In Gedanken

Bist du da?

Ja. Hey!

Ich wollte nur Bescheid geben, dass ich unsere Freundschaft jetzt beende.

Was?

Oder was immer das ist. War.

Es tut mir leid, dass ich mich so lange nicht gemeldet habe. Es war viel los.

Es ist immer viel los.

Ja. Aber es war wirklich viel los.

Ich will keine Entschuldigungen.

Aber du sollst wissen, warum du so lange nichts gehört hast von mir.

Es ist okay. Ich will es nicht wissen.

Ich hatte einen riesigen Auftrag für ein GPS-basiertes Fahrradverleih-System auf Mallorca. Ich habe nur programmiert.

Drei Monate? Warst du dort?

Nein, das war nicht nötig. Und ich hatte die Gürtelrose. Dieses Jucken und Brennen! Ich bin fast durchgedreht.

Das tut mir leid.

Ja. Und ein befreundetes Pärchen hat sich getrennt. Die Frau war völlig aufgelöst. Ich kenne sie noch aus Schulzeiten. Für sie war ich viel da, jetzt.

Wart ihr zusammen aus?

Wir haben geschrieben.

Natürlich.

Ich habe oft an dich gedacht.

Lass das.

Aber es stimmt.

Mein Telefon hat nicht geklingelt. Und meine Türklingel erst recht nicht. Seit einem Jahr willst du mich besuchen. Sagst du.

Ich hatte dir eine Nachricht geschrieben. Ist die nicht angekommen?

Nein.

Komisch.

Kein bisschen. Auch nicht originell. Eine Frechheit.

Was?

Deine Ausreden. Ich will keine Ausreden. Ich sage, dass ich keine Ausreden will. Ich bekomme: Ausreden.

Das sind keine Ausreden. Es sind Erklärungsversuche! Bitten um Entschuldigung.

Ich entschuldige aber nicht. Ich habe im letzten Jahr alle möglichen Entschuldigungen gehört von dir. Und akzeptiert. Sie langweilen mich. Außerdem geht es nicht um Schuld. Es geht um Enttäuschung.

Ich bin nicht gut im Kontakthalten.

Sag bloß.

Ich konnte das noch nie. Aber ich arbeite daran.

Du arbeitest daran? Wie arbeitet man an so etwas? Übst du Telefonate vor dem Spiegel? Belegst du einen VHS-Kurs zur Eingabe von Telefonnummern? Bei welcher Lektion bist du?

Hab bitte noch ein bisschen Geduld mit mir.

Nein. Ich habe lange genug auf dich gewartet. Ich hasse warten. Ich rufe dich an und warte auf deinen Rückruf. Ich weiß inzwischen, an welchen Stellen deiner Mailbox-Ansage du Luft holst. Ich schreibe eine Nachricht und warte auf deine Antwort. Mittlerweile lasse ich mir Sendeprotokolle schicken. Ich schreibe eine Mail und warte. Sogar eine Postkarte habe ich dir geschrieben.

Ich habe keine Mail bekommen.

Hör auf damit. Ich habe Jahreszeiten vergehen sehen, während ich auf dich wartete. Du wusstest, dass ich warte. Wenn du an mich gedacht hast.

Es tut mir leid.

Das glaube ich dir sogar. Mit einem schlechten Gewissen kann ich dich wecken. Das hat beim letzten Mal schon funktioniert.

Ich war so beschäftigt mit anderen Dingen. Ich habe das gar nicht gemerkt.

Ich weiß. Irgendwas ist immer. Alles um dich herum ist wahnsinnig dicht. Hundertfünfzig Kilometer sind zu weit weg um dich zu erreichen. Neunzig Minuten Zugfahrt sind dir zu lang.

Ich will mir mehr Mühe geben in Zukunft.

Bitte nicht. Du hast dir schon mehr Mühe gegeben nach dem letzten Gespräch zum Thema. Ich weiß ja nicht, ob du dich erinnerst.

Du lässt mir keine Chance.

Was denn für eine Chance?

Ein zweiter Versuch.

Es wäre der dritte. Aber das ist keine Talentshow, bei der du dich vor Aufregung versungen hast. Das sollte eine Freundschaft werden.

Stichwort Talent: Dir liegt der dramatische Abgang.

Ich wollte mich nur verabschieden.

Was soll das? Du hättest mich einfach von deiner Freundesliste werfen können. Fertig.

Stimmt. Das wäre weniger unangenehm für dich gewesen. Keine Diskussion – kein schlechtes Gefühl. Wahrscheinlich hättest du das erst in zwei Monaten gemerkt. Oder nie.

Hätte dir ja egal sein können. Jetzt habe ich eine Diskussion und ein schlechtes Gefühl und keine Lösung.
Jetzt hast du einen Abschied. Ich kann offene Enden nicht ausstehen.

Ich gratuliere: Das von dir inszenierte Gegenteil eines Happy Ends ist hinreißend. Kleine dramaturgische Schwäche: Meine Figur darf die ganze Zeit nur „Nein, bitte nicht!“ und „So, entschuldige doch!“ rufen. Aber es ist deine Show. Ich lasse mich geduldig weiter runterputzen, bis du das Gefühl hast, dass wir quitt sind. So sieht das dein Drehbuch vor, oder?

Wie schwer du es hast, weil ich so gemein zu dir bin! Weißt du, mein Drehbuch – um in deinem ausgefeilten Bild zu bleiben – hat deinen Einsatz vorgesehen. Ungefähr hundertmal in den letzten Monaten. Ungefähr tausend Zeilen Text. Die du nie gesprochen hast. Auf die ich gewartet habe.

Ich bin keine Figur in deiner Geschichte.

Aber der beste Schauspieler, den ich kenne.

Obwohl ich immer meinen Einsatz verpasse? Metaphern sind nicht deins.

Deine Leistung besteht darin, dass du überhaupt für die Rolle besetzt wurdest.

Für welche Rolle?

Du hast gesagt, dass wir im Herbst durch die Laubhaufen hüpfen würden. Dass wir rodeln gehen würden im Winter. Dass du mich besuchen würdest, wenn das Wetter wieder besser ist, damit wir auf meinem Motorrad zum Wannsee fahren. Ich wollte dir die besten Falafel der Stadt grillen. Wir wollten auf dem Balkon schlafen. Jetzt wird wieder Frühling. Du warst nicht hier.

Tut mir leid.

Du hast es versprochen.

Ich habe nichts versprochen.

Ich habe dir von meinem Unfall erzählt, so ausführlich wie noch niemandem. Wie komme ich dazu? Ich habe dir erzählt, wie ich allein im Straßengraben lag und meinen Körper nicht spürte und nichts hörte und nur den Himmel sah. Und wie sich diese vier Minuten wie für immer anfühlten. Ich habe dir erzählt, von meiner Befürchtung, dass da nichts kommt, wenn man stirbt, kein Tunnel und kein Licht und kein gütig grinsendes Empfangskomitee und niemand. Und wie ich mich fürchte vor diesem Nichts und vor diesem Niemand. Warum habe ich dir das erzählt?

Ich weiß nicht.

Weil es Dir gelingt, mir in einem Dating-Netzwerk ein Gefühl von Wärme zu vermitteln. Deshalb. Aber dann bist du verschwunden.

Ich wurde fortgetragen.

Wie ein Blatt im Wind. Stimmt’s?

Ich mag dich. Aber ich habe ein Leben neben dir.

Sicher, dass du mich magst? Woran machst du das fest?

An dem Gefühl, das ich habe, wenn ich an dich denke.

Brauchst du mich für dieses Gefühl?

Wie meinst du das?

Ist es notwendig, dass ich existiere? Für dich bin ich der lustige, dicke Kaninchenpapa mit den Motorrad-Klamotten und dem Nahtoderlebnis. Der sich für dich interessiert und deine Profilfotos mag. Der ein bisschen anstrengend ist und ein bisschen mysteriös. Den du anrufen könntest. Oder besuchen. Mit dem du mal knutschen könntest. Theoretisch. Du magst mich als Idee. Das reicht dir. Dir reichen die Dinge in Gedanken. Dir reichen Fotos.

Ja, es reicht mir. Kannst du bitte mal in deinem Drehbuch nachschauen? Was sage ich jetzt? Lebwohl, oder so?

Ich habe gute Erfahrungen damit gemacht, auszusprechen, was ich denke.

Ich habe gute Erfahrungen damit gemacht, erst fertig zu denken und dann zu sprechen. Mir ist immer noch nicht klar, warum wir dieses Gespräch führen.

Damit klare Verhältnisse herrschen. Damit du aufhörst an mich zu denken, falls du das tatsächlich tust. Und damit du aufhörst, dich zu fürchten.

Ich fürchte mich?

So sehr. Du unterwirfst dich deiner Furcht und verpasst dein Leben.

Huch, ein Psychogramm! Wovor fürchte ich mich denn?

Vor allem was dir passieren könnte.

Konkreter hast du es wohl gerade nicht?

Du fürchtest dich davor, berührt zu werden. Und vor der Liebe.

Schöner Schluss. Bisschen pathetisch, vielleicht. Aber schön.

Und dein Zynismus ist auch nur eine Rüstung.

Du hättest mich wohl gern nackt gesehen?

Ich hätte dich gern berührt.