Die Allenschenkerin

Die Allenschenkerin schenkt immer und überall. Stets findet sie einen Anlass passende Geschenke zu verteilen. Niemand im Krankenhaus ist vor ihr sicher. Und selbst Fremde können sich der Allmacht ihrer kleinen und großen Aufmerksamkeiten kaum entziehen.

Wochenlang beobachtet sie in den den Schwesternzimmern, den Stationsgängen oder den Umkleideräumen des Krankenhauses in dem sie arbeitet, die zu Beschenkenden und filtert jedes noch so kleine Bedürfnis der Gesprächspartner, die sie intensiv belauscht, heraus. Selbst auf der Toilette, in die sie sich gern heimlich einschließt, erhört sie manchen unbedacht ausgesprochenen Wunsch, den der Belauschte im Selbstgespräch äußert. Nicht selten reinigt sie Betten, Schränke und auch Nachttische übergründlich um sich der Bedürfnisse der dabei abgehörten Gesprächspartner  sicher zu sein.

Hat sie diese endlich erkannt, muss sie sie unbedingt kaufen, und kein noch so großes Hindernis hält sie davon ab. Sie schleicht Tage oder Wochen, manches Mal Jahre um die Zu-Beschenkenden, als wollte sie diese mit einem unsichtbaren Netz aus Fäden umwirken. Unnachgiebig sucht sie nach dem passenden Moment das Geschenk zu überreichen. Glaubt sie den idealen Moment endlich gefunden zu haben, überrascht sie den Verwunderten, stellt sich ihm in den Weg und drückt ihm Zeitschriften und Lexika, plastene Zigarettenetuis und metallene Aschenbecher, oder bunt bedrucktes Geschirr in die Hand. In früheren Jahren, als das Arbeitszimmers ihres Vaters noch voller Bücher stand, verschenkte sie seltene Exemplare zu bestandenen Prüfungen, zu Geburtstags-Weihnacht-und Ostertagen. Selbst den Nationalfeiertag nimmt sie gern als geeigneten Anlass kleine Präsente zu verteilen.

Hat die Allenschenkerin endlich ihr aufwendig verpackte Gabe verschenkt, dreht sie sich schüchtern zur Seite oder senkt den Blick auf den von ihr vorher gründlich gesäuberten Stationsboden. Ungeduldig  wartet sie mit der linken Ferse wippend oder an ihren Ohren ziehend auf eine Reaktion des soeben Beschenkten. Und nicht selten prüft sie, nur um sich von der Wartezeit abzulenken, die weißen Fliesen auf etwaige Putzstreifen. Meist hat sie die Verpackung vorher so kunstvoll gefertigt, dass sie dem Beschenkten auf jeden Fall allein aufgrund der Umpackung eine laute Bewunderung entlocken muss.

Wen allerdings die Allenschenkerin in den Kreis der Beschenkten aufnimmt und welche unsichtbare Verbindung zwischen dem Geschenk, der meist männlichen Adressaten und ihr bestehen, bleibt auch für sie im Dunkel.

Jedoch achtet sie bei jedem so präzise zu schenken, dass eine Ablehnung zwecklos wird. Oftmals lässt sie den Beschenkten erst durch das Geschenk sein unbekanntes Bedürfnis erkennen.

Benötigt die Allenschenkerin ein neues Geschenk, schlendert sie anscheinend ziellos durch die Stadt, verharrt hier und da vor den Auslagen und begibt sich in diese und jene Straße um möglichst alles zu erfassen, was verschenkbar ist. Selbst die kleinste Nebenstraße behält sie im Blick. Dabei denkt sie sich immer und immer wieder mit großer Freude in die Bedürfnisse der zu Beschenkenden hinein. Hat sie sich einen Überblick in Schaufenstern, Warenhäusern und Geschäften verschafft, fühlt sie kaum noch Zeit zwischen den Exponaten und dem verbliebenen Geld abzuwägen. Unruhig umkreist sie mehrmals das zum Kauf ausgewählte Objekt, ohne es jedoch zu berühren. Dabei durchzählt sie geräuschvoll den mitgenommenen Geldbetrag mehrmals auf der flachen Hand, da  sie es als unmöglich ansieht ungekauft nach Hause zu gehen. Spricht eine Verkäuferin sie an, kauft sie hastig das Kaufobjekt oder läuft ohne ersichtlichen Grund verwirrt davon. Selbst in ihren Träumen steht sie oft atemlos in langen, hell beleuchteten Regalreihen und erwirbt, ohne einen Rabatt auszuhandeln, eifrig die Bedürfnisse der Nachbarn, Kollegen oder auch die der Verkäuferinnen selbst. Sehr oft stimmt sie am Ende das Einschlagpapier, Format und Band sorgfältig ab oder tauscht Bedürfnisse  zurück und erhält von allen ein dankbares Lächeln. Zum Schluss stellt sie in ihren Träumen eine Rangfolge der einzelnen Personen auf, die sie in den nächsten Tagen mit ihren Aufmerksamkeiten beschenkt. In winzigen Druckbuchstaben schreibt sie die Namen, die in den letzten Wochen ihren Fleiß am häufigsten bemerkten und lobten auf ein kariertes Blatt. Nur nach einer solchen Nacht fühlt sie sich am Morgen ungewohnt wohl und würde, wenn sie endlich den Mut aufbrächte, Selbsterzählend im Bett liegen bleiben und gern für diesen Tag ihre Arbeit im Krankenhaus vernachlässigen.

Die Allenschenkerin lebt allein. Sie wohnt in einem Zimmer mit Schlafnische, die ihre Mutter  sorgfältig vor Jahren einrichtete. Die Allenschenkerin isst am liebsten Nudeln ohne Soße und verbringt ihre freien Tage in den Haupt-und Nebenstraßen ihres Wohnanlage. In Urlaubsorte ist sie noch nie gefahren und Feierlichkeiten, die außerhalb ihrer Häuserzeile stattfinden, lehnt sie prinzipiell ab. Die wenigen Nachrichten, die sie an sich heranlässt, entnimmt sie, seit sie auch den Fernseher verschenkt hatte, den Überschriften von Wurfsendungen oder den Gesprächen der Straßenbahnfahrgäste.

Am Abend, wenn sie das Restgeld des Tages exakt abgezählt hat, faltet sie die dünne Silberkette, die sie seit ihrer Konfirmation jeden Tag trägt, nach einem ganz bestimmten Muster auf dem Fensterbrett zusammen. Manchmal bleibt sie auch am Fenster stehen und spielt mit den großen, schweren Schmuckstücken ihrer verstorbenen Mutter, die sie aus einer unerklärlichen Abneigung nie benutzt. Und nur Selten schaut sie, den schweren Schmuck in den Händen haltend, den Pärchen auf der Straße lange nach. An solchen Abenden schüttelt sie kräftig ihre vielen Kopfkissen, legt sich seufzend in ihr Jugendbett, faltet die Hände zum Gebet und bemüht sich vergebens die Schafreihe laut bis Hundert zu zählen. Selten gelingt es ihr in diesem Moment den unangenehmen Gedanken an die fällige Kreditrate zu vergessen

Die Allenschenkerin arbeitet fehlerfrei. Entschuldigte oder gar unentschuldigte Tage gab es bei ihr nie. Auch hat sie keinem Patienten jemals einen Anlass zu einer Beschwerde gegeben. Selbst der Pförtner, den sie fast 40 Jahre höflich grüßt, könnte nichts Nachteiliges berichten. Würde man ihn nach ihr fragen, fiele es ihm schwer, trotz der Blumen, die sie ihm täglich wortlos ins Sichtfenster stellt, die Allenschenkerin zu beschreiben.

Die Allenschenkerin kann mir immer noch nicht genau sagen, was sie mit ihrem Anteil von 23.572 Euro machen wollte. Möglicherweise hätte sie damit einen ihre vielen Kredite beglichen.