Alle Tage

Als ich mich nach der Zitronenlimonade bücke, spüre ich eine Hand auf der Schulter. Die Berührung ist sanft und mehr durch ihre Wärme als durch ihren Druck zu spüren. Ich drehe meinen Kopf und sehe fein manikürte, klar lackierte Nägel in deren Mitte jeweils ein winziges Steinchen funkelt. Ich sehe einen schmalen goldenen Ring am zierlichen Mittelfinger und einen breiteren silbernen mit schwarzen Ornamenten am Daumen. Die Hand gleitet von meiner Schulter als ich mich aufrichte und verschränkt sich Finger für Finger in der anderen. Ich blicke ins Gesicht einer schmal lächelnden Frau. Der Farbe ihres Pullovers nach zu urteilen, arbeitet sie hier. „Entschuldigen Sie, wir würden den Markt dann gern schließen.“ Ich sehe durch die Eingangstür nach draußen, wo es noch hell ist. „Sie haben ja sicher bemerkt, dass es ein Unglück gegeben hat.“ Die Finger der einen Hand spielen mit den Ringen an der anderen. „Wenn Sie sich dann also bitte zur Kasse bewegen würden, das wäre nett.“ Sie nickt zweimal – langsam, schwach – dreht sich um und geht auf eine kleine, ältere Dame zu, die die Preise zweier Konserven vergleicht. Ich sehe, wie die Angestellte neuerlich die Hände vor dem Bauch verschränkt.

„Tammi?“, rufe ich. Ein Mann mit zwei Flaschen Bier in der einen und einer Tüte Erdnussflips in der anderen Hand dreht sich nach mir um. „Wo bist du?“ Tamara kichert hinter mir und wirft zwei Tüten Mikrowellenpopcorn in den Wagen. Der Mann zieht die Augenbrauen hoch und deutet mit dem Kopf in Richtung Ausgang. „Was wollte die Frau von dir? Kennst du die?“

Mit dem Einkaufswagen hatten wir die schmale Gasse zwischen zwei Krankenwagen passieren müssen, die vor dem Eingang des Supermarktes geparkt waren. „Ist das jetzt ein Krankenhaus?“, hatte meine Nichte gefragt und ich hatte „Nein, nein.“ geantwortet. Bestimmt sei nur jemandem schlecht geworden, so wie es Oma manchmal schlecht werde. Oder schwindlig. Vielleicht sei auch jemandem eine Palette saure Gurken auf den Fuß gefallen, versuchte ich zu scherzen. „Oder eine Mama kriegt ein Baby. Da kommt auch der Krankenwagen.“, hatte Tamara gemutmaßt. „Das kann auch sein.“ „Ein Supermarkt“, überlegte sie, „ist aber ein komischer Ort zum Babys kriegen.“

Ich nehme meine Nichte an die Hand und schiebe den Wagen zur Kasse. Tamara starrt auf die Verbindung unserer beiden Hände als handele es sich dabei um ein wissenschaftlich zu untersuchendes Phänomen. Die Gänge sind schmal, besonders im Kassenbereich, wo sich die Osterhasen und Krokanteier türmen. „Hilfst du mir, die Sachen aufs Band zu legen?“ Während Tamara die Teigmischung, die passierten Tomaten und den Spinat aus dem Wagen angelt, recke ich den Kopf.

Als wir den Markt betreten hatten, sah ich schon von weitem die beiden Sanitäter in neongelben Jacken. Sie knieten über einer Person, die zwischen dem Eierregal und den Stiegen für roten, gelben und grünen Paprika am Boden gelegen hatte. Am Kühlregal weiter hinten war ein Mann mit runder Brille in das Studium der Zutatenliste eines Joghurts vertieft. Eine Münze, die einer Frau an der Kasse aus der Hand gefallen war, rollte einige Meter durch den Markt.

„Bisschen Kupfer haben Sie wohl nicht für mich?“, scherzt die rothaarige Kassiererin. „Ich bin ganz verrückt auf Kupfer heute.“ „Wer den Pfennig nicht ehrt, ist die Mark nicht wert.“, murmelt die dünne Kundin vor mir, während sie mit spitzen Fingern die Münzen aus ihrem Portmonee fischt. „Cent!“, sagt die Kassiererin. „Cent.“, stimmt die Kundin zu. „Tschüss, machen Sie’s gut!“

„Zuerst brauchen wir Tomaten.“, hatte ich vorgeschlagen, damit meine Nichte nicht in den Gang mit dem Eierregal abbog. „Bio oder billig?“, hatte das Kind gefragt, aber ich war abgelenkt gewesen, weil ich mir nicht sicher war, ob der Sanitäter kaum sichtbar mit dem Kopf geschüttelt hatte, als ich an ihm vorbeilief.

„Und jetzt?“, hatte Tamara gefragt, als die Tomaten schon im Wagen lagen. „Kannst du Pizzakäse holen gehen? Aus dem Kühlregal, dort um die Ecke?“ Sie hatte sich mit grazil ausgebreiteten Armen zweimal um die eigene Achse gedreht und mich angelacht. „Das habe ich beim Ballett gelernt!“ „Toll!“, hatte ich sie gelobt. „Zeigst du mir nachher noch mehr? Und holst du jetzt bitte den Käse?“ „Na gut.“, hatte Tamara geantwortet und war Richtung Kühlregal geschlurft.

Von der anderen Seite hatte ich in die Paprikastiege gegriffen und mir zwei große, tiefrote Früchte herausgesucht. Mein Blick war auf den beige gefliesten Boden des Supermarktes gefallen; dann auf einen Schuh, einen schlichten Herrenschuh, schwarzes Leder; dann einen Strumpf, eine einfache Herrensocke, dunkelgrau; dann auf ein Schienbein, breit, blass, schwach behaart und kurz unter dem Knie schließlich auf den Saum einer Jeans, dunkelblau mit gelben Nähten. Dann erst war es mir gelungen, meinen Blick loszureißen.

„Guck mal! Kuhfleckenpudding!“, hatte Tamara gerufen. „Schoko und Vanille! In einem Becher! Darf ich? Bitte!“ Ich hatte genickt und gewartet, bis sie mit ihren Füßen auf den Getränkekistenboden des Einkaufswagens gestiegen war, bevor ich die Gemüseabteilung verließ. „Jetzt Spinat, oder?“ rief das Mädchen, bereits auf halbem Weg zu den Kühltruhen. „Wenn du das magst.“, gab ich zur Antwort „Aber nur den aus Blättern, Onkel Korbi. Nicht den aus Brei. Mutti mag den auch nicht. Entengrütze!“

Aus dem Augenwinkel hatte ich gesehen, dass die Sanitäter oberhalb der Knie eine Decke über den Mann gelegt hatten. Eine braune Wolldecke, die mich an die Kuscheldecke mit Pferdemotiv erinnerte, die mir meine Schwester in unserer Kindheit immer vorenthalten hatte. Ich hatte mich kurz gefragt, wie sie zu dieser Decke gekommen waren, denn zur Ausstattung des Krankenwagens gehörte sie sicher nicht. Den Reißverschluss meiner Jacke zog ich daraufhin bis ganz nach oben; tatsächlich war es etwas kühl.

Erst jetzt, von der Kasse aus, sehe ich, dass die Decke auch den Kopf des am Boden liegenden Mannes umhüllt. Ich fasse Tamara an der Schulter, um zu verhindern, dass sie nach ihrer nächsten Pirouette mit dem Blick in Richtung Eierregal zum Stehen kommt. Eine Sanitäterin passiert den Kassenbereich schnellen Schrittes. An ihrer Hand baumelt eine durchsichtige Mülltüte. Darin aufgerissene Verpackungen von Kompressen, ein dicker Kunststoffbeutel wie von einer leeren Infusion, ein Stückchen Schlauch, kleine Plastikteile, mintgrün. Tamara steckt den Nagel ihres Daumens in die kleine Lücke zwischen ihren vorderen Schneidezähnen als sie ihr nachsieht. „Haben wir denn alles?“, frage ich sie schnell.

„Der Käse!“, ruft Tamara. „Wir haben den Käse vergessen!“ „Aber du wolltest doch welchen holen?“, sage ich. „Ja, aber da habe ich doch den Kuhfleckenpudding entdeckt. Ich hole ihn schnell, ja?“ „Nein, Tammi. Bleib bitte hier, jetzt.“ „Aber wir brauchen den Käse!“ „Nicht unbedingt.“ „Was soll das denn für eine Pizza werden! Ohne Käse!“ „Vielleicht habt ihr noch Käse zuhause.“ „Haben wir nicht!“ „Dann fragen wir Onkel Wolfgang, ob er Käse übrig hat.“ „Und wenn nicht? Ich kann noch Käse holen. Ganz schnell! Ich muss dafür doch gar nicht –“ „Nein, Tamara. Das geht jetzt nicht.“ „Aber wieso?“ „Das erkläre ich dir gleich.“ Ich beiße mir auf die Unterlippe und streiche dem Mädchen über den Kopf.

Zwei Polizisten betreten den Markt. Einer zückt einen Fotoapparat, der andere kramt einen Notizblock und einen Kugelschreiber aus seiner Jacke hervor. Zwei Sanitäter nehmen die Decke von dem Mann und spannen Sie als Sichtschutz auf. Dahinter blitzt es. Meine Hand wandert wieder auf Tamaras Schulter. „Junger Mann?“ Ich drehe meinen Kopf. „13,89, bitte.“ „Du hast geträumt, Onkel Korbi!“, lacht Tamara. „Sie brauchen Kleingeld, oder? Kupfer, richtig?“, frage ich und klaube 89 Cent aus meinem Kleingeldfach zusammen. „Ein Träumchen!“ „Sagen Sie, am Backstand kann man aber noch einkaufen, oder?“ „Du willst wohl noch Kuchen essen mit deinem Onkel?“, fragt die Kassiererin Tamara. Die kichert und nickt.

„Warum machst du das?“, fragt das Mädchen, als ich sie neuerlich an die Hand nehme. „Das machst du nie!“ „Was für Kuchen willst du denn, Tammy?“ Das Mädchen reißt sich los und rennt zur Kuchentheke. Vor uns steht ein dicker Mann in schwarzer Lederjacke und schüttelt entnervt mit dem Kopf. „Umgefallen, umgefallen. Das ist doch Mist!“, zetert er. „Wie lange soll ich denn jetzt hier rumgammeln?“ „Das kann ich Ihnen nicht sagen.“, gibt die Verkäuferin mit rauer Stimme zur Antwort. „So etwas passiert ja nicht alle Tage.“ „Aber der Mann wird doch versorgt.“, mische ich mich ein. „So lange wird es schon nicht dauern.“ Da sieht mich die Verkäuferin an und zieht den Hals ein. Für einen Augenblick tritt ihre Zunge zwischen den Lippen hervor um sie zu befeuchten. „Der Mann wird nicht mehr versorgt.“, sagt sie schließlich. „Der Mann ist tot.“

Unwillkürlich greife ich wieder nach der Hand meiner Nichte und antworte: „Wir nehmen zwei Plunderteilchen mit Obst. Und ein Mürbchen. Und den Windbeutel hier vorn.“ „Kann alles auf eine Pappe?“ „Natürlich.“

Tamara angelt das Kuchenpaket von der Theke und riecht am gelb bedruckten Papier. Ich greife die Plastiktüte. Auf dem Weg nach draußen sehe ich einen Leichenwagen auf den Parkplatz einbiegen. „Onkel Korbi?“, fragt das Mädchen und weil ich mein Portmonee im Mund habe um mit der freien Hand nach meinem Autoschlüssel zu suchen, kann ich nur „Hmm.“ antworten. „Zum Sterben ist ein Supermarkt aber auch ein komischer Ort, oder?“ Ich schlucke. „Hmm, hmm.“, mache ich dann und lasse das Portmonee noch ein paar Sekunden zwischen meinen Zähnen. Erst als endlich das Autoradio angesprungen ist, lege ich es ins Handschuhfach.

Unter Dir, Teil IV

In den ersten beiden Teilen legt sich die Freundin des Patienten unter das Bett und versucht im Dunkel der Nacht mit ihm „Kontakt“ aufzunehmen.
Im dritten Teil entkleidet sie sich vor ihrem Freund und dessen beiden Mitpatienten.
Im heutigen vierten Teil sucht sie ein Samtbeutelchen, das sie trotz intensiver Suche nicht finden kann. Wie in den vorangegangenen drei Teilen wird sie auch in diesem Teil bei ihrem nächtlichen Treiben von der Schwester gestört. Und wie immer, muss sie, wenn sie Schlüsselgeklapper von Fern vernimmt, unter das Bett rollen. Unter ihm liegend, hofft sie, dass sie auch in dieser (letzten) Nacht unentdeckt bleibt.

Ich krabble wieder unter dem Bett hervor, stelle mich breitbeinig vor dir auf und frage dich im nachäffenden Schwesternton, was du heute für schlimme Sachen machst und wie wild deine Träume mit deiner Traumfrau sind. Ich nehme deinen Beatmungsschlauch, drücke ihn zwischen Daumen und Zeigefinger zusammen und frage dich nochmal, ob sie dir wirklich besser gefällt, seit wann du auf kräftige Schwestern stehst, obwohl du mir doch immerzu gesagt hattest, dass ich die beste Figur der ganzen Schule habe und ob du wirklich denkst, dass ich deine Weibergeschichten nicht bemerke. Ich löse den Daumen vom Zeigefinger und lege den Schlauch auf seine alte Stelle. Wütend schiebe ich dein Gesicht auf dem Kissen zurecht, bis es exakt unter meinem liegt. Damit du mich besser sehen kannst, ziehe ich eines deiner Augenlider hoch, halte den Lichtkegel der Taschenlampe hinein und frage dich, woher du verdammt nochmal weißt, dass die Schwester unbemannt ist. Ich ermahne dich, dass du ab jetzt schön artig sein musst, dass du mir in unserer ersten Nacht etwas versprochen hast, dass ich mich für dich aufopfere und dass ich es überhaupt nicht fair finde, dass du in unserer heutigen alles entscheidenden Nacht genauso einen Blödsinn machst, wie du ihn in der Nacht deines Unfalls gemacht hattest. Ich schüttle den Kopf, lege die Taschenlampe auf den Nachttisch, streichle dich und flüstere dir ins Ohr, dass ich dir den Weiberkram letztmalig verzeihen werde und nach dieser Nacht sowieso für uns beide alles anders wird.

Ich schiebe mich unter das Bett, suche meine Tasche hervor und krame nach dem roten Samtbeutelchen. Da ich es nicht finde, bekomme ich Panik und schüttelte die Tasche über deiner Bettdecke aus. Ich halte die Hände vor den Mund, schließe die Augen, drehe den Kopf im Kreis und überlege, wo ich das Samtbeutelchen hingelegt habe. Da ich von jeher vergesslich bin, versuche ich deine Methode des rückwärtigen Denkens anzuwenden. Ich atme tief ein, lege die Finger an die Schläfe und lasse die Luft herausgleiten. In langsamen Kreisbewegungen gehe ich vom Krankenhaus zurück in die Wohnung, wo mich deine nervige Mutter wieder mit einem ihrer vorwurfsvollen Blicken empfängt. Ich sehe wie sie einen frischen Strauß Blumen neben dein Foto stellt, höre mich sagen, dass du kein bisschen tot bist, ich alles in meiner Macht stehende tun werde, dass du am Leben bleibst und ich auch nie und nimmer zustimmen werde, die medizinischen Geräte abzustellen. Ich höre mich mit deiner Mutter streiten und ihr vorwerfen, dass sie dich viel zu wenig besucht und dein Schicksal endlich ertragen soll und sehe wie sie wieder mit einem Heulkrampf dein Zimmer verlässt, dass ich seit deinem Unfall bewohne. Ich gehe zurück ins Großraumbüro zu den Kollegen, die mich permanent zu irgendwelchen Feiern einladen und jedes Mal beleidigt sind, wenn ich dankend ablehne. Ich gehe zurück in die übervolle Kantine an den Tisch zu den Azubis, höre ihre dummen Anmachwitze und höre wie der eine mir unterstellt, dass ich die Chance heimlich nutze und mich mit irgendwelchen Typen rumtreibe. Dabei spüre ich den dumpfen Schmerz in der Hand, als ich dem Neuen aus der Presseabteilung, der mir die Zunge zu einem angedeuteten Kuss rausstreckt eine Ohrfeige verpasse. Ich gehe zurück in den Supermarkt, um dir deinen Lieblingsschokoriegel und dein Lieblingsbier zu kaufen. Ich sehe die überschminkte Kassiererin mit dem aufgetürmten Dutt, höre wie sie mich fragt, wie es ihrem ehemaligen Lieblingskunden derzeit geht, wie sie mir ellenlang versichert, dass ihr die ganze Sache von damals immer noch leid tut und sie hofft, dass du irgendwann wieder bei ihr einkaufen kommst und sie mit deiner freundlichen Art und deinem schönen Lächeln wieder erfreust. Ich spüre mein Unbehagen an der Kasse und meine Angst, sie könnte mir wieder eine ihrer unzähligen langweilen Kindergeschichten von dir und ihrem Sohn erzählen. Und ich erinnere mich, wie ich das viele Restgeld liegenlasse und davonrenne. Von der aufdringlichen Verkäuferin gehe ich Schritt für Schritt dein riesiges, stuckverziertes Zimmer mit dem Marmorkamin und der zweiflügligen Tür ab, in dem ich seit unserer ersten Nacht unbedingt leben wollte. Weil ich mich immer noch nicht an das Samtbeutelchen erinnern kann, kneife ich die Augen fester zusammen, drücke auf die Schläfen bis sie schmerzen und fordere dich auf, mir zu helfen, denn schließlich wäre der Inhalt des Samtbeutelchens, die für uns beide lange erhoffte Lösung. Immer stärker schwinge ich dabei meinen Kopf. Ich sehe das große Stahlregal mit deinen zerflederten Märchenbüchern, sehe deine schweren Kunstbände mit den Abbildungen, die außer dir, kein Mensch versteht, sehe deinen verschnörkelten Schrank, in dem deine anatomischen Skizzen zuhauf aufgestapelt liegen und von denen ich mir die allerschönsten Männerakte ganz gern vor dem Schlafengehen ansehe, und von denen ich mir die die besonders schönen Akte auf dein Kopfkissen lege und mich so lange streichle, bis ich wieder ruhig werde und endlich einschlafen kann. Ich sehe den übervollen Mülleimer, in den ich in der letzten Woche Aktzeichnungen von Frauen hineinwarf, weil ich felsenfest davon ausging, dass sie allesamt nur misslungenen Schweinskram darstellten. Und ich erinnere mich, dass ich die zerrissenen Zeichnungen unbedingt morgen früh wegwerfen muss, bevor sie deine Mutter findet und ein Heidentheater anstellt. Ich sehe das Schränkchen mit deinem Modellierkram und dem unfertigen Gipsportrait von mir. Ich sehe unser schönes weiches Bett mit den vielen Kissen, sehe unsere gemeinsame Hängematte, die wir manchmal aus Jux benutzt haben und ich sehe dein Faltboot, in das ich ab und zu ein paar Löcher stach, damit wir nicht ständig in irgendwelchen Seen an den Wochenenden paddeln mussten und stattdessen gemütlich im Bett zwischen den vielen Kissen liegen bleiben konnten.

Ich öffne die Augen, seufze, umgreife deine Hände, ziehe sie zu mir hoch, küsse sie und bitte dich, mir doch bei der Suche des Samtbeutelchens ein bisschen zu helfen. Da deine Hände unendlich schwer sind, lasse ich sie auf die Bettdecke gleiten und entschuldige mich bei dir, dass mir im Moment die Kraft und auch die Nerven fehlen, sie weiter an mich zu drücken. Ich lege sie vorsichtig neben deinen Körper und massiere deine Handrücken entlang den Venen bis zu den Fingerspitzen deiner Ringfinger und bitte dich, mir doch endlich zu helfen. Ich küsse deine Handrücken und tupfe mit der Nase darauf. Ich schließe wieder die Augen und ziehe deine linke Hand zu mir hoch. Ich schiebe deinen Zeigefinger auf meine Lippen, lächle und erinnere mich, wie du früher versuchtest, Klavier zu spielen, wie ich dich neidisch dabei beobachtet hatte und, um dich davon abzubringen, von dir verlangte, dass du mit deinen Fingern genau das Gleiche mit mir machst, was du mit dem doofen Klaviertasten getan hattest. Ich puste zufrieden Luft aus und erinnere mich an den Moment, als ich es nach einer tollen Nacht endlich geschafft hatte, dich dazu zu bringen, die Klimperei abzumelden und das Klavier aus der Wohnung abholen zu lassen. Ich knabbere an deinem Nagel und schiebe deinen Zeigefinger zwischen meine Lippen, sauge daran und höre dich sagen „Jetzt nicht, ich muss üben, jetzt nicht, du blonde Hexe, gibst du denn nie Ruhe!“ Ich erinnere mich wie ich dich fragte, ob du denkst, dass die Musiker früher ohne Sex gelebt hätten, wie ich dir die Hose nach der Frage aufmachte und mit meinen Fingern anfing an deinem Ding zu üben, wie ich mir vorstellte ein Instrument zu spielen. Auf deine Bedenken, dass das alles auf den Tasten des geborgten Klaviers landen könnte, reagierte ich nie.
Ich öffne den Mund, lasse deinen Finger hinausgleiten, reibe deine Hand über meine rote Wange und bin erstaunt wie beweglich deine Finger wieder geworden sind. In den letzten Wochen haben die Schwestern die Fingermassage vernachlässigt, obwohl ich sie mehrfach gebeten habe, dass sie intensiv üben sollen. Deswegen habe ich mich Nacht für Nacht hingestellt, jeden deiner Finger massiert und sie so auf den heutigen Abend vorbereitet. Da deine Hand mir zu schwer wird, lege ich sie behutsam auf die Bettdecke zurück und bemerke, dass sie dir wieder ein langweiliges Krankenhauslaken über die Matratze aufgezogen haben. Wie oft habe ich den Schwestern unsere Lieblingswäsche mitgebracht! Da ab jetzt sowieso alles anders wird und mir hier in eine paar Minuten keiner mehr etwas vorschreiben kann, ärgere ich mich nicht und hole stattdessen das blau-gelb karierte Laken aus der Tasche, auf dem wir es zum ersten Mal gemacht haben und auf dem wir uns ewige Treue geschworen haben und in dem wir auch gemeinsam begraben werden wollen. Gleich können mir die Schwestern nichts mehr von Krankenhaushygiene sagen und mir auch nicht mehr deine Bettwäsche mitgegeben. Plötzlich fällt mir ein, wo ich das Samtbeutelchen abgelegt habe. Ich sage dir, dass ich dir für deine Methode des rückwärts gerichteten Denkens unendlich dankbar bin und ich vom ersten Tag wusste, warum ich nur mit dir zusammen sein wollte und nicht Melvin aus der Parallelklasse oder dem ekligen Schulcasanova Chris. Ich gebe dir einen Schmatzer auf deine Stirn, einen weiteren Schmatzer auf deine Nase und einen auf deinen kahl rasierten Kehlkopf. Ich ziehe dir abwechselnd an den Ohren, lecke abwechselnd in sie hinein und pople dir auch abwechselnd in deinen Nasenlöcher. Da ich jetzt weiß, wo ich das Samtbeutelchen hingelegt habe, stelle mich auf das Bett, winke den beiden anderen Patienten zu und mache ausladende Schwanenbewegungen. Wie die Nachtschwester, strecke ich meine Hand aus und hauche den beiden fette Luftküsse zu, zwinkere und höre von Ferne Schlüsselgeklapper. Vor Schreck verliere ich das Gleichgewicht, falle von deiner Bettdecke herunter und lande mit einem Knall auf dem harten Linoleum. Benommen krieche ich unter das Bett, stoße mich dabei diesmal an der Stirn, dass mir schwindlig wird und ich für einen klitzekleinen Moment nichts mehr sehen kann. Ich fluche, stoße mit dem Ohr an einen Längsträger und ärgere mich, dass mir das in letzter Zeit immer öfter passiert, obwohl ich doch das Darunterrollen fleißig übe. Nur für dich, mein Schatz, habe ich mir teure Sportkleidung gekauft. Und nur für dich schleiche ich einmal pro Woche am Abend, wenn alle Kinder zuhause sind, in den nahe gelegenen Stadtteilpark und rolle mich immer und immer wieder unter die unterste Strebe des verrosteten Klettergerüstes hindurch und höre erst auf, wenn ich es mindestens fünf Mal in Folge fehlerfrei geschafft habe. Danach jogge ich in die Altbauwohnung deiner Mutter zurück, dusche mich ausgiebig mit ihrem Warmwasser ab, stelle die Lieblingsmusik auf volle Pulle, frisiere und schminke mich, obwohl ich ganz genau weiß, dass du das als aufgedonnerten Schnickschnack abtust, plündere anschließend die leckersten Sachen aus dem Kühlschrank und mache mich danach vergnügt auf den Weg zu dir

Der Altersscheue

Der Altersscheue fürchtet nichts so sehr wie seinen Geburtstag. Spricht einer seiner stets gutaussehenden Gesprächspartner unbedacht ein Wort aus, das mit Alterung in Verbindung steht oder auch nur gebracht werden könnte, hält der Altersscheue schreckhaft die Hand vor das Gesicht, tupft die vielen, dicken Schweißperlen von der gecremten und geschminkten Stirn oder steckt die lackierten Nägel seiner Zeigefinger tief in die Ohren. Wird in solch einem Gespräch zufällig sein tatsächliches Alter erkannt und trägt es der Entdecker nichtsahnend in die Welt, zittert der Altersscheue vor Wut. Er stößt mit den Füßen heftig gegen Betten oder tritt wahllos Wäschekisten ein, die in den Stationsfluren abgestellt sind. Noch vor Ort erklärt er lauthals den geschwätzigen Entdecker zu seinem Todfeind. Denn nichts verletzt ihn mehr, als der Verrat seines wirklichen Alters.

Der Altersscheue zieht jeden Morgen die dicke handgefertigte Silikonmaske, die er zur Straffung seiner Haut über Nacht trägt, vom Gesicht. Danach massiert er nach einer von ihm entwickelten Dehnübung die Haut bis er das Gesicht wieder bewegen kann. Ist er damit fertig, läuft er ins Bad, stellt sich auf die große Glaswaage, pustet mit aller Kraft die Luft aus seinen Lungenflügeln und zieht den Bauch ein. Dabei kneift er die Augen fest zusammen und streckt die Hände zur Baddecke. In Zeitlupe senkt er den Kopf und blinzelt auf die elektronische Anzeige. Ist er mit der Zahlenfolge auch hinter dem Komma zufrieden, atmet er hörbar Luft ein. Mit weit ausgebreiteten Armen hüpft er lächelnd von der chromgefassten Waage, klopft sich anerkennend auf die linke und rechte Schulter und tanzt ausgelassen durch die drei Zimmer seiner nach den neuesten Wohntrends eingerichteten Wohnung. Wieder im Bad angekommen, dreht er eine Pirouette und verbeugt sich gönnerhaft vor dem Spiegel wie vor jubelnden Publikum.

Um seinen Körper nach etwaigen Alterserscheinungen gründlich abzusuchen, knipst er den eigens installierten Halogen-Flutstrahler an und stellt sich in dessen breiten Lichtkegel. Er umgreift die große Standlupe und setzt zur besseren Kontrolle eine Juweliersbrille auf. Akribisch beginnt er Millimeter für Millimeter sein kosmetisch bearbeitetes Gesicht zu prüfen. Er schielt zwischen die gebleichten und reparierten Zähne und streckt die Zunge mit einem lauten „Bääh“ heraus. Mehrfach umrundet er dabei die obere und untere Zahnreihe, bis ihm die Zunge lahmt. Mit einem kräftigen Biss prüft er die korrigierten Lippen, ob sie noch prall genug für bevorstehende Abenteuer sind. Er nimmt die ägyptische Liebescreme, die er hinter dem Schrank in einem speziell eingebauten Versteck hält und die er stets nach einer streng geheimen Rezeptur nach Anweisung seiner Modezeitung fertigt. Hat er die Lippen gründlich eingecremt, beginnt er widerwillig die Fältchen auf der Stirn zu zählen. Verzählt er sich, was in neuester Zeit sehr häufig vorkommt, wiederholt er das Abzählen, dieses Mal mit halb geschlossenen Augen, bis er jedes Fältchen erfasst hat. Und nicht selten bricht er tränenüberströmt zusammen oder fällt beim Addieren der vielen Fältchen kurz in Ohnmacht und verletzt sich an der Badheizung oder seiner Lichtanlage. An solchen Tagen ist er krankgemeldet und schluckt massenhaft Vitamine und Aufbaupräparate.

Ist er endlich mit dem Fältchenzählen fertig, streckt er den Hals schwanenhaft nach oben und misst mit einem Präzisionszirkel das Doppelkinn ab und notiert die Zahl in einer Tabelle. Anschließend schneidet er schimpfend die kleinen Härchen aus Ohren und Nase. Danach schaut er verächtlich über und unter die Augen und schminkt alle Ränder kunstvoll zu. Ist er mit dem Zustand seines Gesichtes halbwegs zufrieden, greift er das Maßband und prüft den Bizeps und den Brustumfang. Um erneuten Entzündungen der vielen Einstichpunkte seines abgesaugten Bauchfettes zu vermeiden, schmiert er mit beiden Händen dicke Schichten Kamille-Gel auf die schmerzenden Stellen. Sind alle Körperpartien kontrolliert und sorgfältig eingecremt, sucht er zum Schluss auch im Genitalbereich nach Spuren seines Alters. Findet er graue Härchen, schreit er laut auf und reißt sie unverzüglich und ohne auf etwaige Schmerzen zu achten mit einer bereit liegenden Briefmarkenpinzette heraus. Hat er endlich alle Normalitäten seines tatsächlichen Alters entfernt, fotografiert er mit dem neusten Smartphone mehrfach alle Partien seines polierten und entgrauten Körpers. Mit einem zufriedenen Lächeln betrachtet er die einzelnen Bilder in der Fotogalerie seines großen Displays. Gern schnalzt und zwinkert er in die bespiegelte Glasfläche, wie er es früher oft bei den Groupies aus seiner Schülerband gemacht hatte. Damit ihm kein einziges Bild verlorengeht, rennt er ins Wohnzimmer und speichert sofort alle Bilder in einem extra dafür angelegten Ordner im Rechner, damit er sie am Ende des Jahres zu einer Videoanimation zusammenschneiden und ins Internet stellen kann. In den letzten Jahren, hatte er dafür viel Zuspruch erhalten. Ist er mit der umfangreichen Speicherung fertig, wackelt der Altersscheue zufrieden mit beiden Pobacken, ruft laszive Sprüche in den Flur und reibt sein Hinterteil kreisend an den gefliesten Badwänden. Mit einen kräftigen Trommelwirbel auf seinen Hintern beendet er die ausgiebige Morgenbetrachtung.

Fühlt sich der Altersscheue um mindestens fünfzehn Jahre verjüngt, schlendert er ins große Ankleidezimmer. Er öffnet den beleuchteten Wandschrank und sucht in den nach unzähligen Farben und Schnitten unterteilten Fächern und Schüben nach der passenden Tageskleidung. Mit einem anerkennenden Blick greift er nach der in Frankreich abonnierten aktuellen Modezeitschrift, die er in der zurück liegenden Nacht bis zur Erschöpfung immer und immer wieder durchgeblättert hat. Hat er die abgebildeten Kleidungsstücke gefunden, zieht er sie in Zeitlupe an und malt sich lebhaft Chancen aus, die ihm in dieser Kleidung zuteilwerden. Ist er angezogen, zieht er sich wieder in Zeitlupe aus, um sich danach erneut anziehen zu können. Besonders gelungene Outfits fotografiert er mit dem Smartphone und klebt sie an die Zimmerwände oder sammelt sie für sein jährliches Fotoalbum. Allzu oft vergisst er bei diesem ausgiebigen Ritual die Uhrzeit und muss mit seinem verrosteten Opel Calibra mit überhöhter Geschwindigkeit auf Arbeit fahren.

Kommt der Altersscheue am Morgen ins Krankenhaus, beobachtet er die Gestik und Mimik der Mitarbeiter die ihm zufällig in den Fluren begegnen. Verspricht ihm eine Körperbewegung oder ein Gesichtsausdruck oder Tick eine Verjüngung, macht er diese umgehend im nächsten Flur nach. Aber am liebsten schleicht er noch vor Beginn des Dienstes zum kleinen Raucherbereich der Krankenpflegeschule. Er schraubt die Deckenlampe heraus und stellt sich in die unbeleuchtete Ecke. Mit großen Augen betrachtet er die neuesten Accessoires an Nase, Ohren, Händen und Füßen der verschlafenen Schülerschaft. Bewundernd lauscht er jeden coolen Spruch, jede Bemerkung und jeden noch so fragwürdigen Sprachtrend der Rauchenden ab. Hat er genug Leichtigkeit und Zukunftsglauben eingesaugt, rennt er auf die Toilette und kneift sich in die verschwitzte Nase, damit er nicht wahnsinnig zusammenbricht. Ungeduldig notiert er alle Worte in sein dickes, ausgefranstes Hosenheft. Anschließend dreht er das Heft auf die Rückseite und beginnt alle Accessoires sorgfältig und detailliert mit Malstiften einzuzeichnen. Hat er alles notiert und skizziert, drückt er zur Erleichterung die Toilettenspülung und taumelt völlig erschöpft aber zufrieden auf Station.

Der Altersscheue arbeitet ungern mit Mitarbeitern zusammen, die älter sind. Soweit es möglich ist, läuft er ihnen mit schnellen Schritten davon, lässt ihnen gekonnt den leeren Fahrstuhl oder schnürt so lange an seinen Schuhen, bis die Mitarbeiter aus seinem Blickfeld verschwunden sind. Er ist sich sicher, dass jeder von ihnen viele verpasste Chancen, die er bedauert und unter denen er leidet, mit sich herumträgt. Ältere Patienten fertigt er zur Visite in sekundendschnelle und mit einem Dauermonolog im gereizten Tonfall ab, damit sie ihn in keinem Fall in Gespräche über Leiden, Alter oder unerfüllte Wünsche verwickeln können. Denn ihren sehnsüchtigen Blick, mit dem sie von ihren verlorenen Möglichkeiten berichten, kann er nicht ertragen. Nur wegen dieser Patienten lässt er sich krankschreiben und ruft täglich auf Station an, und kommt erst nach deren sicherer Entlassung wieder auf Arbeit zurück.

Kommt der Altersscheue nach dem Dienst nach Hause und hat er eine Andeutung über eine Verabredungen bekommen, rennt er sogleich zum Friseur und lässt sich die angesagteste Frisur schneiden und färben. Danach eilt er zur Kosmetik und erstreitet sich einen Termin außer der Reihe. Zum Schluss geht er zur Pediküre. Zuhause angekommen, verstreut er wahllos Kleidungsstücke von vorrangegangen Liebschaften in der gesamten Wohnung. Ab und zu legt er selbst verfasste Dankesbriefe auf den Nachttisch, klebt Küsschenzettel an den Badspiegel oder schreibt Anerkennungssprüche auf benutzte Höschen oder Bettlaken. Er dreht die Musikanlage auf und spielt CDs oder Videos von Musikgruppen, deren Namen er überhaupt nicht kennt, von denen er aber weiß, dass sie derzeit gehört werden. Wie zu Teeniezeiten strippt er ausgelassen vor dem Spiegel seiner Anbauwand. Er spreizt die Arme und spielt nackt aktuelle Stars aus Film und Fernsehen nach. In diesen Momenten schließt er die Augen und fühlt sich jung und in vergangene Zeiten versetzt. Erinnert er sich aber plötzlich an das faltige Gesicht seines hilflosen Großvaters, versteckt er sich unter dem Tisch und wartet bis die Erinnerung wieder verschwunden ist. Danach krabbelt er unter dem Tisch hervor, legt eine der unbekannten CDs in die Musikanlage und dreht den Regler bis zum Anschlag auf. Seine Lieblings-CDs hat der Altersscheue schon vor Jahren vorsorglich im Keller versteckt oder über Nacht heimlich in die Mülltonne geworfen damit sie auf keinen Fall sein wirkliches Alter verraten können.

Die Lebensrechnerin

Die Lebensrechnerin zählt aufmerksam die Jahre und es entgeht ihr kein einziger Tag dabei. Unermüdlich berechnet sie im Archiv des Krankenhauses das Leben der Nachbarn, der Kollegen und der Patienten und trägt jede noch so kleine Information in ihre persönliche Sterbeliste ein. Selbst Daten, die sie über deren Angehörige im Vorbeigehen aufschnappt, verarbeitet sie am Abend begierig.

Liest sie in der Zeitung vom Ableben eines geschätzten Mitarbeiters oder hört sie in den Krankenhausfluren vom plötzlichen Tod eines Patienten, zuckt sie erschrocken zusammen und irrt durch die neonbeleuchteten Gänge, bis sie glaubt, endlich einen Informanten gefunden zu haben. Sofort beginnt sie, ihn in ein Gespräch zu verwickeln. Dabei vermeidet sie es stets tagespolitische oder gar soziale Ereignisse zu kommentieren. Auch hütet sie sich, mit Mitarbeitern des Personalrates zu sprechen, um nicht in interne Arbeitsrechtsstreitereien oder eine mögliche Kandidatur gebracht zu werden. Stellt sich der Informant ihrer Meinung nach stur, verstrickt sie ihn in konstruierte Fallbesprechungen, neue Therapieverfahren oder unklare Krankheitsbilder. Und nur wenn er nach diesen Versuchen immer noch keine Information hervorbringt, fragt sie nach der Uhrzeit und läuft entsetzt mit wehendem Kittel davon.

Hat sie endlich einen Informanten gefunden, der ihr Details über den Tod des Kollegen oder Patienten geben kann, hört sie ihm mit zusammengekniffenen Augen zu, presst beide Hände an ihre Schläfen, und versucht sich das Portrait des Verstorbenen vorzustellen. Krampfhaft überlegt sie, ob er beim letzten Zusammentreffen bereits an einer Erkrankung litt oder sonstige Anzeichen eines frühen Todes mit sich trug. Ist sie mit den Überlegungen zur Ursache fertig, atmet sie erleichtert aus und öffnet wieder die Augen. Oft fragt sie mit leiser Stimme den Informanten, ob die Todesart häufig vorkomme und was der Verstorbene zur Verhinderung hätte tun können. Beschwichtigt der Informant, dass die Erkrankung selten sei, atmet sie für alle gut hörbar aus und schlendert hüftschwingend, die dicken Krankenakten auf den Kopf tragend durch die Flure. Und es bereitet ihr eine große Freude schon auf dem Stationsgang gedanklich die Anzeige akkurat an der schwarzen Umrandung herauszuschneiden. Nicht selten ertappt sie sich wie ihre Hand die Schneidbewegungen langsam imitiert. Und oft wird sie deswegen von ihren Informanten argwöhnisch beäugt oder daraufhin angesprochen. Gibt hingegen der Informant zu verstehen, dass die Krankheit häufig vorkäme, oder das sie so gut wie nie behandlungsfähig sei, sucht sie fluchtartig die nächste Toilette auf und lässt minutenlang kaltes Wasser über ihre Haare und ihr blasses Gesicht laufen. Und nicht selten passiert es, dass sie von ungläubigen Herren beim Händewaschen angesehen wird oder dass sie ihre Krankenakten auf der Fensterbank zurücklässt.

Kommt die Lebensrechnerin nach einer solchen Nachricht nach Hause, schafft sie es kaum ihre Schuhe auszuziehen. Sie erstellt ohne etwas gegessen oder den Hut abgenommen zu haben in ihrer Straßenkleidung eine ausführliche Kartei mit den Lebensdaten des Verstorbenen. Sie sucht die jeweiligen Tabellen hervor und trägt alle Informationen mit verschiedenen Farben sorgfältig ein. In Fachbüchern vergleicht sie die Diagnose, Therapien und Lebenszahlen, addiert sie mit zitternder Hand und dividiert sie durch die Anzahl der einzelnen Lebenserwartungen. Den Gesamtwert trägt sie hastig und bis auf die zehnte Zahl hinter dem Komma in die Tabelle ein. Häufig wird ihr dabei schwindlig, dass sie erschöpft zu Boden sinkt. Und nur, wenn es ihr gelingt, ihre Lebenserwartung höher als die des Verstorbenen hervorzurechnen, kann sie auf den sonst üblichen Telefonruf des Notarztes verzichten.

Die Lebensrechnerin mag weder Haustiere noch Grünpflanzen. Sie wohnt in einer Wohnung mit stets polierten Parkett und geputzten Fliesen. Freunde empfängt sie selten, da ihr die aufwendige Reinigung nach jedem Besuch zu beschwerlich erscheint. Die Lebensrechnerin isst am liebsten Essen aus der Assiette oder aus dem Einweckglas und verbringt die meiste Zeit mit dem Studium von medizinischer Fachliteratur. In ihren freien Tagen absolviert sie ihre unzähligen Arzttermine. Und Urlaubsorte, die außerhalb Deutschlands liegen, kommen für sie überhaupt nicht infrage. Selbst Feierlichkeiten, zu denen sie manchmal eingeladen wird, verlässt sie prinzipiell noch vor dem Festessen mit der immer gleichen Bemerkung, es gehe ihr heute gar nicht gut.

Bevor die Lebensrechnerin am Abend ins Bett geht, durchdenkt sie nochmals ihre vielen Tabellen. Dabei geht sie gründlich vor, denn sie weiß, all zu oft ist sie wegen einer fehlenden Berechnung in der darauf folgenden Nacht erwacht, hat ihren verschwitzten Körper unruhig auf der klimatisierten Matratze hin und her gewälzt und ist, wenn nötig, aus dem Bett gesprungen und hat hastig die verschobene Berechnung nachgeholt. Und nicht selten ist sie bei dem Zusammentragen der fehlenden Lebenszahlen am Schreibtisch eingeschlafen und am anderen Morgen viel zu spät auf Arbeit erschienen.

Die Lebensrechnerin kennt keine Tagträume. Nachts träumt sie schlecht. In den vielen Albtraumphasen, die sie durchlebt, schreit sie lauthals die Namen aller Krankenschwestern, die dringend eine Kinderfrau für ihre unbeaufsichtigten Sprösslinge suchen, in die Dunkelheit. Selbst bei geschlossenen Fenster sind die langen Namensreihen, die sie bei ihren Stationsbesuchen von den Dienstplänen heimlich fotografiert, noch im benachbarten Viertel zu hören. Und es kommt vor, dass besorgte Bewohner bei ihr klingeln oder die Feuerwehr rufen.

Die Lebensrechnerin geht gern in ihren freien Tagen auf Friedhöfe. Oft nimmt sie die Kinder der Krankenschwestern mit um ihnen die Vergänglichkeit ihres jungen Lebens vor Augen zu führen. Sie spaziert mit ihnen zwischen den Grabreihen hin und her und fordert sie auf, je nach Größe oder Farbe des Steines, die entsprechenden Lebensdaten zu notieren. Anschließend addieren oder dividieren sie die Ergebnisse in ihren Schulheften. Fragen die Kinder, woran die Menschen unter den dunklen Steinen verstorben sind, entsinnt sich die Lebensrechnerin ihrer erfolgreichen Aufführungen im Schultheater und spielt den Kindern ausführlich das Ableben der Verstorbenen vor. Dabei röchelt und jammert sie so laut, dass auch sie selbst in Todesangst gerät. Manchmal beschweren sich vorbeigehende Besucher empört bei ihr oder dem ungläubigen Friedhofspersonal. Und oft wird von den Eltern der Kinder nach solchen langen Spaziergängen erzählt, dass ihre quirligen Sprösslinge in den darauf folgenden Tagen besonders schweigsam gewesen wären.

Die Lebensrechnerin hat viele Fehltage. Oft meldet sie sich früh, kurz vor Dienstbeginn, krank. Auch beklagen sich Ärzte und Verwaltungsmitarbeiter immer wieder, dass einzelne Krankenblätter oder gar ganze Akten für Tage, manchmal sogar Wochen unauffindbar seien.