Aljoscha Teil IV

Er setzte sich auf die Schwelle des Gasthauses, das ihn und seine Geschwister all die Jahre zuverlässig ernährt hatte und das ihm deswegen jetzt der vertrauteste Ort auf dieser Welt war. Aljoscha wusste, würde er jemals zu Gelde kommen, würde er viele solche Gasthäuser über das Land verteilt bauen, den Kindern darin Zuflucht gewähren, sie jeden Tag mit süßem Brei und Kuchen ernähren und ihnen das Alphabet in schönen großen Buchstaben auf die Fensterscheiben schreiben lassen. Außerdem würde er darauf achten, dass keiner der anderen Gäste jemals die Hand gegen eines der Kinder erheben würde. In diese wunderbaren Gedanken versunken, lehnte er seinen Rücken an die Hauswand aus dicken übereinander gefügten Kiefernstämmen. Er drehte den Kragen hoch, drückte seinen schlanken Hals in den schmutzigen Stoff hinein und überkreuzte die Beine. Weil er dennoch zu frieren begann, schnürte er den aus Lederresten verflochtenen Gürtel, der seine Hose und die dünne Stoffjacke nur leidlich zusammenhielt, enger um die Taille und hauchte über die erkalteten Fingerkuppen. Dabei hörte er durch das geschlossene Fenster die vielen Stimmen, die wild durcheinandersprachen. Da er von je her nicht die Neigung der Anderen besaß, Dinge, die ihn bewegten seinen Mitmenschen mitzuteilen und deswegen auch von klein auf, keinerlei Veranlassung verspürte, mit irgendjemanden über das notwendige Maß hinaus ins Gespräch zu kommen und wegen dieser Eigenschaft in früheren Jahren manchmal in der Nachbarschaft sogar als geistig zurückgeblieben gegolten hatte, wunderte er sich nicht wirklich über das Gemurmel. Schon lange hatte er es aufgegeben herauszufinden, was Leute dazu antrieb, immerzu zu erzählen, anstatt sich still über den Tag, die Heiligen und die schöne Natur zu erfreuen. Eine Zeit lang hatte er es wie die Anderen versucht. Aber egal was er erzählte, sie machten sich entweder mit hämischen Sprüchen über seine Worte lustig oder fuhren ihm bei jedem zweiten Satz über den Mund, sodass er seine Gedanken oftmals nicht zu Ende bringen konnte. Und so nahm er es als eine Art Schicksal an, den Anderen still zuzuhören und dann und wann, wenn diese eine Pause einlegten, nachzufragen oder sie wortlos anzusehen, zuzustimmen oder auch gar nichts dergleichen zu tun und ihnen stattdessen zu versprechen für sie und ihre Sorgen zu beten. Die Erfahrung schien dem Jungen Recht zu geben. Bemühte er sich mit ihnen um eine Tagearbeit, bekam meist er den Auftrag und nicht die Gesprächigen. Zufrieden rieb Aljoscha den Kopf über die Rinde der Kiefernstämme und betrachtete den leckeren Kuchen, den der freundliche Mann ihm eben auf der Straße einfach so in die Hand gelegt hatte. Er rieb sich über die Stelle der Stirn, auf die ihn der Fremde eben geküsst hatte und überlegte, wann er das letzte Mal einen so unerwarteten Kuss erhalten hatte und ob er überhaupt schon einmal von einem Mann geküsst wurden war. Dass seine Mutter so etwas mit ihm früher vor dem Zubettgehen gemacht hatte und er mit solchen Aufmerksamkeiten häufiger bedacht wurden war, als die sieben Geschwister, begriff er immer dann, wenn sie ihn nach dem Kerzenlöschen in die Waden kniffen, einen Klaps auf die Schulter gaben oder die kleinen Geschwister beim Fortgehen der Mutter weinten und von ihm getröstet werden wollten. Er lächelte über den Gedanken, zwickte sich selbst in die Seite und beschloss, all seinen Geschwistern, wenn er nachher Hause käme, mindestens einen Kuss auf die Stirn und einen weiteren auf den Mund zu geben. Glücklich über seine Idee, schob er die Zunge über die Zuckerkruste und tupfte sanft über die unebenen Klümpchen, die der Bäcker wohl in der Schnelle seiner vielen Handbewegungen unachtsamer Weise darauf verteilt haben musste. Nach einer Weile machte er eine Pause, schob den runden Marmorkuchen vor die Augen und schaute ihn aus der Tiefe seines hochgeschobenen Kragens an, als wollte er sich noch einmal überzeugen, dass er tatsächlich im Besitze eines so schmackhaften Kuchens war. Er hielt ihn an die Nase und sog den Duft des Teiges in sich hinein. Aljoscha streckte die Zunge soweit er konnte heraus und begann mit der Zungenspitze kleine Kreisbewegungen über die Klümpchen zu ziehen, bis diese glatt geleckt waren. Unebenheit für Unebenheit leckte er so Stück für Stück herunter. Und Schicht für Schicht leckte er anschließend auch den dicken Zuckerguss ab. Als dieser abgeleckt war atmete er zufrieden ein und aus, schloss die Augen und begann in den Teig zu beißen. Endlich spürte er ein Mandelstück. Er pulte es aus dem Teig, schob es zwischen die Zähne, verharrte einen klitzekleinen Moment und zerknackte es schließlich. Das Geräusch gefiel ihm. Wieder begann er zu pulen und holte ein weites Mandelstück hervor. Auch bei diesem machte er eine Pause und biss darauf. Aljoscha pulte und pulte bis der Kuchen in zwei Hälften zerbrach. Dankbar gedachte er des fremden rothaarigen Mannes, mit den lustig klingenden Glöckchen an den Stiefeln und der schönen Pelzkappe, der ihn völlig unerwartet geküsst hatte und dessen Kuss er immer noch als angenehm empfand. Er freute sich über seine Heiligen und war sich sicher, dass sie ihn nie verlassen und auch weiterhin beschützen würden. Mit dieser Gewissheit, die er schon als kleiner Junge aus irgendeinem Grunde in sich trug und die ihm schon frühzeitig das Gefühl gab, eines Tages still für Gottes Ruhm und Ehre tätig werden zu dürfen, schlief der Junge auf der oberen Stufe kauernd und sich in einem Kloster mit weißen hohen Mauern sehend und allerlei Geschenke an die Armen verteilend, ein.

Aljoscha, Teil II

Um sich abzustützen ließ der Angetrunkene, der dem Geruche nach in sein Beinkleid uriniert haben musste, seinen Kuchen fallen. Aljoscha half dem völlig Betrunkenen beim Aufstehen, stellte sich aber dabei so geschickt zwischen den Mann und das Stück Kuchen, dass es der Betrunkene trotz des Suchens, nicht finden konnte. Aljoscha wusste nur zu genau, dass Betrunkene, wenn sie ihr Ziel aus den Augen verloren, recht schnell etwas anderes unternahmen. Mit dieser Beobachtung hatte er schon mehr als einmal Schläge von seinem Vater abhalten können. Aljoscha stellte sich vor den Mann, stützte ihn übertrieben heftig unter dem Arm und sagte in seiner seit frühen Kindertagen anerzogenen ehrerbietigen Stimme: „Väterchen, verehrtes Väterchen, Sie müssen nach Hause, sonst erfrieren Sie hier auf der Straße. Gehen Sie, sehr verehrtes Väterchen, gehen Sie bitte hier entlang, Ich stütze Sie. Gehen Sie, es ist dunkel. Gehen Sie hier entlang, ich zeige Ihnen den Weg!“ Dabei verneigte er sich, wie es ihm seine geliebte Mutter beigebracht hatte, weil sie wusste, dass Leute wie sie im Leben nur weiterkommen würden, wenn sie sich tief genug vor anderen verneigten. In ihrer Erziehung bestand sie bei all ihren Kindern umso mehr auf der tiefen Verbeugung, da es ihrer Meinung außerdem die einzige Möglichkeit war, kostenlos Menschen für sich zu gewinnen oder, wenn sie Groll in sich trugen, diesen ohne Aufhebens aus der Welt zu schaffen. Aljoscha verneigte sich, wie er es gelernt hatte vor dem seiner Meinung nach nicht allzu hohen Herren und zeigte mit seiner Tschapka zur Straßenmitte, die der Betrunkene nun überqueren müsse. Der Mann machte sich ruckartig und mit einem verächtlichen Blick von dem frierenden Jungen los, sah von den Fußlumpen hinauf zu dem dürftigen Schal, der nicht wirklich den Hals und die dünne Brust des Jungen bedeckte, drehte sich noch einmal nach dem Kuchen um, schien aber nicht mehr so recht zu wissen, was er eigentlich suche, schüttelte den Kopf und fluchte unverständliche Worte und blieb mitten auf der Straße stehen. Eine vorbeifahrende Kutsche brachte Aljoscha endlich die rettende Idee. „Väterchen, verehrtes Väterchen“, sprach er ihn mit einer ungewohnt listigen Stimme an, „passen Sie auf, sonst werden Sie von der Kutsche überfahren. Sicherlich ist der Fahrer wieder betrunken. Kommen Sie, schnell, kommen Sie, Verehrtester, ich bringe sie rasch auf die andere Seite der Straße!“ Er griff dem Mann kräftig am Arm und zog ihn von der Straße herunter, drehte ihn in die Richtung, in die der Angetrunkene ursprünglich gehen wollte und gab ihm einen Schubs auf die Schulter, dass der Betrunkene fast wieder hinfiel. Der Mann gehorchte seinen mahnenden Worten, brabbelte etwas von der Jugend, die so gar nichts taugt, und das er als er so jung war, schneidig gewesen wäre, einem heldenhaften General gleich und die Weiber, allesamt, die gesamte Weibsbilderschaft, nur ihm gehorcht hätte. Dabei pfiff er, so gut er es in diesem Zustand noch konnte und nuschelte immerzu: „Jawohl, General, jawohl, Weibsvolk, General, alle Weiber.“ Danach verschwand er, eine Linie von Wassertropfen auf seinem Weg zurücklassend im Schneegewölk.
Aljoscha konnte mit dem Inhalt seiner Worte nichts anfangen, wusste aber, dass Betrunkene zuweilen in nassen Beinkleidern von schneidigen Generälen und willigen Frauen, die angeblich alles machen würden, sprachen. Er rannte auf die Mitte der Straße zurück und suchte das Stück Kuchen, das verschneit irgendwo in seiner Nähe liegen musste. Von dem Stück beseelt und von seinem Hunger getrieben, kniete er sich auf die Straße und tastete mit seinen erfrorenen Händen in das Schneegestöber. Der, so schien es ihm jetzt, nur ihm zum Schure in noch dickeren Flocken herabsank, um auf seiner schmalen Nase und seinen langen schwarzen Wimpern, den verklebten Haarlocken und dem viel zu dünnen Schal, niederzugehen und ihm den Blick auf das begehrte Stück Kuchen zu verwehren. Trotzig schüttelte er seinen Kopf, hob die Hände in den Himmel und sagte leise, fast flehentlich in seiner ehrerbietigen Stimme. “Ihr Heiligen, ihr Heiligen, ihr Lieben, bitte, bitte, lasst mich den schönen Kuchen finden. Ich bitte Euch sehr darum. Ich habe so lange keinen mehr gegessen! Ich schwöre, ich schwöre, ich werde ihn auch mit meinen Geschwistern teilen. “ Er ließ die Hände sinken und sah auf die weiße Straße mit den schwarzen Kutschspuren, die vom frisch fallenden Schnee zusehends aufgefüllt wurden. Er lief von einer Seite der Straße zur anderen und wieder zurück. Er lief vor, zur Seite, machte einen Kreis, dass man hätte in dem dichten Schneegestöber leicht glauben können, einen Betrunkenen, wie sie zu dieser Stunde oft unterwegs sind, sehen zu können. Verwirrt von dem Speichel der sich in immer größeren Mengen in seinem Munde ansammelte, benommen von dem Schmerz den die Säure in seinen Magen anrichtete und irre von dem Wunsch nach der ersehnten Süße des Kuchens, ließ er sich erschöpft vor den Rest der Wagenspur niedersinken. Er breitete die Hände aus und wünschte sich hier und jetzt endlich sterben zu können. Langsam ließ er seinen dürren Körper nach vorn in den Schnee fallen. Er wusste, wenn er jetzt nicht wieder aufstand, dass er starr und kalt werden würde, wie der Mann heute Nachmittag, zwischen dem Arzt und der Heilerin. Plötzlich und aus einem unerklärlichen Triebe heraus, sei es weil er sich um seine Geschwister sorgte, oder weil er immer noch zu viel Lebenswillen innehatte, stellte er sich auf die Knie, stützte sich in die aufgetürmten Schneewehen und spürte auf einmal das Stück Kuchen zwischen seinen eiskalten, starren Fingern. Er setzte sich wie ein Kleinkind breitbeinig auf die Straße und begann zu weinen. Er weinte dicke Tränen, wie man es dem schlanken, zähen Jungen, der durch Schläge nicht nur seines Vaters groß geworden war, niemals zugetraut hätte. Er weinte, dicke Tränen, dass die Flocken auf seinen Wimpern und den verfilzten Haarspitzen zu schmelzen begannen. Er weinte, dass die Tränen auf den Kuchen tropften und den Schnee darauf zum Schmelzen brachten und die verschiedenen Farben der Kuchenzutaten zum Vorschein traten. Er weinte, weil er lange nicht mehr geweint hatte. Er weinte, weil der Vater irgendwie anders geworden ist, seit er seine geliebte Mutter mit eigenen Händen eingegraben hatte. Und schließlich weinte er auch, weil sein Vater ihm an diesem Tage verboten hatte, am offenen Grabe vor den acht Geschwistern zu weinen. Aber am meisten weinte er, weil das schöne Stück Kuchen, nach dem er sich von ganzem Herzen gesehnt hatte, von der Kutsche zerfahren und nun zermatscht vor ihm in zwei Teilen im Schnee lag. Er hob die zwei Stücke auf und versuchte sie mit den steifen Fingern zu streicheln. So, als ob er seiner geliebten Mutter ins Gesicht sah, um sich für eine ihrer vielen Zärtlichkeiten zu bedanken, schaut er in den Himmel und sagte in seiner gewohnt ehrerbietigen aber immer noch verweinten Stimme: „Danke, ihr Heiligen, danke Euch allen!“ Er sah auf die Marmorierung des Kuchens und legte beide Stücke jeweils auf einen Oberschenkel. So als wollte er seine eben gedachten Gedanken des Freitodes im Schnee dennoch umsetzen, legte er sich an die Stelle der Kutschspur, pustete sie vorsichtig frei und begann mit beiden Daumen an dem Steinpflaster zu kratzen. Dabei pustete er immer und immer wieder Schneeflocken von den Kutschspuren weg. Behutsam sammelte er die Krümel des Kuchens, die er von dem schmutzigen Pflaster abkratzen konnte, auf und streute sie vorsichtig in seine Seitentasche. Danach nahm er seine zwei Kuchenhälften, stand auf, bekreuzigte sich noch einmal an der Stelle, wo der Kuchen gelegen hatte und ein zweites Mal mit Blick in den Himmel, wo er die Heiligen vermutete. Mit beiden Händen schützte er die zwei Hälften und trug sie, wie der Pfarrer den allsonntäglichen Kelch vor seiner Brust. Er hauchte über seine Finger, damit der Schmerz, der sich darin befand, endlich verschwand. Taumelnd setzte er sich an den Rand der Straße, sah sich die beiden Hälften an und schätzte deren Größe. Das kleinere der beiden wickelte er in sein Taschentuch und steckte es zu den Krümeln in die Tasche. Das Größere nahm er in beide Hände und versuchte es zu erwärmen. Wieder hauchte er über seine Hände und hoffte so endlich den darin befindlichen Kuchen essbar zu machen. Er stand auf und lief in einem Glückstaumel die dunkle Straße entlang. Er sah die großen Augen seiner Geschwister, ihr erstauntes Lächeln, ihre vielen Fragen und das tagelange Erzählen von dem herrlichen Fund. Voller Glück lief er schneller und schneller und hatte das wunderschöne Gefühl, zu fliegen. Er lief und rutschte an einer frischen Schneewehe aus. Die Kuchenhälfte fiel zurück auf die Straße. Aljoscha erwachte aus seinem Glückstaumel und tapste auf allen vieren der Kuchenhälfte, die im dichten Schneefall verschwand, hinterher. Die heranfahrende Kutsche, vor die er den nicht so feinen Herren eben noch gewarnt hatte, fuhr im Eiltempo über das Kopfsteinpflaster und die Peitsche surrte durch die Luft. Betäubt von dem kostbaren Verlust suchte Aljoscha weiter und bückte sich in die frische Schneewehe. Die Kutsche raste auf den Jungen zu. Aljoscha sah von der Stelle, an der er die Kuchenhälfte vermutete, auf. Er sah die herannahenden Pferde und warf seinen dünnen Leib in die Schneewehe und drehte sich von dieser an den Straßenrand. Er stand auf, betastete sich von den Fußlappen bis zum Schal und konnte kaum glauben, unversehrt geblieben zu sein. Erschöpft von dem Schreck und erschöpft vom Abtasten, kauerte er sich auf den Bordstein, hob die Hände nach oben und sagte in seiner ehrerbietigen Stimme: „Danke, danke, ihr Heiligen, habt vielen, vielen Dank“. Er verbeugte sich ins Dunkel und sackte zusammen. Im Liegen zog er das Stück Kuchen aus der Hosentasche und entfernte das Taschentuch. Er öffnete den Mund und schob die Zunge heraus, um endlich die ersehnte Süße zu schmecken, um die er sich seit über eine Stunde so verzweifelt bemühte. Als er die Stelle erkannte, an der er lag, stieß er sich vom Bordstein ab. Dabei umklammerte er ein im Schnee liegendes morsches Stück Holz und schubste seinen schlanken Körper in einem Zuge nach oben, dass auch die zweite Kuchenhälfte im hohen Bogen im Schnee verschwand. Mit letzter Kraft rannte er über die Straße zum Licht des Gasthauses und stellte sich vor das Fenster an dem er heute Nachmittag seine Buchstaben geschrieben hatte. Verwirrt vom Tage und verwirrt auch vom eben Erlebten, starrte er zum Licht und von diesem auf seine immer noch zitternden Hände. Zwischen den Fingern hielt Aljoscha statt des morschen Holzes, einen rotledernen Beutel mit einer aufwendig verzierten Messingschnalle.

Aljoscha, Teil I

Sobald er bemerkte, dass einer der Männer mit den dickbepelzten Kragen den Gastraum zu verlassen gedachte, sprang Aljoscha vorsorglich auf und wartete, bis dieser das Speisegeld für alle im Raume hörbar, Münze um Münze, auf den Tisch warf. Bevor der Wirt das Geschirr vom Tische nehmen konnte, kratzte Aljoscha hastig die Rester aus der Schüssel und leckte sie aus. Gierig griff er den Becher und trank in einem Zuge, was der Gast bewusst oder unbewusst zurückließ. Nicht selten machten dem Jungen die Getränke wirre und er schlief in der Nische ganz gegen seinen Willen ein und konnte so keine weiteren Speisereste für den Abend erhaschen. War der Gast reich, ließ dieser, teils weil sein Magen bereits gefüllt war, teils aus purer Hochnäsigkeit vor dem Jungen oder vor den anderen Gästen, aber manchmal auch nur aus Barmherzigkeit einen nicht zu Ende gegessenen Knödel oder gar ein Stück angebranntes Fleisch auf dem Teller für ihn liegen, wischte sich demonstrativ den Mund mit dem Ärmel ab, um mit gespielt mürrischem Blick den Teller wegzuschieben, aufzustehen, dem Jungen zuzunicken und wortlos zu gehen. Manchmal beobachteten sie sich beide und der Gönner hatte Freude daran, den Jungen an der Nase herumzuführen und den zurückgeschobenen Teller wieder an sich heranzuziehen und schmatzend weiter zu essen. Aljoscha war gut im Erkennen dieses Spiels, hatte er sich doch von klein an, an die Gesichter, Bewegungen und die Kleidung, der mehr oder weniger lauten Herren, gewöhnt. Und so konnte er über die Jahre einige der Gäste mit einem Lächeln, einem traurigen Gesichtsausdruck oder mit gespieltem Desinteresse für sich gewinnen und so wenigstens die vier kleinen, der acht Geschwister, leidlich miternähren. War kein Gönner am Tische zu erkennen oder war der Gastraum leer und forderte der Wirt von ihm keine Gefälligkeiten, wie Putzen, Holz holen, Asche wegschaffen, ausfegen, machte Aljoscha das, was er in dieser warmen Stube an den nie richtig hell werdenden Wintertagen am liebsten tat: er schmiegte sich in die Nische wie an die Brust seiner längst verstorbenen Mutter und sah stundenlang aus dem Fenster.

Er hauchte ein Loch auf die vereiste Fensterscheibe und beobachtete in dem kleinen Ausschnitt wie die aufgebrachte Menschenmenge langsam auseinanderlief, die sich zum einen hinter die schreiende Heilerin Feodora Iljanowa und zum anderen um den um Sachlichkeit bemühten Arzt Anatolij Michail gescharrt hatten. Den im Schnee liegenden Fremden, um den der ganze Streit im Ursprünglichen gegangen war, ließ man, weil er während des Streitgespräches der beiden erfroren war, für den Leichengräber liegen. Aljoscha faltete die Hände und betete, dass der Fluch, den Feodora Iljanowa vor einer halben Stunde über ihn sprach, weil er sich auf die Seite des Arztes gestellt hatte, wirkungslos bleiben möge. Um sich von ihrem Fluche abzulenken, malte er mit dem Zeigefinger auf die andere Scheibe der Nische Buchstaben, wie er sie vor Jahren einst mit Begeisterung in der Schule gelernt hatte und wie er sie manchmal auf diesen Scheiben nur so zum Zeitvertreib übte. Auch heute begann er mit dem ersten Buchstaben des Alphabetes. Dabei strahlte er, dass sich das Kerzenlicht des Gastraumes in seinen braunen Augen spiegelte. Es folgte der zweite und dritte, der vierte und fünfte Buchstabe. Als die Scheibe vollgekritzelt war, machte er eine Pause und hoffte, dass sie schnell wieder beschlage, damit er weitere Buchstaben auf die Scheibe malen könne. Er drehte sich um und kontrollierte, ob nicht in der Zwischenzeit ein Gast gekommen oder ein anderer sich anschickte zu gehen oder einer mit ihm ein Spielchen, um die Essensreste auf seinen Teller spielen wolle. Nichts von alledem, die Gaststube, war bis auf ein paar bekannte Trinker, die allesamt Geizhälse waren, leer. Er kritzelte in die andere Scheibe den sechsten, siebten achten und neunten Buchstaben und freute sich, dass er nach all der Zeit endlich wieder einmal bis zum neunten Buchstaben gekommen war. Beim Zehnten musste er überlegen. Er schloss die Augen und malte ihn in Gedanken mehrmals und in Schönschrift auf, weil ihm zum Üben der Platz auf den Scheiben fehlte.
Weil seine Stirn zu schmerzen begann, öffnete er die Augen und bemerkte, dass sich der Gastraum gefüllt hatte. Er musste wohl beim Überlegen des Elften Buchstabens eingeschlafen sein, denn seine Stirn ruhte auf der eiskalten Scheibe und fror, dass es ihn nun zu schmerzen begann, wovon er erwachte. Er sah jeden einzelnen Besucher aufmerksam an, musterte die Frisuren, die Hände mit oder ohne Ringen, die Kleidung von den Schuhen bis zum Schal. Vor allen Dingen beobachtete er, wie hastig oder entspannt sie aßen, ob sie den Kloß in ihren Mund reinschoben oder langsam kauten, ob sie sich unterhielten, Pausen einlegten, auch wenn sie allein waren und durch keine Antwort genötigt wurden, die Gabel aus dem Mund zu nehmen. Außerdem achtete er auf deren Gesten, ob die Mundwinkel nach oben zeigten, ob sie lächelten, den Kopf bei ihren Antworten wiegten und die Hände zur Unterstützung des Gesagten zu Hilfe nahmen oder ob sie auf all dies verzichteten. Dann waren sie auf keinem Fall gewillt, so einem armen Jungen wie ihn, einen Bissen auf dem Teller zu gönnen. Aljoscha gähnte und drehte sich zur Scheibe zu den inzwischen verschwundenen Buchstaben zurück. Er überlegte, wie der elfte und zwölfte Buchstabe aussah und malte sie auf die Scheibe. Aber schon beim nächsten Buchstaben kam er nicht weiter und grübelte, ob er jemals diesen Buchstaben geschrieben habe. Ein Schlag auf den Hinterkopf beendete seinen Gedanken. Der Gastwirt zog ihn aus der Nische und sagte: „Du nichtsnutziges Stück Holz, geh´ und hole Wein aus dem Keller. Und das Du mir ja keinen Tropfen verschüttest, sonst prügle ich dich windelweich. “ Aljoscha wusste, dass der Wirt meinte, was er sagte. Er spürte von jeher, wenn jemand Schläge nur androhte oder sie wirklich ernst meinte. Das sah er an den Blicken, den Bewegungen und der Betonung, mit der diese Menschen ihre Worte aussprachen. Er kannte den Blick seines Vaters, bevor der mit der flachen Hand zuschlug, er kannte die Worte des Lehrers, wenn er ihn wegen eines falsch geschriebenen Buchstabens rügte und er kannte die Bewegungen des Pfarrers, wenn dieser mit der Faust auf ihn einschlug, weil er wieder einmal mit dem Banknachbarn tuschelte. Er kannte alle Schläger des Dorfes und hatte mit der Zeit das Gefühl, fast alle Schläge, die es von diesen Menschen jemals zu verteilen gab, im Voraus erhalten zu haben. Es waren nur wenige, die sich nicht wie die Mehrheit benahmen, denen der Ernst in der Stimme fehlte, die ihre Worte nicht mit einer ausholenden Handbewegung begleiteten. Aljoscha gehorchte dem Wirt und rannte in den Keller, holten einen Krug Wein und stellte ihn in die Mitte des Tisches. Weil er sich ihm gegenüber als unentbehrlich zeigen wollte, ging er ein zweites Mal und ein drittes Mal. Und jedes Mal kam er mit einem halbvollen Krug zurück und stellte ihn ehrerbietig vor dem dünnen Manne in der Tischmitte auf. Der Wirt goss den Wein in die Becher und scheuchte Aljoscha weg. So konnte er wieder in seine Nische zurück klettern und sich an die warmen Bretter schmiegen.
Von der spontanen Rennerei außer Atem, knetete Aljoscha seine Hände warm und begann, da er keinen weiteren Buchstaben kannte, einen zu erfinden. Er nahm den Zeigefinger und zeichnete ihn mit der Fingerkuppe auf die Scheibe. Er betrachtete die Umrisse und hauchte darüber. Weil ihm der Buchstabe gefiel, zeichnete er einen weiteren und noch einen weiteren. Ob es das Malen der vielen Buchstaben war, die ihm ins Bewusstsein riefen, dass er heute noch nichts gegessen hatte oder ob es die Rennerei in den Keller war oder auch die Streiterei um den verstorbenen Fremden vorhin auf der Straße, wusste er nicht. Allein sein Magen begann sich unaufhörlich bemerkbar zu machen. Und so sah sich Aljoscha, von Hunger getrieben, im Gastraum um. Ein Herr, den er vor geraumer Zeit schon einmal beobachtet hatte und von dem er glaubte, dass jener nie einen Bissen für ihn auf seinem Teller zurücklassen würde, sah ihn an und musterte Aljoscha von Kopf bis Fuß. Er lächelte, zeigte seine krummen Zähne, die hinter seinem ungeschnittenen Schnurbart herauslugten und biss in ein großes Stück Kuchen. Aljoscha kaute unwillkürlich mit. Der Mann sah dies und kaute umso deutlicher mit seinen Zähnen auf dem Kuchen. Aljoscha, von den Kaubewegungen des fremden Herren wie von magischer Hand geführt, kaute jede seiner Bewegungen doppelt nach. Der Mann mit seiner abgewetzten Jacke betrachtete den Jungen und begann zu schmatzen. Dabei leckte er die Finger ab und pusselte einzelne Krümel vom Teller auf die Fingerkuppen und schob sie einen Krümel nach dem anderen zwischen seine schiefen Zähne mit den großen Zahnspalten. Aljoscha wurde schlecht. Der Mann rülpste und schob den Teller mit dem Kuchen weit von sich weg, griff in seine Hose und holte ein Geldstück hervor, hauchte auf das Metall und bügelte mit dem Hemdsärmel darüber. Er streckte seine Hand nach oben und ließ das nun blanke Geldstück auf den Rand des Tellers klirren. Dann erhob er sich und stieß den Stuhl um. Bei alledem sah er unentwegt den Jungen an, schlug sich auf den Bauch und winkte ab, als hätte er wieder einmal viel zu viel gegessen. Aljoscha ahnte, dass der Mann nur mit ihm spielte und gar nicht die Absicht hatte ihm eine Ecke seines Kuchens zu überlassen. Trotzdem folgte er aufmerksam jeder Bewegung des Mannes, denn der Schmerz in seinem Magen ließ ihm keine andere Wahl. Damit er dem Herrn, der seiner Meinung nach nicht wirklich ein feiner Herr war, nicht unnötig bei seinem Spiele half, drehte sich Aljoscha zum Fenster, hauchte über die Scheiben und malte die ersten Buchstaben des Alphabetes. Keinesfalls wollte er ihm seine Schwierigkeiten, die er beim Schreiben hatte, so leicht zu erkennen geben. Er schrieb und beobachtete den Mann im Spiegelbild. Der rief den Wirt und sagte: „He, Du, bring mir Papier damit ich den Kuchen einpacken kann, oder soll ich ihn wegwerfen?“ Der Wirt rief Aljoscha zu sich und befahl ihm mit erhobener Stimme und Hand, den Wunsch des Herren umgehend zu erfüllen. Aljoscha nahm das Umschlagpapier und ging an den Tisch. Mit zitternden Händen nahm er den Kuchen vom Teller und legte ihn in die Mitte des Papiers. Der Mann sah dem Jungen zu und fauchte: „Geh weg, schere dich zum Teufel, den Rest mach ich selber, sonst frisst Du ihn mir weg!“ Er klappte das Papier zusammen ohne es an den Enden einzuschlagen. In diesem Augenblick erkannte Aljoscha, dass der Mann sturzbetrunken war und ihm das Stück Kuchen früher oder später aus dem Umschlag rutschen und auf die Erde fallen würde. Er blieb neben dem Mann stehen, der soeben die vier Stufen aus dem Gastraum herunterging und überlegte, ob er ihn sicher zur Tür und von dort über die Straße auf den Fußweg bringen, oder ob er doch lieber in der wohligen Wärme seiner Nische bleiben und abwarten sollte, bis ein barmherziger Gast vorbeikäme, um ihn seinen nicht abgegessenen Teller zu überlassen. Die Säure im Magen schmerzte und das Hungergefühl drängte ihn nicht mehr darüber nachzudenken, ob es klüger wäre, hier angewärmt zu bleiben oder ob es nicht doch besser wäre, dem Gasthause mit seinen Düften zu entkommen und neben den hungrigen Geschwistern Platz zu suchen, sich an diesen zu wärmen, bis auch der Schlaf ihm gnädig den Hunger für ein paar Stunden abnähme. Und so begleitete er den angetrunkenen Gast vor die Tür, auf den beschneiten Boden der holprigen Straße.

Frau Schnorrmann

Langsam legte sich die stickige Zimmerluft in den Raum. Eine nach der anderen atmete den gleichmäßigen Atem, der der noch wach Liegenden verriet, dass die beiden Patientinnen bereits eingeschlafen waren. Und so wurde es kurz nach Mitternacht bis auch Frau Schnorrmanns unschöne Gedanken von dem gleichgültig machendem Geräusch der beiden Frauen erfasst wurden und sich ins Nichts auflösten: die Ankunft vor zwei Tagen; dass die Neue die geordnete Ruhe störe; die heiße Stimme von Frau Bayer; die jungfräuliche Lehrerin Frau Schubert, die im Bett sitzt und alles und jeden schulmeisterlich kritisierte, dass es selbst dem Personal manchmal zu viel wird.

Frau Schnormann bewegte sich im Bett von der einen auf die andere Seite. Dabei fiel ihre Steppdecke herunter und sie erwachte aus einem beunruhigenden Schlaf. Sie setzte sich auf und starrte zur der mehrere Meter hohen Zimmerdecke mit dem verzerrten Fensterkreuz mit Dreipass, welches das Mondlicht auf die weißen Wände projizierte. Sie betrachtete jede der gleichmäßig Atmenden in dem Raum und kletterte, nachdem sie sicher war, dass alle schliefen, vorsichtig über das Bettgitter hinab, hob die Steppdecke auf und legte sie ins Bett zurück. Mit kleinen Schritten bewegte sie sich ans Fenster, dessen Sims breit ausladend in ihrer Augenhöhe begann. Sie nahm sich einen Stuhl, kletterte darauf, legte ihre dicken Knie auf den Tisch, um auf diesen zu steigen. Mit den Händen stützte sie sich auf den tiefen Sims, öffnete das Fenster, umgriff die dünnen Sandsteinsäulen des Dreipasses und starrte still in die Nacht. Zu viel Mond, zu viel Licht, dachte sie. Das kann sehr gefährlich werden. Sie fror und knöpfte die zwei Knöpfe ihres rüschenbesetzen Nachthemdes zu. Die Kälte erinnerte sie an den Winter, an die ständige Angst, und immer die Russen im Nacken. Sie atmete die kühle, beißende ostpreußische Winterluft, hörte das Pferdegetrappel, wildes Durcheinanderschreien, das Knirschen von schnellen Fußstapfen, und in der Ferne den seit Wochen herannahenden Kanonendonner. Leise schob sie das Fenster zu, kniete sich mühsam auf den Tisch, um von diesem rückwärts auf den Stuhl zu klettern, um von dem wieder mit ihren nackten, für ihre Größe viel zu großen Füßen auf den Boden zu gelangen. Sie wischte mit ihren faltigen Wäscherinnenhänden über die Sitzfläche des Stuhles und schob ihn vorsichtig unter den Tisch. Sie kletterte über das Bettgitter in ihr Bett und bewegte den Kopf mit den faltigen Wangen auf dem Kopfkissen unruhig von der einen zur anderen Seite und kniff die Augen zusammen. Ihre breiten Hände mit den dicken Fingernägeln schob sie ins Gesicht und murmelte ein Gesicht. Es gelang nicht. Zu sehr schwirrten die Gedanken um sie herum und zu sehr beunruhigte sie diese Nacht. Ich halt das nicht aus. Ich weiß nicht was passiert ist, dachte sie. Sie rieb über den Bauch, der in der Windel steckte. Ich muss hier weg! Nein, nein, es ist zu spät, wie damals als sie ihn erschossen. Sie selbst spürte in jener Nacht nichts, die Tochter in ihrem warmen Stoffbündel gehüllt, schrie im Versteck. Sie schrie und hätte die Dorfbewohner fast verraten. Sie solle der Kleinen den Kehlkopf zudrücken, hatten die anderen gefordert. Es müsse sein. Sie dachte damals, die Tochter würde wegen der wenigen Habseligkeiten, schreien, die sie ins Knäuel heimlich eingenäht hatte, weil es doch immer hieß, die Russen würden die Kinder verschonen. Nur die Kinder. Deswegen riss sie die Löffel, die Silberschnalle der Mutter, die vergoldete Uhr, das Zigarettenetui des Vaters und die kleine, bronzene Kaiserplastik des Großvaters, heraus und warf sie in den Fluss. Erschossen hatten sie ihren Franz. Ganz einfach, ohne zu fragen, erschossen, und die Tochter hatte geschrien in dieser kalten, mondklaren Nacht und ließ sich einfach nicht beruhigen. Wie konnte das armselige Ding das nur merken, flüsterte Frau Schnorrmann zur Zimmerdecke, zu den Schatten des Dreipasses und zu dessen blasenförmigen Umrissen und glaubte den Schatten Dickichts im Schnee zu erkennen. Sie kniff die Augen zu, duckte sich in die Bettkuhle und flüsterte: „nur Du weißt warum, nur Du, lieber Gott? Ein Stück Papier hast Du mir gelassen, auf dem steht, dass er tot ist, in schöner Sütterlinschrift, mit einem Stempel drauf. Da sie sehr genau wusste, dass es ihr in diesen Momenten beim Einschlafen half, summte sie „Drei weiße Birken“ und streichelte sich über ihre Nase. Sie lief den Birkenhain entlang, stellte sich hinter die Mauerreste und hörte ihm beim Singen eines seiner vielen Volkslieder zu, die er gern und laut sang. Sie schwang sich heimlich über das Seitenbrett auf das Fuhrwerk, kletterte auf den Holzstapel und fuhr mit ihm ins Dorf.

Weil sie der Schlaf aber nicht haben wollte, öffnete Frau Schnurrmann die Augen, legte die Hände auf den Schoß und grübelte. Das gleichmäßige Atmen der Mitpatientinnen beunruhigte sie auf einmal. Sie kletterte wieder über das Bettgitter, ging zum Schrank, in dem die Schwestern die Kleidung bei der Ankunft einer Jeden hineinsortierten, nahm ihre Kleidung heraus, entfernte den schief eingeklebten Pflasterstreifen, auf dem ihr Name in hastig geschriebenen Buchstaben stand und zog die Sachen an. Da sie ihre Schuhe nicht fand, ging sie barfuß in ihrem viel zu großen grauen Mantel und dem viel zu langen grünen Rock durch den Raum, nahm ein Bündel Zellstoff, den die Schwestern vorsorglich am Abend auf alle Nachttische gelegt hatten und stellte sich an das gegenüberliegende Bett. Den Rock hatte sie vorher noch mit dem Pflasterstreifen zusammengeklebt, auf dem ihr falsch geschriebener Name stand. Die Patientin lag auf dem Rücken, die Arme auf der Brust, das Gesicht weit nach oben gerichtet, der Mund geöffnet. Mit ihrer blassen Haut wirkte sie wie eine in weißen Stein geschlagene Friedhofsskulptur. Frau Schnorrmann stellte sich an das Kopfende, seufzte und betete mit ihrer tiefen, brummenden Stimme, leise ein Vater Unser. Sie griff den Stapel mit den dünnen Zellstoffbahnen, zerpflückte diese zwischen ihren dicken Fingern zu kleinen Blütenknäulen und verstreute die Knäuel feierlich auf das Gesicht und auf die Brust der Schlafenden. Liebevoll streichelte sie über deren Wangen, murmelte Kinderreime und küsste sie. Von alledem aufgewacht, begann die Patientin um Hilfe zu schreien. “Was machen sie denn da? Die ist verrückt“, rief sie! „Bringt sie hier weg!“ und griff nach der Klingel. Völlig irritiert stand Frau Schnorrmann mit dem Zellstoff in der Hand, vor ihr. Die Nachtschwester betrat das Zimmer und herrschte sie an:“ Was wollen sie hier? Wissen sie nicht wie spät es ist? Gehen Sie sofort wieder in ihr Bett. Sie müssen doch schlafen, wenn sie gesund werden wollen!“ – „ Schaffen Sie mal die Oma hier fort“, geiferte die Patientin weiter und warf die zerpflückten Zellstoffknäuel, der auf ihrer Brust lag, hinter ihr her.
Mit gesenktem Kopf ging Frau Schnorrmann artig an der Hand der herbeigerufen Schwester. Sie entfernte das Bettgitter und legte die Frau wieder ins Bett. Frau Schnorrmann murmelte:“ Aber ich dachte, ich darf noch mal, aber ich muss sie doch wenigstens…!“ und sah dabei die Schwester an – „Ich bring ihnen noch etwas zur Beruhigung und dann schlafen wir aber fein. Es ist doch schon spät“, beschwichtigte die Schwester liebevoll die Frau.
Am anderen Morgen saß Frau Schnorrmann wortlos in ihrem Bett, zerriss den restlichen Zellstoff und streute ihn über ihre Bettdecke. Die lindgrüne Windel, die bis unter die dünnhäutige Brust reichte, irritierte den Arzt bei der Visite, dass er ihr das Nachthemd eilig zuknöpfte und beiläufig fragte „Was haben Sie denn da gestern Abend gemacht?“. Frau Schorrmann, die ihren Unterkiefer unaufhörlich hin- und herbewegte und mit den Händen die Zipfel der Bettdecke gegeneinander rieb, blickte ihn freundlich an. Sie hob die Schultern und sprach mit ihrer tiefen, ruhigen Stimme „Wissen Sie“, dann machte sie eine Pause, holte tief Luft, denn sie hatte vor jedem Studierten Respekt, „wissen Sie, ich wollte doch nur noch ein einziges Mal, ich musste sie doch…!“ Sie hob wieder die Schultern und sah hilflos in die Runde der Visite. Da müssen wir unbedingt etwas dagegen machen!“, unterbrach empört die Stationsschwester, sonst bekommt der Nachtdienst eine Meise.“ – „Na, dann geben Sie ihr 10 Tropfen Valocordin zum Abend und ein bisschen Haloperidol zur Nacht!“, beschwichtigte der Arzt, streichelte über den Kopf der Frau und ging zum nächsten Bett.

Nach der Visite klingelte das Telefon der Stationsleiterin und eine Schwester erkundigte sich, ob sich die 90´jährige Frau Schnormann noch auf ihrer Station befände und das ihre Tochter heute Nacht plötzlich auf ihrer Station verstorben sei. Die Stationsschwester überlegte, wie sie die Nachricht der verwirrten Frau übermitteln könne. Sie beauftragte mit der Nachricht eine neue Mitarbeiterin.

Die junge Schwester betrat das Zimmer, nahm eine Schüssel, füllte sie mit Wasser und wusch Frau Schnorrmann. Sie fragte sie nach ihrem Leben, nach besonderen Wünschen, massierte den Rücken, die Hände und die Füße. Die Schwester brachte es jedoch nicht fertig, der Frau den Tod der einzigen Tochter mitzuteilen und stellte ihr wortlos das Frühstück hin. Mittag trat sie wieder an ihr Bett, räumte das Frühstück weg, reichte ihr das Mittagessen und überlegte, wie sie ihr endlich den Tod mitteilen könne. Mit leiser Stimme fragte sie: „Haben Sie sich schon in diesem Zimmer eingewöhnt? Haben Sie noch einen Wunsch? Kann ich Ihnen das Kissen aufschütteln?“ Die alte Frau, die auf der Seite lag und von der nur ein Stück der grünen Windel zu sehen war, drehte sich zu ihr um, legte den Kopf auf die Hand, die auf dem Kopfkissen lag und schwieg. Die Schwester zwirbelte unaufhörlich den Haarlocken und sagte: „Frau Schnorrmann, Sie müssen jetzt sehr stark sein. Ihre Tochter ist letzte Nacht unerwartet gestorben. Frau Schnorrmann, haben sie verstanden, was ich eben gesagt habe?“ Die alte Frau setzte sich auf, griff die runden Hände der Schwester und streichelte sie. Sie runzelte die Stirn und wog ihren von Falten übersäten Kopf nach links und rechts, dass ihr Zopf wackelte. Mit tiefer, fast männlichen Stimme sagte sie müde: „Ich weiß, Kindchen. Da kann ich nun nichts mehr machen.“ Sie lächelte die Schwester an, dass ihre drei verbliebenen schiefen Zähne in der linken Mundhälfte, hervortraten. „Wenn ich Ihnen nur helfen könnte“, sagte die Schwester, weinend am Bettrand sitzend. Frau Schnorrmann schob ihre faltigen Hände um die Wangen der Schwester und flüsterte in ihrem ostpreußischen Dialekt: „Ich weiß Kindchen. Ich weiß es bereits!“ Danach schob sie ihre Hände um ihre flache Brust und murmelte. „Weißt Du, ich habe sie eigenhändig getragen, von Ostpreußen bis hierher, die Russen im Nacken und die Kanonen im Ohr. Es war Weihnacht 44`“. Sie streichelte nochmal die Schwester, legte sich zurück auf die Seite, dass nur die grüne Windel zum Vorschein kam und starrte das Bettgitter an.

verstreut

seit wochen wiegen die sonnenblumen
sich fröstelnd im ostwind, als wären sie trotzig.
der schnee, der in der nacht auf ihren köpfen
gewachsen ist, fällt im flirrenden mittagslicht hinab
und zerstäubt in den feldkrumen. längs des baches
knorren die weiden den winter an.
ihr eisiges laubwerk birgt geräusche unter den schuhsohlen.
die zeit vertreibt sich, heißt´s hier.

wir schlagen auf eis

es friert um uns.
der kleine bär am nordhimmel,
streut die sterne aus dem pelz.
die wipfel biegen sich ein und wir
brechen uns die stalakmiten vom schopfe.

des federvieh-flug meridianabwärts,
und wir auf gefrierpunkt-zwischenstopp.

es klirrt um uns.
wir stapfen barfuß ins gestrüpp und kommen
mit zündhölzern wieder.
wir staunen über unsere atemschlote und bewahren
einander im hinterkopf.

wir schlagen auf eis.

Die Eismutter (II/II)

Sie schleicht vorsichtig in die Küche. Den warmen, kleinen Körper hält sie fest umschlungen in den Händen. Sie schaut in den Abfalleimer. Den hat sie heute vergessen. Sie setzt sich auf einen Stuhl und weint. Dann trägt sie den Körper ins Wohnzimmer. Danach wieder in die Küche. Vor der Gefriertruhe bleibt sie ruckartig stehen. Sie legt ihn mechanisch hinein. Den Einkauf packt sie obendrauf.

Erschöpft legt sie sich neben ihren Mann ins Bett. Er schläft geräuschvoll. Sie schiebt ihn sanft auf die Seite und flüstert: „Es ist alles wieder in Ordnung!“ Danach dreht sie sich auf die andere Seite zur Wand. Das ist ihre Lieblingsseite. Dort hängt ihr Hochzeitbild. Sie schaut es jeden Abend an bevor sie einschläft. Auch heute schaut sie in ihr umkränztes Lächeln und schließt schnell die Augen. Sie weiß, daß sie ihre Familie gerettet hat. Sie weiß, dass sie eine gute Mutter ist, und eine gute Ehefrau auch! Sollen doch die Leute im Dorf reden. Die reden über jeden. Sie weiß, das sie nie wieder schwanger werden wird!

Sie spielt mit dem Großen. Manchmal trägt sie ihn Huckepack zum verlassenen Spielplatz. Sie mag es, wenn er sie in die Nase kneift. Dann zeigt sie der Kleinen wie das geht und spricht mit ihr in der Kindersprache.

Sie ist 22. Und sie ist wieder schwanger. Das Andere liegt noch in der Truhe. Sie hat es nicht vergraben. Manchmal arbeitet er im Garten. Sie hat Angst in den Wald zu gehen, dort könnte sie jemand beobachten. Dann wäre es mit ihren Kindern vorbei, und der Ehe auch. Sie weiß, in der Küche wird es sicher sein. Sie legt das Neue einfach hinzu. Und die Leute tratschen wieder im Dorf, sie würde ihre Babys für viel Geld verkaufen. Und sie, sie hofft dass sie nie, nie wieder schwanger wird. Das hat sie sich dieses Mal ganz fest vorgenommen.

Und wieder kniet sie im Bad. Und wieder unter ihr die blutbefleckten Fliesen. Und wieder geht sie in die Küche. Sie öffnet die Gefriertruhe und sortiert zwei Einkaufsbeutel. Den leblosen Körper packt sie einfach dazu. Danach legt sie sich wieder auf ihre Seite neben ihren Mann ins Bett. Sie zieht wieder die Decke weit über den Kopf. Sie schließt die Augen und versucht zu schlafen. Nachdenken kann sie schon lange nicht mehr. Sie hat aufgegeben, nach einer Lösung zu suchen.

Sie steht am Fenster und blickt auf den Hof. Sie zündet eine Zigarette an. Der Große durfte heute anrufen. Die Großeltern haben es ihm erlaubt. Er hat gefragt, ob man da gar nichts machen kann. Sie hatte geschwiegen. Dann hat er gesagt: „Ich hab dich lieb, ganz doll lieb!“ und aufgelegt. 15 Jahre hat der Richter gemeint. 15 Jahre! Warum sie keine Pille nahm. Und warum sie niemanden davon erzählt habe. Und warum sie keine Hilfe geholt habe. Und ob sie sich bewußt wäre, dass das Töten von 3 Kindern ein Verbrechen darstelle. Sicherlich, richtig war es nicht, das mit den anderen, aber ein Verbrechen. Nein, das versteht der Richter nicht, denkt sie. Alle haben auf einmal so viele Fragen. Im Fernsehen kommen Sondersendungen, nur über sie. Die Leute im Dorf sind entsetzt. Die schütteln die Köpfe und antworten in die Kameras, dass sie immer so nett zu den Kindern war. Alle nennen sie nur: „Die Eismutter“. In der Hand hält sie ihre Zeitung. Auch die nennt sie nur “Die Eismutter“ und zeigt sie auf Bildern, wie sie tanzt und lacht, obwohl die Kinder schon lange tot sind.
Sie schließt das Fenster. Mechanisch blättert sie die Fernsehkanäle durch. Danach schaltet sie den Fernseher aus. Sie setzt sich an den Tisch und spielt wortlos mit ihren Händen. Das Telefonat beunruhigt sie jetzt. Sie drückt nach einem lautem Atemzug die Zigarette aus. Die unbenutzte Zeitung wirft sie in den Mülleimer. Sie schaut auf das Foto an der Wand und löscht das Zellenlicht. Sie legt sich in ihr Bett. Die Decke zieht sie weit über den Kopf.
23, ist sie jetzt.