Mein Hase

Du bist wach. Du bist allein. Du streckst dich. Du öffnest Facebook. Drei deiner Freunde haben ihr Profilbild geändert. Zwei tragen jetzt Mützen. Einer fährt Ski. Ansonsten keine Neuigkeiten. Keine neuen Likes. Keine neuen Nachrichten. Du rollst durch die alten. Alle gelesen. Alle beantwortet. Du checkst deine E-Mails. Zwei Newsletter. Viermal Spam. Du drückst sechs Mal Entfernen. Du öffnest den Chat. Keiner deiner Favoriten ist online. Du hast große warme braune Augen.

Ich reibe den Schlaf aus meinen und krümle die Körner auf den Teppich. Meine Augen brennen. Das ist einfach nicht mein Biorhythmus. Ich greife zu meiner Kaffeetasse. Sie ist leer. Ich müsste aufstehen und neuen Kaffee aufsetzen. Das geht jetzt nicht. Ich will nichts verpassen. Ich schlage mir die Hände ins Gesicht. Ich ohrfeige mich. Adrenalin macht wach. Ich will jetzt wach sein. Du bist wach. Was machst du?

Du greifst zu deinem Telefon. Keine neuen SMS. Keine Benachrichtigungen. Du rollst durch dein Adressbuch. Du könntest jemanden anrufen. Aber wen? Die Hälfte der Leute hat in den letzten acht Wochen keine Rolle in deinem Leben gespielt. Du löschst ein paar von denen. Du blätterst durch deinen SMS-Eingang. Du liest alte Nachrichten. Du löschst ein paar von denen. Du könntest jemandem schreiben. Aber wem? Oder was? Du kaust auf deinen Lippen. Lass das! Du gehst zum Fenster und legst deine Stirn an die Glasscheibe. Was siehst du?

Ich öffne eine neues Nachrichtenfenster und schreibe dir: „Guten Morgen.“ Wen soll ich als Absender nehmen? Ich lasse es. Stattdessen angle ich die letzte Zigarette aus dem Päckchen. Ich muss neue holen. Ich suche mein Feuerzeug. Ich suche den Aschenbecher. Ich habe keinen Kaffee. Ich raste aus. Ich klemme die Zigarette ohne Feuer zwischen meine Lippen. Ich schmecke trotzdem Rauch. Ich sollte lüften. Ich brauche frische Luft. Du brauchst frische Luft.

Du solltest rausgehen. Nimm dein Handy mit. Dann bin ich beruhigt. Es dämmert schon. Du warst noch nicht draußen. Aber es regnet und du willst nicht raus. Du kriegst eine neue E-Mail. Dein Foto-Netzwerk. So gelingen tolle Schnappschüsse bei tristem Frühlingswetter. Du klickst die Benachrichtigung weg. Du steckst dir eine Zigarette an. Du hast noch massig Zigaretten. Feuerzeug und Aschenbecher liegen griffbereit. Typisch für dich. Du atmest weißliche Schwaden aus. Du bist blass wie ein Geist. So gelingen tolle Schnappschüsse vor Ihrem Rechner. Ich möchte auch eine Zigarette rauchen.

Ich lasse meinen Kopf zwischen meine Knie fallen. Mein Rücken schmerzt. Ich finde mein Feuerzeug hinter einem meiner Monitore. Ich finde meinen Aschenbecher unter dem Tisch. Ich muss tagsüber ein paar Minuten eigenickt sein. Ich kann mich nicht erinnern ihn runtergeschmissen zu haben. Ich strecke meine Beine unter den Tisch. Mit den nackten Füßen schiebe ich die Asche zu einem Haufen zusammen. Ich stecke mir die Zigarette an. Der Filter ist schon ganz aufgeweicht. Ich inhaliere. Wir rauchen eine Zigarette zusammen. Ich muss aufräumen. Morgen früh. Wenn du wieder schläfst.

Du gehst zum Kühlschrank. Du kniest Dich davor. Du hast einen schönen Hintern. Du nimmst das Saure-Gurken-Glas heraus. Viel mehr Auswahl ist nicht. Seit einer Woche warst du nicht einkaufen. Mit den Fingern angelst du in der Brühe. Du nimmst eine Gabel aus dem benutzten Geschirr. Du spießt die Gurke auf und isst sie. Du hast Appetit auf Erdnussbutter. Du hast die Erdnussbutter gestern alle gemacht. Du hast keine Vorräte. Nicht mal Nudossi. Null Überblick hast du. Du läufst zur Süßigkeiten-Schublade. Du findest Gummibärchen. Du magst keine Gummibärchen. Du magst jetzt was Richtiges.

Dein Telefon vibriert. Whopper-Menü heute im Angebot. Milchshake für einen Euro. Du hebst die Augenbrauen. Du lächelst. Du drehst dich und kratzt dich am Hals. Du überlegst. Du entscheidest. Du willst ein Whopper-Menü. Du schlüpfst aus deinem Schlafshirt und lässt es auf den Boden fallen.

Ich halte die Luft an. Deine weiße Haut! Deine Schulterblätter! Deine Hüften! Du verschwindest zum Kleiderschrank. Ich raufe mir Haare. Ich muss daran ziehen. Ich brauche einen Reiz. Bitte nimm das rote T-Shirt! Deine Brust in dem Roten T-Shirt! Du kommst mit dem roten T-Shirt zurück. Ja! Es ist soweit. Heute! Du ziehst Dich an. Deine Schenkel! Deine Waden! Ich muss mich anziehen! Deine Hosen sind eng geworden. Dir steht das. Meine Hosen haben Gummibund. Du wirst mich sowieso nicht bemerken.

Du suchst Deine Schuhe. Du findest Deine Schuhe nicht. Ohne Schuhe kannst du nicht raus. Das passt dir gut. Du willst nicht nach draußen. Willst du nie. Aber du bist hungrig. Dann fällt es dir ein. Deine Schuhe stehen vor der Tür. Du hast sie dort stehen lassen. Sie waren nass und schmutzig geworden. Neulich. Meine Schuhe stehen vor dem Bett. Aber ich brauche eine Jacke. Ich kann nicht im Unterhemd vor die Tür. Ich rase durch meine Wohnung und suche meine Jacke. Ich finde sie auf dem Kochfeld. Ich kam hungrig nach Hause neulich und hatte die nasse und schmutzige Jacke vor dem Kühlschrank ausgezogen. Ich schlüpfe hinein. Ich hole meine Schuhe. Ich gehe an meinen Platz um sie anzuziehen. Wo bist du?

Du kommst aus dem Bad zurück und gehst zur Wohnungstür deines Apartments. Du legst dein Auge an den Spion. Du trittst einen Schritt zurück. Du zögerst. Du trittst wieder zur Tür. Du wartest. Du lehnst dich mit dem Rücken an deine Tür und knallst deinen Hinterkopf dagegen. Du ziehst deine Jacke aus. Du kaust an deinen Nägeln. Als wärest du nicht in Sicherheit! Du lässt dich aufs Sofa fallen. Was ist los?

Du schaltest den Fernseher ein. Dein Fernseher hat Zugriff auf dein Netzwerk. Wie ich. Eine dicke Frau legt Karten. Du nimmst dein Telefon aus der Tasche. Du wählst die eingeblendete Nummer. Du willst nach deiner Zukunft fragen? Wie albern! Du hörst sowieso nicht zu! Die Nummer ist besetzt. Du legst auf und stützt den Kopf auf deine Hände.

Du hast Sehnsucht. Ich habe Sehnsucht. Aber du hast einen Vorteil: Dich gibt es. Ich habe auch einen Vorteil: Du bist naiv. Du hättest die Bilder nicht herunterladen sollen. Nicht auf deinen Rechner und nicht auf dein Handy. Man öffnet keine Dateien von fremden Männern. Du wolltest den Mann kennen lernen. Aber so einen Mann gibt es nicht. Jetzt habe ich dich kennen gelernt. Und ich werde Dich treffen. Heute. Ich schalte deinen Fernseher aus. Du staunst. Du nimmst die Fernbedienung in die Hand. Du kratzt dir irritiert dich irritiert hinter dem Ohr. Du siehst niedlich aus. Die liest die schwarze Mattscheibe als Zeichen. Du erinnerst dich an deinen Hunger.

Du kommst zurück zum Schreibtisch und greifst nach deinem Portmonee. Du zählst dein Geld. Es müsste reichen. Findest du auch. Du gehst wieder zur Tür. Du lauschst ins Treppenhaus. Du fährst dir durch deine braunen Locken. Der Hase traut sich nicht aus seinem Bau! Mein Hase! Du schnappst dir den Schlüssel von der Kommode und traust dich doch. Mit einem Ruck öffnest du die Tür. Zügig fällt sie hinter dir ins Schloss. Bravo! Ich brauche noch ein paar Sekunden. Die Stille in deinem Apartment fesselt mich. Ich sehe es so selten leer. Dein Bau.

Ich stürze ins Treppenhaus und haste die Treppen hinunter. Du wirst den Lift nehmen. Dein Weg ist viel kürzer. Du wirst vor mir da sein. Vor der Haustür atme ich kurz durch. Haltung! Am besten die eines Niemand. Ich höre meinen Puls nicht mehr. Ich betrete die Straße. Der Wind kitzelt hinter den Ohren. Ich schüttele mich. Ich reiße mich zusammen. Der Regen platscht mir auf die Kopfhaut. Das ist erniedrigend. Draußen läufst du ganz anders. Deine Schritte sind größer und fester. Dein Gang ist eine Pose. Deine Pose amüsiert mich. Bald bin ich dicht hinter dir. Ich würdige dich keines Blickes. Du öffnest die Tür zum Restaurant. Du hältst sie mir nicht auf. Du würdigst mich keines Blickes. Ich bin dir zu alt und zu dick. Das hast du klipp und klar geschrieben. Warum solltest du mich treffen? Das hast du geraderaus gefragt. Ich hätte keine Chance. Du bist hungrig. Ich bin hungriger. Ich bin cleverer. Du hattest keine Chance.

Du stehst vor mir in der Schlange. Du bist größer als ich dachte. Kräftiger. In der Kapuze deiner Jacke liegen ausgefallen Haare. Ich reiße mich zusammen. Ich trete näher an dich heran. Du suchst nach dem Sonderangebot auf den Angebotstafeln. Der Erfinder des Sonderangebots steht hinter dir. Ich versuche dich zu riechen. Ich rieche Bratfett. Ich trete noch näher. Der Gedanke dich zu riechen erregt mich. Du hast dich heute noch nicht deodoriert. Aber ich muss mich zusammenreißen. Du bist dran. Deine Stimme ist leise und belegt. Ich mag deine Telefonstimme lieber. Du traust dich nicht nach dem Sonderangebot zu fragen. Du kramst umständlich Münzen aus deinem Kleingeldfach. Ein 2-Euro-Stück rutscht dir aus den Händen und fällt auf den gefliesten Boden. Ich könnte mich Bücken und es dir aufheben. Du würdest mich ansehen. Du würdest Danke zu mir sagen. Vielleicht würdest du lächeln. Ich kann nicht.

Du bückst dich und hebst das 2-Euro-Stück selbst auf. Du siehst dich nervös um. Ich richte meinen Blick auf den Boden. Ich atme tief aus. Ich ärgere mich. So habe ich mir das nicht vorgestellt. Die Verkäuferin fragt „Zum Mitnehmen?“. Du nickst. Sie wirft den Burger und die Pommes in eine Papiertüte. Den Milchshake stellt sie daneben. Sie faltet die Papiertüte zu und schiebt sie über den Tresen. Du greifst danach. Ich sammle mich. Ich atme tief ein. Du drehst dich um und läufst auf mich zu Richtung Ausgang. Ich nehme meinen Mut zusammen. Ich mache einen Schritt in deinen Weg. Deine Schulter stößt gegen meine. Du rempelst mich an. Deine Schulter ist fest. Du riechst salzig. Ich höre meinen Puls wieder. Du bleibst stehen. Du siehst mich an. Du hast verboten große warme braune Augen. Du hebst deine Augenbrauen. Ich reiße mich zusammen. Ich sage Entschuldigung. Du legst die Hand an meinen Oberarm. Ich zucke. Du sagst: „Kein Problem.“ Mir dreht. Die Verkäuferin fragt: „Bitte?“. Ich kann deinen Blick nicht halten und sehe zur Verkäuferin. Du kannst meinen Blickt nicht halten und siehst zur Tür. Ich sage: „Das gleiche nochmal.“ Du läufst los. Zurück in deinen Bau. Ich sehe dir nicht nach. Du gehst. Ich bleibe.

Veröffentlicht von

Korbinian

Korbinian Saltz wurde im November 1978 in Kapstadt geboren. Seitdem ist er unterwegs in Richtung Norden. Weil er ein miserabler Fotograf ist, versucht er alles, woran er sich erinnern möchte in Worten zu bewahren. Einige davon veröffentlicht er hier. Andere auf korbiniansaltz.de

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