Gut, gut; danke, danke

Ich brauche Chilis, ich brauche Erdnusstofu, ich brauche Kokosmilch; im Kopf gehe ich meine Einkaufsliste durch. Die Glastüren des Supermarktes öffnen sich, ich sehe auf und entdecke eine schöne Jacke. Ich brauche auch eine neue Jacke, denke ich, eine schöne; vielleicht eine wie die da, in einem so hellen, freundlichen Blau, kräftiger als der Himmel. Meine Jacke ist zehn Jahre alt, ihre lackierten Druckknöpfe sind abgewetzt und in der rechten Tasche ist ein Loch, durch das immer wieder Münzen ins Futter rutschen. Ich sehe den Mann in der Jacke und denke, ja, die Jacke steht ihm, gute Wahl; und dann sehe ich, dass sogar die Schuhe des Mannes zu seiner Jacke passen. Erst jetzt begreife ich, es ist deine Jacke, es sind deine Schuhe, es sind deine Augen: du bist es.

Sofort spüre ich den Impuls, mich abzuwenden; mich plötzlich sehr zu interessieren für das Vogelfutter, dass auf der Saisonfläche im Eingangsbereich aufgestapelt ist; den Impuls, dir den Rücken zuzuwenden, mich hinunter zum Vogelfutter zu bücken und aufmerksam die Zutatenliste zu studieren, damit du mich übersiehst oder ohne Peinlichkeit übersehen kannst oder mir wenigstens glaubst, dass ich dich übersehen habe. Dann aber – noch in der Hocke – rufe ich: Hey! Ich brauche kein Vogelfutter und ich möchte nicht daran erinnern müssen, mich einmal im Vogelfutter vor dir versteckt zu haben.

Du bleibst stehen, siehst zu mir herunter, machst ein überraschtes Gesicht und sagst: Hey. Du erkennst mich sofort; schade, denke ich, einmal möchte ich mich so sehr verändern, dass die Leute überlegen müssen, wenn sie mich treffen; dass sie staunend Fragen müssen: Korbinian, bist du es; fast hätte ich dich nicht erkannt. Ich habe ein paar Kilo zugelegt, seit unserem letzten Treffen, darüber hinaus hat es keine wesentlichen äußerlichen Veränderungen gegeben, wahrscheinlich sehe ich ein bisschen älter aus; ich bin ein bisschen älter. Du erkennst mich also, kein Wunder, aber in deinem Lächeln steckt etwas Vorsicht, immerhin.

Ich überlege, ob ich dich drücken soll. Wir haben uns immer gedrückt, wir waren ja Freunde, enge Freunde. Für eine Weile waren wir vielleicht mehr als das, also du für mich. Was ich für dich war weiß ich nicht, das müsste ich dich fragen; aber welchen Sinn hätte das, alles ist so lange her. Du überlegst kein bisschen und drückst mich, wie immer. Ich drücke zurück, fest. Schön, dich zu treffen; du bist dünn geworden.

Ich frage, wie es dir geht; doch, doch, es interessiert mich wirklich, aber es ist eine heikle Frage bei dir. Du warst krank, sehr krank, vielleicht bist du es noch, ich weiß es nicht, auf Facebook hast du nichts davon geschrieben, aber so etwas schreibt man auch nicht auf Facebook. Du verstehst die Frage als Floskel und antwortest nett, gut, gut, danke, danke; ich hake nicht nach.

Weil du nichts fragst, frage ich, wie es in Wien war. Du hast dich eingecheckt in einer Konzerthalle; ich habe sofort gegoogelt, wer dort spielt, aber nur um zu prüfen, ob meine Vermutung stimmte; sie stimmte. Um diese Band live zu sehen, bist du auch vor zehn Jahren schon 500 Kilometer gefahren, und zwar nur für diese Band; manchmal saß ich auf dem Beifahrersitz im Gegensatz zu dir aber nicht, weil ich deren Musik so mochte, sondern weil ich gern neben dir im Zelt schlief. Du staunst, dass ich von Wien weiß; ich behaupte, ich habe es zufällig auf Facebook gelesen, aber ich werde rot und komme mir wie ein Stalker vor. Dass ich davon las war alles außer zufällig: ich lasse mich benachrichtigen wann immer du etwas postest.

Du erzählst von der Hinfahrt und von den Leuten, die dich begleitet haben, von der Band und vom Stadtrundgang. Ich höre dir zu, aber die Leute, die dich begleitet haben, interessieren mich nicht; viel mehr interessiert mich das Label deiner Jacke, das in schnittigen Lettern auf die Brust gestickt ist. Wie machst du das, frage ich mich, wieso hast du so ein Händchen für Mode; du bist immer so beiläufig schick, als würdest du gar nicht darüber nachdenken, während ich viel nachdenke, auch über Mode, und trotzdem immer das gleiche anhabe.

Weil du nichts fragst, frage ich, wie es mit der Arbeit läuft; gut und schlecht sagst du und erzählst von sechsstelligen Einnahmen und sechsstelligen Ausgaben und hohen fünfstelligen Bilanzierungsfehlern, die euch vielleicht in den Ruin treiben könnten, aber du lächelst dabei. Du nimmst es nicht so schwer, wie du nichts schwer nimmst, sogar wirklich Schweres nicht. Wenn du lächelst, ziehen sich neuerdings strahlenförmig Fältchen von deinen Augenwinkeln aus über dein Gesicht bis hinunter zu deinen Wangen. Das sind Lachfältchen, denke ich, aber kann das sein; kann jemand, der so krank war wie du, Lachfältchen kriegen, die so lang sind, wie deine? Und wieso kriegt jemand, der gesund ist wie ich, statt Lachfältchen eine Furche über der Nase, die so tief ist, wie bei mir? Du hast aufgehört zu sprechen und starrst in meinen leeren Einkaufskorb. Tja, also, gut, sage ich, und denke, dass es gut ist, dass du arbeitest, weil es bedeutet, dass du gesund bist. Ich atme durch, aber nicht zu tief, denn deine Wangenknochen sind hervorgetreten und obwohl ich finde, dass dir das steht, ist es kein gutes Zeichen.

Du erzählst von deinen Katzen, wahrscheinlich, weil du meinen Blick in deinen Einkaufskorb als Frage verstanden hast; darin liegt außer zwei Packungen Katzenstreu nur ein großer Smoothie mit Stachelbeeren. Deine Katzen waren jetzt zwei Tage allein, du warst ja in Wien; deswegen musst du dann auch los, denn seit du aus Wien zurück bist, warst du noch nicht zu Hause. Du hast zuerst Malin besucht, sagst du; Malin, du weißt schon, mit der wir in der Schule waren.

Ich weiß, wer Malin ist, wir haben neulich ein paar Nachrichten hin und her geschrieben, es geht ihr gut, also frage ich nach deiner Freundin – die heißt Sophie. Sophie ist in Afrika zum Forschen, ihr Projekt sollte ein Jahr laufen, aber jetzt sind schon zwei Jahre rum und sie ist immer noch nicht zurück. Jedenfalls nehme ich das an, denn du hast nichts über ihre Rückkehr geschrieben und ich habe keine Einladung, zu einer Wiedersehensparty bekommen; obwohl, wer weiß, ob ihr mich einladen würdet. Du hörst auf zu lächeln und erzählst, dass Sophie im Sommer zurückkäme; vielleicht, wie du anfügst. Bis dahin wirst du aber umgezogen sein, in das Viertel, in dem wir aufgewachsen sind, in einen dieser Wohnblöcke, in denen ein Schulfreund von uns gewohnt hätte; von dort wäre es nicht so weit zu deiner Arbeitsstelle und außerdem wäre es auch nicht so weit zu Malin. Weil du nichts fragst, frage ich, ob das für Sophie okay sei und du fragst zurück, was Sophie denn schon dagegen tun sollte.
Ich weiß, dass du Malin liebst, ob immer noch oder schon wieder, das weiß ich nicht, und auch nicht, ob dir klar ist, dass es so ist. Ich aber kann es eindeutig in deinen Augen sehen, die strahlen unverschämt glücklich, wenn Du sie erwähnst und ich kenne Dich, zumindest kannte ich dich Mal und auch, wenn das alles lange her ist, weiß ich genau, was dieses Strahlen bedeutet. Dass ich angesichts dieses Strahlens nicht mehr klar denken konnte, wurde einst zu einem Teil unseres Problems, also meines Problems, ich weiß nicht, ob du je eines hattest mit mir; du hast eigentlich keine Probleme, du löst sie.

Ich richte meinen Blick an deinem Kopf vorbei in die Obst- und Gemüseabteilung; Mandarinen sind heute im Angebot, eine Kiste für nur fünf Euro; wer soll denn eine Kiste Mandarinen essen, frage ich mich, aber dich brauche ich das nicht zu fragen. Du magst keine Mandarinen; das feine weiße Netz in das die Spalten gehüllt sind, findest du bitter und die Pulerei nervt dich. Du schaust an meinem Kopf vorbei auf den Parkplatz, dann holst Du dein Telefon aus der Tasche und zeigst mir die schöne neue Hülle, die du dafür gekauft hast; eine Hülle mit einer modernen Leipzig-Illustration, ich mag sie. Ich hole daraufhin mein Telefon aus der Tasche, es hat die Farbe deiner Jacke, also die Farbe deiner Augen, also deine Lieblingsfarbe, also deine Farbe, aber leider ein inkompatibles Betriebssystem, wie du feststellst, was ich so passend finde, dass ich durch die Nase lachen muss; du bist irritiert.

Als du eine Weile von der unglaublichen Geschwindigkeit dieses neuen Mobilfunkstandards erzählst, fasse ich mir ein Herz, sehe dir in die Augen und frage dich, wie es dir geht, also gesundheitlich jetzt. Du siehst mich an und schweigst eine Sekunde; bis vor kurzem ging es dir gut, sagst du, jetzt aber haben sie wieder was entdeckt, einen Knubbel in deinem Rücken, nicht sehr groß, wie eine Kirsche ungefähr, den haben sie rausgeschnitten, tatsächlich war er nicht gut. Gut aber, dass er weg ist sagst du, und dann zuckst du mit den Schultern und ergänzt, dass es auf die eine Narbe mehr auch nicht mehr ankommt. Das finde ich auch, denn es geht nicht um deine Narben; deine Schönheit hat nichts mit deiner Haut zu tun. Das sage ich nicht, stattdessen sage ich, dass ich finde, dass du das richtig gut machst, also wie du mit deiner Krankheit umgehst. Du siehst an mir vorbei hinaus auf den Parkplatz und sagst, dass es eben vorbei ist, wenn es vorbei ist. Und dass es, wenn es vorbei ist, egal ist, ob du dich vorher verrückt gemacht hast oder nicht. Manche glauben dir diesen Pragmatismus nicht, aber ich glaube ihn dir; Du magst es eindeutig und unkompliziert, das hat es schwierig zwischen uns gemacht, als bestimmte Sätze ausgesprochen waren, denn manchmal bin ich ambivalent und komplex; und du hasst schon die beiden Worte. Du denkst nach, um mit dem Denken fertig zu werden; ich werde mit manchem nicht fertig, weil ich zu viel darüber nachdenke. Ich finde es wirklich toll, wie du das machst, sage ich nochmal und du siehst mich an, ernst, und fragst, wie du es denn sonst machen sollst.

Ich muss los, ich bekomme Gäste zum Abendessen, sage ich und dein Blinzeln verrät mir, du hältst es für eine Ausrede, dabei ist es wahr. Natürlich, natürlich, sagst du und erinnerst an die Katzen. Ich denke noch, dass ich das nicht sagen sollte, aber dann sage ich es schon: Wir sollten uns mal wieder treffen, also richtig. Tja, von mir aus, sagst du und legst die Stirn in Falten, als sei das Loch in unserer Freundschaft nicht deine Schuld. Es stimmt, du hast mich in der Silvesternacht angerufen und ich bin nicht rangegangen, weil ich mich nicht fühle, als wäre ich der, den du nach 20 Minuten im neuen Jahr anrufen würdest. Ich habe auch nicht zurückgerufen; ich hätte das dann mit dir besprechen müssen und du besprichst sowas nicht gerne. Immer wenn ich dir sowas sage, sagst du, na dann sag doch was. Ich muss nachdenklich aussehen, aber da drückst du mich schon zum Abschied und ich hätte sowieso keine Diskussion angefangen. Bevor du gehst, klopfst du mir noch zweimal kurz auf die Schulter. Ich ärgere mich, denn ich habe mir erst kürzlich vorgenommen, dich nicht mehr zu sehen. Es gelingt mir ja doch nicht, nicht mehr in dir zu sehen als du bereit bist, zu sein.