Schuhe

Anderweitig vertan sind die Schuhe.
Selbst Strümpfe frieren, denn es bleibt Winter.
So frieren die Schuhe mit den Menschen
– ein. Man möchte im Leben
wirklich kein Schuh sein.

Erstens wäre man geteilt (denn was
ist einer ohne den anderen),
dann das Stolzieren und dann
das Wandern.
Das nützt doch keinem!

Niemandes Schuh möchte man sein.
Ginge kaputt und dann gen Müll,
in Tüll aber schlafen die Frauen nackt
– darunter…
Doch einen Schuh wirtschaftet
man herunter.

Undankbar und ohne Schuhfett
nässt man, schwitzt man, stinkt.
Überhitzt man überhitzig,
unvollzählig und traurig.

Trauern muss der Schuh:
denn ohne ein Schuh Ich
ist kein Schuh Du.

21.08.2019

Pauke Petrys Plan platzt /Hörn Höcke

Pauke Petrys Plan platzt

Pauke Petrys politische Pöbeleien passen planlosen Pegidaanhängern perfekt. Plötzlich plappern politisch prasselblöde Pegidisten Paukes perverse Putin-Phantasien. Parteiübergreifend pfeifen politikinteressierte Personen Pfeifkonzerte, parodieren prachtvoll Petrys Pampe, präsentieren per Parlamentsbeschluss Persönlichkeitsrechte pur. Plötzlich platzt Pauke Petrys Plan. Peng!

Hörn Höcke

Hörn Höcke hockt hinterlistig hinter hochgezimmerter Hirnschranke. Hörn horcht hungrigen Hilfesuchenden hinterher, hetzt, holt hastig hasserfüllte Hilfsbürgertruppen herbei. Hundert hat Höcke herausgeschrien! Hunderttausend! Hunderttausende! Hundertmillionen Hilfebedürftige holen Häuslebauers hartersparte Habseligkeiten heraus, handreichen Hehlerwaren. Halt! Halt hetzt Höcke herzaufbäumend. Halt! Halt! Höckes Hilferuf hinterlässt hilfswillige Helfershelferhelfer. Herbeigeströmte hetzen Hilfesuchende. Hörn Höckes Hysterie hat Hochkonjunktur.

Europarechtler Erdogan – Masse mal Maaslosigkeit

Europarechtler Erdogan

Eilig ersetzt Erpresser Erdogan ersatzlos Europarecht. Er erzählt epenhaft, er errette Eulen. Erdogans Etüden erzürnen Europapolitiker (etwas). Eiskalt erpresst er Eliten, ebenso einfältig empfängliche Einwohner. Erlasse erledigen erbarmungslos ehemals ehrbare Existenzen. Entmutigt emigrieren einige. Europapolitiker erstarren entgeistert, experimentieren eindeutiges Europarecht, erschwindeln Etikette. Ekelhaftes Einvernehmen. Erdogan exerziert exaltierte Ersatzarmeen, erpresst eisern, ermittelt effektiv, einstweilen exemplarisch. Erfolgsmann Erdogan äschert einsame ängstliche Eulen ein. Erdoganisch erodiert „Einiges Europa“.

Masse mal Maaslosigkeit

Musterschüler Meiko Maas macht mit Maaslosigkeiten mediale Massenüberwachung momentan möglich. Mittels maasgeschneiderten Mutmaasungskatalogen minimiert Messdiener Maas moderne Medienrechte, macht Meinungsfreiheit mundtot, Menschenrechtsorganisationen machtlos, Mediennutzer mutlos. Meikos Maasregelwahn mobilisiert Massen. Meutere mit!

Trau schau

Deiner Seele habe ich
keinen Abbruch getan.
Du bist meinetwegen,
wegen mir –
wegen dir –
deinetwegen –
wegen was,
(wegen dem doch nicht)
ein Gedicht geblieben.

Wegen dem Legen-zu-Mittag
liegen lassen,
verblassen.

Ein Gedicht bleiben können,
den Zeiten entgegen,
den Zeilen –
wegen Streben, wegen was,
wegen dem doch nicht…
reden, überreden,
streben zu reden:
reden lass.

Gedicht geblieben,
Gedicht bleiben
und Gesicht.
Dein Gesicht
in meinem Gesicht,
deine Gedichte
sind meine Gedichte,
meine Gedichte bleiben
wegen dir, deinetwegen.
Schweigen.
 
Wiegen, überwiegen,
liegend zu wiegend,
wiegen was…
wiegend liebend,
lieben zu lieben,
liebend, flehend,
stockend, stehend:
lieben lass.
 
Bloß der Regen fällt dein Haar.
 
Doch deiner Seele
hat das keinen Abbruch getan.
 
Und dann:
reise auf deine
stille Art und Weise
fort.
Liebend, flehend,
stockend, stehend:
lieben lass.
 
Was ist das:
pfeifend, reifend,
knochig betend:
Liebe lass.

Waliča Weidels Wahlscheinlichkeit! – Bedauernswerte Beatrix

Waliča Weidels Wahlscheinlichkeit!

Während wir wankelmütig werden, webt Waliča Weidel wohlgefällig wirre Welttheorien, woraus westdeutsche Wirtschaftswundermelancholie, wurmstichiger Weltkriegswundenpathos, wohlhabende Wirtschaftsflüchtlingsangst wechselseitig weichgemaicht werden. Willenlos wanken wacholderschnapstrunkene Wracks, wehrmachtsbereite Wendeverlierer, wetternde Witwengruppen westwärts, wandern wohlklingenden weidelschen Widerhall. Währenddessen wettgeifern Wahlkampfveranstaltungen weichgespültes wolkenfreies Wunschzettelallwetterhoch. Wenn wir (wieder) wegschauen wird Waliča Weidels Wahlscheinlichkeit Wahrheit werden.

Bedauernswerte Beatrix

Brechstange Beatrix benutzt bei Bootsflüchtlingen bereitwillig beleidigende Begriffe, bisweilen bei bestimmten Berufspolitikern besonders beliebt. Bleibt Brechstange Beatrix bei brandstifterischem Benehmen, brauchen bedürftige Bootsflüchtlinge bei brennenden Bleiben, besser bewachten Behausungen, besonnene Bundes-Bürger bei bewährten Bürgerrechten.

neubeginn

intakt und zerrissen zugleich,

versteckt sich die zukunft

im sommer zwischen den blättern,

wartet nicht, was kommen mag

sondern kommt:

mit dem frost und dem eis und dem schnee,

der alle kahlköpfigen eichen bedeckt,

und nur noch das nadelgrün leuchten lässt.

verschwunden das moos,

hier ist nichts los,

nur knirschen im schnee,

hier flattert nichts mehr, hier pfeift es.

aus dem letzten loch schaut ein hase hervor,

träumt von den himbeeren,

hier im einz´gen gestrüpp.

intakt und zerissen zugleich

versteckt sich die zukunft

im winter unter den flocken aus eis.

NEUIGKEITEN

Liebe freundeunbekannte,

wir haben GROßARTIGE Nachrichten für Euch!

Wir haben Kraft getankt, Arbeitgeber gewechselt, ein Kind bekommen, Schmuck verkauft, geheiratet und eine neue freundeunbekannte gefunden! Wir schreiben fleißig und sammeln und diskutieren und bestücken wieder regelmäßig den Blog ab Januar 2019– und zwar zu viert!

Anbei noch eine wichtige Information zur EU-Datenschutz-Grundverordnung vom Mai 2018. Ihr habt in der Vergangenheit von uns Sonntagspost zu aktuellen Blogeinträgen und Informationen zu Lesungen erhalten.
Gerne möchten wir Euch auch in Zukunft diese Briefe und Informationen zusenden können, daher haben wir Eure Kontaktdaten in unserem Verteiler gespeichert. Näheres dazu findet Ihr auch auf unserem Blog unter der Rubrik Datenschutzerklärung.

Falls ihr das nicht wünscht, bitten wir Euch, uns kurz darüber zu informieren indem ihr uns eine E-Mail mit dem Betreff „Abmeldung“ an briefe@freundeunbekannte.de sendet.
Falls wir keine entsprechende negative Antwort von Euch erhalten, werden wir Euch weiterhin schreiben.
Damit erteilt ihr uns die Erlaubnis, Eure persönlichen Daten ausschließlich für den Versand unseres Newsletters zu verwenden.

Natürlich könnt ihr Eure Einwilligung auch in der Zukunft jederzeit widerrufen, indem ihr uns ein Mail mit dem Betreff „Abmeldung“ an briefe@freundeunbekannte.de sendet.

Wir wünschen euch noch einen sonnigen und erlebnisreichen Sommer und freuen uns auf das neue Jahr mit Euch!

Eure freundeunbekannte

#meg #korbinian #eileen und #dina

ödland

ein blick auf nadelbäume und holzplanken,
herumliegend im matsch, zaunsfelder
intakt und zerrissen zugleich, die abgrenzen,
was mehr eigen genannt, weniger mehr bewohnt wird.
ein tisch bewachsen mit moos, zwei reifen im himbeergestrüpp,
die blaue plane flattert im wind, löchrig und mit regentropfen benetzt,
halb dach, halb sonnensegel, vielleicht für die feldhasen hier,
denn wilde möhren müssen dort wachsen,
im einödland zwischen den flüssen.

eines morgens

den teddy im arm pulst du
die schlafkörner dir aus den augenwinkeln
und tappst ins badezimmer.
du zeigst zähne wie der biber
auf deiner zahnpastatube, die du verteilst,
als du fragst, warum gänse schnattern und nicht bellen.
du willst schließlich auf einen bauernhof leben
und müsstest das wissen.
eine katze, zwei hunde, schafe, ein ferkel müsstest du haben
und kühe, natürlich,
die brächten die milch, die trinkst du so gern,
schnurpselst du dir dein leben und die cornflakes zurecht.
in gummistiefel und matschepampe
hüpfst du noch schnell hinein,
bis der bus anrollt,
wischst dir den rotz am ärmel ab
und pustest mir zum abschied ein küsschen zu.

Aljoscha, Teil V

Aljoscha fiel kopfüber in den Schnee und wurde wach. Ein Mann, der in zusammengeschnürten Fußlappen breitbeinig auf der oberen Stufe stand und auf ihn herabsah, aß den Rest des Kuchens, über den der Junge vor ein paar Minuten eingeschlafen war. Er schrie: „Was willst Du hier? Schere dich weg, Du versperrst mir den Weg! Du Dieb, Du hast den Kuchen gestohlen. Gib es zu!“ Der Junge erkannte das kantige Gesicht mit der flachen Stirn und der breiten Nase und dem zottligen Bart. Oft hatte er in seiner warmen Nische sitzend beobachtet, wie dieser Mann aus unerklärlichen Gründen plötzlich Ränkeleien anzettelte und auf die Gäste einschlug, bis diese zu Boden gingen und regungslos liegen blieben. Selbst der Gastwirt schien jedes Mal vor diesem Mann Angst zu haben, denn er blieb stets still hinter dem breiten Tisch seiner Theke stehen oder ging schnell in die Küche oder den Keller, bis der Kampf ausgetragen war und der Zusammengeschlagene blutüberströmt das Gasthaus verließ. Der Mann drückte mit seinen schmutzigen Fingern den Kuchenrest in einem Zuge in den Mund und wischte sich schmatzend über den ungeschnittenen Bart. Er sprang von der obersten Stufe herunter, drehte sich zu dem Jungen und blieb mit breit ausladenden Armen vor ihm stehen. Der Junge lag immer noch regungslos im Schnee. Der Mann machte einen Schritt auf den Jungen zu, beugte sich über ihn und schlug ihm mit der Faust ins Gesicht. In der Zeit des Schlages griff er mit der anderen Hand geschickt das im Schnee liegende rotlederne Beutelchen, warf es in einem Schwunge hoch und ließ es in seine Hand gleiten. Der Junge, der glaubte, dass der Schlag wegen des Stück Kuchens erfolgte, sagte ehrerbietig: „Herr, verehrter Herr, ich habe den Kuchen eben von einem großherzigen Gönner geschenkt bekommen und nicht gestohlen. Wenn Sie, verehrter Herr, jedoch den Kuchen wollen, dann dürfen Sie ihn selbstverständlich nehmen!“ So als ob er die Worte des Jungen nicht hörte, schlug der Mann ihn ein weiteres Mal in das Gesicht. Dieses Mal heftiger. Er zog den Jungen am hochgestellten Kragen in einem Schwung nach oben, das dieser für einen Moment den Boden unter den Füßen verlor und sich in die Luft erhob. Dabei löste sich die Jacke aus dem Gürtel und der Junge stand mit freier Brust vor ihm. „Woher hast Du das Beutelchen, Du verdammter Tagedieb?“, schrie der Mann aus voller Kehle. Ohne weitere Worte des Jungen abzuwarten, schlug er mit einem kurzen, aber treffsicheren Schlag genau zwischen die Rippen des Jungen, dass dieser rücklings wieder in den Schnee fiel und sich krümmte. Wieder zog er ihn am Kragen hoch, dieses Mal aber so heftig, dass die Arme aus den Ärmeln rutschten und die Jacke im hohen Bogen in den Schnee flog und der Junge mit freiem Oberkörper vor ihm stand. Wieder schlug er ihm mit einem gekonnten Hieb zwischen die Rippen oberhalb des Magens. Und wieder fiel der Junge. Dieses Mal krümmte er sich nicht. Die Wucht des Schmerzes, die in seinem Leibe einsetze, machte ihn für einen Augenblick atemlos und nahm ihn die Möglichkeit, eine abwehrende Körperbewegung einzunehmen. Stattdessen wartete der Junge im Schnee liegend, bis er wieder Luft holen konnte und sich die Lunge mit Atem füllte. Er holte kurz hintereinander Luft und hauchte: „Bitte, bitte, fremder Herr, bitte lasst mich in Ruhe, ich sage Ihnen doch, wenn Ihr den Kuchen möchtet, bitte, so könnt Ihr ihn haben!“ Voller Gier öffnete der Mann das Beutelchen und schüttete den Inhalt in die Hand. Da sich außer ein paar zusammengeknüllten Zetteln kein Geld darin befand, schüttelte er wieder und wieder an dem Beutelchen. Als immer noch keine Kopeke herausrollte, zog er das Beutelchen auseinander, sah hinein und schlug, als er immer noch keine Münze darin fand, mit der Faust auf das Leder. Er warf die zusammengeknüllten Zettel in den Schnee und steckte das Beutelchen in seine Manteltasche. Von Wut erfüllt, stapfte er nochmal zu dem Jungen und schrie so laut er konnte: „Wo, wo ist das verdammte Geld? Wo hast du das Geld versteckt? Sag es, Du elender Tagedieb! Wo, wo, wo, verdammt noch einmal, wo? Sag es! Sag es!“ Der Junge, der am Tonfall und den ruckartigen Bewegungen die Raserei an dem Manne wiedererkannte, machte sich so klein er konnte. Um den Schlägen soweit als möglich, zu entgehen, kauerte er sich zusammen, zog die Füße an das Gesäß und schlang Arme und Hände um die Lenden und Beine. Der Mann, von der devoten Haltung, die der Junge einnahm, angestachelt, schlug mit den Fäusten auf den Rücken des Jungen wie ein Hungriger auf den Küchentisch. Als ihm die Puste ausging, trat er mit den Füßen auf den Kopf und die Schulter. Benommen von den Schlägen und taumlig von den Tritten, versuchte der Junge sich aufzurichten und an die Barmherzigkeit des Mannes zu appellieren. In diesem Moment beugte sich der Mann nach vorn, um einen vom Baume herunterbrechenden Ast aufzuheben. Beim Umgreifen des Astes kamen sich die Gesichter der Beiden nah. Der Junge sah den starren, tiefen Blick der Augen und begriff, dass alles Bitten und Flehen zwecklos sein würde. Der Mann umgriff mit beiden Händen den Ast, hob ihn hoch, schwang ihn wie eine Peitsche in die Luft, um den Jungen den alles entscheidenden Hieb zu versetzen. In diesem Moment rollte der Junge seinen schlanken Körper durch den Schnee, genauso wie er es vorhin tat, als die Pferde der Kutsche auf ihn zurasten. Er krabbelte zu der Öffnung unter der Treppe und schlupfte hindurch. Der Mann, der über die unerwartete Bewegung des Jungen verdutzt war, hielt den Ast immer noch in die Luft und blieb regungslos stehen. Mit dem Ast in den Händen, stellte er sich vor die schmale Öffnung und schlug so lange auf die Stufen, bis der Ast zerbrach. Der Junge hoffte, dass der Mann zu ungeschickt war, um ihn aus der Öffnung hervorzuholen. Ohne zu wissen, welchen seiner Heiligen er jetzt bitten musste, um zu erreichen, dass diese den Mann völlig betrunken werden ließen, faltete er die Hände und bat laut murmelnd zu den Stufen schauend, in die Richtung, in der er den Himmel und seine Heiligen vermutete. Er bat sie, dass sie den Mann endlich betrunken machten. Er bat sie, dass dem Mann genauso wie den Betrunkenen, die der Junge in den letzten Jahren zuhauf in den Gasthäusern kennen gelernt hatte, die Kräfte entwichen und wie es bei Betrunken üblich war, schnell die Laune verlöre und sich einer neuen Sache zuwendete. Und schließlich bat er seine Heiligen, dass sie den Mann, wenn möglich, abrupt müde werden ließen, in den Schnee sinken und einschlafen lassen sollten. Der Mann stand indes unbeirrt vor dem Loch wie vor einem Fuchsbau und trat abwechselnd mit den Füßen dagegen. Immer wieder beugte er sich vor, griff in das Dunkel der Öffnung und ruderte blind mit der Hand umher. Er spreizte und schloss die Finger zu Schnappbewegungen und versuchte so den Jungen herauszuziehen. Immer wieder sah der Junge die suchende Hand, mit dem vernarbten Handrücken, sah die dicken Finger, an denen einige Glieder fehlten, die in Richtung seines nackten Oberkörpers schnappten. Als der Mann von der Raserei erschöpft war und er begriff, dass er den Jungen auf diese Weise nie zu fassen bekommen würde, trat er nochmal wütend gegen die Bretter der Öffnung und gab lauthals Flüche über Löcher käuflicher Frauen ab, die der Junge jedoch nicht verstand. Zum Abschluss schlug er nochmal prüfend auf jede einzelne Stufe, ob nicht doch eine Möglichkeit bestand, den Jungen aus dem Versteck zu zerren und zu verprügeln. Als er erkannte, dass die Stufen fest vernagelt waren, fluchte er nochmals und verschwand. Der Junge kauerte still in dem Loch. Er lehnte seinen Kopf gegen die Bretter des Gasthauses und sah wie einzelne Zettel des Beutelchens vom Schneegewölk einer Windböe erfasst wurden, hochwirbelten und in einem Schwung direkt vor dem Eingang seines Versteckes zum Liegen kamen. Trotz oder weil er nicht wirklich lesen konnte, reizte ihn die Neugierde zu erfahren, was auf den Zetteln geschrieben stand. Auf allen Vieren krabbelte er aus dem Loch heraus, griff nach den Zetteln, die eben noch vor ihm am Boden lagen und die nun wieder von einer Böe erfasst wurden, sich in die Luft erhoben und wild um seinen Kopf tanzten. Von der unsichtbaren Macht der Böe angelockt, krabbelte er weiter und weiter und erhaschte einen nach dem anderen. Nach all den Schlägen, deren Wirkung noch nicht ganz in seinem Körper angekommen war, empfand er auf einmal Freude. Er drehte sich flink von rechts nach links, von oben nach unten. Nachdem er die Zettel eingesammelt hatte, griff er das am Boden liegende letzte Stück Papier. Er beugte sich über das Blatt und bemerkte, wie sich ein Schatten erst über das Blatt und dann über ihn schob.

sag nur ein wort

das land ist so seltsam still in den nebelschwaden,
tropft´s sachte von den ästen der kiefern hinunter
und doch kann man es riechen, das meer
nur zehn schritte weiter die wellen grüngrau,
wie sie schäumend, wie sie brausend und stobend
umstürzen auf den sandbänken,
und dazwischen die großen wildgänse,
die tausendstimmig aufstieben mit ihrem wehmütigem schrei
übers richtige außenmeer uns forttragen,
wer weiß wohin.

You’re welcome

„Sorry.“, sagt die Frau und ich bin versucht mich umzusehen um sicherzugehen, dass sie mich meint. Aber wir sitzen einander gegenüber und wie hinter ihr nur Glas und U-Bahntunnel ist, so kann auch hinter mir nur Glas und U-Bahn-Tunnel sein. Ihre Augen – groß, klar, dunkel – fokussieren mich eindeutig. Ich hebe ich die Augenbrauen und senke die Mundwinkel, weil ich mich nicht traue „Was? Wie?“ zu fragen. Die Frau presst die Lippen aufeinander, senkt den Kopf und steckt ihre schlanke Nase in das Haar ihres Kindes, welches auf ihrem Schoß sitzt. Für einen Moment schließt sie ihre Augen.

Das Mädchen – die gleichen dicken braunen Locken wie ihre Mutter – hatte mich lange angestarrt und dann meine Hündin und dann wieder mich. Ich hatte gezwinkert und gegrinst. Der Blick des Mädchens hatte weiterhin distanziert und beobachtend auf meinem Gesicht geruht. Ich hatte eine Grimasse gezogen und geschielt. Das Gesicht des Mädchens war unbewegt geblieben. Meine 8-jährige Nichte ist dankbarer, wenn ich den Clown spiele, hatte ich gedacht; wie es ihr wohl geht, hatte ich mich gefragt und wann ich sie mal wieder anrufen würde.

Weil die U-Bahn ein bisschen rumpelte, hatte sich meine Hündin zwischen meinen Beinen aufgesetzt, so dass ihr Kopf an meinem Knie lehnte. Ich hatte angefangen, sie hinter dem Ohr zu graulen. Meine Hündin grunzt und schnauft dann ein bisschen und das bringt Menschen zum Lächeln. Das Mädchen aber hatte sich abgewendet und sein Gesicht im dunkelblauen Mantel seiner Mutter verborgen.

In manchen Kulturen gelten Hunde als schmutzig, hatte ich gedacht, vielleicht ekelt sich das Mädchen zu sehen, dass ich meine Hündin mit bloßen Händen streichle. Du solltest mal fühlen, wie sich das anfässt, dachte ich weiter; weichster Plüsch, warm und kuschlig. Vielleicht fürchtest du dich auch vor meiner Hündin, dachte ich noch, aber ich sag’s dir, die fürchtet sich mehr vor dir. Erst dann hatte ich bemerkt, dass der zarte Rücken des Mädchens zu zucken begonnen hatte. Wahrscheinlich weinte sie.

Ich muss erschrocken aussehen, denn jetzt sieht mich die Mutter an – unverwandt, tief – und sagt: „Sorry.“
Als ich nicht sage, schiebt sie nach einigen Sekunden nach: „We had a dog, too:“
Ich nicke mitfühlend.
„It died?“, frage ich schließlich leise.
Die Mutter sieht zur Decke und neigt abwägend den Kopf. Sie presst kurz die Lippen aufeinander, dann sieht sie mich an und sagt unvermittelt: „We ate it.“
Mein Mund öffnet sich. Sie hält meinen Blick.
„We’re from Syria. We were hungry.“, erklärt sie.

Ich schlucke. Sie hebt kurz die schlanken Schultern. Ich mache ein Geräusch, das man am ehesten als Ächzen beschreiben kann. Sie lächelt unsicher. Ich ziehe meinen Bauch ein. Sie wendet sich ihrem Kind zu. Ich fahre mir mit der Hand über den Mund und nutze die Gelegenheit, meinen Kopf zu drehen um für ein paar Sekunden woanders hinzusehen. Reklame, Mobiltelefone, bunte Turnschuhe, dunkel geränderte Brillen, ein Süßwarenautomat auf dem Bahnsteig, eine leere Tequila-Bier-Dose, die über den grauen Boden rollt. Ich sehe sie wieder an. Ihr Blick ist glasig. Sie sieht mich wieder an. Ich spüre, wie mein Blick glasig wird. Sie zieht die Unterlippe nach innen. Ich streiche mir über den Bart.

„You’ve never been as hungry.“, sagt sie und schüttelt einige Sekunden lang kaum merklich den Kopf. „Believe me.“
„I don’t judge you.“, sage ich und schüttele ebenfalls den Kopf. „It’s just so –“, sage ich weiter und dann fällt mir das Wort nicht ein und ich denke, verdammt, sag ein anderes Wort, aber ich kann kein anderes Wort sagen, es gibt kein Wort. Ich sehe auf den Boden.

Ich muss es mir vorstellen. Wie tötet man einen Hund? Mit dem Messer? Mit einem Stein? Und was dann? Häuten? Ausnehmen? Braten? In den Nachrichten hatte ich gehört, vom Hunger in Madaja. Liegt Madaja in Syrien? Ich hatte gehört, dass es stinkt, wenn man tote Tiere aufschneidet neulich, von einer Kollegin, aus einer Fleischerfamilie. Ich spüre den Kopf meiner Hündin an meinem Knie, ihren Hals an meiner Wade. Ich habe den Impuls, sie zu graulen. Ich verbiete es mir, ich finde es pietätlos. Ich nehme meine Brille ab und reibe mir die Augen, damit die Frau denkt, sie wären davon rot geworden. Würde ich meine Hündin essen, wenn ich hungriger wäre, als ich jemals war? Natürlich. Keinesfalls. Sicher. Vielleicht. Was weiß ich denn?

„People eat animals.“, höre ich mich sagen. „When we eat pork, why shouldn’t we eat dogs?“
„We’re Muslim. We do not eat pork.“, antwortet sie. „But we usually do not eat dogs, either.“
„Of course not.“, antworte ich, „Sorry.“
„You’re welcome.“, sagt sie und winkt ab.
„You are welcome, too.“, antworte ich ernst und langsam. Dann lächle ich.

Sie lächelt zurück. Du bist schön, denke ich, aber was ist das für eine Kategorie: Schönheit! Ich stehe auf. Meine Hündin schüttelt sich, ihr Halsband klappert. Das Mädchen zieht sein Gesicht aus dem Mantel seiner Mutter und sieht meine Hündin an. Die macht einen Schritt auf das Mädchen zu und schnuppert an seiner Hose. Das Mädchen streckt ihr seine Hand entgegen, aber dann öffnen sich die Türen. Wir steigen aus. Als ich am Fenster der U-Bahn vorbeilaufe und mein Blick den der Mutter kreuzt, blinzle ich lange und nicke langsam. Sie winkt mit zwei Fingern. Ich setze mich und warte auf den nächsten Zug.

Aljoscha Teil IV

Er setzte sich auf die Schwelle des Gasthauses, das ihn und seine Geschwister all die Jahre zuverlässig ernährt hatte und das ihm deswegen jetzt der vertrauteste Ort auf dieser Welt war. Aljoscha wusste, würde er jemals zu Gelde kommen, würde er viele solche Gasthäuser über das Land verteilt bauen, den Kindern darin Zuflucht gewähren, sie jeden Tag mit süßem Brei und Kuchen ernähren und ihnen das Alphabet in schönen großen Buchstaben auf die Fensterscheiben schreiben lassen. Außerdem würde er darauf achten, dass keiner der anderen Gäste jemals die Hand gegen eines der Kinder erheben würde. In diese wunderbaren Gedanken versunken, lehnte er seinen Rücken an die Hauswand aus dicken übereinander gefügten Kiefernstämmen. Er drehte den Kragen hoch, drückte seinen schlanken Hals in den schmutzigen Stoff hinein und überkreuzte die Beine. Weil er dennoch zu frieren begann, schnürte er den aus Lederresten verflochtenen Gürtel, der seine Hose und die dünne Stoffjacke nur leidlich zusammenhielt, enger um die Taille und hauchte über die erkalteten Fingerkuppen. Dabei hörte er durch das geschlossene Fenster die vielen Stimmen, die wild durcheinandersprachen. Da er von je her nicht die Neigung der Anderen besaß, Dinge, die ihn bewegten seinen Mitmenschen mitzuteilen und deswegen auch von klein auf, keinerlei Veranlassung verspürte, mit irgendjemanden über das notwendige Maß hinaus ins Gespräch zu kommen und wegen dieser Eigenschaft in früheren Jahren manchmal in der Nachbarschaft sogar als geistig zurückgeblieben gegolten hatte, wunderte er sich nicht wirklich über das Gemurmel. Schon lange hatte er es aufgegeben herauszufinden, was Leute dazu antrieb, immerzu zu erzählen, anstatt sich still über den Tag, die Heiligen und die schöne Natur zu erfreuen. Eine Zeit lang hatte er es wie die Anderen versucht. Aber egal was er erzählte, sie machten sich entweder mit hämischen Sprüchen über seine Worte lustig oder fuhren ihm bei jedem zweiten Satz über den Mund, sodass er seine Gedanken oftmals nicht zu Ende bringen konnte. Und so nahm er es als eine Art Schicksal an, den Anderen still zuzuhören und dann und wann, wenn diese eine Pause einlegten, nachzufragen oder sie wortlos anzusehen, zuzustimmen oder auch gar nichts dergleichen zu tun und ihnen stattdessen zu versprechen für sie und ihre Sorgen zu beten. Die Erfahrung schien dem Jungen Recht zu geben. Bemühte er sich mit ihnen um eine Tagearbeit, bekam meist er den Auftrag und nicht die Gesprächigen. Zufrieden rieb Aljoscha den Kopf über die Rinde der Kiefernstämme und betrachtete den leckeren Kuchen, den der freundliche Mann ihm eben auf der Straße einfach so in die Hand gelegt hatte. Er rieb sich über die Stelle der Stirn, auf die ihn der Fremde eben geküsst hatte und überlegte, wann er das letzte Mal einen so unerwarteten Kuss erhalten hatte und ob er überhaupt schon einmal von einem Mann geküsst wurden war. Dass seine Mutter so etwas mit ihm früher vor dem Zubettgehen gemacht hatte und er mit solchen Aufmerksamkeiten häufiger bedacht wurden war, als die sieben Geschwister, begriff er immer dann, wenn sie ihn nach dem Kerzenlöschen in die Waden kniffen, einen Klaps auf die Schulter gaben oder die kleinen Geschwister beim Fortgehen der Mutter weinten und von ihm getröstet werden wollten. Er lächelte über den Gedanken, zwickte sich selbst in die Seite und beschloss, all seinen Geschwistern, wenn er nachher Hause käme, mindestens einen Kuss auf die Stirn und einen weiteren auf den Mund zu geben. Glücklich über seine Idee, schob er die Zunge über die Zuckerkruste und tupfte sanft über die unebenen Klümpchen, die der Bäcker wohl in der Schnelle seiner vielen Handbewegungen unachtsamer Weise darauf verteilt haben musste. Nach einer Weile machte er eine Pause, schob den runden Marmorkuchen vor die Augen und schaute ihn aus der Tiefe seines hochgeschobenen Kragens an, als wollte er sich noch einmal überzeugen, dass er tatsächlich im Besitze eines so schmackhaften Kuchens war. Er hielt ihn an die Nase und sog den Duft des Teiges in sich hinein. Aljoscha streckte die Zunge soweit er konnte heraus und begann mit der Zungenspitze kleine Kreisbewegungen über die Klümpchen zu ziehen, bis diese glatt geleckt waren. Unebenheit für Unebenheit leckte er so Stück für Stück herunter. Und Schicht für Schicht leckte er anschließend auch den dicken Zuckerguss ab. Als dieser abgeleckt war atmete er zufrieden ein und aus, schloss die Augen und begann in den Teig zu beißen. Endlich spürte er ein Mandelstück. Er pulte es aus dem Teig, schob es zwischen die Zähne, verharrte einen klitzekleinen Moment und zerknackte es schließlich. Das Geräusch gefiel ihm. Wieder begann er zu pulen und holte ein weites Mandelstück hervor. Auch bei diesem machte er eine Pause und biss darauf. Aljoscha pulte und pulte bis der Kuchen in zwei Hälften zerbrach. Dankbar gedachte er des fremden rothaarigen Mannes, mit den lustig klingenden Glöckchen an den Stiefeln und der schönen Pelzkappe, der ihn völlig unerwartet geküsst hatte und dessen Kuss er immer noch als angenehm empfand. Er freute sich über seine Heiligen und war sich sicher, dass sie ihn nie verlassen und auch weiterhin beschützen würden. Mit dieser Gewissheit, die er schon als kleiner Junge aus irgendeinem Grunde in sich trug und die ihm schon frühzeitig das Gefühl gab, eines Tages still für Gottes Ruhm und Ehre tätig werden zu dürfen, schlief der Junge auf der oberen Stufe kauernd und sich in einem Kloster mit weißen hohen Mauern sehend und allerlei Geschenke an die Armen verteilend, ein.

heimat

der schnee hat das herz verrückt.
darum immer das heimweh.
mutter liebkosen am hauptbahnhof, natürlich
liebling, herrlich diese geborgenheit
wie selbstverständlich in die badewanne mit maiglöckchenduft,
brot und bier aus dem kühlschrank,
das streichholzschächtelchen gegen die dämmerung.
wunderbare heimelichkeit, die fasziniert.

 

Geflüchtete und Migranten haben ihr liebstes deutsches Wort verraten*, welches Rückschlüsse zulässt, wie sie sich Deutschland vorstellen. Das faszinierte mich und so entstand dieses Gedicht mit darin enthaltenen 25 ausgewählten, schönsten Wörtern der deutschen Sprache.
*der Freitag Nr.47, 19. November 2015 S. 15

Aljoscha III

Aljoscha, der noch nie in seinem Leben gestohlen hatte, und der sich so eine furchtbar Tat, trotz seines immerwährenden Hungers auch für sein weiteres Leben nicht wirklich vorstellen konnte, ließ den Beutel, der ihm aus einem unerklärlichen Grunde in die Hand gekommen war, vor Schreck wieder in den Schnee fallen. Ängstlich drehte er sich um, um zu prüfen, ob ihn womöglich ein neugieriger Straßenpassant bei seinem Funde beobachtete und falsche Schlüsse daraus zog. Er betrachtete den Beutel mit der glänzenden Messingschnalle und bestaunte den goldenen Farbton, den er sonst nur vom Abendmalkelch und den reich verzierten Ikonen kannte. Er freute sich über das angenehme Gefühl, das der Glanz ihm in die Augen brachte. So, als wollte er die Schläge seines Vaters artig in Empfang nehmen, beugte er seinen Kopf langsam nach vorn, streckte den Rücken gerade, schob den Hintern etwas heraus und ließ die Arme geradewegs über die goldgelbe Stelle im Schnee hängen. Er beobachtete, wie der Glanz zusehend unter den herabfallenden dicken Flocken verschwand. In dieser Haltung drehte er sich noch einmal nach links und rechts, fand aber keinen Passanten weit und breit. Aljoscha wusste, dass es nicht richtig war, fremdes Eigentum an sich zu nehmen. Und dennoch tat er es. Aus einem ihm unerklärlichen Triebe und gegen seine innere Überzeugung und sicherlich auch weil er den Fund gleich morgen einem hohen Beamten der Stadt überreichen wollte, umgriff er mit beiden Händen das rotlederne Bündel mit der schönen goldleuchtenden Schnalle und schob es unter sein Hemd und drückte es an die Rippen. Die Kühle des Metalls, die er spürte, empfand er, trotz dessen er fror, als angenehm. Er schloss die Augen und glaubte zu fühlen, wie der Glanz seinen Körper durchdrang. Magensäure stieß in ihm auf und sein Bauch begann zu schmerzen und erinnerte ihn, dass er heute noch nichts gegessen hatte. Er öffnete die Augen und starrte auf die Tür des Gasthauses, die sich soeben knarrend auftat und aus der ein Schwall würziger Düfte herausströmte. Ganz gegen seine Gewohnheit und ganz gegen die Order des Gastwirtes keinen der wertvollen Gäste auch nur im Geringsten zu belästigen, sprach der Junge den nahezu zwei Meter großen Mann mit runder Pelzmütze und knielangen Ledermantel an, der soeben die Stufen des warmen Gastraumes heruntertaumelte. Der Junge trat einen Schritt beiseite und musterte die bunten Stiefel mit den Glöckchen am Schaft. Er verbeugte sich und sagte ehrerbietig: „Verehrter Herr, sehr verehrter hoher Herr, bitte geben Sie mir ein Stück von dem, was Sie in der Hand haben. Ich weiß, hoher Herr, dass es sich nicht geziemt, ehrbare Herren anzubetteln. Aber ich habe Hunger und mein Vater hat meine sieben Geschwister zu ernähren. Ich komme auch morgen zu Ihnen und fege Ihre Stube sauber. Ganz gewiss, hoher Herr!“ Der Mann, der schwankend an dem Jungen vorbei gestolpert war, drehte sich um und fragte jedes Wort einzeln betonend: „Sieben? Sieben Kinder hat dein Vater? Soso! Hast Du auch richtig gezählt?“ Aljoscha verbeugte sich noch tiefer und antwortete kaum hörbar: „Ja, hoher Herr! Gewiss, es sind drei Jungen und vier Mädchen, mit mir also acht!“ Wieder fragte der Mann die Worte betonend: „Drei, sagt du? Soso. Acht? Und Du lügst mich auch nicht an?“ Er kaute und betrachtete aus dem Augenwinkel den Jungen, der mit bauen Lippen und durchgeweichten Fußlappen vor ihm stand. Der Mann hörte plötzlich auf zu kauen und hielt die Speise, die der Junge begehrte, in den Schatten des Fensters. Der Junge, der die Speise immer noch nicht erkennen konnte, aber umso mehr sehnte, drehte seinen Kopf blindlinks nach dem begehrten Stück im Dunkel der Nacht, wo er es vermutete. Der Mann, der dies beobachtete, tat so, als ob er weiter aß und sagte mit vorgetäuscht vollem Munde: „Kannst Du überhaupt zählen und schreiben? Weißt Du überhaupt, wie eine Acht geschrieben wird?“ Dabei pusselte er fortwährend an den Lippen und schmatzte. Aljoscha beugte sich noch tiefer, dass er fast vornüber und dem Fragenden auf die Stiefel gefallen wäre und sagte erleichtert: „Ja, aber ja, verehrter Herr, ich kann zählen und schreiben!“ Damit der Herr nicht auf die Idee kam, ihn nach Zahlen zu fragen, die er noch nicht kannte oder schon wieder vergessen hatte, kauerte sich Aljoscha vor ihn in den Schnee und malte vor dessen eisenbeschlagenen Stiefelspitzen in Schönschrift und mit ausladenden Handbewegungen die Zahlen Drei, Vier und Acht. Der Mann, der sichtlich erstaunt war und dem Jungen das in den Schnee Geschriebene sofort glaubte, ließ überrascht die Speise fallen. Er schob die Mütze in den Nacken, kratze sich am rotblonden Stirnhaar und ging wortlos auf die Straße. Nach wenigen Schritten blieb er abrupt stehen, drehte sich um, ging den Weg zurück und hob die Speise auf. Er wiegte seinen Kopf im Schneegewölk und wedelte mit seiner breiten Hand vor dem Gesicht des Jungen. Er betrachtete die klaren, braunen Augen, die schmale Nase und den etwas zu klein geratenen Mund mit den blauen Lippen. Er nahm die Hände des Jungen, legte das eben Weggeworfene hinein und sagte im sanften Ton, den man dem stattlichen Mann mit seiner lauten Stimme niemals zutrauen würde: „Und das Du schön brav weiterlernst. Ich sage dir, mein Junge, aus dir wird einmal wer, vielleicht ein Beamter. Man weiß nie!“ Bei dem Wort nie, tätschelte er dem Jungen zärtlich über die Wange und kämmte ihm das nasse, schneeverklebte, schulterlange Haar zu einem Scheitel. Er drückte sein rundes Gesicht mit dem rotblonden Backenbart an das blasse Gesicht des Jungen, umgriff dessen Hals zog ihn an sich heran und gab ihm einen schmatzenden Kuss auf die Stirn. Dann drehte er sich um und ging, dass die Glöckchen an den Stiefeln erklangen. Dabei sagte er: „Drei, soso, Acht, aus dem wird nochmal etwas Großes! Sieben Geschwister, und er kann Schreiben und Lesen. Wer hätte das gedacht? „Trällernd bog er in den abschüssigen, unbefestigten Seitenweg ein, der in einen tückischen rechten Winkel zum Bach hinabführte und auf dem sich schon viele ihre Knöchel nicht nur im winterlichen Schneegestöber an den vielverzweigten tiefen Wagenfurchen verstaucht hatten und auf dem schon so mancher Betrunkene abkam und in die unübersichtliche nahe Wasserbiegung rutschte und von dort fortgeschwemmt wurde. Er pfiff eine fröhliche Melodie in die Nacht und rief: „Soso, drei, aus dem wird noch mal ein Beamter. Ich sage euch, fein wird er werden, fein, drei und vier, eine sehr feine Acht. Ich spüre sowas!“ Vom eben Geschehenen verunsichert, wischte sich der Junge mit der einen Hand die Spucke vom Mund und schob mit der anderen Hand geistesabwesend langsam das eben Geschenkte zwischen die Lippen und biss darauf. Die Süße des Zuckers und das Aroma der Schokolade, die er beim Kauen auf einmal auf seiner Zunge verspürte, machten ihn glücklich. Er winkte dem Mann, von dem plötzlich weder sein Trällern noch das Glöckchengeläut zu hören waren, hinterher und rief: „Danke, danke für das schöne Stück Kuchen. Gott beschütze Sie, verehrte Herr! Gott gebe Ihnen ein langes und gesegnetes Leben

Alles andere

„Da bist du! Ich habe dich überall gesucht! Was machst du hier oben?“
Kai sieht Wenzel an, sagt aber nichts. Einen Augenblick später wendet er sich wieder der orange getünchten Stadt zu.
„Komm runter da, Kai. Das ist gefährlich. Und grins nicht so. Sei vernünftig!“
„Machst du dir Sorgen um mich?“
„Allerdings!“
„Das ist schön.“
„Bist du betrunken?“
„Allerdings. Das ist schön.“
„Was soll das, Kai? Es ist noch nicht mal sechs.“
„Spaß machen. Es soll Spaß machen.“
„Okay: Ich greif dir jetzt von hinten unter die Arme und ziehe dich zu mir rüber.“
„Lass mich.“
„Deine Zehen klemmen hinter dem Geländer. Du hängst fest.“
„Na bitte. Ist doch gar nicht gefährlich.“
„Kannst du dir denken, warum diese Dachterrasse von einem Geländer begrenzt ist?“
„Damit man darauf sitzen kann?“
„Sicher nicht.“
„Dann vielleicht als Sprungbock?“
„Los jetzt, Kai!“
„Für einen schönen Köpper in die Stadt?“
„Kai, wir sind 16 Etagen über dem Boden. Wenn du hier runter stürzt bist du tot.“
„16 mal 3 ist 48, plus ein bisschen ist 50. Wie lange falle ich für 50 Meter?“
„Deinem Gewicht nach zu urteilen nicht sehr lange. So, jetzt bitte loslassen, ich habe dich.“
„Hast du Zigaretten?“
„Du kriegst eine, sobald du vom Geländer runter bist.“
„Rauch eine mit mir. Hier.“
„Ausgeschlossen.“
„Feigling.“
„Oh, ja! Das zieht bei mir. Du nennst mich Feigling und ich tue alles was du von mir verlangst, um dich zu beeindrucken.“
„So ist das eben zwischen uns. Komm schon, ich will dir etwas zeigen.“
„Was gibt es da zu sehen, dass ich nicht auch von hier sehen könnte?“
„Nichts. Aber es gibt was zu fühlen.“
„Todesangst?“
„Nein. Chance.“
„Chance?“
„Entweder setzt du dich jetzt neben mich und erlebst es mit mir oder du verschwindest und lässt mich diesen Moment genießen.“
„Genießen? Aushalten.“
Wenzel tritt an das Geländer und atmet tief.
„Nicht nach unten gucken, Wenzel! Sieh mich an.“
„Kai, wie soll ich denn –“
„Linkes Bein über das Geländer schlagen, Geländerstange in die Kniekehle klemmen, linken Fuß hinter eine Geländerstrebe stecken, rechtes Bein nachziehen. Schon sitzt du.“
„Nichts leichter als das, du Klugscheißer.“
„Bist du noch nie irgendwo drüber geklettert?“
„Sehe ich aus, als würde ich viel klettern?“
„Gerade siehst du sehr lustig aus. Du hast ein V zwischen deinen Augenbrauen. V wie Venzel.“
„Das ist sehr hoch, Kai.“
„Toll, oder?“
„40 Meter weniger würden mir auch reichen. Oder 50.“
„Aber der Blick!“
„Es ist der gleiche Blick wie eben.“
„Nur, dass da kein Geländer mehr ist, zwischen dir und –“
„Dem Tod?“
„Dem Leben! Diesem Licht! Diesem –“
„Mir wird schlecht.“
„Du gewöhnst dich dran, gleich.“
„Gleich werde ich nicht mehr hier sitzen. Was wolltest du mir zeigen?“
„Hast du die Zigaretten?“
„Das Päckchen ist in meiner Hosentasche.“
„Na los, gib eine aus.“
„Das geht nicht. Ich werde keine meiner Hände von dem Geländer lösen.“
„Soll ich das Päckchen etwa aus deiner Hosentasche fischen? Das wird aufregend.“
„Unter anderen Umständen gern. Gott, ich hoffe, dass du dir bis an dein Lebensende bei jeder Zigarette Vorwürfe machst, wenn ich jetzt abstürze und sterbe.“
„Vielleicht springe ich dann gleich hinterher.
„Willst du dich umbringen?“
„Was soll ich hier ohne dich?“
„Ha. Ha.“
„Ich will rauchen. Aber davon kann man auch sterben.“
Wenzel löst seine rechte Hand vom Geländer. Nur eine Sekunde, dann muss er sich wieder festhalten.
„Sehr gut! Siehst du? Es passiert gar nichts, Wenzel. Und jetzt in die Tasche mit der Hand.“
„Ich hasse dich, Kai.“
„Du würdest nicht hier sitzen, wenn das stimmen würde.“
Wenzel löst die Hand ein weiteres Mal und stopft sie in seine rechte Hosentasche. Er lehnt seinen Oberkörper Richtung Kai, damit der feste Stoff seiner Jeans mehr Platz für seine fleischigen Hände lässt.
„Da. Zigaretten.“
„Steckst du mir keine an?“
„Mach das selber.“
„Manche sagen, sich von anderen eine Zigarette anstecken zu lassen, sei ein indirekter Kuss.“
„Und manche sagen, sich von anderen zwingen zu lassen, seine Sommerabende auf einer 5 Zentimeter breiten Metallstange in 50 Metern Höhe zu verbringen sei seltendämlich.“
Wenzel steckt sich eine Ecke des Zigarettenpäckchens mit der rechten Hand in den Mund und hält es mit den Zähnen fest. Dann umfasst er wieder das Geländer. Mit der linken Hand greift er nun nach dem Päckchen und reicht es Kai. Der lächelt und nimmt es.
„Feuerzeug?“
„Im Päckchen.“
Kai schlägt das Päckchen gegen seinen Handrücken. Zwei Zigaretten schießen heraus. Eine prallt von Kais Knie ab, die Zweite landet auf seinem Schenkel, rollt in Richtung Knie, fällt sein Schienbein hinunter und landet auf seinem Fuß. Die erste befindet sich inzwischen bereits anderthalb Stockwerke unter ihnen im freien Fall.
„Heilige Scheiße!“
„Man kann nicht widerstehen, oder?“
„Mir wird schwarz vor Augen.“
„Man kann nicht widerstehen, ihr nach zu sehen, stimmt’s? Wie schön sie trudelt, wie sie noch ein bisschen überlegt und probiert, was denn nun die günstigste Position für den Aufprall wäre und wie sie sich schließlich der Schwerkraft ergibt, und mit dem Tabak nach unten und dem Filter nach oben in die Tiefe stürzt. Schön, oder?“
„Du bist ein Sadist. Wolltest du mir das zeigen?“
„Nein, das war ein Versehen.“
„Ein Versehen? Dass du die zweite Zigarette mit deinem Fuß auffängst, war ein Versehen?“
„Nein, das war Glück. Warte, ich rette sie.“
Kai zieht die Zehen an und hebt langsam sein Bein, um nach der Zigarette auf seinem Fuß zu greifen. Wenzel packt Kais Schenkel und drückt ihn wieder auf das Geländer.
„Keine Akrobatik! Bist du verrückt geworden?“
„Nein, sparsam. Ich bin schließlich arbeitslos.“
Erst nach einigen Sekunden zieht Wenzel seine Hand zurück um sich wieder am Geländer festzuhalten. Die Zigarette rollt auf Kais Fuß hin und her, bevor auch sie auf die Straße trudelt.
„Sieh nur, sie wird ganz woanders landen! Der Wind trägt sie ganz woanders hin als die erste.“
„Fantastisch. Aber bevor der Wind auch mich sonstwohin trägt und dich bezaubernderweise ganz anderswohin, bringe ich mich lieber in Sicherheit.“
„Bleib, Wenzel.“
„Du hattest deinen Spaß.“
„Spür das doch mal!“
„Was denn? Meinen Angstschweiß auf der Stirn? Großartig.“
„Das ist bloß die Hitze.“
„Was dann? Panik? Herrlich.“
„Nein, keine Panik. Chance.“
„Chance? Wovon zur Hölle redest du?“
„Achte mal auf den Wind. Wie er dir durchs Haar fährt. Durch den Bart. In dein Hemd. Über deine Knöchel. Und sieh dir die Stadt an, sieh nur! Hinter jedem dieser Fenster wartet eine Geschichte! Und guck, dort drüben, das Flugzeug! Wohin fliegt es?“
„Das ist alles sehr romantisch, Kai, aber die einzige Chance, die ich hier habe, ist abzustürzen und zu sterben. Und das ist eigentlich keine Chance. Das ist ein Risiko.“
„Ja! Das ist das Risiko, genau.“
„Also?“
„Also ist alles, was nicht Risiko ist Chance!“
„Das ist doch pubertär.“
„Nein, das ist wahr! Alles was passiert, wenn du nicht stirbst ist Chance! Begreifst du das? Du könntest jetzt abstürzen und sterben. Oder du könntest ein paar Sachen packen, zum Flughafen fahren und noch heute Abend selbst in einem dieser Flugzeuge sitzen. Du könntest überall leben!“
„Ich muss arbeiten.“
„Blödsinn. Du müsstest dich viel eher mal fragen, was du bist, wenn du nicht arbeitest.“
„Ein Taugenichts wie du?“
„Oder du könntest zu einem dieser Häuser laufen und klingeln um zu sehen, wer hinter den Fenstern wohnt. Vielleicht die Liebe!“
„Ich weiß, wo die wohnt.“
„Oder du gehst in den Supermarkt, kaufst jedes 10. Ding und erfindest ein neues Essen!“
„Soll ich uns was kochen?“
„Kapierst du das nicht?“
„Natürlich tue ich das. Aber musstest du mich in Lebensgefahr bringen um sicherzugehen?“
„Du hast dich in Lebensgefahr gebracht.“
„Weil du versprochen hattest, dich dann endlich außer Lebensgefahr zu begeben. Wärst du dann so weit?“
„Weil ich dir was bedeute.“
„Ja! Du bedeutest mir was. Und? Bist du jetzt überrascht?“
„Gerührt. Ich bin ein bisschen gerührt.“
„Du bist gerührt? Mir zittern die verkrampften Hände vor Panik und du bist gerührt von meiner Zuneigung? Gott, ich bin so ein Idiot!“
„Nein, Wenzel. Ich bin betrunken.“
„Jedenfalls ist es im Augenblick nicht möglich, ein vernünftiges Gespräch mit dir zu führen.“
„Ich will gar kein vernünftiges Gespräch führen.“
„Verstehe.“
„Es geht aber nicht darum, etwas zu verstehen. Es geht darum, etwas zu erleben.“
„Und was erlebe ich deiner Meinung nach?“
„Deine Macht.“
„Meine Macht? Ich erlebe deine Macht!“
„Aber nein. Wenn du jetzt aufstehst, die Augen zu machst und auf eine Windböe wartest, ist alles zu Ende. Zack. Deine Macht.“
„Ich will aber nicht, dass alles zu Ende ist.“
„Ich weiß. Aber wann hast du das jemals intensiver gespürt als jetzt?“
„Das stimmt. Noch nie.“
„Genau! Das ist es. Das Ende wollen wir nicht. Aber wir wollen alles andere!“
„Ja. Insbesondere du. Du willst alles.“
„Aber ich tue nichts, leider.“
Kai raucht. Wenzel sieht auf die Spitzen seiner Schuhe, schürzt die Lippen und atmet langsam aus.
„Kai? Willst du dich umbringen?“
„Ich weiß nicht.“
„Du musst doch wissen, ob du lebensmüde bist oder nicht!“
„Nein! Ich bin wach. Ich bin hellwach! Ich habe aufgehört, jeden Tag zu tun, was man eben tut und zu lassen, was man eben lässt. Und ich will meinen Geburtstag nicht jedes Jahr noch lauter und noch heftiger feiern müssen, damit niemand anspricht, wie wenig eigentlich passiert ist seit der letzten Party.“
„Aber du weißt nicht, was du stattdessen willst.“
„Alles andere!“
„Es kann nicht ewig so weitergehen, Kai. Das ist unvernünftig.“
„Diese scheiß Vernunft von der du immer redest: Ich hasse sie! Siehst du die S-Bahn auf der Brücke dort? Das ist, was die Vernunft aus uns macht.“
„Wie bitte?“
„Es ist, als kämen wir als robuste Geländewagen auf die Welt, Allradantrieb, voller Tank, fette Federung. Und dann begegnen wir der Vernunft und die baut uns über die Jahre zu S-Bahnen um, die nur noch in vorgefertigten Gleisen fahren können und selbst das nur, wenn alle Signale auf grün sind.“
„Ich mag S-Bahnen.“
„War ja nur ein Beispiel.“
„Ein alkoholisiertes Draufsichtsbeispiel. Du musst runter von deinem Turm, Kai.“
„Aber wohin?“
„In die Stadt? Mit dem Rad? Zum Beispiel.“
„Au ja! Kommst du mit?“
„Klar. Vorher will ich auch noch eine.“
„Was?“
„Zigarette.“
„Sicher.“

Aljoscha, Teil II

Um sich abzustützen ließ der Angetrunkene, der dem Geruche nach in sein Beinkleid uriniert haben musste, seinen Kuchen fallen. Aljoscha half dem völlig Betrunkenen beim Aufstehen, stellte sich aber dabei so geschickt zwischen den Mann und das Stück Kuchen, dass es der Betrunkene trotz des Suchens, nicht finden konnte. Aljoscha wusste nur zu genau, dass Betrunkene, wenn sie ihr Ziel aus den Augen verloren, recht schnell etwas anderes unternahmen. Mit dieser Beobachtung hatte er schon mehr als einmal Schläge von seinem Vater abhalten können. Aljoscha stellte sich vor den Mann, stützte ihn übertrieben heftig unter dem Arm und sagte in seiner seit frühen Kindertagen anerzogenen ehrerbietigen Stimme: „Väterchen, verehrtes Väterchen, Sie müssen nach Hause, sonst erfrieren Sie hier auf der Straße. Gehen Sie, sehr verehrtes Väterchen, gehen Sie bitte hier entlang, Ich stütze Sie. Gehen Sie, es ist dunkel. Gehen Sie hier entlang, ich zeige Ihnen den Weg!“ Dabei verneigte er sich, wie es ihm seine geliebte Mutter beigebracht hatte, weil sie wusste, dass Leute wie sie im Leben nur weiterkommen würden, wenn sie sich tief genug vor anderen verneigten. In ihrer Erziehung bestand sie bei all ihren Kindern umso mehr auf der tiefen Verbeugung, da es ihrer Meinung außerdem die einzige Möglichkeit war, kostenlos Menschen für sich zu gewinnen oder, wenn sie Groll in sich trugen, diesen ohne Aufhebens aus der Welt zu schaffen. Aljoscha verneigte sich, wie er es gelernt hatte vor dem seiner Meinung nach nicht allzu hohen Herren und zeigte mit seiner Tschapka zur Straßenmitte, die der Betrunkene nun überqueren müsse. Der Mann machte sich ruckartig und mit einem verächtlichen Blick von dem frierenden Jungen los, sah von den Fußlumpen hinauf zu dem dürftigen Schal, der nicht wirklich den Hals und die dünne Brust des Jungen bedeckte, drehte sich noch einmal nach dem Kuchen um, schien aber nicht mehr so recht zu wissen, was er eigentlich suche, schüttelte den Kopf und fluchte unverständliche Worte und blieb mitten auf der Straße stehen. Eine vorbeifahrende Kutsche brachte Aljoscha endlich die rettende Idee. „Väterchen, verehrtes Väterchen“, sprach er ihn mit einer ungewohnt listigen Stimme an, „passen Sie auf, sonst werden Sie von der Kutsche überfahren. Sicherlich ist der Fahrer wieder betrunken. Kommen Sie, schnell, kommen Sie, Verehrtester, ich bringe sie rasch auf die andere Seite der Straße!“ Er griff dem Mann kräftig am Arm und zog ihn von der Straße herunter, drehte ihn in die Richtung, in die der Angetrunkene ursprünglich gehen wollte und gab ihm einen Schubs auf die Schulter, dass der Betrunkene fast wieder hinfiel. Der Mann gehorchte seinen mahnenden Worten, brabbelte etwas von der Jugend, die so gar nichts taugt, und das er als er so jung war, schneidig gewesen wäre, einem heldenhaften General gleich und die Weiber, allesamt, die gesamte Weibsbilderschaft, nur ihm gehorcht hätte. Dabei pfiff er, so gut er es in diesem Zustand noch konnte und nuschelte immerzu: „Jawohl, General, jawohl, Weibsvolk, General, alle Weiber.“ Danach verschwand er, eine Linie von Wassertropfen auf seinem Weg zurücklassend im Schneegewölk.
Aljoscha konnte mit dem Inhalt seiner Worte nichts anfangen, wusste aber, dass Betrunkene zuweilen in nassen Beinkleidern von schneidigen Generälen und willigen Frauen, die angeblich alles machen würden, sprachen. Er rannte auf die Mitte der Straße zurück und suchte das Stück Kuchen, das verschneit irgendwo in seiner Nähe liegen musste. Von dem Stück beseelt und von seinem Hunger getrieben, kniete er sich auf die Straße und tastete mit seinen erfrorenen Händen in das Schneegestöber. Der, so schien es ihm jetzt, nur ihm zum Schure in noch dickeren Flocken herabsank, um auf seiner schmalen Nase und seinen langen schwarzen Wimpern, den verklebten Haarlocken und dem viel zu dünnen Schal, niederzugehen und ihm den Blick auf das begehrte Stück Kuchen zu verwehren. Trotzig schüttelte er seinen Kopf, hob die Hände in den Himmel und sagte leise, fast flehentlich in seiner ehrerbietigen Stimme. “Ihr Heiligen, ihr Heiligen, ihr Lieben, bitte, bitte, lasst mich den schönen Kuchen finden. Ich bitte Euch sehr darum. Ich habe so lange keinen mehr gegessen! Ich schwöre, ich schwöre, ich werde ihn auch mit meinen Geschwistern teilen. “ Er ließ die Hände sinken und sah auf die weiße Straße mit den schwarzen Kutschspuren, die vom frisch fallenden Schnee zusehends aufgefüllt wurden. Er lief von einer Seite der Straße zur anderen und wieder zurück. Er lief vor, zur Seite, machte einen Kreis, dass man hätte in dem dichten Schneegestöber leicht glauben können, einen Betrunkenen, wie sie zu dieser Stunde oft unterwegs sind, sehen zu können. Verwirrt von dem Speichel der sich in immer größeren Mengen in seinem Munde ansammelte, benommen von dem Schmerz den die Säure in seinen Magen anrichtete und irre von dem Wunsch nach der ersehnten Süße des Kuchens, ließ er sich erschöpft vor den Rest der Wagenspur niedersinken. Er breitete die Hände aus und wünschte sich hier und jetzt endlich sterben zu können. Langsam ließ er seinen dürren Körper nach vorn in den Schnee fallen. Er wusste, wenn er jetzt nicht wieder aufstand, dass er starr und kalt werden würde, wie der Mann heute Nachmittag, zwischen dem Arzt und der Heilerin. Plötzlich und aus einem unerklärlichen Triebe heraus, sei es weil er sich um seine Geschwister sorgte, oder weil er immer noch zu viel Lebenswillen innehatte, stellte er sich auf die Knie, stützte sich in die aufgetürmten Schneewehen und spürte auf einmal das Stück Kuchen zwischen seinen eiskalten, starren Fingern. Er setzte sich wie ein Kleinkind breitbeinig auf die Straße und begann zu weinen. Er weinte dicke Tränen, wie man es dem schlanken, zähen Jungen, der durch Schläge nicht nur seines Vaters groß geworden war, niemals zugetraut hätte. Er weinte, dicke Tränen, dass die Flocken auf seinen Wimpern und den verfilzten Haarspitzen zu schmelzen begannen. Er weinte, dass die Tränen auf den Kuchen tropften und den Schnee darauf zum Schmelzen brachten und die verschiedenen Farben der Kuchenzutaten zum Vorschein traten. Er weinte, weil er lange nicht mehr geweint hatte. Er weinte, weil der Vater irgendwie anders geworden ist, seit er seine geliebte Mutter mit eigenen Händen eingegraben hatte. Und schließlich weinte er auch, weil sein Vater ihm an diesem Tage verboten hatte, am offenen Grabe vor den acht Geschwistern zu weinen. Aber am meisten weinte er, weil das schöne Stück Kuchen, nach dem er sich von ganzem Herzen gesehnt hatte, von der Kutsche zerfahren und nun zermatscht vor ihm in zwei Teilen im Schnee lag. Er hob die zwei Stücke auf und versuchte sie mit den steifen Fingern zu streicheln. So, als ob er seiner geliebten Mutter ins Gesicht sah, um sich für eine ihrer vielen Zärtlichkeiten zu bedanken, schaut er in den Himmel und sagte in seiner gewohnt ehrerbietigen aber immer noch verweinten Stimme: „Danke, ihr Heiligen, danke Euch allen!“ Er sah auf die Marmorierung des Kuchens und legte beide Stücke jeweils auf einen Oberschenkel. So als wollte er seine eben gedachten Gedanken des Freitodes im Schnee dennoch umsetzen, legte er sich an die Stelle der Kutschspur, pustete sie vorsichtig frei und begann mit beiden Daumen an dem Steinpflaster zu kratzen. Dabei pustete er immer und immer wieder Schneeflocken von den Kutschspuren weg. Behutsam sammelte er die Krümel des Kuchens, die er von dem schmutzigen Pflaster abkratzen konnte, auf und streute sie vorsichtig in seine Seitentasche. Danach nahm er seine zwei Kuchenhälften, stand auf, bekreuzigte sich noch einmal an der Stelle, wo der Kuchen gelegen hatte und ein zweites Mal mit Blick in den Himmel, wo er die Heiligen vermutete. Mit beiden Händen schützte er die zwei Hälften und trug sie, wie der Pfarrer den allsonntäglichen Kelch vor seiner Brust. Er hauchte über seine Finger, damit der Schmerz, der sich darin befand, endlich verschwand. Taumelnd setzte er sich an den Rand der Straße, sah sich die beiden Hälften an und schätzte deren Größe. Das kleinere der beiden wickelte er in sein Taschentuch und steckte es zu den Krümeln in die Tasche. Das Größere nahm er in beide Hände und versuchte es zu erwärmen. Wieder hauchte er über seine Hände und hoffte so endlich den darin befindlichen Kuchen essbar zu machen. Er stand auf und lief in einem Glückstaumel die dunkle Straße entlang. Er sah die großen Augen seiner Geschwister, ihr erstauntes Lächeln, ihre vielen Fragen und das tagelange Erzählen von dem herrlichen Fund. Voller Glück lief er schneller und schneller und hatte das wunderschöne Gefühl, zu fliegen. Er lief und rutschte an einer frischen Schneewehe aus. Die Kuchenhälfte fiel zurück auf die Straße. Aljoscha erwachte aus seinem Glückstaumel und tapste auf allen vieren der Kuchenhälfte, die im dichten Schneefall verschwand, hinterher. Die heranfahrende Kutsche, vor die er den nicht so feinen Herren eben noch gewarnt hatte, fuhr im Eiltempo über das Kopfsteinpflaster und die Peitsche surrte durch die Luft. Betäubt von dem kostbaren Verlust suchte Aljoscha weiter und bückte sich in die frische Schneewehe. Die Kutsche raste auf den Jungen zu. Aljoscha sah von der Stelle, an der er die Kuchenhälfte vermutete, auf. Er sah die herannahenden Pferde und warf seinen dünnen Leib in die Schneewehe und drehte sich von dieser an den Straßenrand. Er stand auf, betastete sich von den Fußlappen bis zum Schal und konnte kaum glauben, unversehrt geblieben zu sein. Erschöpft von dem Schreck und erschöpft vom Abtasten, kauerte er sich auf den Bordstein, hob die Hände nach oben und sagte in seiner ehrerbietigen Stimme: „Danke, danke, ihr Heiligen, habt vielen, vielen Dank“. Er verbeugte sich ins Dunkel und sackte zusammen. Im Liegen zog er das Stück Kuchen aus der Hosentasche und entfernte das Taschentuch. Er öffnete den Mund und schob die Zunge heraus, um endlich die ersehnte Süße zu schmecken, um die er sich seit über eine Stunde so verzweifelt bemühte. Als er die Stelle erkannte, an der er lag, stieß er sich vom Bordstein ab. Dabei umklammerte er ein im Schnee liegendes morsches Stück Holz und schubste seinen schlanken Körper in einem Zuge nach oben, dass auch die zweite Kuchenhälfte im hohen Bogen im Schnee verschwand. Mit letzter Kraft rannte er über die Straße zum Licht des Gasthauses und stellte sich vor das Fenster an dem er heute Nachmittag seine Buchstaben geschrieben hatte. Verwirrt vom Tage und verwirrt auch vom eben Erlebten, starrte er zum Licht und von diesem auf seine immer noch zitternden Hände. Zwischen den Fingern hielt Aljoscha statt des morschen Holzes, einen rotledernen Beutel mit einer aufwendig verzierten Messingschnalle.

Aljoscha, Teil I

Sobald er bemerkte, dass einer der Männer mit den dickbepelzten Kragen den Gastraum zu verlassen gedachte, sprang Aljoscha vorsorglich auf und wartete, bis dieser das Speisegeld für alle im Raume hörbar, Münze um Münze, auf den Tisch warf. Bevor der Wirt das Geschirr vom Tische nehmen konnte, kratzte Aljoscha hastig die Rester aus der Schüssel und leckte sie aus. Gierig griff er den Becher und trank in einem Zuge, was der Gast bewusst oder unbewusst zurückließ. Nicht selten machten dem Jungen die Getränke wirre und er schlief in der Nische ganz gegen seinen Willen ein und konnte so keine weiteren Speisereste für den Abend erhaschen. War der Gast reich, ließ dieser, teils weil sein Magen bereits gefüllt war, teils aus purer Hochnäsigkeit vor dem Jungen oder vor den anderen Gästen, aber manchmal auch nur aus Barmherzigkeit einen nicht zu Ende gegessenen Knödel oder gar ein Stück angebranntes Fleisch auf dem Teller für ihn liegen, wischte sich demonstrativ den Mund mit dem Ärmel ab, um mit gespielt mürrischem Blick den Teller wegzuschieben, aufzustehen, dem Jungen zuzunicken und wortlos zu gehen. Manchmal beobachteten sie sich beide und der Gönner hatte Freude daran, den Jungen an der Nase herumzuführen und den zurückgeschobenen Teller wieder an sich heranzuziehen und schmatzend weiter zu essen. Aljoscha war gut im Erkennen dieses Spiels, hatte er sich doch von klein an, an die Gesichter, Bewegungen und die Kleidung, der mehr oder weniger lauten Herren, gewöhnt. Und so konnte er über die Jahre einige der Gäste mit einem Lächeln, einem traurigen Gesichtsausdruck oder mit gespieltem Desinteresse für sich gewinnen und so wenigstens die vier kleinen, der acht Geschwister, leidlich miternähren. War kein Gönner am Tische zu erkennen oder war der Gastraum leer und forderte der Wirt von ihm keine Gefälligkeiten, wie Putzen, Holz holen, Asche wegschaffen, ausfegen, machte Aljoscha das, was er in dieser warmen Stube an den nie richtig hell werdenden Wintertagen am liebsten tat: er schmiegte sich in die Nische wie an die Brust seiner längst verstorbenen Mutter und sah stundenlang aus dem Fenster.

Er hauchte ein Loch auf die vereiste Fensterscheibe und beobachtete in dem kleinen Ausschnitt wie die aufgebrachte Menschenmenge langsam auseinanderlief, die sich zum einen hinter die schreiende Heilerin Feodora Iljanowa und zum anderen um den um Sachlichkeit bemühten Arzt Anatolij Michail gescharrt hatten. Den im Schnee liegenden Fremden, um den der ganze Streit im Ursprünglichen gegangen war, ließ man, weil er während des Streitgespräches der beiden erfroren war, für den Leichengräber liegen. Aljoscha faltete die Hände und betete, dass der Fluch, den Feodora Iljanowa vor einer halben Stunde über ihn sprach, weil er sich auf die Seite des Arztes gestellt hatte, wirkungslos bleiben möge. Um sich von ihrem Fluche abzulenken, malte er mit dem Zeigefinger auf die andere Scheibe der Nische Buchstaben, wie er sie vor Jahren einst mit Begeisterung in der Schule gelernt hatte und wie er sie manchmal auf diesen Scheiben nur so zum Zeitvertreib übte. Auch heute begann er mit dem ersten Buchstaben des Alphabetes. Dabei strahlte er, dass sich das Kerzenlicht des Gastraumes in seinen braunen Augen spiegelte. Es folgte der zweite und dritte, der vierte und fünfte Buchstabe. Als die Scheibe vollgekritzelt war, machte er eine Pause und hoffte, dass sie schnell wieder beschlage, damit er weitere Buchstaben auf die Scheibe malen könne. Er drehte sich um und kontrollierte, ob nicht in der Zwischenzeit ein Gast gekommen oder ein anderer sich anschickte zu gehen oder einer mit ihm ein Spielchen, um die Essensreste auf seinen Teller spielen wolle. Nichts von alledem, die Gaststube, war bis auf ein paar bekannte Trinker, die allesamt Geizhälse waren, leer. Er kritzelte in die andere Scheibe den sechsten, siebten achten und neunten Buchstaben und freute sich, dass er nach all der Zeit endlich wieder einmal bis zum neunten Buchstaben gekommen war. Beim Zehnten musste er überlegen. Er schloss die Augen und malte ihn in Gedanken mehrmals und in Schönschrift auf, weil ihm zum Üben der Platz auf den Scheiben fehlte.
Weil seine Stirn zu schmerzen begann, öffnete er die Augen und bemerkte, dass sich der Gastraum gefüllt hatte. Er musste wohl beim Überlegen des Elften Buchstabens eingeschlafen sein, denn seine Stirn ruhte auf der eiskalten Scheibe und fror, dass es ihn nun zu schmerzen begann, wovon er erwachte. Er sah jeden einzelnen Besucher aufmerksam an, musterte die Frisuren, die Hände mit oder ohne Ringen, die Kleidung von den Schuhen bis zum Schal. Vor allen Dingen beobachtete er, wie hastig oder entspannt sie aßen, ob sie den Kloß in ihren Mund reinschoben oder langsam kauten, ob sie sich unterhielten, Pausen einlegten, auch wenn sie allein waren und durch keine Antwort genötigt wurden, die Gabel aus dem Mund zu nehmen. Außerdem achtete er auf deren Gesten, ob die Mundwinkel nach oben zeigten, ob sie lächelten, den Kopf bei ihren Antworten wiegten und die Hände zur Unterstützung des Gesagten zu Hilfe nahmen oder ob sie auf all dies verzichteten. Dann waren sie auf keinem Fall gewillt, so einem armen Jungen wie ihn, einen Bissen auf dem Teller zu gönnen. Aljoscha gähnte und drehte sich zur Scheibe zu den inzwischen verschwundenen Buchstaben zurück. Er überlegte, wie der elfte und zwölfte Buchstabe aussah und malte sie auf die Scheibe. Aber schon beim nächsten Buchstaben kam er nicht weiter und grübelte, ob er jemals diesen Buchstaben geschrieben habe. Ein Schlag auf den Hinterkopf beendete seinen Gedanken. Der Gastwirt zog ihn aus der Nische und sagte: „Du nichtsnutziges Stück Holz, geh´ und hole Wein aus dem Keller. Und das Du mir ja keinen Tropfen verschüttest, sonst prügle ich dich windelweich. “ Aljoscha wusste, dass der Wirt meinte, was er sagte. Er spürte von jeher, wenn jemand Schläge nur androhte oder sie wirklich ernst meinte. Das sah er an den Blicken, den Bewegungen und der Betonung, mit der diese Menschen ihre Worte aussprachen. Er kannte den Blick seines Vaters, bevor der mit der flachen Hand zuschlug, er kannte die Worte des Lehrers, wenn er ihn wegen eines falsch geschriebenen Buchstabens rügte und er kannte die Bewegungen des Pfarrers, wenn dieser mit der Faust auf ihn einschlug, weil er wieder einmal mit dem Banknachbarn tuschelte. Er kannte alle Schläger des Dorfes und hatte mit der Zeit das Gefühl, fast alle Schläge, die es von diesen Menschen jemals zu verteilen gab, im Voraus erhalten zu haben. Es waren nur wenige, die sich nicht wie die Mehrheit benahmen, denen der Ernst in der Stimme fehlte, die ihre Worte nicht mit einer ausholenden Handbewegung begleiteten. Aljoscha gehorchte dem Wirt und rannte in den Keller, holten einen Krug Wein und stellte ihn in die Mitte des Tisches. Weil er sich ihm gegenüber als unentbehrlich zeigen wollte, ging er ein zweites Mal und ein drittes Mal. Und jedes Mal kam er mit einem halbvollen Krug zurück und stellte ihn ehrerbietig vor dem dünnen Manne in der Tischmitte auf. Der Wirt goss den Wein in die Becher und scheuchte Aljoscha weg. So konnte er wieder in seine Nische zurück klettern und sich an die warmen Bretter schmiegen.
Von der spontanen Rennerei außer Atem, knetete Aljoscha seine Hände warm und begann, da er keinen weiteren Buchstaben kannte, einen zu erfinden. Er nahm den Zeigefinger und zeichnete ihn mit der Fingerkuppe auf die Scheibe. Er betrachtete die Umrisse und hauchte darüber. Weil ihm der Buchstabe gefiel, zeichnete er einen weiteren und noch einen weiteren. Ob es das Malen der vielen Buchstaben war, die ihm ins Bewusstsein riefen, dass er heute noch nichts gegessen hatte oder ob es die Rennerei in den Keller war oder auch die Streiterei um den verstorbenen Fremden vorhin auf der Straße, wusste er nicht. Allein sein Magen begann sich unaufhörlich bemerkbar zu machen. Und so sah sich Aljoscha, von Hunger getrieben, im Gastraum um. Ein Herr, den er vor geraumer Zeit schon einmal beobachtet hatte und von dem er glaubte, dass jener nie einen Bissen für ihn auf seinem Teller zurücklassen würde, sah ihn an und musterte Aljoscha von Kopf bis Fuß. Er lächelte, zeigte seine krummen Zähne, die hinter seinem ungeschnittenen Schnurbart herauslugten und biss in ein großes Stück Kuchen. Aljoscha kaute unwillkürlich mit. Der Mann sah dies und kaute umso deutlicher mit seinen Zähnen auf dem Kuchen. Aljoscha, von den Kaubewegungen des fremden Herren wie von magischer Hand geführt, kaute jede seiner Bewegungen doppelt nach. Der Mann mit seiner abgewetzten Jacke betrachtete den Jungen und begann zu schmatzen. Dabei leckte er die Finger ab und pusselte einzelne Krümel vom Teller auf die Fingerkuppen und schob sie einen Krümel nach dem anderen zwischen seine schiefen Zähne mit den großen Zahnspalten. Aljoscha wurde schlecht. Der Mann rülpste und schob den Teller mit dem Kuchen weit von sich weg, griff in seine Hose und holte ein Geldstück hervor, hauchte auf das Metall und bügelte mit dem Hemdsärmel darüber. Er streckte seine Hand nach oben und ließ das nun blanke Geldstück auf den Rand des Tellers klirren. Dann erhob er sich und stieß den Stuhl um. Bei alledem sah er unentwegt den Jungen an, schlug sich auf den Bauch und winkte ab, als hätte er wieder einmal viel zu viel gegessen. Aljoscha ahnte, dass der Mann nur mit ihm spielte und gar nicht die Absicht hatte ihm eine Ecke seines Kuchens zu überlassen. Trotzdem folgte er aufmerksam jeder Bewegung des Mannes, denn der Schmerz in seinem Magen ließ ihm keine andere Wahl. Damit er dem Herrn, der seiner Meinung nach nicht wirklich ein feiner Herr war, nicht unnötig bei seinem Spiele half, drehte sich Aljoscha zum Fenster, hauchte über die Scheiben und malte die ersten Buchstaben des Alphabetes. Keinesfalls wollte er ihm seine Schwierigkeiten, die er beim Schreiben hatte, so leicht zu erkennen geben. Er schrieb und beobachtete den Mann im Spiegelbild. Der rief den Wirt und sagte: „He, Du, bring mir Papier damit ich den Kuchen einpacken kann, oder soll ich ihn wegwerfen?“ Der Wirt rief Aljoscha zu sich und befahl ihm mit erhobener Stimme und Hand, den Wunsch des Herren umgehend zu erfüllen. Aljoscha nahm das Umschlagpapier und ging an den Tisch. Mit zitternden Händen nahm er den Kuchen vom Teller und legte ihn in die Mitte des Papiers. Der Mann sah dem Jungen zu und fauchte: „Geh weg, schere dich zum Teufel, den Rest mach ich selber, sonst frisst Du ihn mir weg!“ Er klappte das Papier zusammen ohne es an den Enden einzuschlagen. In diesem Augenblick erkannte Aljoscha, dass der Mann sturzbetrunken war und ihm das Stück Kuchen früher oder später aus dem Umschlag rutschen und auf die Erde fallen würde. Er blieb neben dem Mann stehen, der soeben die vier Stufen aus dem Gastraum herunterging und überlegte, ob er ihn sicher zur Tür und von dort über die Straße auf den Fußweg bringen, oder ob er doch lieber in der wohligen Wärme seiner Nische bleiben und abwarten sollte, bis ein barmherziger Gast vorbeikäme, um ihn seinen nicht abgegessenen Teller zu überlassen. Die Säure im Magen schmerzte und das Hungergefühl drängte ihn nicht mehr darüber nachzudenken, ob es klüger wäre, hier angewärmt zu bleiben oder ob es nicht doch besser wäre, dem Gasthause mit seinen Düften zu entkommen und neben den hungrigen Geschwistern Platz zu suchen, sich an diesen zu wärmen, bis auch der Schlaf ihm gnädig den Hunger für ein paar Stunden abnähme. Und so begleitete er den angetrunkenen Gast vor die Tür, auf den beschneiten Boden der holprigen Straße.

Frau Schnorrmann

Langsam legte sich die stickige Zimmerluft in den Raum. Eine nach der anderen atmete den gleichmäßigen Atem, der der noch wach Liegenden verriet, dass die beiden Patientinnen bereits eingeschlafen waren. Und so wurde es kurz nach Mitternacht bis auch Frau Schnorrmanns unschöne Gedanken von dem gleichgültig machendem Geräusch der beiden Frauen erfasst wurden und sich ins Nichts auflösten: die Ankunft vor zwei Tagen; dass die Neue die geordnete Ruhe störe; die heiße Stimme von Frau Bayer; die jungfräuliche Lehrerin Frau Schubert, die im Bett sitzt und alles und jeden schulmeisterlich kritisierte, dass es selbst dem Personal manchmal zu viel wird.

Frau Schnormann bewegte sich im Bett von der einen auf die andere Seite. Dabei fiel ihre Steppdecke herunter und sie erwachte aus einem beunruhigenden Schlaf. Sie setzte sich auf und starrte zur der mehrere Meter hohen Zimmerdecke mit dem verzerrten Fensterkreuz mit Dreipass, welches das Mondlicht auf die weißen Wände projizierte. Sie betrachtete jede der gleichmäßig Atmenden in dem Raum und kletterte, nachdem sie sicher war, dass alle schliefen, vorsichtig über das Bettgitter hinab, hob die Steppdecke auf und legte sie ins Bett zurück. Mit kleinen Schritten bewegte sie sich ans Fenster, dessen Sims breit ausladend in ihrer Augenhöhe begann. Sie nahm sich einen Stuhl, kletterte darauf, legte ihre dicken Knie auf den Tisch, um auf diesen zu steigen. Mit den Händen stützte sie sich auf den tiefen Sims, öffnete das Fenster, umgriff die dünnen Sandsteinsäulen des Dreipasses und starrte still in die Nacht. Zu viel Mond, zu viel Licht, dachte sie. Das kann sehr gefährlich werden. Sie fror und knöpfte die zwei Knöpfe ihres rüschenbesetzen Nachthemdes zu. Die Kälte erinnerte sie an den Winter, an die ständige Angst, und immer die Russen im Nacken. Sie atmete die kühle, beißende ostpreußische Winterluft, hörte das Pferdegetrappel, wildes Durcheinanderschreien, das Knirschen von schnellen Fußstapfen, und in der Ferne den seit Wochen herannahenden Kanonendonner. Leise schob sie das Fenster zu, kniete sich mühsam auf den Tisch, um von diesem rückwärts auf den Stuhl zu klettern, um von dem wieder mit ihren nackten, für ihre Größe viel zu großen Füßen auf den Boden zu gelangen. Sie wischte mit ihren faltigen Wäscherinnenhänden über die Sitzfläche des Stuhles und schob ihn vorsichtig unter den Tisch. Sie kletterte über das Bettgitter in ihr Bett und bewegte den Kopf mit den faltigen Wangen auf dem Kopfkissen unruhig von der einen zur anderen Seite und kniff die Augen zusammen. Ihre breiten Hände mit den dicken Fingernägeln schob sie ins Gesicht und murmelte ein Gesicht. Es gelang nicht. Zu sehr schwirrten die Gedanken um sie herum und zu sehr beunruhigte sie diese Nacht. Ich halt das nicht aus. Ich weiß nicht was passiert ist, dachte sie. Sie rieb über den Bauch, der in der Windel steckte. Ich muss hier weg! Nein, nein, es ist zu spät, wie damals als sie ihn erschossen. Sie selbst spürte in jener Nacht nichts, die Tochter in ihrem warmen Stoffbündel gehüllt, schrie im Versteck. Sie schrie und hätte die Dorfbewohner fast verraten. Sie solle der Kleinen den Kehlkopf zudrücken, hatten die anderen gefordert. Es müsse sein. Sie dachte damals, die Tochter würde wegen der wenigen Habseligkeiten, schreien, die sie ins Knäuel heimlich eingenäht hatte, weil es doch immer hieß, die Russen würden die Kinder verschonen. Nur die Kinder. Deswegen riss sie die Löffel, die Silberschnalle der Mutter, die vergoldete Uhr, das Zigarettenetui des Vaters und die kleine, bronzene Kaiserplastik des Großvaters, heraus und warf sie in den Fluss. Erschossen hatten sie ihren Franz. Ganz einfach, ohne zu fragen, erschossen, und die Tochter hatte geschrien in dieser kalten, mondklaren Nacht und ließ sich einfach nicht beruhigen. Wie konnte das armselige Ding das nur merken, flüsterte Frau Schnorrmann zur Zimmerdecke, zu den Schatten des Dreipasses und zu dessen blasenförmigen Umrissen und glaubte den Schatten Dickichts im Schnee zu erkennen. Sie kniff die Augen zu, duckte sich in die Bettkuhle und flüsterte: „nur Du weißt warum, nur Du, lieber Gott? Ein Stück Papier hast Du mir gelassen, auf dem steht, dass er tot ist, in schöner Sütterlinschrift, mit einem Stempel drauf. Da sie sehr genau wusste, dass es ihr in diesen Momenten beim Einschlafen half, summte sie „Drei weiße Birken“ und streichelte sich über ihre Nase. Sie lief den Birkenhain entlang, stellte sich hinter die Mauerreste und hörte ihm beim Singen eines seiner vielen Volkslieder zu, die er gern und laut sang. Sie schwang sich heimlich über das Seitenbrett auf das Fuhrwerk, kletterte auf den Holzstapel und fuhr mit ihm ins Dorf.

Weil sie der Schlaf aber nicht haben wollte, öffnete Frau Schnurrmann die Augen, legte die Hände auf den Schoß und grübelte. Das gleichmäßige Atmen der Mitpatientinnen beunruhigte sie auf einmal. Sie kletterte wieder über das Bettgitter, ging zum Schrank, in dem die Schwestern die Kleidung bei der Ankunft einer Jeden hineinsortierten, nahm ihre Kleidung heraus, entfernte den schief eingeklebten Pflasterstreifen, auf dem ihr Name in hastig geschriebenen Buchstaben stand und zog die Sachen an. Da sie ihre Schuhe nicht fand, ging sie barfuß in ihrem viel zu großen grauen Mantel und dem viel zu langen grünen Rock durch den Raum, nahm ein Bündel Zellstoff, den die Schwestern vorsorglich am Abend auf alle Nachttische gelegt hatten und stellte sich an das gegenüberliegende Bett. Den Rock hatte sie vorher noch mit dem Pflasterstreifen zusammengeklebt, auf dem ihr falsch geschriebener Name stand. Die Patientin lag auf dem Rücken, die Arme auf der Brust, das Gesicht weit nach oben gerichtet, der Mund geöffnet. Mit ihrer blassen Haut wirkte sie wie eine in weißen Stein geschlagene Friedhofsskulptur. Frau Schnorrmann stellte sich an das Kopfende, seufzte und betete mit ihrer tiefen, brummenden Stimme, leise ein Vater Unser. Sie griff den Stapel mit den dünnen Zellstoffbahnen, zerpflückte diese zwischen ihren dicken Fingern zu kleinen Blütenknäulen und verstreute die Knäuel feierlich auf das Gesicht und auf die Brust der Schlafenden. Liebevoll streichelte sie über deren Wangen, murmelte Kinderreime und küsste sie. Von alledem aufgewacht, begann die Patientin um Hilfe zu schreien. “Was machen sie denn da? Die ist verrückt“, rief sie! „Bringt sie hier weg!“ und griff nach der Klingel. Völlig irritiert stand Frau Schnorrmann mit dem Zellstoff in der Hand, vor ihr. Die Nachtschwester betrat das Zimmer und herrschte sie an:“ Was wollen sie hier? Wissen sie nicht wie spät es ist? Gehen Sie sofort wieder in ihr Bett. Sie müssen doch schlafen, wenn sie gesund werden wollen!“ – „ Schaffen Sie mal die Oma hier fort“, geiferte die Patientin weiter und warf die zerpflückten Zellstoffknäuel, der auf ihrer Brust lag, hinter ihr her.
Mit gesenktem Kopf ging Frau Schnorrmann artig an der Hand der herbeigerufen Schwester. Sie entfernte das Bettgitter und legte die Frau wieder ins Bett. Frau Schnorrmann murmelte:“ Aber ich dachte, ich darf noch mal, aber ich muss sie doch wenigstens…!“ und sah dabei die Schwester an – „Ich bring ihnen noch etwas zur Beruhigung und dann schlafen wir aber fein. Es ist doch schon spät“, beschwichtigte die Schwester liebevoll die Frau.
Am anderen Morgen saß Frau Schnorrmann wortlos in ihrem Bett, zerriss den restlichen Zellstoff und streute ihn über ihre Bettdecke. Die lindgrüne Windel, die bis unter die dünnhäutige Brust reichte, irritierte den Arzt bei der Visite, dass er ihr das Nachthemd eilig zuknöpfte und beiläufig fragte „Was haben Sie denn da gestern Abend gemacht?“. Frau Schorrmann, die ihren Unterkiefer unaufhörlich hin- und herbewegte und mit den Händen die Zipfel der Bettdecke gegeneinander rieb, blickte ihn freundlich an. Sie hob die Schultern und sprach mit ihrer tiefen, ruhigen Stimme „Wissen Sie“, dann machte sie eine Pause, holte tief Luft, denn sie hatte vor jedem Studierten Respekt, „wissen Sie, ich wollte doch nur noch ein einziges Mal, ich musste sie doch…!“ Sie hob wieder die Schultern und sah hilflos in die Runde der Visite. Da müssen wir unbedingt etwas dagegen machen!“, unterbrach empört die Stationsschwester, sonst bekommt der Nachtdienst eine Meise.“ – „Na, dann geben Sie ihr 10 Tropfen Valocordin zum Abend und ein bisschen Haloperidol zur Nacht!“, beschwichtigte der Arzt, streichelte über den Kopf der Frau und ging zum nächsten Bett.

Nach der Visite klingelte das Telefon der Stationsleiterin und eine Schwester erkundigte sich, ob sich die 90´jährige Frau Schnormann noch auf ihrer Station befände und das ihre Tochter heute Nacht plötzlich auf ihrer Station verstorben sei. Die Stationsschwester überlegte, wie sie die Nachricht der verwirrten Frau übermitteln könne. Sie beauftragte mit der Nachricht eine neue Mitarbeiterin.

Die junge Schwester betrat das Zimmer, nahm eine Schüssel, füllte sie mit Wasser und wusch Frau Schnorrmann. Sie fragte sie nach ihrem Leben, nach besonderen Wünschen, massierte den Rücken, die Hände und die Füße. Die Schwester brachte es jedoch nicht fertig, der Frau den Tod der einzigen Tochter mitzuteilen und stellte ihr wortlos das Frühstück hin. Mittag trat sie wieder an ihr Bett, räumte das Frühstück weg, reichte ihr das Mittagessen und überlegte, wie sie ihr endlich den Tod mitteilen könne. Mit leiser Stimme fragte sie: „Haben Sie sich schon in diesem Zimmer eingewöhnt? Haben Sie noch einen Wunsch? Kann ich Ihnen das Kissen aufschütteln?“ Die alte Frau, die auf der Seite lag und von der nur ein Stück der grünen Windel zu sehen war, drehte sich zu ihr um, legte den Kopf auf die Hand, die auf dem Kopfkissen lag und schwieg. Die Schwester zwirbelte unaufhörlich den Haarlocken und sagte: „Frau Schnorrmann, Sie müssen jetzt sehr stark sein. Ihre Tochter ist letzte Nacht unerwartet gestorben. Frau Schnorrmann, haben sie verstanden, was ich eben gesagt habe?“ Die alte Frau setzte sich auf, griff die runden Hände der Schwester und streichelte sie. Sie runzelte die Stirn und wog ihren von Falten übersäten Kopf nach links und rechts, dass ihr Zopf wackelte. Mit tiefer, fast männlichen Stimme sagte sie müde: „Ich weiß, Kindchen. Da kann ich nun nichts mehr machen.“ Sie lächelte die Schwester an, dass ihre drei verbliebenen schiefen Zähne in der linken Mundhälfte, hervortraten. „Wenn ich Ihnen nur helfen könnte“, sagte die Schwester, weinend am Bettrand sitzend. Frau Schnorrmann schob ihre faltigen Hände um die Wangen der Schwester und flüsterte in ihrem ostpreußischen Dialekt: „Ich weiß Kindchen. Ich weiß es bereits!“ Danach schob sie ihre Hände um ihre flache Brust und murmelte. „Weißt Du, ich habe sie eigenhändig getragen, von Ostpreußen bis hierher, die Russen im Nacken und die Kanonen im Ohr. Es war Weihnacht 44`“. Sie streichelte nochmal die Schwester, legte sich zurück auf die Seite, dass nur die grüne Windel zum Vorschein kam und starrte das Bettgitter an.