufgewacht?
Er taumelte zu den petrolfarbenen Vorhängen und ließ die Stadt herein. Seine Fremde endete nicht an den Grenzen seines Körpers. Auch nicht an den Wänden dieses Raumes. Durch eine schmale Tür trat er auf einen halbrunden Balkon. Die frostige Luft füllte seine Lungen und nahm einen Teil seiner Benommenheit mit sich. Der grobe Beton unter seinen Füßen riss ein Loch in die Watteschicht, die ihn umgab. Das geschwungene Eisengeländer zwang ihn, zuzugreifen. Er stutzte: Dort unten fand ein Tag statt. Busfahrer fuhren Busse, Paketboten lieferten Pakete und durch die großen Fenster des Gebäudes gegenüber sah er Büros, in denen Sachbearbeiter Sachverhalte bearbeiten. Die Maschine lief.
Auf den Balkon nebenan war ein Schäferhund gesperrt. Der schlief. Er selbst nahm seinen Mut und seine Konzentration zusammen und beugte sich über die Brüstung nach unten. Weit, so weit, bis er das metallene Windspiel auf dem Balkon eine Etage tiefer sehen konnte. Die Glocken der Schlittenhunde. Ursache und Wirkung bedeuteten ihm viel.
Er ließ seinen Blick schweifen und entdeckte das Wintergartenhochhaus. Er war noch in Leipzig. Volkmarsdorf, Neuschönefeld oder Reudnitz. Er erkannte kein anderes Gebäude in seinem Sichtfeld. Er war kein Leipziger. Seine Augen schafften es nicht, den Straßennamen auf dem Schild an der Ecke zu entziffern.
Ein Bellen wie eine Sturmböe warf ihn auf die andere Seite. Er schrie. Adrenalin flutete ihn. Der Hund vom Nachbarbalkon hatte sich in einen tollwütigen Werwolf verwandelt. Mit den Vorderläufen hing er über der Brüstung und kläffte, fletschte, knurrte, dass der Speichel spritzte. Er gehorchte und ging nach drinnen. Sorgfältig verriegelte er die Balkontür.
Er war Herzschlag. Er pumpte. Das Pochen seiner Schläfen erinnerte ihn daran, dass Zeit verging. Das war tröstlich. Er würde klarer werden, mit der Zeit. Er würde herausfinden, wo er war. Und wo seine Kleidung. Und ob es diese Hütte gab. Und warum sich der Hund gegen ihn wandte. Er entdeckte die Heizung hinter dem Vorhang und drehte sie auf.
Er ging zum Kleiderschrank. Der wies ihn ab wie ein Monolith außerirdischen Gesteins. Seine weiße Hochglanzoberfläche wollte nicht berührt werden. Nicht von ihm. Er war schmutzig, fettig und voller Keime. Der Schrank hatte keine Türgriffe, keine Griffmulden, keine Schlüssel oder Schlösser. Der Schrank stand vor ihm, im vollen Bewusstsein der eigenen Anmut. Der Schrank ignorierte ihn. Er trat zur Seite um seinen Winkel zum einfallenden Licht zu verändern. Das Spiegelbild des Raumes war makellos. Kein Fingerabdruck, kein Kratzer, keine Spur. Er untersuchte die Kanten nach Vertiefungen oder Tastern. Sie waren glatt, ebenmäßig und kalt – nichts sonst. Er trat zurück, um den Schrank als Ganzes sehen zu können. Er wollte ihn verstehen. Der Schrank schien sich abzuwenden. Er trat heran, als würde er Anlauf nehmen, streckte die Hand aus und drückte sie fest gegen das porenfreie Weiß. Es klickte merklich unter seiner Hand. Die Tür trat hervor und fuhr langsam aber präzise geführt zur Seite.
Im Inneren offenbarte sich das, was von außen vehement geleugnet wurde: ein ordinärer Kleiderschrank aus weiß furniertem Pressspan. Das Versprechen der Perfektion wurde nicht gehalten, das wird es nie. Die Kleidungsstücke und Gegenstände im Inneren waren zwar nach Art sortiert aber ohne große Sorgfalt aufeinander gestapelt, nebeneinander gelegt und übereinander gehangen.
Er fand Hemden, kariert zumeist, wenigstens zwanzig. Und Hosen aus Cord, hellbraun, dunkelbraun, beige, schwarz, blau. Vielleicht zehn? Jeans, sieben Mal das gleiche Modell aber eindeutig unterschiedlich alt. Cordwesten und Cordjacketts. Boxershorts, die engen. Gürtel, alle braun, alle Leder, einer mit einer Schnalle in Form eines Bullenkopfes. In einer Ecke Cowboystiefel mit Sporen. Das reichte ihm. Seine Sachen waren da nirgends. In der Sekunde, in der er die Tür wieder schließen wollte, stutzte er.
„Cowboystiefel?“ Er hob einen Stapel T-Shirts, zog einen Stapel Pullover aus dem Fach, um dahinter zu schauen, prüfte einige Kleiderbügel darauf, ob unter den Hemden vielleicht Blusen hingen. Aber nichts. Dies war ohne Zweifel der Kleiderschrank eines Mannes. Dies war ohne Zweifel das Schlafzimmer eines Mannes. Aber er war nicht der dazugehörige Mann. Er legte die Hände vors Gesicht und rieb sich die Augen. Er schlug sich mit den Handballen auf die Stirn um klarer zu werden, aber sein Schädel antwortete mit stärkerem Dröhnen.
Er berührte die Tür erneut, woraufhin der Schrank die Kleidung des Fremden wieder verschluckte. Er schauderte: Der Fremde. Das war er. Er war in einem Bett aufgewacht, in das er nicht gehörte. Er war derjenige, der hier nicht stimmte. Dem Nachbarshund war es gleich aufgefallen. Er fand sich in der Mitte des Zimmers wieder und drehte sich langsam um die eigene Achse.
(Fortsetzung 2. Ausrüsten)
Ein Gedanke zu „1. Erwachen“