Das Mädchen aus der Fremde

Niemand wusste, wo sie herkam. Sie ging die Straßen des Dorfes entlang, als würde sie schon immer auf ihnen wandeln. Jede Gasse, jedes Schild, jeder Stein, jedes Haus, nichts schien ihr fremd zu sein, kein Baum und kein Mensch. Ihr Kleid flatterte im Wind und der Saum umspielte ihre Knie. Sie setzte behutsam einen Fuß vor den anderen. Sie trug keine Schuhe und lief doch nicht zu langsam. Ihre langen, weißen Arme schlenkerten neben ihrem schmalen Oberkörper hin und her. Den kleinen Lederkoffer, den sie bei sich hatte, trug sie einmal in der linken, einmal in der rechten Hand. Der große Filzhut saß scheinbar zur Zierde auf ihrem gelockten Schopfe. Alle paar Minuten rückte sie ihn zurecht und zog ihn sich noch tiefer ins Gesicht. Ihre Augen waren so grün wie der Hut.

Die Leute hatten sich viel zu erzählen. Ein jeder wusste etwas anderes zu berichten. Sie wäre fortgelaufen vor dem Krieg, sie wäre fortgelaufen vor der Armut, sie wäre fortgelaufen vor der prügelnden Mutter. Sie hätte kein Geld für neue Schuhe, sie wäre ein trotziges Mädchen, das ihre Eltern nur grämen wolle, sie hätte noch nie Schuhe getragen. Sie suche ihren Vater bei ihnen, sie suche ihr Glück, sie suche sich selbst.

Die Leute wunderten sich. Sie war höflich. Immer gerade so, um anderen gegenüber nicht ablehnend zu sein, und immer gerade so, dass niemand ihr freundschaftliche Empfindungen hätte entgegenbringen können. Und auch sonst war es, als nähme sie von allem das rechte Maß. Es war als bräuchte sie keinen Schlaf und es war als hätte sie keinen Hunger. Niemand sah sie je lachen und niemand sie weinen.

Jeden Morgen lief sie durch das Gewirr der Gassen und kam immer auf verschiedensten Wegen, punkt zwölf, wenn die Kirchenglocke schlug und die Sonne am höchsten stand, unter einem alten Eichenbaum zum Sitzen. Dieser Baum stand auf einem unbewirtschafteten Feld und hätten die Kinder sie vom alten Forststand im nebenanliegenden Wald nicht entdeckt, wüsste es niemand, dass sie hier täglich eintraf. Sie setzte sich unter die beschützende Baumkrone auf ihren kleinen Koffer, den sie stets mit sich führte und über den die Leute im Dorf munkelten, dass sie ihn auch im Schlaf immer dabei habe, weil sie ihn dann anstelle des Kopfkissens benutzen würde. Sobald sie es sich auf dem Koffer bequem gemacht hatte, sang sie. Aber sie sang nicht so, wie jeder im Dorf hätte singen können. Sie sang ganz außergewöhnlich. Niemand hatte bisher so eine Stimme vernommen und nicht nur die Kinder waren entzückt darüber, sondern auch die Bewohner des Dorfes lauschten andächtig der fremden Melodie, wenn der Wind sie zu ihnen trug. Bis zum Untergang der Sonne konnte man sie noch singen hören.

Und so kam es, dass ein jeder auf sie wartete. Ein jeder wartete Tag für Tag auf das Mädchen. Niemand hätte es vor dem Anderen zugegeben, aber jeder wartete auf das Mädchen, das immer barfuß ging, auf das Mädchen mit dem kleinen Koffer in der Hand. Ein jeder wartete punkt zwölf auf ihren Gesang unter dem alten Eichenbaum.

Und wie verstört waren die Leute im Dorf, als eines Tages ihre Stimme ausblieb. Alle stürmten aus ihren Häusern. Die Kinder rannten vorneweg, die Männer kamen mit den Gewehren hinterdrein, die Frauen schluchzten in ihre umhäkelten Taschentücher. Niemand wusste, wo sie hingegangen war.