Der Schönredner

Den Schönredner schmerzt nichts so sehr wie ein beängstigendes Wort. Dringt es an sein Ohr, setzt
er seine gesamte Sprachkunst darauf, es unschädlich zu machen und gegen ein edleres zu ersetzten.
Nichts hält ihn davon ab, das Leid, dass aus dem Wort erwächst, bis in den entferntesten Winkel des
Krankenhausgeländes zu verfolgen.

Schon am Morgen betritt der Schönredner mit Lobeshymnen die Station. Er blättert in den
Krankenakten und gibt wohlwollende Worte über den Fortgang der Behandlung. Und selbst die
kleinste Differenz in der Fieberkurve löst in ihm einen Sturm der Bewunderung hervor. Geht der
Schönredner zur Visite, überlegt er minutenlang vor der Krankenzimmertür, welche Worte er dem
Patienten zu Gehör gibt. Unsicher läuft er auf und ab, kramt in seinen vielen Zetteln und wiederholt
wieder und wieder die wichtigen Wendungen. Oft hält er beide Hände auf den Bauch oder die Stirn.
Und nur, wenn es ihm nicht gelingt, zur Ruhe zu kommen, rennt er auf die Toilette, schließt sich
ein, winkelt die Beine an und hofft so, die Unsicherheit zu überwinden. Dabei zieht er immer und
immer wieder die Spülung und erzählt beim Rauschen des Wassers, welche Wünsche er mit sich
trägt. Neuerdings beschleicht ihn das Gefühl, dass die Putzfrau ihn des Öfteren belausche.

Beginnt die Visite und der Chefarzt gibt dem im Bette Liegenden harsche Worte oder erklärt ohne
Umschweife unschöne Diagnosen, hört der Schönredner aufmerksam zu und kommentiert das
Gesprochene mit sanften Gesten. Spricht der behandelnde Arzt gar von einer unheilbaren Krankheit
oder kündigt er dem Patienten starke Schmerzen an, beschwichtigt der Schönredner beim Verlassen
des Zimmers den Patienten. Er flüstert ihm ins Ohr, dass das alles alte Therapieansichten sind und
die neusten, sozusagen druckfrisch, bei ihm auf dem Tische liegen. Sitzen die Schwestern
schwatzend am voll gedeckten Frühstückstisch, steht der Schönredner auf, schleicht zu dem
verunsicherten Patienten und entkräftet alle furchteinflößenden Worte. Er erklärt dem Verängstigten
den aktuellen Stand der Wissenschaft, bringt ferne Kongresse ins Spiel, lobt neuste Therapien und
feiert modernste Behandlungsmethoden. Und so manches Mal krempelt er die Ärmel hoch, schiebt
die Betten beherzt beiseite, zückt die Kreide, die er immer in seinem Assistentenkittel trägt, und
malt mit schwungreichen Bewegungen bunte Grafiken auf das Linoleum des Patientenzimmers.
Wortreich erklärt er die Lebenserwartung bei dieser und jener Erkrankung. Und es freut ihn
besonders, wenn er bei aussichtslosen Diagnosen eine höhere Lebenserwartung berechnen kann, als
allgemein für das jeweilige Alter üblich ist. Wüssten die Patienten durch Film und Fernsehen nicht,
was diese oder jene Erkrankung im Wesen bedeute, könnten sie durch seine Art leicht in
Versuchung geraten, eine ernste Erkrankung als Segen oder gar als Wohltat zu empfinden.

Kommt der Schönredner nach den unzähligen Überstunden nach Hause, blättert er in
medizinischen Fachzeitschriften und Lexika um die gehässigen Worte des Tages auszutauschen.
Hat er sie endlich gefunden, schreibt er sie mit kindlich großen Buchstaben auf das linierte Papier
und streichelt sanft über jedes der schön klingenden Worte. Dabei buchstabiert er sie immer und
immer wieder laut vor sich hin. Ist er damit fertig, faltet er den Zettel entlang der Linien zusammen
und steckt ihn in seine Schuhe, denn dort vergisst er ihn nie. Kann er hingegen die geeigneten
Worte nicht finden, sucht er fieberhaft in den Bänden, die er über die Zeit aus den Büchereien
dauerentliehen hat. In diesen kramt er fieberhaft, ob sich nicht doch ein unbekanntes, wohliges
Wort zwischen den alten verstaubten Buchseiten versteckt hält. Wird er nicht fündig, studiert er die
kostbaren Bücher, die ihm die Reinigungsfrau auf dem Stationsflur ab und zu unvermittelt übergibt.
Kann er sie auch dort nicht finden, telefoniert er verzweifelt bis in die frühen Morgenstunden mit
allen, die er kennt und die ihm noch helfen wollen. Und nicht selten fragt er bei einem der wenigen
Abendessen, die er mit seiner Freundin verbringt, nach dieser oder jener Wortverschönerung.

Küsst er seine Freundin, kommen ihm manches Mal unvermittelt Ideen, die ihn die Zunge zuweilen mehr
als nötig in ihrem Munde verharren lassen. Selbst beim Beischlafe, den er sich höchstens einmal pro
Monat verordnet, kommt ihn manch nützlicher Gedanke, den er umgehend, noch auf ihr liegend,
auf einen seiner vielen Zettel notiert. Sind die Zettel mit Worten angefüllt oder hat er sie verlegt,
kritzelt er die Buchstaben hastig auf die Haut ihres Bauches oder Rückens. Hat er endlich das
passende Wort gefunden, springt er am anderen Morgen glücklich ins Krankenzimmer, um es dem
Betroffenen mit ausgebreiteten Armen zu präsentieren.

Der Schönredner schläft unruhig. Jede Nacht träumt er von einem Regal, das bis in den Himmel
reicht und alle Wortschönheiten dieser Welt beinhaltet. Oftmals wird ihm im Schlafe schwindlig,
weil er wieder viel zu schnell mit dem Glaslift in die oberste Reihe des Himmelsregales gefahren
ist. Es ist ihm jedes Mal ein Graus, wenn eines der Bücher in die Tiefe hinabsinkt und er es mit dem
Lift wieder heraufbringen muss.

Der Schönredner ist bei Patienten und Personal beliebt. Er arbeitet übergründlich und vermittelt
seinem Gesprächspartner zudem das Gefühl, sich nie in Hektik zu befinden. Selbst die Verwaltung
kann sich trotz der massiven Kritik, die einige Chefärzte immer wieder gegen ihn hervorbringen,
seinem Wesen schwer entziehen. Sie hat ihm eine unbefristete Stelle in Aussicht gestellt.

Würde man den Pförtner nach ihm befragen, würde er die Narbe an der linken Augenbraue berühren
und sagen, dass das ein wirklich feiner Kerl sei, dem man einfach niemals böse sein könne, weil
er viel zu gut für diese verkackte Welt sei. Außerdem würde der Pförtner die Hände aufeinanderschlagen
und wiederholt sagen, dass er der Sohn wäre, den er sich immer von seiner Alten gewünscht
und nie bekommen habe. Und nahezu unhörbar würde er anfügen, dass er weiterhin für
ihn, wenn es sein müsse, den Dienstbeginn im Kontrollbuch korrigieren würde.