2. Ausrüsten

(Fortsetzung von 1. Erwachen)

Er fand sich in der Mitte des Zimmers wieder und drehte sich langsam um die eigene Achse. Wie Mira. Mira steht jeden Morgen in der Mitte des Schlafzimmers und dreht sich mit ausgestreckten Armen um die eigene Achse. Genau einundzwanzig Mal. Ausnahmslos jeden Morgen absolviert sie ihr Übungsprogramm um ihre Chakren in Einklang zu bringen. Die fünf Tibeter sind eine ernste Angelegenheit für sie. Er hatte sich das Spotten abgewöhnt. Danach erst konnte er erkennen, wie konzentriert, versunken und wunderschön sie dabei aussieht.

Aber Mira war weg. Oder er. Je nach Perspektive. Er versuchte, nicht mehr an sie zu denken. Er versuchte stattdessen, im durch seine langsamen Drehbewegungen wieder und wieder an ihm vorbeiziehenden Zimmer an etwas erinnert zu werden. Der Deckenstuck glich dem im Behandlungszimmer seines Zahnarztes. Aber da war er nicht. Die Doppelfenster aus Holz waren wie die im Haus seiner Großmutter. Das war längst abgerissen. Der grobe Plüschteppich, der jeden seiner Schritte dämpfte, fühlte sich an wie sein Badewannenvorleger. Aber, so gern er es wäre: Er war nicht zuhause. Er kannte diesen Raum nicht. Er war der Fremde. Der andere war der Andere.

Als ihm schwindlig wurde, ließ er sich wieder aufs Bett fallen. Das glatte, weiche Gefühl der abgekühlten Bettwäsche auf seiner Haut gefiel ihm. Er kannte es. Er drückte sein Gesicht tief ins Kissen. Es roch nach Duschbad, nach Waschmittel, nach Haaren, ein bisschen nach Schweiß und ein bisschen nach Spucke. Es roch nach Mensch. Er atmete diesen Geruch, Nase um Nase. Er wartete auf eine Erinnerung, einen Fetzen irgendwas. Er wusste, wer er war. Aber wer er war würde nicht ohne Erinnerung im Bett eines wildfremden Menschen aufwachen, der dem Inhalt seines Kleiderschrankes nach zu urteilen obendrein ein Mann war. Der Geruch, den das Kissen verströmte war ihm nicht unangenehm. Aber unbekannt und beunruhigend.

Es klickte. Blitzschnell drehte er sich um und starrte zur Tür. Er brauchte einige Sekunden, um das Klicken der Zahlenmechanik des Weckers zuzuordnen. Es war 11:07 Uhr. Wie konnte er wissen, dass er allein war? Vielleicht war der Andere gerade im Bad und würde in wenigen Augenblicken, ein Handtuch um die Hüften und ein Liedchen auf den Lippen, im Türrahmen erscheinen. Vielleicht saß er in der Küche und frühstückte. Vielleicht saß er schon im Arbeitszimmer über seinen Rechner gebeugt. Wenn er nicht allein war, würde er in wenigen Minuten jemandem begegnen, von dem er keine Vorstellung hatte. Jemandem, der ihn kannte und sich möglicherweise darüber freuen würde, dass er endlich wach war. Jemandem, der ihn hatte ausschlafen lassen. Jemandem, der ihn in seinem Bett schlafen ließ. Was, wenn er sich auch dann nicht erinnerte ? An wen?

Er drehte den Kopf. Erst jetzt fiel ihm auf, dass neben dem Kissen auf dem sein Kopf ruhte ein weiteres lag. Er schreckte auf. Er hatte keine zwei Kissen benutzt, soweit er sich erinnerte. Aber er erinnerte sich nicht. Er beugte sich zu dem zweiten Kissen herüber und roch daran. Es roch genauso wie dasjenige, welches er benutzt hatte. Er versuchte sich zu erinnern, ob er dieses fremde Bett mit jemandem geteilt hatte. Er legte den Kopf auf das andere Kissen und wartete auf einen Fetzen Erinnerung. Er legte den Kopf zurück auf sein Kissen und wartete auf irgendetwas. Er hatte Kopfschmerzen.

Er schreckte auf, kniete sich aufs Bett und untersuchte das Laken unter auf Flecken. Er fand welche. Ein größerer roch nach Bier, zwei weitere, kleinere rote Flecken rochen leicht süßlich. An anderer Stelle war offensichtlich ein Splitter Schokolade unter einem warmen Körper geschmolzen. Ansonsten nur viele tiefe Falten im Laken. Wer auch immer hier schläft, schläft unruhig. Er suchte nach einem Haar, er fand keines, nicht einmal ein kurzes. Ein langes, blondes Haar hier zu finden, hätte ihn beruhigt. Aber Mira war weg.

Er hielt seine Finger unter die Nase. Sie rochen neutral, etwas salzig vielleicht. Mit den Daumen schob er einige Fingerkuppen zurück und sah unter seinen Fingernägeln nach. Alles sauber. Er untersuchte seinen Bauch, seine Schenkel, sein Schamhaar. Nichts verklebt. Gutes Zeichen. Er sah unter seiner Vorhaut nach. Keine Ahnung. Er lehnte sich aus dem Bett und kuckte darunter. Er fand eine braune Herrensocke, aber kein benutztes Kondom. Trotzdem kein Beweis. Er prüfte seinen Körper auf Kratzspuren und blaue Flecke. Nichts. Er überlegte, nochmal hinüber zum Spiegel zu gehen. Dort wäre auch die Untersuchung seines Rückens möglich. Und die seines Hinterns. Aber er blieb auf den eigenen Fersen sitzend im Bett. Sein Hintern fühlte sich normal an, aber auch das bewies gar nichts. Er wollte Duschen. Er ekelte sich. Vor dem Bett, das so fremd roch. Vor dem Körper, der diesen Geruch ursprünglich verströmte. Vor dessen Händen, sofern sie ihn berührt hatten. Und vor dem Rest dieses fremden Körpers auch. Erst recht. Sogar vor seinem eigenen Körper ekelte er sich, weil er diesen fremden Geruch anzunehmen schien.

Er war durstig. Er sah sich nochmals im Zimmer um. Am Grunde des leeren Wasserglases auf dem Nachttisch fand er Rückstände eines weißen Pulvers. Er befeuchtete seinen Zeigefinger und nahm ein paar Krümel auf. Sie schmeckten so, wie der geltenden Meinung der chemischen Industrie zufolge tropische Früchte schmeckten. Um diesen Geschmack wieder los zu werden, brauchte er noch dringender etwas zu trinken. Aber hier war nichts. Er würde das Zimmer verlassen müssen um seinen Durst zu stillen. Außerdem musste er pinkeln. Und duschen.

Er beschloss, zu rufen. Vorher schlüpfte er wieder unter die Decke. Falls da jemand war, wollte er ihm nicht in Boxershorts begegnen. Trotz und gerade wegen letzter Nacht. Er rief. Seine Stimme war belegt und rau. Offenbar hatte er gegrölt gestern. Er lauschte. Nichts. Sein Hals brannte. Er räusperte sich. Er rief wieder. Seine Kehle war trocken und seine Zunge pelzig. Er lauschte. Nichts. Er holte tief Luft und brüllte. Sein Atem roch nach Alkohol und sein Kopf dröhnte. Er lauschte. Kein Geräusch außer dem Knacken seiner Kiefergelenke und seinem leise pfeifend ausströmenden Atem.
Er sank wieder ins Kissen. Wahrscheinlich war er allein. Das enttäuschte ihn. Das Gesicht des anderen oder zumindest dessen Rede hätten seiner Erinnerung vielleicht auf die Sprünge geholfen. Die große Irritation wäre vorüber gewesen. Man hätte ihn wieder aufs Spielfeld gesetzt. Es wäre weiter gegangen. Gleichzeitig war er erleichtert. Er fürchtete die Konfrontation mit dem Anderen. Dem Anderen? Warum nicht den Anderen? Woher konnte er wissen, dass er es nicht mit mehreren zu tun hatte? Was, wenn er in die Fänge einer Schleuserbande geraten wäre? Menschenhändler? Organhändler? „Absurd.“, murmelte er, als er einsah, dass ihn eine Menschenhändlerbande wahrscheinlich nicht in einem Zimmer mit Balkon zur Straße untergebracht hätte. Mit Daumen und Zeigefinger rieb er sich den Schafsand aus den Augen. Seine Einsamkeit gab ihm Zeit, wieder zu sich zu kommen. Vielleicht wüsste er, wo er war, wenn er nur endlich dieses Zimmer verließ.
Die Messinggriffe der großen Flügeltür waren ihm schon vorhin aufgefallen. Er wollte sie berühren. Ihre glatte, kühle Anmutung lockte ihn. Durch das Milchglas zeichnete sich ein weiterer heller Raum ab. Dem Schattenwurf nach zu urteilen, musste es ein großes Fenster darin geben, vor dem der Wind mit einer mächtigen Baumkrone spielte. Der Raum schien freundlich. Der Raum jagte ihm Angst ein.

Ohne seine Erinnerung war er blind. Blind fühlte er sich wehrlos. Wehrlos wollte er den tanzenden Schatten hinter dem Milchglas nicht gegenübertreten. Er schloss die Augen und wartete auf einen Fetzen Erinnerung. Er wusste seinen Namen: Kay. Er wusste seine Adresse. Er kannte sein Alter: 36. Und er wusste das Passwort zu seinem Rechner im Büro: 8hrs2go!. Ihm war bewusst, in welchem Jahr er lebte. Und mit wem: Mira. Er erschrak. Falsche Zeitform.

Ihm war schlecht. Erneut hob er seine Beine aus dem Bett und stand auf. Er war ein geduldiger Mensch, aber dieses Warten auf nichts machte alles dringender. Er ging hinüber zur Flügeltür. Es knarrte. Er fror ein. Er selbst musste dieses Geräusch ausgelöst haben, als er über die Dielen lief. Er war allein in der Wohnung. Er hatte gerufen und keine Antwort erhalten. Außer dem Klicken vorhin und diesem Knarren jetzt hatte es kein Geräusch in der Wohnung gegeben, seitdem er wach war. Er hatte gute Ohren. Er verlagerte sein Gewicht wieder auf den anderen Fuß, aber es knarrte kein zweites Mal. Er ging zurück zu seiner Ausgangsposition und lief den Weg erneut. Es knarrte nicht. Vielleicht war das ein Spiel, das der Andere mit ihm spielte. Vielleicht lauerte er hinter der Tür, um ihn mit einem „Buh!“ zu Tode zu erschrecken, sobald er sie öffnete. Vielleicht saß der andere seit Stunden schweigend in seinem zur Tür gewendeten Lesesessel, nur um aufzusehen und ihn schweigend aber breit anzugrinsen, sobald sein Schlafgast heraustrat. Vielleicht hatte sich eine Tragödie abgespielt und der andere lag direkt vor der Tür in einer riesigen Blutlache, die – um die Überraschung nicht zu gefährden – kurz vor der Schwelle zum Schlafzimmer endete. Bestimmt.

Er konnte da nicht raus gehen. Nicht so. Er machte drei Schritte in Richtung Kleiderschrank, weil ihm die Idee gekommen war, ein paar Kleider des Anderen anzuziehen. Er stockte. Nach allem, was er bisher wusste, mochte er diesen Anderen nicht. Nicht seinen Geschmack, nicht seinen Geruch und vor allem nicht seine Abwesenheit. Er wollte diese Sachen nicht tragen. Er ging zum Bett und nahm sich ein Kissen. Wie ein Schild drückte er es sich auf den Bauch und verschränkte die Arme davor, als würde er sich daran festhalten. Das half, er fühlte sich sicherer. Er machte wieder einen Schritt in Richtung Tür. Was aber, wenn der Andere ebenso orientierungslos war wie er? Was, wenn er ihn angreifen würde? Was, wenn er in die Fänge eines Psychopaten geraten war, der ihn auf der anderen Seite des Milchglases mit gewetzten Messern erwartete? Er konnte da nicht rausgehen. Nicht so. Er ging zurück zum Bett und hängte sich die Bettdecke um die Schultern. Dabei registrierte er sehr wohl, dass es nur eine große Decke war, nicht zwei. Er weigerte sich allerdings, über diesen Fakt nachzudenken. Nachdenken hatte ihm bis hierher nicht viel genützt. Er machte wieder drei Schritte in Richtung Tür. Die Steifheit des Federbettes um seine Schultern und das Kissenpolster vor dem Bauch gab ihm das Gefühl eine Rüstung zu tragen, wenn auch eine lächerliche. Ein letztes Mal sah er sich im Raum um. Diesmal auf der Suche nach einer möglichen Waffe. Einem Kerzenständer, einer Flasche, einer Hantel vielleicht. Nichts. So unbewaffnet konnte er da unmöglich rausgehen.

Er schwenkte ab in Richtung Balkon. Er öffnete die Tür und trat nach draußen. Er beugte sich über die Brüstung um zu sehen, ob sich nicht doch ein Weg finden ließ, nach unten zu klettern. Es fand sich keiner. Er drehte sich und sah am Gebäude nach oben, um zu prüfen, ob er vielleicht über das Dach entkommen könnte. Es war aussichtslos. Auf dem Nachbarbalkon – der Höllenhund.

Als wäre er auf Menschen abgerichtet, ging er auf ihn los. Mit einem kraftvollen Satz versuchte er, die Brüstung zu erklimmen. Er drückte sich das Kissen vors Gesicht, dann wieder vor den Bauch, dann vor die Brust. Der Hund konnte nicht über die Brüstung. Er ließ das Kissen sinken. Von seinen Lefzen schleuderte der Hund Geiferfetzen um sich, so rasend war er. Er aber wurde ganz ruhig. Was für ein dummer, armseliger Hund das war. Er hielt das Kissen nur noch an einem Zipfel, der gegenüberliegende streifte den Boden. Er wandte sich dem Tier zu und sah im direkt in die Augen. Das irritierte den Hund. Er hielt kurz inne, dann verstand er die Provokation des Fremden. Sein Nackenfell stellte er zum Hahnenkamm, seine Vorderläufe hängte er bis zu den Knien über das Balkongeländer. Er zog seine Lefzen so hoch, dass sein eindrucksvolles Gebiss bis zu den Backenzähnen zu sehen war. Er knurrte ein tiefes, dunkles Knurren. Der Fremde stand da und starrte dem Tier in die Augen. Solange, bis der Hund einsah, wie verzweifelt hoffnungslos und gnadenlos lächerlich seine Drohung war. Solange, bis er endlich Ruhe gab, und sich setzte. Eine Windböe trieb Schnee vom Dach. Der Fremde blieb regungslos stehen. Der Schnee schmolz zwischen in seinen Nackenhaaren. Er wischte ihn beiseite. Er hatte keine Lust auf einen kalten, theatralischen Tropfen, der ihm wie eine eisige Fingerspitze unter dem wärmenden Federbett den Rücken hinab fuhr. Der Hund legte sich auf den Boden und rollte sich ein, den Blick demonstrativ Richtung Hof gewandt. Als im Bürogebäude gegenüber ein Fenster geöffnet wurde und zwei Frauen zum Vorschein kamen, von denen eine herzhaft lachte und die andere freundlich winkte, wandte sich der Fremde ebenfalls ab und ging nach drinnen. Der König verließ den Balkon vor den Augen des Volkes. Der König musste Pinkeln.

Er suchte nach einer Vase, einer Topfpflanze, einer leeren Flasche. Er wollte nicht ins Wasserglas urinieren. Sein Blick fiel auf den Kristallaschenbecher auf dem Nachttisch. Er ging hinüber und hob ihn an. Er nickte. Das Gewicht des Aschenbechers, seine spitzen Ecken und seine Kühle gaben ihm das erleichternde Gefühl, nun endlich wehrhaft zu sein. Erst kürzlich hatte eine Frau ihren Mann mit seinem Aschenbecher erschlagen, das hatte er irgendwo gelesen. Er las alles. Seit ihm in der Bank ein Arbeitsplatz zugewiesen worden war, dessen Bildschirm von niemandem eingesehen werden konnte, verbrachte er den Großteil seiner Arbeitszeit mit dem Lesen von Nachrichten im Internet. Ihm entging nicht, wie seine Gedanken abschweiften. Er kannte sich gut genug um sich nicht darüber zu wundern. Er wollte da nicht rausgehen. Er fürchtete sich davor. Angst ist ein guter Ratgeber, sagt Mira. Angst zeigte dir, welchen Weg du zu gehen hast. Sein Weg führte durch die Flügeltür.

1. Erwachen

Endlos und leer lag die Ebene vor ihm. Ohne jeden Makel, sogar ohne jegliche Textur. Seit Stunden stellte er sich gegen die Kälte, die sich immer tiefer in seinen Körper fraß. Dutzende Kilometer hatte er hinter sich gelassen, aber die Ebene vor ihm veränderte sich nicht. Längst hatte er eingesehen, dass er die Hütte heute nicht mehr erreichen würde. Weit in ihm, hinter dem Fauchen des Windes in seinen Ohren, zog seine Angst zischend in Zweifel, ob er die Hütte jemals fände. Er sehnte sich nach dem wärmenden Feuer, das in ihr brannte, aber er würde in der kommenden Nacht wohl darauf verzichten müssen. Der Himmel hatte schon von weißlich blau auf petrol gewechselt und würde sich bald in Richtung schwarz recken. Seine Hunde wurden langsamer und brauchten eine Pause. Wie er. Wenn er nicht sofort anhielt um sein Nachtlager zu bereiten, würde er in der Dunkelheit vor Erschöpfung vom Schlitten kippen und bis morgen früh erfroren sein. Ihm war das klar, doch ängstigte es ihn nicht genug, als dass er den Singsang der Glöckchen an den Halsbändern seiner Hunde dafür stoppen würde. Er mochte ihr Lied und er fürchtete sich vor der betäubenden Stille, die sich binnen weniger Augenblicke wie eine schwere Wolldeckte über die Ebene legen würde, sobald seine Hunde zur Ruhe gekommen waren. Also schloss er die Augen und konzentrierte sich auf das Gleiten der Kufen unter seinen Füßen; konzentrierte sich auf seinen Atem, atmete tief, ließ den Atem entweichen, versuchte seinen warmen Hauch auf der Haut zu spüren, spürte nichts. Er öffnete seine Augen und sah, dass ein Sturm aufzog.

Der Horizont, der die Ebene messerscharf vom Himmel trennte, geriet aus dem Gleichgewicht, geriet in Wallung, warf hohe Wellen. Es war, als würden die Böen auch unter dem schneebedeckten Boden wüten wie unter einem gespannten Laken. Die Ebene verlor ihre Stabilität. Sie öffnete sich wie ein riesiger Schirm vor ihm, umfing ihn, ließ sich von den Kufen seines Schlittens spuren, und einen Moment später entzog sie ihm; zog sie sich so weit zusammen, dass nur ein winziger weißer Spalt blieb von ihr, verschwand schließlich ganz, warf ihn ins Nichts.

Sein Schlitten kippte und begrub ihn unter sich, weich aber schwer. Er wartete auf den Schmerz, aber es schmerzte nicht. Er konnte seine Hunde nicht mehr sehen. Er musste sie wiederfinden, er wäre verloren ohne sie. Dass er ihre Glöckchen noch singen hören konnte, beruhigte ihn. Er schloss die Augen, atmete und lauschte. Er mochte den weichen Schnee unter seiner Wange. Er beschloss, eine Weile liegen zu bleiben, auszuruhen und sich vom Gewicht seines Leibes wärmen zu lassen. Kurz bevor man erfriert, wird einem ganz warm, sagt man.

Er öffnete die Augen. Die petrolfarbenen Vorhänge filterten die Sonne und tauchten das Zimmer in ein fahles, kaltes Licht. Nur ganz unten, ein fingerbreit über dem Boden, dort wo der Horizont die Ebene abschnitt, tanzte ein warmweißer Fetzen auf den hellen Dielen. Vom geöffneten Fenster her fuhr ein eisiger Hauch ins Zimmer, der von fern das Klimpern der Glöckchen an den Halsbändern seiner Schlittenhunde zu ihm herübertrug.
10:42 Uhr. Ein schöner Wecker. Mit Klappzahlen und Radio. Aber nicht seiner. Ebenso wenig wie das schneeweiche Kissen, die Matratze mit der tiefen Kuhle oder das flache Bett, in dem er lag. Er stützte seinen Oberkörper auf seine Ellenbogen und sah sich um. Sein Nacken schmerzte. Er ächzte.
Nichts hier gehörte ihm. Nicht der helle Plüschteppich auf dem das Bett stand, nicht die matten, hellen Dielen auf denen er lag und nicht die kargen hellgrauen, Wände an denen sie endeten. Er setzte sich auf. Nichts von dem, was ihn umgab, kannte er. Den riesigen weißen Schrank nicht, nicht seinen Inhalt und nicht den, dem er gehörte. Das einzige, was ihm unangenehm vertraut vorkam, war der Andere, der ihn ernst, zerzaust und irritiert aus einem mannshohen weißen Holzrahmen neben der Flügeltür anstarrte.

Er legte sich wieder hin, kniff die Augen zu und ließ sie ein paar Sekunden geschlossen. Er sah ein, dass die weite, klare Schneelandschaft unwiederbringlich dem fast schwarzen Dunkelrot hinter seinen Lidern gewichen war. War er tatsächlich wach? Er biss sich auf die Unterlippe. Es tat weh, aber wer konnte sich sicher sein, dass es nicht wehtun würde, sich im Traum auf die Lippe zu beißen? Vorsichtig setzte er seine Füße auf den Plüschteppich, so vorsichtig, dass es ihn kitzelte. Langsam verlagerte er sein Gewicht und stand auf. Weil jemand seinen Schädel über Nacht mit Beton gefüllt hatte, gelang es ihm erst nach einigen Sekunden seinen Körper im Gleichgewicht zu halten. Ihm war schwindlig und im Traum war ihm noch nie schwindlig gewesen.

Er taumelte zum Holzrahmen hinüber. Aus dunklen Augen in tiefen Höhlen starrte ihn ein alter Mann an, aufgedunsen, irritiert und feindselig. Sein Körper war ohne Wunden, aber wegen seiner gekrümmten Haltung wirkte er verletzt. Mit der linken Hand berührte er seine Rechte, die reglos an seinem Arm hing. Dann seine Wangen, seine Brust, seinen Bauch. Seine Haut war aus Latex. Sie schimmerte in blassem Violett. Darunter waberte Flüssigkeit, lauwarm. Er berührte seine Lippen. Silikon. Weich, aber trocken und ohne Gefühl. Er steckte seine Hand in seine Shorts. Er spürte die Berührung stärker als die anderen, weil er sie nicht sah. Aber er fühlte nichts. Trotzdem: Er war es, auch wenn er sich nur ähnelte. Er stammelte „Wer?“, „Wo?“ Seiner Stimme fehlte der Bass. Er wandte sich ab.

10:49 Uhr. Ein schöner Wecker auf dem Nachttisch. Ein leeres Wasserglas. Daneben ein schwerer großer Kristallaschenbecher. Dunkelblau. Leer aber nicht unbenutzt. Wie er. Weiter daneben Magazine. In gewollter Unordnung. Wie er. Wer schläft hier, wenn er hier nicht schläft? Wieso war er hier aufgewacht?

Er taumelte zu den petrolfarbenen Vorhängen und ließ die Stadt herein. Seine Fremde endete nicht an den Grenzen seines Körpers. Auch nicht an den Wänden dieses Raumes. Durch eine schmale Tür trat er auf einen halbrunden Balkon. Die frostige Luft füllte seine Lungen und nahm einen Teil seiner Benommenheit mit sich. Der grobe Beton unter seinen Füßen riss ein Loch in die Watteschicht, die ihn umgab. Das geschwungene Eisengeländer zwang ihn, zuzugreifen. Er stutzte: Dort unten fand ein Tag statt. Busfahrer fuhren Busse, Paketboten lieferten Pakete und durch die großen Fenster des Gebäudes gegenüber sah er Büros, in denen Sachbearbeiter Sachverhalte bearbeiten. Die Maschine lief.
Auf den Balkon nebenan war ein Schäferhund gesperrt. Der schlief. Er selbst nahm seinen Mut und seine Konzentration zusammen und beugte sich über die Brüstung nach unten. Weit, so weit, bis er das metallene Windspiel auf dem Balkon eine Etage tiefer sehen konnte. Die Glocken der Schlittenhunde. Ursache und Wirkung bedeuteten ihm viel.

Er ließ seinen Blick schweifen und entdeckte das Wintergartenhochhaus. Er war noch in Leipzig. Volkmarsdorf, Neuschönefeld oder Reudnitz. Er erkannte kein anderes Gebäude in seinem Sichtfeld. Er war kein Leipziger. Seine Augen schafften es nicht, den Straßennamen auf dem Schild an der Ecke zu entziffern.

Ein Bellen wie eine Sturmböe warf ihn auf die andere Seite. Er schrie. Adrenalin flutete ihn. Der Hund vom Nachbarbalkon hatte sich in einen tollwütigen Werwolf verwandelt. Mit den Vorderläufen hing er über der Brüstung und kläffte, fletschte, knurrte, dass der Speichel spritzte. Er gehorchte und ging nach drinnen. Sorgfältig verriegelte er die Balkontür.

Er war Herzschlag. Er pumpte. Das Pochen seiner Schläfen erinnerte ihn daran, dass Zeit verging. Das war tröstlich. Er würde klarer werden, mit der Zeit. Er würde herausfinden, wo er war. Und wo seine Kleidung. Und ob es diese Hütte gab. Und warum sich der Hund gegen ihn wandte. Er entdeckte die Heizung hinter dem Vorhang und drehte sie auf.

Er ging zum Kleiderschrank. Der wies ihn ab wie ein Monolith außerirdischen Gesteins. Seine weiße Hochglanzoberfläche wollte nicht berührt werden. Nicht von ihm. Er war schmutzig, fettig und voller Keime. Der Schrank hatte keine Türgriffe, keine Griffmulden, keine Schlüssel oder Schlösser. Der Schrank stand vor ihm, im vollen Bewusstsein der eigenen Anmut. Der Schrank ignorierte ihn. Er trat zur Seite um seinen Winkel zum einfallenden Licht zu verändern. Das Spiegelbild des Raumes war makellos. Kein Fingerabdruck, kein Kratzer, keine Spur. Er untersuchte die Kanten nach Vertiefungen oder Tastern. Sie waren glatt, ebenmäßig und kalt – nichts sonst. Er trat zurück, um den Schrank als Ganzes sehen zu können. Er wollte ihn verstehen. Der Schrank schien sich abzuwenden. Er trat heran, als würde er Anlauf nehmen, streckte die Hand aus und drückte sie fest gegen das porenfreie Weiß. Es klickte merklich unter seiner Hand. Die Tür trat hervor und fuhr langsam aber präzise geführt zur Seite.
Im Inneren offenbarte sich das, was von außen vehement geleugnet wurde: ein ordinärer Kleiderschrank aus weiß furniertem Pressspan. Das Versprechen der Perfektion wurde nicht gehalten, das wird es nie. Die Kleidungsstücke und Gegenstände im Inneren waren zwar nach Art sortiert aber ohne große Sorgfalt aufeinander gestapelt, nebeneinander gelegt und übereinander gehangen.

Er fand Hemden, kariert zumeist, wenigstens zwanzig. Und Hosen aus Cord, hellbraun, dunkelbraun, beige, schwarz, blau. Vielleicht zehn? Jeans, sieben Mal das gleiche Modell aber eindeutig unterschiedlich alt. Cordwesten und Cordjacketts. Boxershorts, die engen. Gürtel, alle braun, alle Leder, einer mit einer Schnalle in Form eines Bullenkopfes. In einer Ecke Cowboystiefel mit Sporen. Das reichte ihm. Seine Sachen waren da nirgends. In der Sekunde, in der er die Tür wieder schließen wollte, stutzte er.

„Cowboystiefel?“ Er hob einen Stapel T-Shirts, zog einen Stapel Pullover aus dem Fach, um dahinter zu schauen, prüfte einige Kleiderbügel darauf, ob unter den Hemden vielleicht Blusen hingen. Aber nichts. Dies war ohne Zweifel der Kleiderschrank eines Mannes. Dies war ohne Zweifel das Schlafzimmer eines Mannes. Aber er war nicht der dazugehörige Mann. Er legte die Hände vors Gesicht und rieb sich die Augen. Er schlug sich mit den Handballen auf die Stirn um klarer zu werden, aber sein Schädel antwortete mit stärkerem Dröhnen.

Er berührte die Tür erneut, woraufhin der Schrank die Kleidung des Fremden wieder verschluckte. Er schauderte: Der Fremde. Das war er. Er war in einem Bett aufgewacht, in das er nicht gehörte. Er war derjenige, der hier nicht stimmte. Dem Nachbarshund war es gleich aufgefallen. Er fand sich in der Mitte des Zimmers wieder und drehte sich langsam um die eigene Achse.

(Fortsetzung 2. Ausrüsten)