wrocław.

kaum über den fluss hinüber
tauschen wir das wort gegen hand & fuß wie euro gegen zloty.
der wind bläst uns die köpfe frei,
zwischen den schiebetüren läuft der schaffner auf & ab,
locht uns ein in schneelandschaft und ruhige tage.

kilometerweit die spaziergänge am ufer des flusses,
hinweg über stege und zurück auf den asphalt,
stets im ohr das gemurmel der passanten,
das uns fremdsprachig nicht bekümmert und unbeirrt sorglos sein lässt.

sherry (selbstgebrannt), der gelbbraune kachelofen
und so manche hitzige gedanken wärmen unsere durchfrorenen körper.
wir kichern bei polnischenglischen unterredungen mit den einheimischen
& den ansässigen bronzegnomen der stadt.

tag um tag mit piroggen gefüllt unsere bäuche,
die glucksen, wenn wir erschöpft beieinanderliegen & überlegungen anstellen einfach zu bleiben,
hier in wrocław.

Letzte Nacht

„Willst du auch einen?“ Simon kramt in der Nachttischschublade.
„Was?“ Mitri deckt sich zu.
„Kaugummi. Wir können noch einen zusammen kauen, bevor wir auseinandergehen.“
„Keine Zigaretten, wie im Film?“
„Ich rauche nicht mehr.“
„Steht aber noch in deinem Profil.“
„Echt? Ich habe hier noch irgendwo Zigaretten, wenn du magst.“
Simon will aufstehen. Mitri erwischt seine Schulter in der Dunkelheit und hält ihn zurück.
„Ich rauche nicht.“
„Steht aber in deinem Profil.“
„Ich weiß.“
„Und da steht auch, du würdest 90 Kilo wiegen.“
„Du magst kräftige Männer.“
„Aber du bist spindeldürr!“
„Liegen wir deshalb im Stockdunklen? Bin ich hässlich?“
„Nein! Aber warum machst du dich dicker als du bist?“
„If it makes you happy, it can’t be that bad.”
Simon schmatzt. Es riecht nach Pfefferminz.

„Auch das steht anders in deinem Profil, aber:“, Simons Stimme brummt etwas in Mitris Ohren, „Du machst das nicht so oft, oder?“ Simon tastet nach Mitris Kopf und legt ihn auf seine Schulter. „Du warst total aufgeregt. Deine Finger waren eiskalt, dein Mund ganz fest und deine Hüften völlig verkrampft.“
„War ich schlecht?“
„Du warst süß.“ Simon streichelt Mitris Schulter. „Später hat es dir gefallen, oder?“
„Ich war unkonzentriert, anfangs.“
Simon kichert. Mitri legt seine Hand auf Simons Bauch.

„Ich musste an die Meteoriten denken.“
„An was?“
„Heute Nacht wird ein unikaler Meteoritenschauer über Deutschland niedergehen.“
„Unikal? Und das macht dich an?“
Simon legt ein Bein zwischen Mitris Schenkel.

„In Tschebarkul sind im Februar drei Menschen bei Meteoriteneinschlägen drauf gegangen.“
„Drei.“
„Eintausendundvier wurden verletzt.“
„Beulen am Kopf? Blaue Flecken?“
„Den Meisten wurden durch herumschießende Glasscherben die Körper zerschnitten.“

„Und du wolltest es noch einmal krachen lassen, bevor du zerfetzt wirst?“
„Ich wollte meinen Körper benutzen.“
„Fremdbild als Gummipuppe. Wie schmeichelhaft.“
Simon zieht sein Bein zurück und legt seine Hände auf die Decke. Mitri hebt seinen Kopf und schaut dorthin, wo er Simons Gesicht vermutet.

„Ich habe das noch nie gemacht.“
„Noch nie? Wieso jetzt?“
„Ein einziger Meteorit reicht, um diese Stadt dem Erdboden gleich zu machen.“
„Wie in diesen amerikanischen Katastrophenfilmen? Hoffentlich ist mein Kameraakku geladen.“
„Das ist nicht witzig.“

Simon stützt sich auf seine Ellenbogen und wendet Mitri den Kopf zu.
„Die Meteoriten verglühen doch in der Atmosphäre!“ Er singt. „Voila: Sternschnuppen!“
„Eben nicht. Sternschnuppen sind Meteore. Meteore verglühen. Meteoriten sind viel größer. Sie schaffen den Weg durch die Atmosphäre. Heute Nacht kommen Meteoriten. Riesige.“
„Und schlagen ausgerechnet hier ein?“
Mitri zuckt mit den Schultern. „Ich weiß nicht.“
„Du tust aber so, als wüsstest du es.“
„Je nach Temperatur und Dichte verändert sich beim Eintritt in die Atmosphäre der Winkel ihrer Flugbahn. Niemand kann berechnen, wo sie einschlagen.“
„Haben Sie dich in der Schule oft gehänselt?“
„Wieso?“
Simon lässt sich wieder auf den Rücken fallen. Mitri räuspert sich.

„Die hätten doch Bescheid gesagt, wenn die gefährlich wären.“
„Damit sich die Leute im Keller einschließen?“
„Ja. Zum Beispiel.“
„Das sind keine Hagelkörner. Das sind Meteoriten. Die reißen Krater von mehreren Kilometern. Druckwelle, Staubwolke, tagelange Dunkelheit. Sowas.“
„Aber dann hätten die uns evakuieren müssen!“
„Wohin denn?“
Simon macht eine Kaugummiblase, die ihm klatschend aufs Kinn fällt.

„Die hätten uns trotzdem gewarnt.“ Er kaut wieder.
„Die haben uns gewarnt.“
„Wer?“
„Die ESA. Du liest keine Nachrichten, oder?“
Simon schlägt die Decke zurück und stolpert in die Dunkelheit. Einige Sekunden später erscheint sein Gesicht auf dem Sofa in einem bläulichen Licht.

„Krass.“
„Du vertraust mir nicht.“
„Noch drei Stunden Zeit.“
Ein Metallarmband klappert. „Drei Stunden und sieben Minuten.“
„Deswegen hast du deine Uhr nicht abgelegt.“
„Hat sie dich gestört?“
„Uhren stören immer.“
Simon klappt den Rechner zu. Einige Schritte später zeichnen sich am Fenster über der Stadt die tiefschwarzen Umrisse seines Körpers vor der fastschwarzen Nacht ab.

„Müsste man die nicht schon sehen?“
„Wenn sie in drei Stunden hier sind und mit vierzig Kilometer pro Sekunde auf uns zu rasen, dann sind sie –“, Mitri zählt seine Finger, „Dann sind sie noch circa vierhunderttausend Kilometer entfernt. Soweit reicht dein Auge nicht.“
Simon lacht. „Hast du das jetzt ausgerechnet?“
Mitri setzt sich auf. „Ja. Stimmt es nicht?“
„Keine Ahnung.“

Mitri faltet die Beine zum Schneidersitz und lehnt seinen Kopf an die Wand.
Simon dreht sich um und starrt ins dunkle Zimmer.
„Was machen wir jetzt?“
Mitri zögert. „Noch einmal miteinander schlafen?“
„Spinnst du?“
„Hat es dir nicht gefallen?“
„Nein! Doch!“ Simon zögert. „Ich will nicht, dass du deinen Körper an meinem benutzt.“
„Das war schlecht formuliert, entschuldige.“
„Ich habe auch schlecht formuliert: Ich möchte nicht mit einem Fremden Sex haben, wenn die Apokalypse hereinbricht.“
Simon setzt sich aufs Fensterbrett und zieht die Beine an.

Mitri spricht vom Bett her leise. „Ich bin kein Fremder.“
„Wir sehen uns zum ersten Mal.“
„Aber wir chatten seit mehr als zwei Wochen.“
„Trotzdem.“
„Ich habe deine Handynummer seit neun Tagen!“
„Trotzdem.“
„Du hast mir von deiner Trennung erzählt.“
„Na und?“
„Und dass du viel getrunken hast, danach.“
„Ja, es ging mir schlecht! Ich trinke nicht mehr!“
„Dafür chattest du.“
„Was hat das damit zu tun?“
„Du hast mir Fotos geschickt, von früher. Mit Ex-Mann und Ex-Hund.“
„Ja! Und du hast mir viel von dir erzählt! Deine Jugend in Tscheljabinsk oder –blinsk oder wie auch immer, die Reise hierher, der Typ, der dich dann doch hat Sitzenlassen. Man erzählt sich voneinander, wenn man chattet.“ Simon springt vom Fensterbrett. „Aber das macht uns noch lange nicht zu“, eine Gürtelschnalle klimpert, „Das macht uns noch lange nicht zu Gefährten.“

Simon stürzt im Zimmer umher.
„Was tust du?“
„Ich ziehe mich an.“
„Warum?“
„Ich werde nicht hier sein, wenn ein riesiger Felsbrocken ins Haus kracht. Du übrigens auch nicht.“
„Wo gehst du hin?“
„Ich werde nicht allein auf die Katastrophe warten.“
„Ich bin doch da.“
„Du gehst jetzt.“
Statt aufzustehen greift Mitri nach der Decke und legt sie sich um.

„Wo willst du denn hin?“
„Keine Ahnung.“
„Du musst doch wissen, wo du hin willst!“
„Ich weiß es aber nicht! Raus.“
„Zu deinen Eltern ins Kinderzimmer? Zu deinen Pärchenfreunden in die Besucherritze?“
„Nein.“
„Zu deinen traurigen Singlefreunden auf die Couch? Zur perfekten Familie deiner Schwester?“
„Mann, nein!“
„In die Arme deines Ex‘? Zwischen ihn und den Neuen? In eine Bar?“
Simon schreit: „Ist ja gut!“

Simon tritt dicht ans Bett. Mitri spürt die Wärme seines Bauchs auf den Wangen.
„Und du? Wo willst du sein?“
Mitri flüstert. „Hier.“
„Warum ausgerechnet hier?“
„Ich will nicht alleine sein.“
„Warum ausgerechnet bei mir?“
„Zufall.“
„Lüg mich nicht an.“
„Du warst der einzige, der Zeit hatte.“
„Lüg mich nicht an!“
„Du erinnerst mich an Kostya.“
„Wer ist Kostya?“
„Kostya.“ Mitri schnieft. „Kostya war gut zu mir.“
„Ich bin nicht Kostya!“
„Ich liebe dich.“
Simon stürzt zur Tür und machte Licht. Beide sind geblendet.

„Du kennst mich überhaupt nicht!“
„Das ist egal.“
„Das ist nicht egal. Ich will jetzt bei meinen Leuten sein.“
„Wer sind deine Leute?“
„Menschen, die ich liebe. Menschen, die mich lieben.“
„Ich bin hier.“
Simon setzt sich auch aufs Bett, Mitri gegenüber.
„Aber uns verbindet keine Liebe, kapierst du das?“
„Wo sind deine Leute? Deine Leute sind sonstwo. Ich bin hier.“
„Du bist so schräg!“

„Es ist ganz einfach: Du hast dich gezeigt, ich habe mich gezeigt. Wir haben uns verbunden. Wir sind jetzt, hier, beieinander. Wir wissen nicht, wie viel Zeit bleibt. Wir wissen nicht, was passiert, wenn wir raus gehen. Oder was morgen ist. Aber wir wissen, dass es gut ist, wenn du dich zu mir legst und ich mich an dich schmiege. Bis es wieder hell wird. Falls es wieder hell wird.“
Simon springt wieder auf.

„Ich weiß nicht, was das für dich ist, Stardust – verdammt, ich kenne nicht einmal deinen Namen!“
„Mitri.“
„Dimitri?“
„Mitri.“
„Wie?“
„Egal.“
„Ja es ist egal. Für mich war das ein Sexdate. Kein Wir-werden-eng-umschlungen-von-der-Sonne wachgeküsst, kein Wir-geben-uns-knutschend-dem-Tod-hin, nicht der Anfang einer mehrjährigen Beziehung.“ Simon läuft unruhig im Zimmer auf und ab. Mitri schließt die Augen.
„Trotzdem Liebe.“
Simon schreit. „Du kennst mich nicht. Du liebst mich nicht!“
Mitris Augen bleiben geschlossen. „Wie soll ich dich kennen? Dein Profil ist voller Lügen.“
Simon tritt zum Bett. „Ja! Eben! Und?“
„Deine Nachrichten waren es auch. Von wegen, du schwärmst für Sheryl Crow, wie ich.“
„Tu ich.“
„Du hast vorhin nicht einmal die Top-Zeile aus ihrem Top-Hit erkannt.“
„Wann?“
„Sogar deine Wohnung ist drappiert.“
„Meine Wohnung?“
„In deinem Bücherregal im Flur sind Lücken, in denen kein Staub liegt. Und die Bücher, die du hast stehen lassen, hast du nicht gelesen.“
„Natürlich habe ich das.“
„Niemand hat Ulysses gelesen. Du trägst eine Maske. Und darunter noch eine. Und noch eine.“
Simon packt Mitri an den Schultern „Wie du!“
Mitris Decke rutscht herunter. „Natürlich.“
Simon tritt zurück und kratzt sich am Kopf. „Also?“
„Du bist wie ich.“ Mitri öffnet die Augen. „Darunter.“
„Du bist verrückt!“
„Und du?“
„Ich?“

Mitri legt sich hin und atmet aus.
„Du bist verloren, ich bin verloren.“
Simon steht und schweigt.
„Mach das Licht aus und leg dich zu mir.“
Es donnert in der Ferne.
„Muss ja nicht für immer sein.“

Der Altersscheue

Der Altersscheue fürchtet nichts so sehr wie seinen Geburtstag. Spricht einer seiner stets gutaussehenden Gesprächspartner unbedacht ein Wort aus, das mit Alterung in Verbindung steht oder auch nur gebracht werden könnte, hält der Altersscheue schreckhaft die Hand vor das Gesicht, tupft die vielen, dicken Schweißperlen von der gecremten und geschminkten Stirn oder steckt die lackierten Nägel seiner Zeigefinger tief in die Ohren. Wird in solch einem Gespräch zufällig sein tatsächliches Alter erkannt und trägt es der Entdecker nichtsahnend in die Welt, zittert der Altersscheue vor Wut. Er stößt mit den Füßen heftig gegen Betten oder tritt wahllos Wäschekisten ein, die in den Stationsfluren abgestellt sind. Noch vor Ort erklärt er lauthals den geschwätzigen Entdecker zu seinem Todfeind. Denn nichts verletzt ihn mehr, als der Verrat seines wirklichen Alters.

Der Altersscheue zieht jeden Morgen die dicke handgefertigte Silikonmaske, die er zur Straffung seiner Haut über Nacht trägt, vom Gesicht. Danach massiert er nach einer von ihm entwickelten Dehnübung die Haut bis er das Gesicht wieder bewegen kann. Ist er damit fertig, läuft er ins Bad, stellt sich auf die große Glaswaage, pustet mit aller Kraft die Luft aus seinen Lungenflügeln und zieht den Bauch ein. Dabei kneift er die Augen fest zusammen und streckt die Hände zur Baddecke. In Zeitlupe senkt er den Kopf und blinzelt auf die elektronische Anzeige. Ist er mit der Zahlenfolge auch hinter dem Komma zufrieden, atmet er hörbar Luft ein. Mit weit ausgebreiteten Armen hüpft er lächelnd von der chromgefassten Waage, klopft sich anerkennend auf die linke und rechte Schulter und tanzt ausgelassen durch die drei Zimmer seiner nach den neuesten Wohntrends eingerichteten Wohnung. Wieder im Bad angekommen, dreht er eine Pirouette und verbeugt sich gönnerhaft vor dem Spiegel wie vor jubelnden Publikum.

Um seinen Körper nach etwaigen Alterserscheinungen gründlich abzusuchen, knipst er den eigens installierten Halogen-Flutstrahler an und stellt sich in dessen breiten Lichtkegel. Er umgreift die große Standlupe und setzt zur besseren Kontrolle eine Juweliersbrille auf. Akribisch beginnt er Millimeter für Millimeter sein kosmetisch bearbeitetes Gesicht zu prüfen. Er schielt zwischen die gebleichten und reparierten Zähne und streckt die Zunge mit einem lauten „Bääh“ heraus. Mehrfach umrundet er dabei die obere und untere Zahnreihe, bis ihm die Zunge lahmt. Mit einem kräftigen Biss prüft er die korrigierten Lippen, ob sie noch prall genug für bevorstehende Abenteuer sind. Er nimmt die ägyptische Liebescreme, die er hinter dem Schrank in einem speziell eingebauten Versteck hält und die er stets nach einer streng geheimen Rezeptur nach Anweisung seiner Modezeitung fertigt. Hat er die Lippen gründlich eingecremt, beginnt er widerwillig die Fältchen auf der Stirn zu zählen. Verzählt er sich, was in neuester Zeit sehr häufig vorkommt, wiederholt er das Abzählen, dieses Mal mit halb geschlossenen Augen, bis er jedes Fältchen erfasst hat. Und nicht selten bricht er tränenüberströmt zusammen oder fällt beim Addieren der vielen Fältchen kurz in Ohnmacht und verletzt sich an der Badheizung oder seiner Lichtanlage. An solchen Tagen ist er krankgemeldet und schluckt massenhaft Vitamine und Aufbaupräparate.

Ist er endlich mit dem Fältchenzählen fertig, streckt er den Hals schwanenhaft nach oben und misst mit einem Präzisionszirkel das Doppelkinn ab und notiert die Zahl in einer Tabelle. Anschließend schneidet er schimpfend die kleinen Härchen aus Ohren und Nase. Danach schaut er verächtlich über und unter die Augen und schminkt alle Ränder kunstvoll zu. Ist er mit dem Zustand seines Gesichtes halbwegs zufrieden, greift er das Maßband und prüft den Bizeps und den Brustumfang. Um erneuten Entzündungen der vielen Einstichpunkte seines abgesaugten Bauchfettes zu vermeiden, schmiert er mit beiden Händen dicke Schichten Kamille-Gel auf die schmerzenden Stellen. Sind alle Körperpartien kontrolliert und sorgfältig eingecremt, sucht er zum Schluss auch im Genitalbereich nach Spuren seines Alters. Findet er graue Härchen, schreit er laut auf und reißt sie unverzüglich und ohne auf etwaige Schmerzen zu achten mit einer bereit liegenden Briefmarkenpinzette heraus. Hat er endlich alle Normalitäten seines tatsächlichen Alters entfernt, fotografiert er mit dem neusten Smartphone mehrfach alle Partien seines polierten und entgrauten Körpers. Mit einem zufriedenen Lächeln betrachtet er die einzelnen Bilder in der Fotogalerie seines großen Displays. Gern schnalzt und zwinkert er in die bespiegelte Glasfläche, wie er es früher oft bei den Groupies aus seiner Schülerband gemacht hatte. Damit ihm kein einziges Bild verlorengeht, rennt er ins Wohnzimmer und speichert sofort alle Bilder in einem extra dafür angelegten Ordner im Rechner, damit er sie am Ende des Jahres zu einer Videoanimation zusammenschneiden und ins Internet stellen kann. In den letzten Jahren, hatte er dafür viel Zuspruch erhalten. Ist er mit der umfangreichen Speicherung fertig, wackelt der Altersscheue zufrieden mit beiden Pobacken, ruft laszive Sprüche in den Flur und reibt sein Hinterteil kreisend an den gefliesten Badwänden. Mit einen kräftigen Trommelwirbel auf seinen Hintern beendet er die ausgiebige Morgenbetrachtung.

Fühlt sich der Altersscheue um mindestens fünfzehn Jahre verjüngt, schlendert er ins große Ankleidezimmer. Er öffnet den beleuchteten Wandschrank und sucht in den nach unzähligen Farben und Schnitten unterteilten Fächern und Schüben nach der passenden Tageskleidung. Mit einem anerkennenden Blick greift er nach der in Frankreich abonnierten aktuellen Modezeitschrift, die er in der zurück liegenden Nacht bis zur Erschöpfung immer und immer wieder durchgeblättert hat. Hat er die abgebildeten Kleidungsstücke gefunden, zieht er sie in Zeitlupe an und malt sich lebhaft Chancen aus, die ihm in dieser Kleidung zuteilwerden. Ist er angezogen, zieht er sich wieder in Zeitlupe aus, um sich danach erneut anziehen zu können. Besonders gelungene Outfits fotografiert er mit dem Smartphone und klebt sie an die Zimmerwände oder sammelt sie für sein jährliches Fotoalbum. Allzu oft vergisst er bei diesem ausgiebigen Ritual die Uhrzeit und muss mit seinem verrosteten Opel Calibra mit überhöhter Geschwindigkeit auf Arbeit fahren.

Kommt der Altersscheue am Morgen ins Krankenhaus, beobachtet er die Gestik und Mimik der Mitarbeiter die ihm zufällig in den Fluren begegnen. Verspricht ihm eine Körperbewegung oder ein Gesichtsausdruck oder Tick eine Verjüngung, macht er diese umgehend im nächsten Flur nach. Aber am liebsten schleicht er noch vor Beginn des Dienstes zum kleinen Raucherbereich der Krankenpflegeschule. Er schraubt die Deckenlampe heraus und stellt sich in die unbeleuchtete Ecke. Mit großen Augen betrachtet er die neuesten Accessoires an Nase, Ohren, Händen und Füßen der verschlafenen Schülerschaft. Bewundernd lauscht er jeden coolen Spruch, jede Bemerkung und jeden noch so fragwürdigen Sprachtrend der Rauchenden ab. Hat er genug Leichtigkeit und Zukunftsglauben eingesaugt, rennt er auf die Toilette und kneift sich in die verschwitzte Nase, damit er nicht wahnsinnig zusammenbricht. Ungeduldig notiert er alle Worte in sein dickes, ausgefranstes Hosenheft. Anschließend dreht er das Heft auf die Rückseite und beginnt alle Accessoires sorgfältig und detailliert mit Malstiften einzuzeichnen. Hat er alles notiert und skizziert, drückt er zur Erleichterung die Toilettenspülung und taumelt völlig erschöpft aber zufrieden auf Station.

Der Altersscheue arbeitet ungern mit Mitarbeitern zusammen, die älter sind. Soweit es möglich ist, läuft er ihnen mit schnellen Schritten davon, lässt ihnen gekonnt den leeren Fahrstuhl oder schnürt so lange an seinen Schuhen, bis die Mitarbeiter aus seinem Blickfeld verschwunden sind. Er ist sich sicher, dass jeder von ihnen viele verpasste Chancen, die er bedauert und unter denen er leidet, mit sich herumträgt. Ältere Patienten fertigt er zur Visite in sekundendschnelle und mit einem Dauermonolog im gereizten Tonfall ab, damit sie ihn in keinem Fall in Gespräche über Leiden, Alter oder unerfüllte Wünsche verwickeln können. Denn ihren sehnsüchtigen Blick, mit dem sie von ihren verlorenen Möglichkeiten berichten, kann er nicht ertragen. Nur wegen dieser Patienten lässt er sich krankschreiben und ruft täglich auf Station an, und kommt erst nach deren sicherer Entlassung wieder auf Arbeit zurück.

Kommt der Altersscheue nach dem Dienst nach Hause und hat er eine Andeutung über eine Verabredungen bekommen, rennt er sogleich zum Friseur und lässt sich die angesagteste Frisur schneiden und färben. Danach eilt er zur Kosmetik und erstreitet sich einen Termin außer der Reihe. Zum Schluss geht er zur Pediküre. Zuhause angekommen, verstreut er wahllos Kleidungsstücke von vorrangegangen Liebschaften in der gesamten Wohnung. Ab und zu legt er selbst verfasste Dankesbriefe auf den Nachttisch, klebt Küsschenzettel an den Badspiegel oder schreibt Anerkennungssprüche auf benutzte Höschen oder Bettlaken. Er dreht die Musikanlage auf und spielt CDs oder Videos von Musikgruppen, deren Namen er überhaupt nicht kennt, von denen er aber weiß, dass sie derzeit gehört werden. Wie zu Teeniezeiten strippt er ausgelassen vor dem Spiegel seiner Anbauwand. Er spreizt die Arme und spielt nackt aktuelle Stars aus Film und Fernsehen nach. In diesen Momenten schließt er die Augen und fühlt sich jung und in vergangene Zeiten versetzt. Erinnert er sich aber plötzlich an das faltige Gesicht seines hilflosen Großvaters, versteckt er sich unter dem Tisch und wartet bis die Erinnerung wieder verschwunden ist. Danach krabbelt er unter dem Tisch hervor, legt eine der unbekannten CDs in die Musikanlage und dreht den Regler bis zum Anschlag auf. Seine Lieblings-CDs hat der Altersscheue schon vor Jahren vorsorglich im Keller versteckt oder über Nacht heimlich in die Mülltonne geworfen damit sie auf keinen Fall sein wirkliches Alter verraten können.

Manni + Horst

Es ist 3:50 Uhr. Ein Montagmorgen im März. Aber es könnte auch ein Dienstag-, ebenso ein Donnerstagmorgen sein. Ihm war jeder Tag gleich.
Das Radio hatte eine Weckfunktion und 3:50 Uhr startete er mit der Sendung durch die Nacht in den Tag. Die Zigaretten der Vortage füllten den Aschenbecher bis an den Rand. Sie hinterließen eine Schwade kalten Rauches, die er genüsslich in sich aufnahm. Wenige Minuten später lag Mentolgeruch der Zahnpasta und Kaffeeduft in der Luft − oder besser gesagt in der Kabine.
Es war nicht sein eigener Truck. Seine Gedanken drehten sich ständig darum, wie lange der Sprit noch reichen würde, wann in die Waschanlage zu fahren sei, der nächste Ölwechsel nötig wäre und eine neue gelbe Plane beschafft werden müsste. Aber es war nicht sein Eigener, so sehr er es sich auch wünschte. Vielleicht war das so wie mit seinem Ziehvater. „So sehr ich es mir auch wünsche, du bist nicht mein Eigener!“, hatte der immer zu ihm gesagt, wenn er etwas angestellt hatte, er unglücklich gestürzt war und ein Loch in der Hose gehabt hatte oder er in Ohnmacht gefallen war, wenn zu viele Menschen an ihm zogen oder der Wind ungünstig stand.
Aber auch, wenn der Truck nicht ihm, sondern Herrn Horst gehört, so liebt er ihn trotzdem. Denn er war der Auffassung, das könne man – jemanden lieben, ohne ihn besitzen zu wollen. Seine Freundin − die Gabi − die liebt er. Aber gehören tut sie jemand anderem – nämlich Herrn Horst. Der kümmert sich auch immer darum, dass sie schick aussieht, zieht ihr Röcke an und aus und legt ihr an besonderen Tagen die Perlenkette um. Dann ist er eifersüchtig, aber ändern kann er es nicht. Er liebt sie eben.
Die Tür ging auf. „Guten Morgen Manni. Heute fahren wir die Gabi besuchen. Und ihr zwei Hübschen dürft dann die ganze Woche gemeinsam auf der Logistikmesse bleiben.“, sagte Horst und schwang sich auf seinen Sitz. Der Truck fuhr los. Horst pfiff ein Liedchen zur Radiomusik. Manni schwieg. „Na Manni, da hat´s dir wohl die Sprache verschlagen, was?“, grölte Horst und klopfte Manni freundschaftlich auf die Schulter aus Papier.

statt Glückwünschen

Statt Glückwünschen sage ich euch heute, sage ich jedem Einzelnen von euch, sage ich Dir:

Du wirst scheitern.

Es wird Dir nicht gelingen, Deine in jahrelanger Lehre erworbenen Fertigkeiten zum Erhalt und zur Entfaltung unserer Freiheit einzusetzen, denn dieser Einsatz ist kräftezehrend und frustrierend. Stattdessen wirst Du Deinen Scharfsinn, Deine Gewandtheit, Deinen Eifer bereitwillig eintauschen gegen Augenmasken und Ohrenstöpsel, um in den leidenschaftslosen Halbschlaf des Unterhaltenwerdens und Beschäftigtseins herabzusinken, in dem sich Dein Umfeld außerhalb dieser Institution längst befindet.

Das ist nicht meine Schuld, wahrlich: Ich versuchte, was in meiner Macht stand, Dich zu einem wachen, mündigen, mutigen Menschen zu bilden – und ich vermeide an dieser Stelle ganz bewusst das Wort Bürger, weil das Wort Bürger unwillkürlich einen Bezug zum Staate herstellt, der unser Staat sein will, der bei Lichte betrachtet aber Teil, wenn nicht gar Urheber der Ideologie des selbstbezogenen Wohlfühlens ist, welcher auch Du erliegen wirst. Nein, ich knüppelte Dich nicht ins Normalmaß hinein.

Aber Du wirst das tun. Allmählich, schulterzuckend, ohne Not. Du wirst kein Wort darüber verlieren, zumal es dankbare Alternativthemen gibt: eine Regierung von Konzernmarionetten, eine Hochkultur auf Rummelplatzniveau und das Wetter, dass in diesem Jahr die tollsten Kapriolen schlägt.

Aber falls Du darüber reden musst, gut vorbereitet und hübsch zurecht gemacht auf einem Klassentreffen; aus heiterem Himmel am Frühstückstisch, dereinst mit Deinen pubertierenden Nachkommen; oder weil Du mir nichtsahnend auf der Straße begegnest, als klapprige Greisin, weil ich Dir aufgelauert habe, weil ich Dich geradezu gestellt habe, so dass Du mir erschrocken und mit roten Wangen gegenüberstehst und um Atem ringst, und mehr noch um Worte, während Du beim einleitenden Geschwätz, das ich Dir der Überraschung halber gewähren werde, verzweifelt nach einer Ausrede suchen wirst, die die lackbeschichtete Einkaufstasche in Deiner Rechten rechtfertigt und die Fernbedienung für die Zentralverriegelung Deines allradbetriebenen Straßenkreuzers in der Linken; wann immer Du also in die Verlegenheit kommen wirst, darüber sprechen zu müssen, wirst Du es schamlos herunterspielen, und wann immer Du gezwungen sein wirst, Dich zu erklären, weil da eine ist, die fragt und nicht locker lässt, wirst Du versuchen, Dich rauszureden.

Von der Nachfrage am Arbeitsmarkt wirst du sprechen, die jedem Kompromisse abverlangt, der erfolgreich sein will, obwohl Erfolg viel mehr bedeutet, als ein üppiges Salär, weil Erfolg in Zahlen oder Hierarchie-Ebenen nicht gemessen werden sollte, und wahrer Erfolg nur in der nachhaltigen Veränderung gesellschaftlicher Strukturen bestehen kann, wie Du betonen wirst, da Dir diese Parole aus Studientagen einfallen wird, während Du Dich freisprichst, und Dir auch einfallen wird, dass Du diese Parole einmal wie Deinen Namen im Munde geführt hast. Von den vielen Rechnungen, wirst Du sprechen, die schließlich bezahlt werden müssen, und für die Deine Eltern immer weniger bereitwillig das Portmonee geöffnet haben, je älter Du wurdest, was ihnen ja niemand verdenken kann, da es ihren ohnehin mickrigen Wohlstand zusätzlich schmälerte und ihr kleiner Wohlstand doch aber alles war, was sie hatten. Und auch von den bescheidenen und später dann weniger bescheidenen Wünschen wirst Du berichten, die ja ganz normal seien. Und obwohl Du Dir das heute nicht vorstellen kannst, wirst Du das Wort „normal“ ohne jegliches Problembewusstsein verwenden. Auch Du wolltest New York sehen und Südafrika. Auch Du wolltest ein Eigenheim und – Warum denn nicht? – einen Pool. Deine Wünsche waren nicht besonders; besonders war, dass Du in der glücklichen Lage warst, sie Dir erfüllen zu können. Teils als Belohnung für das Geleistete – ohne dabei zu spezifizieren, was das denn sein könnte – teils aber auch als Trostpflaster, mit Hilfe dessen Du Dich über die Unbarmherzigkeiten des Alltags hinwegzutrösten versuchtest: Überstunden, Steuererklärungen, die Alterung Deiner Haut.

Und hinter Deinem freundlichen Lächeln, das Du schauspielern wirst, und dessen einziger Zweck es sein wird, mich für Dich zu vereinnahmen, damit ich Dich nicht auf Deinen dicken Bauch anspreche oder auf den Kaschmir-Mantel mit dem Du ihn verhüllst, hinter diesem falschen Lächeln weggesperrt also, wird unter Asche ein schlechtes Gewissen flackern und ramponierte Traurigkeit.

Und beides wird sich aus Deiner Erinnerung speisen, aus Deiner Erinnerung an diesen augenblicklich verstreichenden Moment, der seiner Natur nach ein feierlicher sein sollte, und von dem Du erwartet hattest, dass ich ihn dafür nutzen würde, Dich zu den erzielten Leistungen zu beglückwünschen, Dir Mut zu machen, für das, was vor Dir liegt oder um Dich als neue Elite dieses Landes zu preisen.

Du wirst diesen Moment als einen Ankerpunkt in Deiner Biographie erinnern, an dem Du trotzig beschlossen hast, Du selbst zu bleiben, ausgefüllt von dem naiven aber liebenswerten Glauben, einerseits zu wissen, wer Du bist und andererseits überhaupt jemand zu sein, dessen Kern unveränderlich, klar umrissen und beschreibbar sei, und eben gerade nicht zu werden, wie die Anderen – wohlgemerkt, ohne Dir auch hier die Mühe zu machen, zu definieren, wer diese Anderen denn seien, und worin ihre unverzeihlichen Verfehlungen bestünden – sondern immerfort Deinen Idealen treu zu bleiben, also Deinem Versprechen, diese Welt zu einem besseren Ort zu machen, einem Versprechen, dessen Blauäugigkeit und Albernheit sich Dir heute noch nicht erschließt, und sich Dir, so hoffe ich, viele Jahre lang noch nicht erschließen wird. Denn wenn es Dir nicht gelingt, Dich dauerhaft am Tropf der alltäglichen Zerstreuungen zu narkotisieren, wird Dich die Erkenntnis dieser Albernheit eines Tages treffen wie ein Schlag, dessen Härte und Schwung geeignet ist, was Du Dir aufbautest, einzureißen und Dich wach aber nackt auf ein neues, leeres Feld zu schleudern, so wie es mir selbst und anderen meines Kalibers geschehen ist.
Wenn mein Plan aufgeht, wirst Du diesen eben verstreichenden Moment, in dem Dich nur Deine Höflichkeit und die Konvention des Protokolls auf Deinem Stuhle hält, als einen Moment der Wut verinnerlichen, in dem Dir eine unsympathische, nicht nur desillusionierte, sondern in ihrer Arroganz regelrecht altersboshaft gewordene Lehrerin jegliche Standhaftigkeit abspricht und jeden Charakter; in dem sie Dir persönlich nicht nur die Fähigkeit, sondern gar den bloßen Willen zu Veränderung oder wenigstens zum Widerstand gegen das Bestehende abspenstig macht, in dem sie Deine ganze Generation zu einer Generation der gut ausgebildeten aber zu früh zu bequem gewordenen Mitläufer degradiert, die es sich gemütlich machen wird, im ererbten Wohlstand, und die diesen Wohlstand für nichts anderes verwenden wird, als sich abzuschotten, sich vollzustopfen, sich zu amüsieren und an die sich in einhundert Jahren niemand erinnern wird, weil diese Generation nichts vollbringen wird, das es wert sein wird, erinnert zu werden. Nichts, als sich verführen zu lassen, von den Versprechen der Technologie und des Besitzes, die unhaltbar sind und deren Preis zu hoch ist. Du bezahlst Technologie und Vernetzung mit der Fähigkeit zu präzisem Fragen und konzentriertem Denken. Du bezahlst Besitz mit der Fähigkeit, kompromisslos zu antworten und in der Konsequenz zu handeln. Du bezahlst Sicherheit mit Freiheit.

Ich hoffe inständig, dass diese Erinnerung wie ein Dorn in Deinem Fleisch sitzen wird, dessen Spitze trotzig schmerzt, wenn Du stehenbleibst und quälend sticht, wenn Du Dich setzt, damit Du fortkommst und wach bleibst und weitergehst, auf dass ich hernach aus Zeitungen, Ausstellungskatalogen, Theaterkalendern oder Wahlprogrammen erfahre, dass doch etwas aus Dir geworden ist, weil Dich der Trotz stur gemacht hat, weil Du vom Spott zäh geworden bist und weil Du ums Verrecken nicht werden wolltest, wie ich.

Dann werde ich mich rückhaltlos meiner Schmach hingeben, das verspreche ich. Denn dies ist die glücklichste Zukunft, die ich denken kann: Ich hätte doch viel erreicht.

Ich könnte heute in Ruhe und Dankbarkeit abtreten.

Die Lebensrechnerin

Die Lebensrechnerin zählt aufmerksam die Jahre und es entgeht ihr kein einziger Tag dabei. Unermüdlich berechnet sie im Archiv des Krankenhauses das Leben der Nachbarn, der Kollegen und der Patienten und trägt jede noch so kleine Information in ihre persönliche Sterbeliste ein. Selbst Daten, die sie über deren Angehörige im Vorbeigehen aufschnappt, verarbeitet sie am Abend begierig.

Liest sie in der Zeitung vom Ableben eines geschätzten Mitarbeiters oder hört sie in den Krankenhausfluren vom plötzlichen Tod eines Patienten, zuckt sie erschrocken zusammen und irrt durch die neonbeleuchteten Gänge, bis sie glaubt, endlich einen Informanten gefunden zu haben. Sofort beginnt sie, ihn in ein Gespräch zu verwickeln. Dabei vermeidet sie es stets tagespolitische oder gar soziale Ereignisse zu kommentieren. Auch hütet sie sich, mit Mitarbeitern des Personalrates zu sprechen, um nicht in interne Arbeitsrechtsstreitereien oder eine mögliche Kandidatur gebracht zu werden. Stellt sich der Informant ihrer Meinung nach stur, verstrickt sie ihn in konstruierte Fallbesprechungen, neue Therapieverfahren oder unklare Krankheitsbilder. Und nur wenn er nach diesen Versuchen immer noch keine Information hervorbringt, fragt sie nach der Uhrzeit und läuft entsetzt mit wehendem Kittel davon.

Hat sie endlich einen Informanten gefunden, der ihr Details über den Tod des Kollegen oder Patienten geben kann, hört sie ihm mit zusammengekniffenen Augen zu, presst beide Hände an ihre Schläfen, und versucht sich das Portrait des Verstorbenen vorzustellen. Krampfhaft überlegt sie, ob er beim letzten Zusammentreffen bereits an einer Erkrankung litt oder sonstige Anzeichen eines frühen Todes mit sich trug. Ist sie mit den Überlegungen zur Ursache fertig, atmet sie erleichtert aus und öffnet wieder die Augen. Oft fragt sie mit leiser Stimme den Informanten, ob die Todesart häufig vorkomme und was der Verstorbene zur Verhinderung hätte tun können. Beschwichtigt der Informant, dass die Erkrankung selten sei, atmet sie für alle gut hörbar aus und schlendert hüftschwingend, die dicken Krankenakten auf den Kopf tragend durch die Flure. Und es bereitet ihr eine große Freude schon auf dem Stationsgang gedanklich die Anzeige akkurat an der schwarzen Umrandung herauszuschneiden. Nicht selten ertappt sie sich wie ihre Hand die Schneidbewegungen langsam imitiert. Und oft wird sie deswegen von ihren Informanten argwöhnisch beäugt oder daraufhin angesprochen. Gibt hingegen der Informant zu verstehen, dass die Krankheit häufig vorkäme, oder das sie so gut wie nie behandlungsfähig sei, sucht sie fluchtartig die nächste Toilette auf und lässt minutenlang kaltes Wasser über ihre Haare und ihr blasses Gesicht laufen. Und nicht selten passiert es, dass sie von ungläubigen Herren beim Händewaschen angesehen wird oder dass sie ihre Krankenakten auf der Fensterbank zurücklässt.

Kommt die Lebensrechnerin nach einer solchen Nachricht nach Hause, schafft sie es kaum ihre Schuhe auszuziehen. Sie erstellt ohne etwas gegessen oder den Hut abgenommen zu haben in ihrer Straßenkleidung eine ausführliche Kartei mit den Lebensdaten des Verstorbenen. Sie sucht die jeweiligen Tabellen hervor und trägt alle Informationen mit verschiedenen Farben sorgfältig ein. In Fachbüchern vergleicht sie die Diagnose, Therapien und Lebenszahlen, addiert sie mit zitternder Hand und dividiert sie durch die Anzahl der einzelnen Lebenserwartungen. Den Gesamtwert trägt sie hastig und bis auf die zehnte Zahl hinter dem Komma in die Tabelle ein. Häufig wird ihr dabei schwindlig, dass sie erschöpft zu Boden sinkt. Und nur, wenn es ihr gelingt, ihre Lebenserwartung höher als die des Verstorbenen hervorzurechnen, kann sie auf den sonst üblichen Telefonruf des Notarztes verzichten.

Die Lebensrechnerin mag weder Haustiere noch Grünpflanzen. Sie wohnt in einer Wohnung mit stets polierten Parkett und geputzten Fliesen. Freunde empfängt sie selten, da ihr die aufwendige Reinigung nach jedem Besuch zu beschwerlich erscheint. Die Lebensrechnerin isst am liebsten Essen aus der Assiette oder aus dem Einweckglas und verbringt die meiste Zeit mit dem Studium von medizinischer Fachliteratur. In ihren freien Tagen absolviert sie ihre unzähligen Arzttermine. Und Urlaubsorte, die außerhalb Deutschlands liegen, kommen für sie überhaupt nicht infrage. Selbst Feierlichkeiten, zu denen sie manchmal eingeladen wird, verlässt sie prinzipiell noch vor dem Festessen mit der immer gleichen Bemerkung, es gehe ihr heute gar nicht gut.

Bevor die Lebensrechnerin am Abend ins Bett geht, durchdenkt sie nochmals ihre vielen Tabellen. Dabei geht sie gründlich vor, denn sie weiß, all zu oft ist sie wegen einer fehlenden Berechnung in der darauf folgenden Nacht erwacht, hat ihren verschwitzten Körper unruhig auf der klimatisierten Matratze hin und her gewälzt und ist, wenn nötig, aus dem Bett gesprungen und hat hastig die verschobene Berechnung nachgeholt. Und nicht selten ist sie bei dem Zusammentragen der fehlenden Lebenszahlen am Schreibtisch eingeschlafen und am anderen Morgen viel zu spät auf Arbeit erschienen.

Die Lebensrechnerin kennt keine Tagträume. Nachts träumt sie schlecht. In den vielen Albtraumphasen, die sie durchlebt, schreit sie lauthals die Namen aller Krankenschwestern, die dringend eine Kinderfrau für ihre unbeaufsichtigten Sprösslinge suchen, in die Dunkelheit. Selbst bei geschlossenen Fenster sind die langen Namensreihen, die sie bei ihren Stationsbesuchen von den Dienstplänen heimlich fotografiert, noch im benachbarten Viertel zu hören. Und es kommt vor, dass besorgte Bewohner bei ihr klingeln oder die Feuerwehr rufen.

Die Lebensrechnerin geht gern in ihren freien Tagen auf Friedhöfe. Oft nimmt sie die Kinder der Krankenschwestern mit um ihnen die Vergänglichkeit ihres jungen Lebens vor Augen zu führen. Sie spaziert mit ihnen zwischen den Grabreihen hin und her und fordert sie auf, je nach Größe oder Farbe des Steines, die entsprechenden Lebensdaten zu notieren. Anschließend addieren oder dividieren sie die Ergebnisse in ihren Schulheften. Fragen die Kinder, woran die Menschen unter den dunklen Steinen verstorben sind, entsinnt sich die Lebensrechnerin ihrer erfolgreichen Aufführungen im Schultheater und spielt den Kindern ausführlich das Ableben der Verstorbenen vor. Dabei röchelt und jammert sie so laut, dass auch sie selbst in Todesangst gerät. Manchmal beschweren sich vorbeigehende Besucher empört bei ihr oder dem ungläubigen Friedhofspersonal. Und oft wird von den Eltern der Kinder nach solchen langen Spaziergängen erzählt, dass ihre quirligen Sprösslinge in den darauf folgenden Tagen besonders schweigsam gewesen wären.

Die Lebensrechnerin hat viele Fehltage. Oft meldet sie sich früh, kurz vor Dienstbeginn, krank. Auch beklagen sich Ärzte und Verwaltungsmitarbeiter immer wieder, dass einzelne Krankenblätter oder gar ganze Akten für Tage, manchmal sogar Wochen unauffindbar seien.

Herr Bär und die Wespe

„Wir sollten es bei einer Verwarnung belassen, Herr Bär.“
Er hat die Lippen schon geschürzt, als er stockt.
„Finden Sie nicht?“
Sein Glas hat vibriert. In der Sekunde, in der er es ansetzen wollte, hat es vibriert. Er verharrt.
„Aber wieso?“
„Frau Brunner arbeitet seit 34 Jahren für uns. Acht davon für Sie, Herr Bär. Sie waren immer zufrieden.“
Langsam senkt er das Glas und stellt es vor sich auf den Tisch. Er beugt sich darüber und starrt hinein, wie in ein Mikroskop. Auf dem Spiegel seiner Apfelsaftschorle kämpft ein Insekt gegen das Ertrinken.
„Nein!“ Er schlägt eine Hand vor den Mund.
Sie blättert durch Ihre Unterlagen.
„Aus den jährlichen Leistungsbewertungen, die Sie geschrieben haben, geht aber hervor, dass Sie sogar sehr zufrieden mit ihr waren.“
Mit großen Augen sieht er auf. „Völlig unerheblich, jetzt.“

Hecktisch dreht er den Kopf hin und her. Er klopft die Taschen seines Jacketts ab, dann die seines Hemdes, dann die seiner Bundfaltenhose.
„Frau Brunner hat sich eine Verfehlung geleistet, Herr Bär.“
Er kippt das Glas an und stiert hinein. Das Insekt paddelt um sein Leben.
„Aber ihre Anstellung bei uns ist von außerordentlicher Wichtigkeit für sie.“
Er stellt das Glas ab. Mit beiden Händen fährt er sich durchs Haar. „Ihr Strohhalm.“
Erschrocken legt sie die Hand auf das silberne Kreuz in ihrem Dekolletee.
„Die Anstellung? Ihr Strohhalm?“ Sie nickt langsam. „Gewissermaßen.“
„Geben Sie ihn mir.“
„Was?“
„Ihren Strohhalm. Sie können Ihren Tomatensaft ohne trinken.“
„Warum sollte ich?“
„Schnell!“
Er streckt den Arm über den Tisch und schnappt sich den Strohhalm. Er zieht ihn durch die Lippen, um ihn vom Tomatensaft zu reinigen. Er achtet sorgfältig darauf, nicht seine Krawatte zu bekleckern.
Sie nimmt ihre eckige Brille von der Nase und lacht. „Herr Bär! Was wird das?“
Er schmatzt. „Ein Exempel, Frau Lugner!“

Vorsichtig fährt er mit dem Strohhalm in das Glas und legt ihn an die Seite des Insekts.
Mit offenem Mund starrt sie ihn an. „Sie retten eine Wespe?“
„Biene.“
„Sie retten eine Biene?“
„Einer Wespe würde ich genüsslich beim Ertrinken zusehen.“ Er grinst.
Die Biene angelt nach dem Strohhalm. Sie findet keinen Halt. Er schiebt sie an den Rand des Glases. Immer wieder landet das Insekt in der Schorle. „Mist!“

„Frau Brunner wird sich in der Sitzung nachher vor dem versammelten Vorstand für ihr Verhalten entschuldigen, Herr Bär. Wir sollten ihre Entschuldigung annehmen. Finde ich.“
Er greift nach dem Glas und legt es so schräg wie möglich, ohne dabei Schorle zu verschütten. Die Biene treibt ganz nach hinten zum Boden des Glases. „War ja klar!“
„Sie tut mir einfach leid, Herr Bär.“
„Mir auch. Es ist alles meine Schuld. Man darf süße Getränke nicht offen stehen lassen in einer solchen Umgebung.“
„Ich meine Frau Brunnner, nicht die Biene!“
„Sie ahnen ja nicht, wie wichtig Bienen für die Landwirtschaft sind!“
„Ihre Sekretärin ist mir augenblicklich wichtiger. “

Unermüdlich stochert er mit dem Strohhalm nach der Biene. Die Kunststoffoberfläche ist zu glatt. Die Biene hat keine Chance. Frau Lugner lehnt sich zurück und seufzt. „Die ist hin, Herr Bär.“
„Das sehe ich auch so.“ Er zieht die Schultern an. „Wir haben sensible Daten zu verarbeiten. Ich kann Frau Brunner nicht mehr Vertrauen. Frau Brunner hat mich hintergangen.“ Er lässt wieder locker.
Ihr Blick schweift über den Platz. „Indem sie eine Frikadelle gegessen hat?“ Sie schließt die Augen und badet ihr Gesicht in der Sommersonne.

Frustriert stellt er das Glas vor sich ab. Darin tobt eine Springflut. Die Biene hält sich wacker. Mit dem kleinen Finger angelt er nach ihr. „Es geht nicht um die Frikadelle.“ Der Finger ist zu kurz, die Hand zu dick, der Pegel zu niedrig. „Verdammter Mist!“
„Worum dann? Ums Brötchen?“ Sie legt ihre Brille auf den Tisch. Er studiert den ungewohnten Anblick ihres brillenlosen Gesichtes. „Es kommt auch nicht auf den Wert des Brötchens an, sondern einzig und allein auf das Vertrauen.“
Frau Lugner öffnet einen Knopf ihrer Bluse um noch mehr Sonnenstrahlen zu erhaschen. „Und ihr Vertrauen ist nachhaltig erschüttert, weil sich Frau Brunner ein Frikadellenbrötchen gemacht hat?“
Er hält die Luft an. Blitzschnell beugt er sich über den Tisch und greift sich das Glas Tomatensaft. Frau Lugner wirft die flachen Hände in die Luft. „Was ist nur los mit Ihnen?“

Er nimmt sein Glas und legt es schräg. Aus dem Glas in der anderen Hand lässt er langsam den Tomatensaft in die Schorle fließen. Schnell bilden die beiden Flüssigkeiten eine trübe dunkelorange Einheit. Auf deren Spiegel strampelt eine hilflose Biene.
„Der Knackpunkt ist, dass sie sich seit Jahren schon vor den Sitzungen des Sachverständigenrats am Buffet bedient hat.“ Er knallt das leere Glas auf den Tisch. „Hinter meinem Rücken.“
„Wie sind sie ihr auf die Schliche gekommen?“
„Sie hat es zugegeben.“
„Aber wie haben Sie es bemerkt?“

Ruhig richtet er das Schorleglas auf. Mit dem Zeigefinger der freigewordenen Hand bildet er einen Haken, den er neben der Biene in die Flüssigkeit taucht.
„Es gab einen Verdacht. Wir haben dann bei der letzten Sitzung des Sachverständigenrats nachgezählt.“
Langsam fährt er mit dem Haken unter die Biene. Vorsichtig hebt er ihn an. Mit den Hinterbeinen zuerst krabbelt die Biene auf seinen Finger.
„Und siehe da.“ Er strahlt.
„Es fehlte eine Frikadelle?“
Er wird ernst. „Eine Frikadelle und zwei halbe Brötchen.“

Er hebt die Biene aus der Flüssigkeit, die unerwartet sämig von seinem Finger tropft. Die Biene wagt ihre ersten benommenen Schritte.
„Sie wird sie stechen!“
„Die Hand, die sie rettet?“ Lächelnd runzelt er die Stirn.
Sie hebt ihre Unterlagen wie einen Schutzschild. „Der Stich einer Biene kann gefährlich werden!“
„Wespenstiche sind deutlich gefährlicher.“ Er führt den Finger dicht vor seine Nasenspitze.

Das Insekt beginnt sich zu putzen. Zuerst reinigt sich die Biene mit dem vordersten Beinpaar die Fühler. Ein bisschen sieht das aus, als würde sie sich frisieren. Er beobachtet den Vorgang mit kindlicher Freude. Frau Lugner beobachtet ihn, verliert aber nach einigen Sekunden das Interesse.
„Wir könnten Frau Brunner versetzten, Herr Bär. Wir könnten ihr die Chance geben, sich das Vertrauen an anderer Stelle wieder zu erarbeiten.“
„Am Gefährlichsten sind übrigens diejenigen Wespen, die für Bienen gehalten werden.“
Die Biene reibt sich ihre Vorderbeine abwechselnd aneinander und an ihrer Brust. Die Mittelbeine säubert sie, indem sie sie anwinkelt und sich damit mehrfach über ihren behaarten Bauch fährt. Mit den Hinterläufen verfährt sie ebenso.
Bär sieht sie scharf an. „Ich möchte, dass Sie ihr kündigen.“

Dann angelt er das Taschentuch aus der Brusttasche seines Jackets. Mit einem geübten Hieb in die Luft entfaltet er es, bevor er es vor sich auf dem Tisch ausbreitet.
„Frau Brunner hat angedeutet, dann das Arbeitsgericht anzurufen.“
„Wissen Sie eigentlich, dass Bienen sterben, wenn sie stechen?“
„Herr Bär.“
„Ihr Stachel hat Widerhaken. Beim Herausziehen reißt ihnen das Hinterteil ab. Bienen verwenden ihren Stachel deshalb klug. Nur Wespen können es sich leisten, wild um sich zu stechen.“
Langsam führt er den Finger zum Tisch und rollt ihn sachte darauf ab. Die Biene klettert auf das Taschentuch.

Frau Lugner schüttelt den Kopf. „Das tun Wespen nicht. Sie wehren sich, wenn sie sich bedroht fühlen. Das ist ihr gutes Recht.“
„Wie wollen Sie das beurteilen, Frau Lugner? Sie können Bienen und Wespen nicht voneinander unterscheiden.“
„Auch Wespen haben ihren Platz.“
„Bienen sind fleißige Nützlinge, Wespen hinterhältige Räuber.“
„Ein Wespenvolk vertilgt bis zu 500 Gramm Schädlinge pro Saison. Sie wissen das, Herr Bär.“
Er faltet die Hände vor dem Kinn und lächelt anerkennend.

„Ich bin aber allergisch gegen Wespen.“
Sie schlägt ihre Unterlagenmappe zu und wirft einen Blick auf ihr Handy.
„Wir müssen, Herr Bär. Die Sitzung beginnt in zehn Minuten.“
„Einen Moment noch.“

Wenige Augenblicke später wagt die Biene den kurzen Flug zum Hortensiengesteck in der Mitte des Tisches. Herr Bär faltet gewissenhaft sein Taschentuch. Schmunzelnd steckt er es zurück an seinen Platz.

Im Juli 2009 wurde einer seit 34 Jahren für den Bauernverband Westfalen tätigen Chefsekretärin gekündigt, weil sie ohne Wissen ihrer Vorgesetzten zwei halbe Brötchen und eine Frikadelle von deren Buffet aß. Das anschließende Gerichtsverfahren wurde mit einem Vergleich beendet; die Klägerin erhielt eine Abfindung.

Der Belieber

Nach dem Aufwachen dreht sich der Belieber auf die Seite seines großen Wasserbettes und betrachtet den Körper, an dem er die Liebesleistung der letzten Nacht vollzogen hat. Vorsichtig streichelt er das schlafende Gesicht, dass sich ein leichtes Lächeln entspinnt. Dabei denkt er mit Genuss an die verschiedenen Gesten, die das Gesicht in der zurückliegenden Nacht hervorgebracht hat. Und es ist ihm eine allmorgendliche Befriedigung, die gesamten Liebeleien noch einmal detailliert in Gedanken zu wiederholen. Ist er mit dem Gedankenspiel fertig, hebt er mit Schwung das seidene Bettzeug über den schlafenden Körper, dreht sich zurück auf den Rücken und betrachtet sich im Deckenspiegel. Er beugt sich über den schlafenden Körper und haucht ihm einen Kuss auf den Nacken. Vergnügt steht er auf und schlendert ins Bad. Vor dem Spiegel streckt er die fast haarlose Brust heraus und versucht, die Verspannung, die er sich regelmäßig in den Nächten zuzieht, mit einer eigens entworfenen Gymnastik zu lösen. Hat er in der zurückliegenden Nacht außerordentlich gewagte oder gar gefährliche Liebestaten vollbracht, stellt er sich am anderen Morgen auf den Kopf und schüttelt seinen Unterleib bis ihm das dicke Gemächt an die Stirn stößt. Anschließend lässt er sich wieder auf den Boden sinken. Zusammengekauert rollt er auf dem Badvorleger auf und ab. Fühlt er sich wieder entspannt, springt er in den blasengebenden Whirlpool, in dem er die Liebesspiele der Nacht für gewöhnlich beginnt. Danach stellt er sich wieder vor den Spiegel und rasiert die Haare von Gesicht und Brust. Zum Schluss massiert er sich die Schläfen.

Ist er mit seiner morgendlichen Toilette fertig, föhnt er seinen Körper trocken und kleidet sich vor dem großen Bücherregal im Flur an. Dabei greift er in die Buchreihen und sucht eine kleine Erzählung, einen bunten Bildband oder einen klugen Ratgeber, der zum Wesen der jeweiligen seiner Liebschaften passt. Hat er das Buch gefunden, zieht er es heraus, greift zu einem der vielen Stapel Seidenpapier und umhüllt es kunstvoll. Er geht zum alten Holzkästchen, holt eines seiner vielen samtbestickten Haarbänder und umbindet das Papier. Anschließend schleicht er ins Schlafzimmer. Behutsam legt er das Büchlein mit einem Kuss und dem ehrlichen Wunsche, dass es seiner Nachtbekanntschaft im weiteren Leben helfen möge, auf das aufgeschüttelte Kopfkissen. Er öffnet die dicke Silberkette, die er Tag und Nacht um seinen Hals trägt und zieht die Schere und den Schlüssel, die ihm beide im allnächtlichen Liebestaumel als Metronom dienen, heraus. Er schneidet den Schlafenden eine Strähne oder Locke vom Kopfe, steckt sie in einen farbigen Briefumschlag und beschriftet diesen. Dabei geht er jedes Mal gleichermaßen vor. Er vermerkt zuerst den Tag, danach die Stunden, die angewandten Liebestechniken, die Sehnsüchte der Beliebten und zum Schluss seinen Zufriedenheitsgrad. Ausgiebig beleckt er danach den Brief, verklebt ihn sorgfältig und legt ihn in sein Archiv in den Wandtresor. Stolz addiert er die Zahlenkombination des Tresors um einen weiteren Nenner, denn nur so bleibt er auf dem aktuellen Stand. Nachdem er den Tresor wieder verschlossen hat, hängt er den Schlüssel und die Schere um den Hals und geht in die Küche zum Kühlschrank. Er greift zu einer der wohltemperierten Flaschen Champagner, öffnet sie leise und füllt deren Inhalt in zwei Gläser. Genüsslich trinkt er das erste Glas auf das Wohlergehen der Bekanntschaft aus. Mit geschickter Hand pflückt er drei Blumen aus den breiten Pflanzkästen, die er eigens für diese Stunden angelegt hat. Die erste Blüte arrangiert er liebevoll in das eingefüllte Champagnerglas, welches für seine Nachtbekanntschaft bestimmt ist. Die zweite platziert er gut sichtbar vor dem Badspiegel. Die dritte steckt er sich in den Mund. Mit der Blüte im Mund kocht er Kaffee, füllt ihn in die Thermoskanne, stellt Butter, Käse, viel frisches Obst auf den Frühstückstisch und das Champagnerglas dazu. Erfreut an dem beginnenden Tag, steckt er die Blüte ins Revers, schließt leise die Wohnungstür und rutscht vergnügt das Treppengeländer hinunter.

Der Belieber erscheint stets gepflegt. Schon auf den Fluren des Krankenhauses grüßt er mit übergroßem Lächeln den verschlafenen Pförtner oder die unsichere Reinigungsfrau.
Der Belieber ist höflich und zuvorkommend. Trotz, dass er seit Monaten auf Station seinen Dienst absolviert, klopft er mehrmals leise an die Tür und wartet, bis die jeweilige Stationsschwester ihr schnoddriges Herein ruft. Er öffnet die Tür einen Spalt weit, schiebt zuerst seinen Kopf, danach den schlanken Hals mit der dicken Silberkette und der Schere und dem Schlüssel hindurch und lächelt in den Raum. Erst danach gibt er der Tür einen kräftigen Schwung und betritt das Aufenthaltszimmer. Mit einer angedeuteten Verbeugung grüßt er zuerst die Stationsschwester und nach ihr dem Range folgend alle weiteren Schwestern. Hat er die Begrüßung artig abgeleistet, begibt er sich an das Ende des Tisches und küsst die ungeduldig wartenden Schwestern oder Pfleger. Zum Schluss gibt er ausgewählten von ihnen einen kräftigen Händedruck, einen kleinen Klaps auf die Schulter oder einen unerwarteten Puffer. Aber auch hier hält er eine unsichtbare Reihenfolge ein, deren Wertfolge nur für Eingeweihte erkennbar ist und erarbeiten werden muss. Hat er die allmorgendliche Prozedur vollzogen, hält er einen klitzekleinen Moment inne und setzt sich auf einen der angeboten Plätze zwischen eine der unglücklichen Schülerinnen oder Schüler. Er öffnet eine Flasche Möhrensaft und trinkt diesen in einem einzigen Zuge aus.

Der Belieber arbeitet korrekt. Ohne zu zaudern führt er die ihm übertragenen Aufgaben aus. Und keine noch so ekelerregende Tätigkeit weist er zurück. Vielmehr kämmt er vorab nochmal sein rotblondes, glattes Haar. Er zieht einen seiner samtbestickten Haarschnüre aus der Hosentasche, die wie zum Zeichen seiner Anwesenheit im gesamten Krankenhaus verstreut liegen und bindet den Zopf zusammen. Allzu gern sammeln arglose Schülerinnen die scheinbar verlorenen samtenen Schnüre als heimliche Souvenirs. Und nicht selten streiten Büroangestellte mit den Reinigungsfrauen teilweise heftig um deren Besitz. Neuerdings hat man auch Schüler die albernen Schnüre aufheben sehen.

Kommt der Belieber am Nachmittag nach Hause, schläft er sich erstmal gründlich aus. Am Abend, wenn die Mitarbeiter in die Stadt gehen, steht er auf, macht Fünfzig Liegestütze, Hundert Seilsprünge und mehrere Serien Hantelheben. Anschließend duscht er seinen Körper mehrmals gründlich ab. Er gönnt seinem Haar eine Heil-und Pflegekur und seinem Gesicht eine Honig-Gurken-Maske. Ist er damit fertig, feilt, lackiert, bürstet und cremt er sich für die Nacht zurecht. Zum Schluss rasiert er sich mit einer Schablone in den Intimbereich ein chinesisches Glückszeichen oder eine indianische Liebesformel, die die Beliebten in der kommenden Nacht beeindrucken sollen. Danach kleidet er sich modisch an und wartet ungeduldig auf seinen allabendlichen Besuch. Unruhig schreitet er auf dem ausgetretenen Parkettboden auf und ab, kneift sich in die zusammen geballten Hände, zieht sich an den Ohren oder kämmt sich wieder und wieder das schulterlange Haar. Erst das kurze Leuten der Klingel lässt ihn von seinen Handbewegungen innehalten und zur Tür hasten. Mit einem entspannenden Lächeln öffnet er sie und genießt die kommenden Stunden.

Der Belieber ist für seine gründliche Körperarbeit weltbekannt. Hat er Liebeshungrige erst einmal in seinem Wasserbett, begreift und beliebt er sie ausgiebig und von allen Seiten kunstvoll und ohne Unterlass. Und keine noch so kleine oder verborgene Stelle bleibt von ihm unbetastet.
Ist der Belieber nach vielen Stunden mit seiner Körperarbeit fertig, massiert und küsst er die erschöpften, säuselt ihnen erotische Formeln in verschiedenen Sprachen in die Ohren und schwingt die seidene Bettwäsche über sie. Sind sie eingeschlafen, steht er unbemerkt auf und reinigt ihre Schuhe oder bürstet ihre Sachen aus. Dabei greift er in die verstreuten Kleidungsstücke und bringt die Geldtasche an sich. Vorsichtig öffnet er die diese und prüft gewissenhaft deren Inhalt. Hat er sich von der Geldmenge überzeugt, steckt er kleine Münzen oder Scheine hinein, damit die Beliebten am anderen Morgen wohlbehalten nach Hause fahren können. Stets achtet er darauf, dass die eingelegten Münzen oder Scheine an genau den Positionen platziert werden, an denen sich gleichwertige befinden. Ist er damit fertig, schiebt er die Geldtasche zurück, legt sich ins Bett, lächelt erschöpft in den großen Deckenspiegel und schläft von der ausgiebigen Arbeit zufrieden ein.

Wann haben Sie zum letzten Mal eine Erfahrung gemacht?

“Wann haben Sie zum letzten Mal eine Erfahrung gemacht?”

Berger zieht die Augenbrauen zusammen. Ein Schweißtropfen schafft den Weg und rinnt Richtung Auge. Der rote Rahmen seiner Brille spaltet Zuckowski optisch den Schädel. Trotzdem schiebt er das breite Gestell langsam wieder Richtung Nasenwurzel. Er verwendet dafür den Mittelfinger der linken Hand. Er hofft, dass ihr Unterbewusstes diese Geste richtig deutet.

“Herr Berger?”

“Am 22. Juni.” Er pustet sich eine Strähne aus dem Gesicht. “Ein Freitag.”

Zuckowski versucht ein gütiges Lächeln und legt den Kopf schief. Ihre blonden glatten Haare biegen sich auf den Schulterpolstern ihres hellblauen Blazers. “Die Frage zielte mehr auf die Art der Erfahrung ab.”

Der von seinen Wimpern gefilterte Schweißtropfen geht im Tränenfilm seines linken Auges auf. Obwohl es brennt, erlaubt er sich nicht zu blinzeln. “Sie haben nach dem Zeitpunkt gefragt.”

Bis auf die große Perle, die an einer silbernen Kette unter ihrem Ohrläppchen wackelt, verharrt sie völlig regungslos. Er findet Perlen pervers. Perlen sind Zysten, hat er gelesen. Muscheln bilden Sie unter größten Anstrengungen, um Fremdkörper unschädlich zu machen. Frau Zuckowski schmückt sich mit Zysten, denkt er.

Das Brennen in seinen Augen wird so stark, dass er sie fest zusammenkneifen muss. Jetzt erlaubt auch sie sich zu zwinkern. “Ist Ihnen warm, Herr Berger?”, ruft sie in betonter Überraschung.

“Am 22. Juni habe ich meinen engsten Geschäftspartner und besten Freund verloren.”

Ihre Lippen formen ein kindliches “Oh!”. Sie hält es, bis sie sicher ist, dass er die Fülle ihrer Lippen gebührend bewundert hat. „Soll ich die Klimaanlage einschalten?”, fragt sie dann.

“Das wird ihn mir nicht zurückbringen.” entgegnet er ohne Zögern.

Sie löst ihre übereinander geschlagenen Beine, erhebt sich, umrundet ihren gewaltigen Schreibtisch und geht an ihm vorüber zum Bedienelement für die Klimaanlage neben der Tür. Er findet es obszön, wie ihre nylonüberzogenen großen Zehen durch die Löcher an den Spitzen ihrer Schuhe luken. Ihrer Aufmerksamkeit für einen Augenblick entkommen, trocknet er sich das Gesicht mit dem Ärmel seines Jacketts.

“Viel besser!” lobt sie sich. Ihr schwarzer Ledersessel seufzt, als sie wieder in ihm Platz nimmt. „Wo waren wir?“

„Er fehlt mir.“ sagt Berger ernst. „Nicht wegen des Geschäfts. Der Laden ist zu. Er fehlt mir als Freund.“

„Das tut mir leid.“ Die Worte sind längst verhallt, aber ihr Kopf nickt noch verständnisvoll. Als sie begreift, dass Berger sie für immer wortlos weiternicken lassen würde, fragt sie: “Gibt es etwas, das Sie aus diesem Verlust mitnehmen können?”

Im Rahmen einer Geste, die sie für ein Lächeln hält, zeigt sie ihm ihre großen weißen Zähne.
Er versteht ihre Drohung und braucht einige Sekunden, sich seiner Furchtlosigkeit zu erinnern.

„Ja.” sagt er dann als hätte er einen spontanen Einfall. „Ich kann daraus lernen, mit künftigen besten Freunden nicht zu vögeln.“ Langsam beugt er sich über den Tisch zu ihr herüber. „Das macht viel kaputt, glauben Sie mir.”

Sie rutscht auf ihrem Stuhl hin und her. “Ich verstehe nicht recht, glaube ich.” Erst als sie zu ihrem metallenen Kugelschreiber greift, den sie vorhin wie einen Strich unter eine Rechnung auf ihre Gesprächsnotizen gelegt hatte, findet sie wieder Halt.

“Nein, sicher nicht.” bestätigt er. „Nur die wenigsten wissen, wie es ist für zwei Männer, von morgens bis abends an einem Projekt zu arbeiten und gemeinsam ein Geschäft aufzubauen. Das schweißt extrem zusammen. Da entwickelt sich aus einer Freundschaft eine Bruderschaft. Wenn man zusammen ist, ist einfach alles gut. Merkt man aber erst, wenn einer fehlt. Man kann sich nicht vorstellen, dass sich das alles in einer einzigen Nacht kaputtvögeln lässt.“ Er lehnt sich zurück und faltet die Hände hinter seinem Kopf. „Ist aber so.”

Sie starrt ihn an, als würde sie ein fremdartiges Insekt untersuchen.

“Es fing einfach an. Eines Tages ist mir aufgefallen, wie gut Matze riecht. Es war heiß in meiner Dachwohnung. Im Sommer ist es immer unerträglich heiß. Wir hatten den ganzen Tag nach einem Fehler im Code gesucht. Als ich ihn irgendwann fand, sprang er auf, kam zu mir herüber und drückte mich. Ich wusste ja, wie er riecht. Aber in diesem Moment war ich wie vom Blitz getroffen. Wie benommen.“

Sie ist wieder zu sich gekommen und schafft es, seinen Vortrag zu durchschneiden, obwohl er schneller spricht, als er denkt. „Herr Berger, was wollen Sie mir damit sagen?“

„Dass Sie ja nicht ahnen, wie sehr man die Macht der eigenen Gedanken unterschätzt!“ ruft er staunend. „Ich habe Matze seitdem als Freund oder Kollegen überhaupt nicht mehr ernst genommen. Ich habe ihn permanent sexualisiert. Plötzlich bemerkte ich die Haare auf seinen Unterarmen. Ich fing an, die Adern auf seinen Handrücken zu mögen. Seine runden, flachen Fingernägel. Heimlich studierte ich die Kontur seiner Brust in seinem offenen Hemd. Die Form seiner Lippen, wenn er darauf herum kaute, um sich besser konzentrieren zu können. Die Muskulatur seiner Schenkel, wenn er sich bückte, um uns Bier aus dem Kühlschrank zu holen. Seinen Arsch. Ich dachte, kucken ist in Ordnung. Er merkt es doch nicht. Kucken tut niemandem weh. Kucken tut gar nichts.“

Mit erhobenem Zeigefinger schiebt er ihre Replik zurück in ihren offenen Mund. Als wären es vier separate Sätze spricht er: „Das stimmt aber nicht.“ Und dann weiter: „Kucken kann total gewaltvoll sein.” Für einige Sekunden zieht er theatralisch die Mundwinkel nach unten, als hinge das Gewicht des letzten Satzes wie Blei an ihnen.

„Herr Berger!“, ruft sie entrüstet aber zu langsam. „Warum erzählen Sie das?“

“Weil Sie gefragt haben.” antwortet er verblüfft. “Sie wollten wissen, was meine letzte Erfahrung war. Bitte sehr, das ist sie.”

“Herr Berger.“ Erneut sucht sie auf ihrem Stuhl nach Haltung. Sie findet die einer Insektenforscherin, die einem 10jährigen erklären muss, warum sie für ihre Arbeit Hummeln tötet. „Mit dieser Frage wollte ich herausfinden, was Ihnen wirklich wichtig ist und wie stabil sie sind.”

“Weiß ich doch.“ antwortet er, als hätte sie versucht, ihm einen misslungenen Witz zu erklären. „Und mit meiner Antwort wollte ich Ihnen vermitteln, dass mir Matze wirklich wichtig war, dass es aber meine Libido war, die mich noch stärker“ er unterbricht, um für den Bruchteil einer Sekunde die Lippen zu schürzen „umtrieb.“

„Das“, sagt sie fest, während sie mit dem Kugelschreiber auf ihn zeigt, „ist Ihnen gelungen, Herr Berger.” „Eindrucksvoll.“ schiebt sie nach, um sich noch ein paar Sekunden Stille zu verschaffen.

„Wollen Sie wissen, wie’s weiterging?”, fragt er vorsichtig, nachdem sie ihre Waffe ratlos hat sinken lassen.

„Ich finde Ihr Verhalten sehr unpassend.” ruft sie, während sie die silberne Oberfläche ihres Kugelschreibers auf Fingerabdrücke zu untersuchen scheint.

„Also ja?”, hakt er freundlich nach.

„Herr Berger, Sie sind eigentlich nicht in der Position hier Fragen zu stellen.” Sie beginnt, den Stift am Saum ihres knielangen Rockes sorgfältig zu polieren.

„Oh!“, er verzieht das Gesicht, als hätte er auf etwas Saures gebissen.“ Das Wort eigentlich sollten Sie eigentlich nicht verwenden.“ Dann flüstert er: „Es untergräbt ihre Position.”

„Es geht hier nicht um meine Position. Es geht um Ihre.”, versucht sie mit fester Stimme.

„Und die würde ich Ihnen gern darlegen.”

Ein Wink mit der flachen Hand, erteilt ihm das Wort. „Bitte.”

Er schnalzt, als er seinen roten Faden wiederfindet. „Ich habe dann angefangen von Matze zu träumen. Also nachts. Also von Sex mit ihm.”

„Herr Berger!” Sie seufzt, lehnt sich zurück und verschränkt die Arme unter ihren großen Brüsten.

„Ich habe angefangen an ihn zu denken, wenn ich wichse.”

„Hören Sie sofort auf damit!” Sie schlägt mit beiden Handflächen auf die Glasplatte ihres Schreibtisches. Er erschrickt und erhöht sein Sprechtempo, als bliebe ihm nicht viel Zeit, alles zu erklären.

„Ich habe gedacht, das ist in Ordnung. Also, weil er davon ja nichts erfährt. Es ist aber nicht in Ordnung! Weil es mein Verhalten ihm gegenüber verändert hat. Es hat mein Verhältnis zu ihm verändert. Er war ein Freund, ein Bruder. Aber durch meine Gedanken wurde er zur Beute für mich. Ich habe ihn angelogen.“

Er schluckt. Sie untersucht mit gleichgültigem Blick die Deckenpaneele.

„Ich wollte ihm gefallen. Bevor er morgens kam, habe ich gebadet und mich rasiert. Manchmal habe ich eine Stunde lang vor meinem Kleiderschrank gestanden. Nebenbei habe ich mir überlegt, welche Geschichten ich ihm in den Arbeitspausen erzählen könnte, ganz beiläufig, um ihn zu beeindrucken. Mir ist überhaupt nicht aufgefallen, wie schäbig das war.” Langsam schüttelt er den Kopf.

„Wieso schäbig?” Die Insektenforscherin ist zurück in ihrem Gesicht.

Über ihr Unverständnis erschrocken sieht er sie ernst an. „Er war doch völlig arglos! Ich war sein Kollege, sein Kumpel! Er hielt mich für locker und aufrichtig. Für ihn war es ein Arbeitstag, für mich war es ein Date. Er kam unbewaffnet. Ich habe alle Register gezogen. Verstehen Sie denn nicht, wie hinterlistig das war?“

„Sie waren verliebt.”, sagte Sie schulterzuckend und mit einem verständigen Grinsen, das ihn ekelt.

„Ach Quatsch.“ Mit einer beiläufigen Handbewegung wischt er ihre Küchenpsychologie beiseite. „Ich war nicht verliebt! Ich habe diesen man vor 10 Jahren im Studium kennengelernt. In allen Beziehungen, die er seither führte, war ich der beste Freund an seiner Seite. Ich weiß, was für ein Kind er ist. Was für ein Ja-Sager. Nach drei Monaten in einer Beziehung mit ihm wäre ich gestorben vor Langeweile. Aber dazu hätte es sowieso erst kommen können, nachdem mir große Brüste und blonde Haare gewachsen wären. Gott, wie hörig Matze gegenüber großen Brüsten ist!“ Er macht einen breiten Mund, als wäre ihm die Herleitung einer komplizierten mathematischen Formel gelungen.

„Ich wollte mit Matze vögeln, das war alles. Einmal mit ihm vögeln. Einmal wissen, wie es ist. Ob es stimmt, was seine Ex-Freundinnen so erzählen. Mir war nicht klar, wie viel das zerstören würde.”

Sie ist auf ihrem Grinsen hängengeblieben. Er befeuchtet ausgiebig seine Lippen. Dann sagt er langsam: „Sie hören ja zu.”, obwohl er „Geht es Ihnen gut?“ meint.

„Ich glaube, dass wir unser Gespräch hier beenden sollten.“ Sie schnaubt ein bisschen, als sie lacht. „Ja, ich denke, ich habe genug gehört.”

„Gut.” sagt er. Seine Anstalten aufzustehen beschränken sich jedoch darauf, die Hände klatschend auf seine Oberschenkel fallen zu lassen.

„Gut.” Sie sammelt seine auf dem Tisch ausgebreiteten Unterlagen zusammen und bildet einen sauberen Stapel, den sie so behutsam wieder vor sich auf die Glasplatte legt, als dürfe dabei kein Geräusch entstehen.

„Herr Berger, warum haben Sie das getan?” Ihr Blick klebt weiter am Titelblatt seiner Bewerbungsmappe.

„Gute Frage!“ lobt er. Mit Daumen und Zeigefinger glättet er seinen Kinnbart. „Die Gelegenheit war günstig und ich packte sie beim Schopfe. Ich bin so. Matze trank immer zu viel, wenn wir mal zusammen aus waren. Aber wir waren nicht oft zusammen aus. Kurz, nachdem Matze diese Frau hier in Dresden kennengelernt hatte, ist er zu ihr gezogen. Programmiert haben wir immer in Leipzig, bei mir. Und wenn wir nach der Arbeit mal noch was trinken wollten, hieß das automatisch, dass Matze bei mir schlafen musste. Das gefiel seiner Freundin nicht. Die hatte sowieso beschlossen, mich nicht zu mögen. Obwohl wir uns nie getroffen haben. Sie hielt unser ganzes Projekt für Zeitverschwendung. Mich eingeschlossen.“

Sie will ihn unterbrechen, kommt aber nicht über lautes Einatmen hinaus.

„Ich weiß, ich verstehe das auch.“, wiegelt Berger ab. „Eine Beziehung zu pflegen braucht eben Zeit! Die gemeinsamen Abende müssen toll sein. Aber unsere gemeinsamen Abende waren auch toll! Wir haben niemanden gebraucht. Wir sind immer in unsere Stammkneipe zwei Straßen weiter und haben Gott und die Welt gerettet. An diesem speziellen Abend hat er mir sein Herz ausgeschüttet, weil er bezweifelte, dass seine Freundin an ihn glaubt. Keine Ahnung. Ich habe ihm einen Doppelten nach dem anderen bestellt. Und als sie um zwei die Musik ausgemacht haben, konnte er nur noch lallen. Da wusste ich: Jetzt oder nie. Torkelnd und grölend sind wir zu mir. Als sei es ein Witz unter Besoffenen, bin ich einfach zu ihm in die Dusche gestiegen.“ Er grinst wie ein schmieriger Gebrauchtwagenverkäufer, bevor er ruft: „Bingo!“

Sie starrt ihn ausdruckslos an. Wegen ihrer großen braunen Augen muss er daran denken, dass Kühe in Indien heilige Tiere sind. Bedrohlich leise sagt sie: „Ich meine nicht–“, sie presst die Lippen aufeinander, „die Sache mit ihrem Freund. Ich meine unser Gespräch. Warum haben Sie es so ruiniert?”

„Ich habe Ihnen nur geantwortet.“ sagte er aus dem niedlichsten seiner Dummerchen-Gesichter.

Sie schließt die Augen und spuckt „Ihr Privatleben interessiert mich nicht.” in die Luft.

„Naja.“, er lächelt versöhnlich. „Sie haben aber andauernd danach gefragt.”

„Mitnichten.”, zischt sie.

Als gäbe es Doppel-Ü ruft er: „Natürlich haben Sie das.“ Dann schaltet er eine Oktave höher. „Andauernd! Wie würden Sie sich als Mensch beschreiben? Was würden Ihre Freunde über Sie sagen? Was sind Ihre drei größten Stärken? Was ihre Schwächen? Sind das wirklich alle Schwächen? Wovor fürchten Sie sich? Was haben Sie in der Zeit getan, in der Sie nicht gearbeitet haben? Was tun Sie zum Ausgleich?”

„Ich muss wissen, mit wem ich es zu tun habe, bevor ich Sie einstelle!” Ihre Hände sind flach nebeneinanderliegend an der Tischplatte festgefroren, was ihn beruhigt, weil sie so keinen Schaden anrichten können.

„Eben.“, schnarrt er, als sei sie schwer von Begriff. „Deshalb muss ich Ihnen ehrlich antworten.“

Als müsse das Adjektiv ganz ohne Vokale auskommen entgegnet sie: „Aber professionell.“

„Professionell ehrlich?“ rätselt er, während sie wieder auftaut.

„Wissen Sie, das Gespräch lief gut.“ Sie überfliegt ihre Notizen, bevor sie „Wirklich gut.“ nachschiebt. „Warum haben Sie dann alles kaputt gemacht?“

„Ich konnte doch nicht wissen, dass es so furchtbar werden würde.“, bat er um Entschuldigung.

„Aber was haben Sie denn erwartet?“, ruft sie, nicht einmal bemüht, ihre Erschöpfung zu verbergen.

„Völlig Unrealistisches, da haben Sie recht.“ gibt er kleinlaut zu. Dann setzt er zur Verteidigung an: „Aber so ist das ja immer mit glühenden Fantasien: Wenn sie Wirklichkeit werden, enden Sie in einer Katastrophe.“

Sie faltet geräuschlos ihre Hände und klemmt Sie sich vors Kinn.

„Naja, oder zumindest in einer Enttäuschung. Ich wusste, was ihn scharf macht. Ich habe mir ja Tausend Mal anhören müssen, was seine Freundin alles eklig findet. Als ich ihn soweit hatte, sind wir rüber ins Bett. Aber mir war überhaupt nicht klar, wie schwer er ist. Ich habe kaum Luft bekommen unter ihm, auch, weil er so fies nach Knoblauch und Alkohol stank. Als ich dann oben war, hat der angefangen zu schniefen, wie ein Walross. Ich dachte, der ist erkältet, oder so, dabei ist der einfach nur tierisch abgegangen. Und als ich gerade richtig in Fahrt war, brüllte der plötzlich wie ein Gorilla. Ich hatte echt Angst, die Nachbarn rufen die Polizei. Dann machte er ein Gesicht als hätte er ‘ne Herzattacke und dann war er fertig. Fertig! Das hat keine zehn Minuten gedauert. Natürlich hatte er sofort keine Lust mehr. Und ich musste mir selbst helfen. Vielleicht kennen sie das.“

„Das reicht, Berger!“ Sie legt ihren Kopf in ihre Hände, als wollte sie sich die Spitzen ihrer Zeigefinger diskret in die Gehörgänge stopfen.

„Das reichte nicht nur, das war einfach zu viel.“, korrigiert er. „Am nächsten Morgen wurde ich von der Wohnungstür geweckt, die krachend ins Schloss fiel. Ich habe Matze nie wieder gesehen. Auch nicht gesprochen. Ich habe hundertmal versucht, ihn zu erreichen. Keine Chance. Er hat nur noch per E-Mail mit mir kommuniziert. Und seitdem das Geschäft abgewickelt ist, antwortet er gar nicht mehr. Der ist einfach zu feige. Das war’s.“

„Korrekt, Herr Berger: Das war’s. Sie gehen jetzt. Den Job haben sie nicht. Sie wollten ihn doch gar nicht wirklich, oder?“ Dann erschrickt sie. „Den Job!“

Berger erhebt sich und zupfte sein Jackett zu Recht. Dann sagt er lächelnd: „Tja also, ich fand’s interessant, dass wir uns kennengelernt haben.“

„Hier sind ihre Unterlagen, Herr Berger. Guten Tag und gute Reise.“

„Vielen Dank, und – sagen Sie schöne Grüße.“

über morgen

wind wind wind,

und in den augen

tränen,

ein verborgenes

herzklopfen

und

und

ein beständiges glucksen.

 

was verbunden ist

vertraut,

heißt nicht umstandslos

zusammen,

wenn auch

gehörig.

 

genügsam genug

all die jahre

es hält an,

begründungen nichtig,

die worte entfallen,

nur mit und nicht ohne.

Zum Festland, jeden Tag.

„Nur ein Traum.”
„Und was?”
„Nichts.“
„Nichts! Du hast geschrien!“

„Wir leben auf einer Insel. Du und ich.
Ich muss hinüber zum Festland, jeden Tag. Ich habe ein kleines Motorboot.
Es ist Winter. Das Boot liegt fest.
Der Eisbrecher zwischen der Küste des Festlandes und unserer:
Ich darf ihn nicht verpassen, er fährt nur einmal.
Ich warte am Steg, lange, vergebens.
Du kommst hinzu und legst mir die Hand auf die Schulter:
Das Eis ist zu dick geworden, es zu brechen.

Du läufst los, hinaus, weit, um mir zu zeigen, wie fest es trägt.
Ich folge dir, aber du bist schneller.
Du entdeckst zwei Löcher im Eis, zwei Eingänge, dicht an dicht.
Du tanzt um sie, wie ein Kobold.
Du lachst, dass ich ja darin oder darin Boot fahren könnte.

Dann rutschst du aus, strauchelst, schlitterst, stürzt.
Eines der Löcher verschluckt dich.
Wasser schwappt aufs Eis, gefriert, bevor ich blinzle.
Du wirst dir den Tod holen bei der Kälte, denke ich, nass, wie du bist.
Du wirst ersticken unterm Eis, denke ich, du kannst den Atem nicht halten.
Ich muss dich finden, denke ich, schnell, schnell.
Ich knie auf dem Eis, poliere es mit bloßen Händen, dich zu entdecken, irgendwo.
Ich trommle und trample, wo ich dich vermute.
Ich rufe und weine.
Eis bleibt:
Zwischen uns.

Ich taumele hinüber zum zweiten Loch und stürze mich hinab.
Kälte fährt in mich wie spitzes Metall.
Ich wage es, die Augen zu öffnen.
Sonnenlicht fällt blassgelb durch die Decke über mir.
Ich wage es, tiefer zu tauchen.
Wasser, hellblau, stürzt nach unten ins Schwarz.
Ich wage es, auszuatmen.
Luftblasen umgeben mich. Wie Perlen.
Schön, denke ich.“

„Aber du hast geschrien!“
„Weil du nicht da warst. Auch dort nicht.“
„Freilich war ich das.
Deck dich zu, ich mach uns einen Tee.“

Der Geldbeschneider

Der Geldbeschneider liebt nichts so sehr wie den eigenen Vorteil. An jeder Stelle des Krankenhauses, an der sich eine Möglichkeit ergibt, nutzt er diesen, egal wie gering der Betrag auch für ihn sein mag. Und selbst in den entferntesten Winkeln würde er, wenn sich dort erfolgreich etwas finden ließe, mit aller Macht suchen.

Schon auf der Fahrt ins Krankenhaus, beobachtet der Geldbeschneider mit wachen Augen den Fußboden des Niederflurwagens. Er streckt seinen Kopf unter die Sitzreihen oder schiebt ihn geschmeidig an den Mitfahrenden vorbei, die sich die Neuigkeiten des Tages berichten. Unruhig sucht er nach Gegenständen, die verträumte Gäste liegen gelassen haben. Selbst ein Geldstück, das  an der  Umrandung eines Hosensaumes ruht, findet er zielsicher zwischen den vielen Beinreihen. Hat er es entdeckt, schnappt er es blitzartig beim Aussteigen mit geübtem Handgriff. Und er ärgert sich über den ganzen Tag, wenn er nicht wenigstens eine kleine Kupfermünze am Abend aus einer seiner tiefen Jackentaschen herausnehmen und bestaunen kann.

Der Geldbeschneider kleidet sich stets als letzter in der Umkleidekabine um. Nur so hat er alle Spinde im Blick und kann, wenn möglich, unbeobachtet Dinge an sich bringen, die verschlafene Mitarbeiter in der morgentlichen Hektik achtlos liegen gelassen oder verloren haben.

Kommt der Geldbeschneider zur Dienstbesprechung ins Schwesternzimmer, grüßt er überfreundlich und in die Länge gezogen jeden einzelnen Kollegen. Mit weichem Handgriff umfasst er deren Hände und versucht in der kurzen Zeit des Grußes sich einen Überblick über die umherliegenden Dinge zu verschaffen. Gern verwickelt er Patienten, die zufällig auf dem Flure stehen, in Gespräche, über unerfreuliche Diagnosen oder äußerst riskante Therapien. Dabei versucht er sie soweit zu verwirren, das sie selbstversunken oder völlig verängstigt ihre persönlichen Habseligkeiten auf der Waschkonsole oder dem Fensterbrett zurücklassen. Überdies klagt er häufig bei Patienten, die er auf Umwegen zur Diagnostik fährt, wie schlecht er entlohnt würde. Und nicht selten stecken ihm diese ab und zu ein paar Scheine, scheinbar von ihm unbemerkt, in die Jackentasche. Auf dem Rückweg bleibt er atemringend an der hell erleuchteten Vitrine mit den vielen Hausmitteilungen stehen, schliesst die Augen und lehnt seinen Rücken an die Wand. Hastig zieht er das knisternde Papier heraus, reibt es   zwischen den Händen und versucht mit den Fingerkuppen den Wert des Geldes zu ertasten. Hält er es nicht mehr aus, blinzelt er, presst den Schein gegen das Vitrinenglas und streicht das Papier mit beiden Daumen glatt. Hat er die Banknotenmerkmale gründlich geprüft, haucht er auf den Zahlenwert. Er steckt die lange Zunge heraus und  betupft das Wasserzeichen. Schließlich leckt er den gesamten Schein auf beiden Seiten sorgfältig ab. Das durchfeuchtete Papier faltet er zweimal zusammen und markiert es mit seinem Gebissabdruck. Nachdem er daran gerochen hat, schiebt er den Schein in die kniehohen Karostrümpfe, die er sommer´s wie winter´s trägt. Erschöpft fährt er zurück auf Station.

Der Geldbeschneider lebt von Frau und Kind getrennt. Er wohnt in einem Gartenhaus, das er durch jahrelangen Rechtsstreit den  Miterben abgetrotzt hat. Seine Parzelle pflegt er übergründlich, und holt, wenn es sein muss, selbst in der Nacht noch so manche reife Frucht aus der Beetfurche um sie den Schnäbeln pickender Vögel am darauf folgenden Morgen vorzuenthalten. Möbel hat sich der Geldbeschneider noch nie geleistet. Vielmehr besitzt er, die seiner Meinung nach achtlos auf den Sperrmüll des Krankenhauses geworfenen Dinge. Und Selbst das plastene Geschirr, das über die Jahrzehnte augesondert wurde und noch aus den Gründungsjahren des Krankenhauses stammen soll, hat er  auf seine Weise erworben.

Der Geldbeschneider geht ungern einkaufen. Es macht ihm schon seit Jahren nichts mehr aus, die Reste, die auf Station gesammelt werden, zu einem deftigen Eintopf zu verwerten.

Am Abend, wenn alle Türen fest verriegelt sind, setzt er sich in seinen Rollstuhl oder legt sich in sein Krankenbett und schiebt den Betttisch heran. Er entzündet ein Ewiges Licht, das er aus der Leichenhalle entwendet hat und schließt zufrieden die Augen. Er blinzelt in den rot flackernden Lichtschein und streckt geräuschvoll seinen dürren Körper aus. Wenn er dem Krankenhausseelsorger wieder eine gute Flasche Messwein entwenden konnte, freut er sich besonders. Würdevoll öffnet er die Flasche und lässt den Wein in winzig kleinen Schlucken in eine Schnabeltasse laufen. Er schiebt die Zunge vor und schlürft Tropfen für Tropfen die Flüssigkeit heraus, und leckt, wenn er damit fertig ist, bis in die kleinste Stelle des Becherbodens. Dabei schmatzt er so lautvoll, dass das Geräusch selbst noch am hohen Gartenzaune deutlich zu hören ist. Hat er den Becher ausgeleckt, stellt er das kleine Kofferradio an, kuschelt sich auf die Seite seines Bettes und beginnt zu träumen. Regelmäßig wünscht er sich endlich ohne ein einziges Geldstück im Monat ausgegeben zu haben, leben zu können. Neuerdings stellt er sich immer häufiger vor, wie er einen Schatz in seinem Garten finden würde oder das Lohnbüro ihm bis zum Lebensende versehentlich Chefarztgehälter überwiese.

Der Geldbeschneider arbeitet unauffällig und leise. Patienten und Mitarbeiter beklagen, dass des öfteren Dinge abhanden kämen. Und selbst die Verwaltung kann nur mitteilen, das er seit seiner Ausbildung im Krankenhaus beschäftigt ist.

Würde man den Pförtner nach ihm befragen, würde er mit einer heftigen Handbewegung abwehren, ausspucken und ihn als einen krummen Hund bezeichnen, der freundlich wirres Zeug daherquatsche. Außerdem würde er sagen, dass man bei ihm nicht sicher sein könne, ob er  einen nicht den Arsch unter’m Hintern wegstehle.

Der Geldbeschneider wusste vom ersten Tage an, was er mit seinem Anteil von 23.572 Euro machen würde. Er wollte ihn in Goldbarren anlegen. Und Silvester, wenn alle Kleinstadtbewohner auf dem Platze feiern, wollte er diesen Punkt Mitternacht unter seinem Erdbeerbeet, das er extra der habgierigen Kinder wegen, vor seinem Küchenfenster angelegt hatte, vergraben. Der Geldbeschneider wüsste als einziger Mitarbeiter der Krankenstation, wo und wie er 235.720 Euro sicher vergraben müsste.

Die Allenschenkerin

Die Allenschenkerin schenkt immer und überall. Stets findet sie einen Anlass passende Geschenke zu verteilen. Niemand im Krankenhaus ist vor ihr sicher. Und selbst Fremde können sich der Allmacht ihrer kleinen und großen Aufmerksamkeiten kaum entziehen.

Wochenlang beobachtet sie in den den Schwesternzimmern, den Stationsgängen oder den Umkleideräumen des Krankenhauses in dem sie arbeitet, die zu Beschenkenden und filtert jedes noch so kleine Bedürfnis der Gesprächspartner, die sie intensiv belauscht, heraus. Selbst auf der Toilette, in die sie sich gern heimlich einschließt, erhört sie manchen unbedacht ausgesprochenen Wunsch, den der Belauschte im Selbstgespräch äußert. Nicht selten reinigt sie Betten, Schränke und auch Nachttische übergründlich um sich der Bedürfnisse der dabei abgehörten Gesprächspartner  sicher zu sein.

Hat sie diese endlich erkannt, muss sie sie unbedingt kaufen, und kein noch so großes Hindernis hält sie davon ab. Sie schleicht Tage oder Wochen, manches Mal Jahre um die Zu-Beschenkenden, als wollte sie diese mit einem unsichtbaren Netz aus Fäden umwirken. Unnachgiebig sucht sie nach dem passenden Moment das Geschenk zu überreichen. Glaubt sie den idealen Moment endlich gefunden zu haben, überrascht sie den Verwunderten, stellt sich ihm in den Weg und drückt ihm Zeitschriften und Lexika, plastene Zigarettenetuis und metallene Aschenbecher, oder bunt bedrucktes Geschirr in die Hand. In früheren Jahren, als das Arbeitszimmers ihres Vaters noch voller Bücher stand, verschenkte sie seltene Exemplare zu bestandenen Prüfungen, zu Geburtstags-Weihnacht-und Ostertagen. Selbst den Nationalfeiertag nimmt sie gern als geeigneten Anlass kleine Präsente zu verteilen.

Hat die Allenschenkerin endlich ihr aufwendig verpackte Gabe verschenkt, dreht sie sich schüchtern zur Seite oder senkt den Blick auf den von ihr vorher gründlich gesäuberten Stationsboden. Ungeduldig  wartet sie mit der linken Ferse wippend oder an ihren Ohren ziehend auf eine Reaktion des soeben Beschenkten. Und nicht selten prüft sie, nur um sich von der Wartezeit abzulenken, die weißen Fliesen auf etwaige Putzstreifen. Meist hat sie die Verpackung vorher so kunstvoll gefertigt, dass sie dem Beschenkten auf jeden Fall allein aufgrund der Umpackung eine laute Bewunderung entlocken muss.

Wen allerdings die Allenschenkerin in den Kreis der Beschenkten aufnimmt und welche unsichtbare Verbindung zwischen dem Geschenk, der meist männlichen Adressaten und ihr bestehen, bleibt auch für sie im Dunkel.

Jedoch achtet sie bei jedem so präzise zu schenken, dass eine Ablehnung zwecklos wird. Oftmals lässt sie den Beschenkten erst durch das Geschenk sein unbekanntes Bedürfnis erkennen.

Benötigt die Allenschenkerin ein neues Geschenk, schlendert sie anscheinend ziellos durch die Stadt, verharrt hier und da vor den Auslagen und begibt sich in diese und jene Straße um möglichst alles zu erfassen, was verschenkbar ist. Selbst die kleinste Nebenstraße behält sie im Blick. Dabei denkt sie sich immer und immer wieder mit großer Freude in die Bedürfnisse der zu Beschenkenden hinein. Hat sie sich einen Überblick in Schaufenstern, Warenhäusern und Geschäften verschafft, fühlt sie kaum noch Zeit zwischen den Exponaten und dem verbliebenen Geld abzuwägen. Unruhig umkreist sie mehrmals das zum Kauf ausgewählte Objekt, ohne es jedoch zu berühren. Dabei durchzählt sie geräuschvoll den mitgenommenen Geldbetrag mehrmals auf der flachen Hand, da  sie es als unmöglich ansieht ungekauft nach Hause zu gehen. Spricht eine Verkäuferin sie an, kauft sie hastig das Kaufobjekt oder läuft ohne ersichtlichen Grund verwirrt davon. Selbst in ihren Träumen steht sie oft atemlos in langen, hell beleuchteten Regalreihen und erwirbt, ohne einen Rabatt auszuhandeln, eifrig die Bedürfnisse der Nachbarn, Kollegen oder auch die der Verkäuferinnen selbst. Sehr oft stimmt sie am Ende das Einschlagpapier, Format und Band sorgfältig ab oder tauscht Bedürfnisse  zurück und erhält von allen ein dankbares Lächeln. Zum Schluss stellt sie in ihren Träumen eine Rangfolge der einzelnen Personen auf, die sie in den nächsten Tagen mit ihren Aufmerksamkeiten beschenkt. In winzigen Druckbuchstaben schreibt sie die Namen, die in den letzten Wochen ihren Fleiß am häufigsten bemerkten und lobten auf ein kariertes Blatt. Nur nach einer solchen Nacht fühlt sie sich am Morgen ungewohnt wohl und würde, wenn sie endlich den Mut aufbrächte, Selbsterzählend im Bett liegen bleiben und gern für diesen Tag ihre Arbeit im Krankenhaus vernachlässigen.

Die Allenschenkerin lebt allein. Sie wohnt in einem Zimmer mit Schlafnische, die ihre Mutter  sorgfältig vor Jahren einrichtete. Die Allenschenkerin isst am liebsten Nudeln ohne Soße und verbringt ihre freien Tage in den Haupt-und Nebenstraßen ihres Wohnanlage. In Urlaubsorte ist sie noch nie gefahren und Feierlichkeiten, die außerhalb ihrer Häuserzeile stattfinden, lehnt sie prinzipiell ab. Die wenigen Nachrichten, die sie an sich heranlässt, entnimmt sie, seit sie auch den Fernseher verschenkt hatte, den Überschriften von Wurfsendungen oder den Gesprächen der Straßenbahnfahrgäste.

Am Abend, wenn sie das Restgeld des Tages exakt abgezählt hat, faltet sie die dünne Silberkette, die sie seit ihrer Konfirmation jeden Tag trägt, nach einem ganz bestimmten Muster auf dem Fensterbrett zusammen. Manchmal bleibt sie auch am Fenster stehen und spielt mit den großen, schweren Schmuckstücken ihrer verstorbenen Mutter, die sie aus einer unerklärlichen Abneigung nie benutzt. Und nur Selten schaut sie, den schweren Schmuck in den Händen haltend, den Pärchen auf der Straße lange nach. An solchen Abenden schüttelt sie kräftig ihre vielen Kopfkissen, legt sich seufzend in ihr Jugendbett, faltet die Hände zum Gebet und bemüht sich vergebens die Schafreihe laut bis Hundert zu zählen. Selten gelingt es ihr in diesem Moment den unangenehmen Gedanken an die fällige Kreditrate zu vergessen

Die Allenschenkerin arbeitet fehlerfrei. Entschuldigte oder gar unentschuldigte Tage gab es bei ihr nie. Auch hat sie keinem Patienten jemals einen Anlass zu einer Beschwerde gegeben. Selbst der Pförtner, den sie fast 40 Jahre höflich grüßt, könnte nichts Nachteiliges berichten. Würde man ihn nach ihr fragen, fiele es ihm schwer, trotz der Blumen, die sie ihm täglich wortlos ins Sichtfenster stellt, die Allenschenkerin zu beschreiben.

Die Allenschenkerin kann mir immer noch nicht genau sagen, was sie mit ihrem Anteil von 23.572 Euro machen wollte. Möglicherweise hätte sie damit einen ihre vielen Kredite beglichen.

wir schlagen auf eis

es friert um uns.
der kleine bär am nordhimmel,
streut die sterne aus dem pelz.
die wipfel biegen sich ein und wir
brechen uns die stalakmiten vom schopfe.

des federvieh-flug meridianabwärts,
und wir auf gefrierpunkt-zwischenstopp.

es klirrt um uns.
wir stapfen barfuß ins gestrüpp und kommen
mit zündhölzern wieder.
wir staunen über unsere atemschlote und bewahren
einander im hinterkopf.

wir schlagen auf eis.

Das Mädchen aus der Fremde

Niemand wusste, wo sie herkam. Sie ging die Straßen des Dorfes entlang, als würde sie schon immer auf ihnen wandeln. Jede Gasse, jedes Schild, jeder Stein, jedes Haus, nichts schien ihr fremd zu sein, kein Baum und kein Mensch. Ihr Kleid flatterte im Wind und der Saum umspielte ihre Knie. Sie setzte behutsam einen Fuß vor den anderen. Sie trug keine Schuhe und lief doch nicht zu langsam. Ihre langen, weißen Arme schlenkerten neben ihrem schmalen Oberkörper hin und her. Den kleinen Lederkoffer, den sie bei sich hatte, trug sie einmal in der linken, einmal in der rechten Hand. Der große Filzhut saß scheinbar zur Zierde auf ihrem gelockten Schopfe. Alle paar Minuten rückte sie ihn zurecht und zog ihn sich noch tiefer ins Gesicht. Ihre Augen waren so grün wie der Hut.

Die Leute hatten sich viel zu erzählen. Ein jeder wusste etwas anderes zu berichten. Sie wäre fortgelaufen vor dem Krieg, sie wäre fortgelaufen vor der Armut, sie wäre fortgelaufen vor der prügelnden Mutter. Sie hätte kein Geld für neue Schuhe, sie wäre ein trotziges Mädchen, das ihre Eltern nur grämen wolle, sie hätte noch nie Schuhe getragen. Sie suche ihren Vater bei ihnen, sie suche ihr Glück, sie suche sich selbst.

Die Leute wunderten sich. Sie war höflich. Immer gerade so, um anderen gegenüber nicht ablehnend zu sein, und immer gerade so, dass niemand ihr freundschaftliche Empfindungen hätte entgegenbringen können. Und auch sonst war es, als nähme sie von allem das rechte Maß. Es war als bräuchte sie keinen Schlaf und es war als hätte sie keinen Hunger. Niemand sah sie je lachen und niemand sie weinen.

Jeden Morgen lief sie durch das Gewirr der Gassen und kam immer auf verschiedensten Wegen, punkt zwölf, wenn die Kirchenglocke schlug und die Sonne am höchsten stand, unter einem alten Eichenbaum zum Sitzen. Dieser Baum stand auf einem unbewirtschafteten Feld und hätten die Kinder sie vom alten Forststand im nebenanliegenden Wald nicht entdeckt, wüsste es niemand, dass sie hier täglich eintraf. Sie setzte sich unter die beschützende Baumkrone auf ihren kleinen Koffer, den sie stets mit sich führte und über den die Leute im Dorf munkelten, dass sie ihn auch im Schlaf immer dabei habe, weil sie ihn dann anstelle des Kopfkissens benutzen würde. Sobald sie es sich auf dem Koffer bequem gemacht hatte, sang sie. Aber sie sang nicht so, wie jeder im Dorf hätte singen können. Sie sang ganz außergewöhnlich. Niemand hatte bisher so eine Stimme vernommen und nicht nur die Kinder waren entzückt darüber, sondern auch die Bewohner des Dorfes lauschten andächtig der fremden Melodie, wenn der Wind sie zu ihnen trug. Bis zum Untergang der Sonne konnte man sie noch singen hören.

Und so kam es, dass ein jeder auf sie wartete. Ein jeder wartete Tag für Tag auf das Mädchen. Niemand hätte es vor dem Anderen zugegeben, aber jeder wartete auf das Mädchen, das immer barfuß ging, auf das Mädchen mit dem kleinen Koffer in der Hand. Ein jeder wartete punkt zwölf auf ihren Gesang unter dem alten Eichenbaum.

Und wie verstört waren die Leute im Dorf, als eines Tages ihre Stimme ausblieb. Alle stürmten aus ihren Häusern. Die Kinder rannten vorneweg, die Männer kamen mit den Gewehren hinterdrein, die Frauen schluchzten in ihre umhäkelten Taschentücher. Niemand wusste, wo sie hingegangen war.

Verhandlungsbasis

Mit einem Tritt gegen das Schienbein wollte ich Heikos Aufmerksamkeit erregen. Als mich Herr Korkmaz erschrocken ansah, begriff ich, dass ich versehentlich ihn unter dem Tisch getroffen hatte. Durch seinen dunklen Schnurbart sahen seine Zähne noch weißer aus. Ich entschuldigte mich lächelnd und rutschte auf dem Stuhl hin und her, als würde ich eine bequemere Position suchen. Innerlich rang ich um Fassung, während Heiko unbeirrt weitersprach. „Dann ist hier die Zulassung. Und hier Ihre Schlüssel. Ihren Ausweis hatte ich Ihnen ja schon zurückgegeben, oder?“

Ich suchte Heikos Blick. Der aber prüfte durch die Gläser seiner Lesebrille mit der Gelassenheit eines Buchhalters ein letztes Mal, ob alle Felder des Vertrages ordnungsgemäß ausgefüllt waren. Ich räusperte mich. Heiko sah auf und lächelte mich an. „Haben wir etwas vergessen?“ „Ich weiß nicht.“, sagte ich, während ich bedeutungsvoll die Augenbrauen nach oben zog. Heiko sah mich fragend an.

„Wenn Ihnen nicht wohl dabei ist, dass wir das Auto schon heute mitnehmen, können wir auch in der nächsten Woche noch einmal vorbeikommen, um es zu holen.“, sagte Frau Korkmaz, nachdem  sie ihre Hand wie eine Freundin auf meine gelegt hatte. Ihre braunen Augen sahen aus wie schmelzende Pralinen. „Aber das ist doch albern.“, sagte Heiko, bevor mir eine elegante Formulierung zur Annahme dieses vernünftigen Angebotes eingefallen war. „Sie können das Auto schon am Wochenende gebrauchen und hier würde es nur herumstehen.“ Mit einem hilflosen „Naja, aber“ leitete ich ein Argument ein, dass mir dann nicht einfiel. Kurz bevor die Stille peinlich wurde, sagte Herr Korkmaz ruhig: „Ich verspreche Ihnen, dass wir das Geld gleich morgen überweisen.“

Weil alle Dokumente unterschrieben und alle Kaffeetassen leer waren, erhoben wir uns und gingen zur Tür. „Ach, holst du bitte noch den Beutel mit dem Eiskratzer, dem Frostschutzmittel und dem Lackstift?“, fragte Heiko. „Wo ist der denn?“, fragte ich nach einigen Sekunden aus dem Arbeitszimmer zurück, in der Hoffnung, dass Heiko mir nach käme und mir einige Sekunden mit ihm allein bleiben würden. „Gleich am Haken hinter der Tür. Du hast ihn doch selbst dorthin gehängt.“ Ich seufzte.

Auf dem Parkplatz drehte Frau Korkmaz eine letzte Runde um unser Auto. Sie klatschte in die Hände und strahlte mich an. „Ach, ich freu‘ mich so!“ „Das freut mich.“, gab ich unbeholfen zurück. „Du fährst, Arslan.“ rief sie ihrem Mann zu, der unseren Autoschlüssel so gekonnt um seinen Zeigefinger kreisen ließ, als wäre es seit Jahren seiner. „Nichts lieber als das!“ Lachend warf er seiner Frau einen Kuss zu.

„Ja.“ Heiko breitete die Arme aus, bevor er die Hände vor seinem Bauch faltete. „Dann wünsche ich Ihnen allzeit gute Fahrt!“ „Ich auch.“, pflichtete ich bei. „Falls etwas sein sollte, irgendetwas, können Sie uns jederzeit anrufen.“, sagte Herr Korkmaz, während er meine Hand schüttelte. Und „Vielen Dank!“, als er die von Heiko ergriff. Seine Frau war schon ins Auto geklettert und flötete mehrmals „Danke!“ und „Tschüss!“ von innen. Herr Korkmaz stieg ein, startete den Motor und verließ die enge Parklücke mit beeindruckender Sicherheit. Kurz bevor er am Ende der Straße abbog, hupte er noch zweimal zum Abschied. Heiko sah mich an und grinste. „Das war ja einfach.“

„Das werden die sich auch denken“, fauchte ich.
„Wieso?“, fragte er arglos.
„Bist du verrückt geworden? Die haben unser Auto! Wir haben nichts! Außer 10.000 Euro Schulden!“, rief ich.
„Aber die überweisen doch gleich morgen.“, wandte Heiko ein.
„Das haben sie gesagt! Was aber, wenn sie es nicht tun?“
„Ich vertraue denen.“, sagte er nachdenklich. „Du nicht?“
Schweigend stapfte ich durch den Schnee zurück zum Haus.

„Wieso hast du nichts gesagt, wenn du ein schlechtes Gefühl hast?“, fragte Heiko.
„Das wäre so unhöflich gewesen!“, antwortete ich. „Ich will nicht, dass die denken, ich denke schlecht über sie.“
„Tust du aber.“, grinste er.
„Überhaupt nicht.“
Heiko runzelte die Stirn. „Und worüber diskutieren wir dann?“
Ich stützte die Hände in die Hüften. „Wir haben den ganzen gestrigen Tag damit verbracht, im Internet über privaten Autoverkauf zu recherchieren. Wir haben diese goldenen Regeln gefunden. Und die wichtigste gebrochen: Ware gegen Geld! Dabei warst Du doch derjenige, der auf die Warnungen vor arabischen Autohehler-Ringen gestoßen ist!“
„Das waren doch aber keine Araber, sondern Türken.“, entgegnete er verständnislos.
„Nein, das waren keine Türken sondern Deutsche. Deutsche Personalausweise. Du hast sie selbst abgeschrieben.“, berichtigte ich.
„Die hatten ja auch überhaupt keinen Akzent.“, ergänzte er.
„Stimmt.“
„Na also.“, versuchte er mich zu beruhigen. „Dann gibt’s auch kein Problem.“

„Aber woher wissen wir denn, dass die Ausweise echt waren?“, wandte ich ein.
„Die sahen echt aus.“, entgegnete Heiko.
„Kennst du dich aus mit gefälschten Dokumenten?“
„Kein bisschen.“  Heiko kratzte sich am Kopf.
„Siehste!“, triumphierte ich.
„Aber mit Menschen“, fuhr er fort, „und das waren gute.“
„Das ist lächerlich!“, winkte ich ab.
„Nein, das ist Menschenkenntnis.“, zischte er.

„Was, wenn das Profis waren? Die kreuzen hier auf als perfektes Ehepaar, leiern uns lächelnd Schlüssel und Zulassung aus den Rippen und sind in diesen Minuten mit Vollgas unterwegs nach Polen, wo sie die alte Fahrgestellnummer abschleifen lassen!“, fantasierte ich.
„Du spinnst doch!“, sagte Heiko. Und dann lange nichts mehr.

Wir saßen uns an unseren Schreibtischen gegenüber und lasen uns stundenlang stumm durchs Internet. Auf dem Weg zum Fenster warf ich einen Blick auf Heikos Bildschirm. In mehreren Registerkarten suchte er nach Ayşe und Arslan Korkmaz.

„Ach.“, entfuhr es mir zynisch.
„Was?“, knurrte er mehr, als dass er fragte.  „Du hast ja recht.“, sagte er dann. „Das war ziemlich dämlich von uns.“
„Nein, du hast recht.“, gab ich zu. „Das waren keine Betrüger.“
„Es gibt jedenfalls eine Ayşe Korkmaz an der Charité.“, berichtete er. „Und einen Arslan Korkmaz in diesem Jugendzentrum auch.“
„Na also.“ antwortete ich beruhigt. „Wenn sie wirklich Ärztin ist und er wirklich Sozialarbeiter, dann sind es ehrliche Leute.“
„Ja, wenn.“, zweifelte Heiko. „Die können ja auch googeln. Von dieser Ayşe gibt es hier sogar einen Lebenslauf. Vielleicht hatte die Dame, die vorhin bei uns am Wohnzimmertisch saß, den nur auswendig gelernt.“
„Gibt es denn kein Foto?“,  wollte ich wissen.
„Eben nicht.“, antwortete er. „Auch von ihm nicht.“
„Du meinst, die haben sich die Identitäten aus dem Internet gesucht? Damit wir sie finden, wenn wir nach ihnen suchen?“, staunte ich.
„Kann doch sein.“, sinnierte er. „Was weiß denn ich, wie gut die Dokumentenfälscher in den anatolischen Hinterzimmern heutzutage sind! Die Ausweise jedenfalls beweisen gar nichts.“
Ich blies die Backen auf.

„Wollen wir mal die Handynummer anrufen, die sie uns gegeben haben?“, fragte ich.
„Und was sagen wir, wenn sie abnehmen? Dass wir nur mal checken wollten, ob sie keine Verbrecher sind?“ Heiko seufzte. „Das geht nicht.“
„Wir könnten ja unsere Nummer unterdrücken und gleich wieder auflegen.“, schlug ich vor.
Heiko schüttelte den Kopf. „Das ist armselig.“
„Stimmt.“, nickte ich. „Wir warten.“

Für den Rest des Tages mieden wir das Thema. Am nächsten Tag führte uns der Heimweg vom Einkauf am leeren Parkplatz vorbei. Mitten ins Schweigen klingelte mein Telefon.

„Herr Saltz, sind sie es?“, fragte eine freundliche Frauenstimme.
„Ja.“ Ich blieb stehen.
„Hallo, hier ist Ayşe Korkmaz. Ich habe es schon auf dem Telefon Ihres Mannes versucht, aber der ist seit Stunden nicht erreichbar.“
„Wir sind unterwegs.“ erklärte ich verdutzt. „Er hat sein Telefon Zuhause liegen lassen. Tut mir leid.“
„Kein Problem.“, antwortete sie. „Ich wollte nur schnell nach einer E-Mail-Adresse fragen, an die ich den Überweisungsbeleg mailen kann. Wenn wir ihn in Ihr Büro faxen, haben Sie ihn ja erst morgen.“
„Oh, das, das würde uns aber völlig reichen, machen Sie sich keine Umstände“, stammelte ich.
„Gut, dann machen wir es so.“, gab sie fröhlich zurück.
„Gut.“, antwortete ich.
Es vergingen einige Sekunden.

„Ach, und, Herr Saltz?“
„Ja.“
„Was halten Sie davon, wenn wir uns nächsten Sonntag treffen? Mit unseren Kindern und ihrem Hund? Wir könnten einen Spaziergang durch den Mauerpark machen. Und danach könnten wir noch einen Kaffee bei uns trinken. Mein Mann macht den besten Apfelstrudel der Stadt.“
Ich schluckte und spürte, wie ich rot wurde.
„Herr Saltz? Sind sie noch dran?“, fragte sie verunsichert.
„Ja, natürlich.“, entgegnete ich schnell. „Ich habe nur kurz nachgedacht, ob uns nächster Sonntag passen würde.“
„Und?“ Ich hörte, wie sie lächelte.
„Nächster Sonntag passt prima.“

Die Eismutter (II/II)

Sie schleicht vorsichtig in die Küche. Den warmen, kleinen Körper hält sie fest umschlungen in den Händen. Sie schaut in den Abfalleimer. Den hat sie heute vergessen. Sie setzt sich auf einen Stuhl und weint. Dann trägt sie den Körper ins Wohnzimmer. Danach wieder in die Küche. Vor der Gefriertruhe bleibt sie ruckartig stehen. Sie legt ihn mechanisch hinein. Den Einkauf packt sie obendrauf.

Erschöpft legt sie sich neben ihren Mann ins Bett. Er schläft geräuschvoll. Sie schiebt ihn sanft auf die Seite und flüstert: „Es ist alles wieder in Ordnung!“ Danach dreht sie sich auf die andere Seite zur Wand. Das ist ihre Lieblingsseite. Dort hängt ihr Hochzeitbild. Sie schaut es jeden Abend an bevor sie einschläft. Auch heute schaut sie in ihr umkränztes Lächeln und schließt schnell die Augen. Sie weiß, daß sie ihre Familie gerettet hat. Sie weiß, dass sie eine gute Mutter ist, und eine gute Ehefrau auch! Sollen doch die Leute im Dorf reden. Die reden über jeden. Sie weiß, das sie nie wieder schwanger werden wird!

Sie spielt mit dem Großen. Manchmal trägt sie ihn Huckepack zum verlassenen Spielplatz. Sie mag es, wenn er sie in die Nase kneift. Dann zeigt sie der Kleinen wie das geht und spricht mit ihr in der Kindersprache.

Sie ist 22. Und sie ist wieder schwanger. Das Andere liegt noch in der Truhe. Sie hat es nicht vergraben. Manchmal arbeitet er im Garten. Sie hat Angst in den Wald zu gehen, dort könnte sie jemand beobachten. Dann wäre es mit ihren Kindern vorbei, und der Ehe auch. Sie weiß, in der Küche wird es sicher sein. Sie legt das Neue einfach hinzu. Und die Leute tratschen wieder im Dorf, sie würde ihre Babys für viel Geld verkaufen. Und sie, sie hofft dass sie nie, nie wieder schwanger wird. Das hat sie sich dieses Mal ganz fest vorgenommen.

Und wieder kniet sie im Bad. Und wieder unter ihr die blutbefleckten Fliesen. Und wieder geht sie in die Küche. Sie öffnet die Gefriertruhe und sortiert zwei Einkaufsbeutel. Den leblosen Körper packt sie einfach dazu. Danach legt sie sich wieder auf ihre Seite neben ihren Mann ins Bett. Sie zieht wieder die Decke weit über den Kopf. Sie schließt die Augen und versucht zu schlafen. Nachdenken kann sie schon lange nicht mehr. Sie hat aufgegeben, nach einer Lösung zu suchen.

Sie steht am Fenster und blickt auf den Hof. Sie zündet eine Zigarette an. Der Große durfte heute anrufen. Die Großeltern haben es ihm erlaubt. Er hat gefragt, ob man da gar nichts machen kann. Sie hatte geschwiegen. Dann hat er gesagt: „Ich hab dich lieb, ganz doll lieb!“ und aufgelegt. 15 Jahre hat der Richter gemeint. 15 Jahre! Warum sie keine Pille nahm. Und warum sie niemanden davon erzählt habe. Und warum sie keine Hilfe geholt habe. Und ob sie sich bewußt wäre, dass das Töten von 3 Kindern ein Verbrechen darstelle. Sicherlich, richtig war es nicht, das mit den anderen, aber ein Verbrechen. Nein, das versteht der Richter nicht, denkt sie. Alle haben auf einmal so viele Fragen. Im Fernsehen kommen Sondersendungen, nur über sie. Die Leute im Dorf sind entsetzt. Die schütteln die Köpfe und antworten in die Kameras, dass sie immer so nett zu den Kindern war. Alle nennen sie nur: „Die Eismutter“. In der Hand hält sie ihre Zeitung. Auch die nennt sie nur “Die Eismutter“ und zeigt sie auf Bildern, wie sie tanzt und lacht, obwohl die Kinder schon lange tot sind.
Sie schließt das Fenster. Mechanisch blättert sie die Fernsehkanäle durch. Danach schaltet sie den Fernseher aus. Sie setzt sich an den Tisch und spielt wortlos mit ihren Händen. Das Telefonat beunruhigt sie jetzt. Sie drückt nach einem lautem Atemzug die Zigarette aus. Die unbenutzte Zeitung wirft sie in den Mülleimer. Sie schaut auf das Foto an der Wand und löscht das Zellenlicht. Sie legt sich in ihr Bett. Die Decke zieht sie weit über den Kopf.
23, ist sie jetzt.