Schaltsekunde – oder warum ich mit dem Meditieren anfangen werde um meinen Geist zu zähmen

Es ist grün, also fahr. Wenn erst wieder rot ist, stehst du ewig. Keine Ahnung, wer diese Ampelschaltung programmiert hat, aber man muss ihn bestrafen. Hart. Man sollte ihn zwingen, hier lang zu fahren, jeden Tag, zweimal. Und man sollte das Gesicht des Ampelprogrammieres auf diese Kreuzungsuhr da drüben plakatieren und fett drunter schreiben: Selbst Schuld! Dann kann er mal nachdenken, was er falsch gemacht hat, Hacker-Horst. Jeden Tag, zweimal.

Ampelprogrammierer, ist das eigentlich ein Beruf? Und? Was willst du mal werden, wenn du groß bist? Wer ist für die Dinger zuständig? Das Straßenverkehrsamt? Dann heißt der Job wahrscheinlich Lichtsignalanlagenintervallsfachwirt. Mit Binnen-s oder ohne? –intervallfachwirt oder –intervallsfachwirt? Interwalzfachwirt – einer, der professionell dazwischenwalzt. Aber wieso Wirt? Kein Fachwirt hat jemals irgendwen bewirtet. Vielleicht heißt der Job auch einfach Verkehrsplaner. Wobei Verkehrsplaner auch in der Kinderwunschklinik arbeiten könnten. Ob das geklappt hat inzwischen bei Claudia und Steve? Du hast vor Wochen versprochen, dass du sie anrufst.

Jetzt konzentrier dich bitte und tritt kräftiger. Noch ist grün, aber lange kann nicht mehr grün sein und wenn erst wieder rot ist: hundert Jahre. Wieviel Strom verbraucht eine Ampel? Dass die noch läuft, mitten in der Nacht, ist völlig sinnlos. Kein Mensch an der Kreuzung außer mir. Oder ist das ein Auto da vorn? Selbst wenn: Zwei Leute, weiß Gott wie viele Lichter. Sieht hübsch aus, wie sich der Regen da drüben vor der roten Ampel einfärbt. Nett vom Regen, dass er mir zeigt, dass da drüben rot ist. Fies vom Regen, dass er jetzt regnet. Hätte er damit noch zehn Minuten gewartet, hätte ich ihm vielleicht zuhause am offenen Fenster noch für eine Zigarettenlänge gelauscht. Jetzt gehe ich heiß Duschen, sobald ich rein bin; ich bin nass bis auf die Haut. Da kann er so kräftig und so romantisch regnen wie er will, der Regen, ich werde ihm jedwede Bewunderung verweigern. Das ist magisches Denken, Junge. Dem Regen ist scheißegal, was du von ihm denkst. Er regnet. Genau genommen weiß er das nicht einmal. Weder, dass er regnet, noch, dass es ihm egal ist, wie du das findest. Guck auf die Straße!

Immer noch grün. Schaffst du das noch? Komm schon! Willst du noch schnell ein fetziges Ja/Nein-Spiel draus machen? Na los. Wenn die Ampel noch grün ist, in der letzten Sekunde, bevor du an ihr vorbeifährst, dann, dann, dann läuft die Lesung nächste Woche gut. Springt die Ampel auf gelb wird’s öde. Ist sie rot, gehst du gar nicht erst hin. Fahr! Du denkst schon wieder magisch! Willst du nie erwachsen werden? Lass das ja niemanden hören; bestimmt gibt es eine psychologische Diagnose für diese pathologisch gamifizierte Vergewaltigung von Zufällen als Orakel. Omenophilie, Neuroorakleitis oder so. Neuroorakelitis, das einzige Wort mit r-o-o-r in der Mitte. Ro-or! Es ist egal. Nicht hingucken. Nicht hingucken!

Konzentriere dich auf die Straße, bitte, hier sind Straßenbahnschienen, hier ist Kopfsteinpflaster, es ist dunkel, es regnet und deine Fingerspitzen sind taub. Wieso muss es so früh im Herbst eigentlich schon so verdammt kalt sein? Ist das normal? Ich wette der kälteste Spätsommer/Frühherbst seit Beginn der Wetteraufzeichnungen. Wer hat sich jemals so gelangweilt, dass er begonnen hat, das Wetter aufzuzeichnen? Garantiert ein spießiger Junggeselle. Wie Paul. Dem würde ich zutrauen, dass er seit 1962 jeden Morgen vor dem Frühsport Bewölkung und Temperatur in ein kleines Büchlein einträgt.

Guck auf die Straße bitte, zack, über die erste Schiene, fein gemacht, Armraushalten vor dem Linksabbiegen kannst du dir sparen, halt lieber deinen Lenker fest, das ist ja kein Pflaster, das ist eine Frechheit und hier ist niemand außer dir. Obwohl, doch, da drüben. Tatsächlich ein Auto? Ist das ein Typ da drin? Wie ist der denn drauf? Hört der gregorianische Choräle? In der Lautstärke? Dem müssen die Ohren bluten! Gibt der Gas? Ernsthaft? Ist das sein Motor? Alter, der fährt! Hallo? Ich habe grün! Guckst du vielleicht mal, du Grützkopf? Geht mein Licht? Sicher. Frisch aufgeladen. Hinten auch? Bestimmt. Egal. Will der mich umbringen? Schwacher Trost für die Angehörigen: Für getragene Musik im Moment seines Ablebens war gesorgt.

Ich muss bremsen, ich muss bremsen, welcher Hebel ist für hinten? Wenn ich nur vorne bremse fliege ich übers Rad. Jetzt drück halt beide Hebel! Scheiße, es wird glatt sein. Nützt nichts. Wenn der dich umhaut war’s das! Ich muss lenken, lenken, aber wohin soll ich denn, hier sind überall Schienen – Schienen aus vier Richtungen! Ich eskaliere! Stell die Füße auf die Erde, bremse mit den Hebeln und mit deinen Sohlen! So fliegst du nur auf den Arsch, vielleicht! Obwohl, mit einem gebrochenen Steiß monatelang auf einem Schwimmring zu sitzen wie Christian: auch panne. Da ist eine gebrochene Schulter würdevoller. Verdammt, mach dich vom Rad, der überfährt dich! Shit, was denn jetzt? Wieso blockiert das? Bitte nicht! Ich klemme, ich hänge, die Schienen, ich raste aus! Kann ich mich festhalten? Hier? Nein, verdammt! Wohin? Wohin mit meinem Schwung, kann ich bitte wenigstens – oh, hallo: ich fliege.

Es ist verrückt, oder? Dieses Fliegen? Immer wieder faszinierend. Der Schwung ist weg, man schwebt – wie eine, ähm, Staubflocke. In dieser Untertassen-Kotzmaschine in Belantis fühlt man sich so ähnlich. Und diese Lichter, diese Streifen – hu! Hammer, wie sich das Ampelrot auf der nassen Straße spiegelt! So machen die Ampeln Sinn! Sinn machen! Anglizismus-Alarm! Und wenn schon. Ich habe keine Angst vor Anglizismen. Sprache ist ein lebendiges Konstrukt, dude. Früher waren Französismen en vogue – hihi, en vogue, merkst du selber, ne? Aber die hießen anders, oder? Was mit Gallien. Gallizismen? Oder wollen wir die linguistischen Dinge vielleicht später machen?

So, bitte rechten Fuß bisschen drehen, sonst bleibst du an der Mittelstange hängen – sehr gut, danke. Wohin fliegen wir? Kannst du irgendwie nach links steuern, rechts wäre schlecht, dieser Idiot in seinem scheiß Fiesta hat dich immer noch nicht gesehen. Was für ein Arschloch! Meditiert der zu seinem Mönchsgesinge? Hat der den Führerschein auf der Rolltreppe gemacht? Scheiße, der fährt dir über den Arm! Oder übers Bein! Oder über den – was wiegt so ein Fiesta? 700 Kilo? Das sind 0,7 Tonnen! Oder 0,07 Tonnen? Einheitenumrechnung machen wir auch später, ja? Versuche mit dem linken Bein nach vorn zu kommen – oh kacke, da ist schon das Pflaster. Lieber mit der Hand abstützen oder mit dem Ellenbogen? Oder mit der Schulter? Splitterbruch im Ellenbogen ist fies. Dauert Monate. Als sie Sven damals den Verband abgenommen haben, gehörte einer seiner Arme zu einem 35jährigen Sportler und der andere zu einem schwächlichen 12jährigen Jüngling. Sven ist aber auch ein Chaot. Splitterbruch im Handgelenk ist auch Mist. Musste bei Caro dreimal operiert werden. Dann lieber Schlüsselbein. Da kriegst du eine Platte rein und fertig. Martin kommt damit gut klar. Obwohl, diese Stufe, wenn man ihn da anfasst, ist schon eklig. Und am Flughafen immer die Diskussionen! Nützt nichts, einen Tod musst du sterben.

Fuck, Sterben! Wenn es das jetzt war, bist du zufrieden? Ach komm, das ist echt zu krass. Bitte nicht sterben! Bitte einen zündenden Einfall, bitte jetzt. Knie? Knie. Falle aufs Knie, das kann man operieren, da gibt es Prothesen. Frag Petra, alles ganz modern. Zuerst mit dem Knie aufkommen, um den Stoß abzufangen. Dann auf die Schulter abrollen, aber den Kopf unbedingt neigen. Nach rechts? Links? Rechts? Junge, wenn du mit dem Kopf auf dem Pflaster aufschlägst, hat sich’s! Wenn du Glück hast. Wenn du Pech hast bist du Gemüse. Was wärst du lieber: Ein Idiot oder tot? Irgendwas stimmt mit der Zeit nicht. Das ist wie in Pac-Man, wenn man eine dieser Früchte frisst und sich dann doppelt so schnell bewegt wie die Geister. Pac-Man? Alter, passt du bitte auf deinen Kopf auf? Ein Idiot bist du übrigens schon jetzt. Ist ja nicht so, dass du keinen Helm hättest, ne? Wo ist das Ding? Auf dem Schlafzimmerschrank? Nee, da sind die Kartons. Im Keller? Nee, der ist ausgemistet. Wer hat verfügt, dass Helme so hässlich sein müssen? Obwohl, der von Caren ist schick. Dezent jedenfalls. Ein Nicht-Helm, quasi. Sie hat dir auch gesagt, wo sie den – kannst du das bitte später zu Ende denken, kannst du bitte jetzt möglichst elegant stürzen? Ich meine: Abrollen? Knie, Schulter, Kopf. Knie, Schulter, Kopf. Ist schon der Knaller, wie schnell du denkst, wenn du fliegst. Ist das auf Koks auch so? Oder auf Meth? Alter, du könntest König der Welt sein, wenn du immer so schnell –

Geht’s, kommen Sie klar, geht’s, kommen Sie klar? Ob die bitte mal aufhören können wie beim Squaredance durcheinander zu trampeln, bis ich meine Brille gefunden habe? Mann, wo ist die? Das Scheißding hat vierhundert Euro gekostet und ich habe nur diese eine. Morgen ist der Termin mit Lehmann: wichtig! Ich habe keine Ahnung, wie ich ohne Brille zur Arbeit kommen soll, geschweige denn den Termin schaffen. Gott, ich bin so ein Maulwurf! Eines Tages muss ich bestimmt gelasert werden, weil die das mit normalen Linsen gar nicht mehr korrigieren können. Die lasern die Leute bei vollem Bewusstsein; wie pervers muss man sein! Was ist eigentlich mit meiner alten Brille passiert? Falls einer dieser Idioten auf meine neue latscht? Boah, ich höre es schon knacken. Da! Das ist sie doch, oder? Ja! Puh. Okay. Ins Gesicht damit. Funktioniert noch. Ja, ich weiß, dass ich aufstehen muss. Ich bin nicht aus einem Raumschiff auf die Straße gefallen, sondern nur von meinem Fahrrad. Apropos: Wo ist das? Da hinten? So weit? Meine Fresse. Sieht hübsch aus, wie die Speichen das Laternenlicht reflektieren. Sehr nett von meinem Hinterrad, dass es jetzt wieder so widerstandslos rotiert. Blöde Kuh! Was ist denn? Nein, ich will nicht zum Bushäuschen! Ich will zu meinem Rad! Was soll ich denn jetzt an dieser Bushaltestelle sitzen? Opfer-Ausstellung? Ist ja nett, das ihr mir helfen wollt, aber ich bin okay. Nix passiert. Kann die bitte aufhören mir ins Gesicht zu fassen? Ich kenne die nicht. Was will die denn? Aber Ihre Hände riechen gut. Und wie weich die sind! Eincrem-Junkie, hundert Pro. Scheiße, ist das Blut? Verdammt, das ist Blut! Doch, ich will mir aber jetzt da hin fassen. Das ist mein Körper, Sie werden entschuldigen. Verdammt, das suppt ja wie sau! Kann die mir das Taschentuch bitte geben, ich kann das selber halten! Wo ist der scheiß Mönchs-Fiesta? Ist der weitergefahren? Der ist weitergefahren! Habe ich mir das Kennzeichen – hat sich jemand das Kennzeichen? War ja klar. Was für ein Zombie! Das Rad ist Schrott! Von den 500 Euro hätte ich mir lieber ein Bett gekauft. Na gut. Es ging zehn Jahre ohne richtiges Bett, geht auch noch ein elftes. Ist ja gut, ich sitze doch! Ich weiß, dass ich einen Unfall hatte, ich war dabei. Nein ich habe kein Loch im Kopf, höchstens in meinen Klamotten. Hose sieht ganz aus. Moment: Ist das auch Blut? Da am Knie? Scheiße, ja. Voll klebrig. Loch drin? Nö! Was sind das für Hosen, Mann? Ey, ich werde Testimonial für Levi‘s und erzähle im Fernsehen, dass die Hosen so robust sind, dass man sich darin die Knie demolieren kann ohne die Hosen kaputt zu machen. Im Gegenzug bezahlen die mir ein neues Rad. Aber ein gutes! Und die Jacke? Kaputt. Arschklar. Einmal in zehn Jahren kaufe ich mir was Teures und dann kriege ich das in sechs Wochen ramponiert. Sinnlos. Naja, ist eben used look jetzt. Oder ich mache einen Smiley-Aufbügler drauf. Dann ist es retro. Kopfschmerzen? Nein. Wenn ihr nicht bald aufhört auf mich einzureden, kriege ich welche. Ja, ich weiß, dass ich mit dem Kopf aufgeschlagen bin, ich blute ja nicht spontan. Ist ja nett, dass ihr mir helfen wollt, aber ich bin nicht Rescue-Annie aus eurem Ersthelferkurs. Jetzt hört doch mal auf an mir rumzuzuppeln! Ich brauche keinen Krankenwagen, nein! Ich bin okay und werde jetzt nach Hause gehen. Ich habe es nicht mehr weit. Sag das doch einfach. Die können keine Gedanken lesen. „Ich bin okay und werde jetzt nach Hause gehen. Ich habe es nicht mehr weit.“ Geht doch. Geh doch.

Die Internette

Bevor die Internette mit dem Taxi zur Arbeit ins nahe gelegene Krankenhaus fährt, hat sie es sich zur Gewohnheit gemacht, ihre Ladekabel zusammenzurollen und ihre beiden Smartphones wie Revolver links und rechts in die Gürteltaschen zu verstauen.

Sie wirft sich auf die Rückbank, streift die Pantoletten ab und stützt die Füße an die Scheibe der gegenüberliegenden Tür. Sie greift zu den beiden Smartphones und tippt den Inhalt ihres Traumes -, oder auch nur die Dauer des nächtlichen Gewitters mit der Anzahl der Blitze als erste Nachricht ein. Aufgeregt versendet sie diese Informationen an ihre noch schlafenden Abonnementen. Reichen für die Weitergabe ihrer News Daumen und Zeigefinger nicht aus oder bekommt sie die von ihr gefürchteten Muskelkrämpfe im Daumen, setzt sie sich auf und tippt und scrollt stattdessen mit der Nase Informationen ins Tablet.

Fährt die Internette an der Krankenhauspforte vor, steigt sie aus und schreibt die letzten Worte über grandiose Mitternachtsschwimmen, über einen Feuerwehreinsatz, den ihre Freunde durch ein drei-Meter hohes Lagerfeuer ausgelöst haben oder auch über ein Wettessen mit Todesfolge und verschickt die Nachrichten mit 33 Emojis. Erst danach schlüpft sie in ihre Pantoletten und versteckt das Tablet geschickt unter ihrer luftigen Kleidung. Schweißgebadet greift sie das mitgebrachte Handtuch aus der Tasche und trocknet sich Hals, Hände und die Stirn ab. Sie schleicht hinter die Pförtnerei und wringt das Handtuch über der in schnurgerader Reihe gepflanzten Köpfe des Pfücksalats aus, die der Pförtner jedes Frühjahr für sein Frühstück angelegt hat. Ist sie damit fertig, stopft sie das Handtuch wieder in die Tasche, geht zurück zum Auto und schickt dem Fahrer Infos über wichtige Kulturveranstaltungen auf sein Smartphone, die ihm jede Menge zusätzliche Fahrgäste versprechen. Hat sie hingegen wieder heikle Informationen über das abendliche Treiben seiner geschiedenen Frau oder böse Streiche seiner drei heranwachsenden Kinder parat, krakelt sie mühselig Buchstaben auf linierte Zettel, faltet diese zusammen und legt sie als Lohn für treue Fahrdienste auf den Beifahrersitz. Mit einem Nicken bedankt sich der Fahrer, fragt, wann er sie wieder abholen soll und braust mit Lichtsignal davon.

Betritt die Internette das Foyer des Krankenhausgebäudes, schnappt sie alle Meinungsfetzen auf, die sie bekommen kann. Mit diesen geht sie in die neonbeleuchteten Flure und fragt entgegenkommende Mitarbeiter nach den Launen ihrer Chefs oder Kollegen. Noch im Hören greift sie in den Beutel, winkt besorgt oder erfreut den Berichterstattern zu und gibt die Melange aus Meinungsfetzen und eben geäußerten Nachrichten blind in die Smartphones ein und drückt aufgeregt gleichzeitig die Entertasten. Bevor sie auf Station ankommt, hat sie so ein erstes Stimmungsbarometer der Belegschaft noch vor den Sechs-Uhr-Nachrichten abgesandt. Und es ist kein Wunder, dass, seit sie sich mit ihren beiden Smartphones in die letzte Personalratswahl mit zigtausend Rund-SMS eingemischt hat und der aussichtsreichste Kandidat von Platz eins auf den vorletzten Platz rutschte und andere Kandidaten, die seit Jahren aktiv für die Rechte der Mitarbeiter kämpfen, urplötzlich rausfielen, -die Geschäftsführung, die Personalabteilung sowie der Personalrat zu ihren treuesten Kunden zählen sollen. Einzig der Pförtner weigert sich beharrlich eines von den doofen Smartphonedingern zu kaufen und den unverständlichen Quatsch, den sie Tag und Nacht schreibt, zu lesen. Seit geraumer Zeit wird gemunkelt, dass die Pflegedienstleitung extra wegen ihr einen nicht näher benannten Mitarbeiter mit Diplomstudiengang der Neuen Medien beschäftigt, der tags und manchmal auch nachts mit der Weiterverarbeitung ihrer Nachrichten beschäftigt sei. Auch hält sich das Gerücht, die Personalakte der Internetten sei nur wegen ihrer eifrigen Smartphonetätigkeiten bei allen Entlassungsgesprächen immer wieder unauffindbar. Viele, die dieses Gerücht verbreiten, stellen ungefragt der Internetten ihr Wissen zur Verfügung. Auch scheint ihr, dass die Chefs ihr gegenüber irgendwie aufmerksamer geworden sind, ihr neuerdings jede Menge Komplimente machen und sie des Öfteren in der Kantine zum Essen einladen.

Gelangt die Internette endlich auf Station, geht sie voller Ungeduld in die Zimmer, öffnet die Fenster und lässt die ersten Sonnenstrahlen auf die Gesichter der noch schlafenden Patienten scheinen. Sie klopft sie wach, nimmt die Becher vom Nachttisch, reicht sie ihnen an die Münder und fragt ganz nebenbei, wie viele Besucher gestern das Radrennen des Enkels hatte, wie das Essen derzeit schmeckt, wie laut sie die Musik beim diesjährigen Sommerfest des Krankenhauses fanden oder auch nur wie sie die Kleiderordnung auf einer Skala von eins bis zehn einstufen würden. Haben die Patienten ihre Informationen im Halbschlaf genuschelt, klopft sie ihnen anerkennend auf die Schulter, stellt die leer getrunkenen Becher auf die Nachttische zurück, notiert die Flüssigkeitsmenge im Einfuhrprotokoll, zieht die Decken bis zur Nasenspitze hoch, schließt die Fenster und gibt noch im Raume stehend umgehend Votings zur Genießbarkeit des Patientenessens, des Lärmpegels im Krankenhaus und zum schrillsten Ärztekittel an alle Whatsapp-Gruppen ihres ellenlangen Verteilers weiter. Und nur wenn die Daten mehr als zwei, drei SMS überschreiten, schiebt sie sich seit Neuestem in einen der sehr schmalen Patientenschränke, zieht das Tablet unter dem Shirt hervor und schreibt ausführliche Rundmails mit Grafikanhang und Balkendiagramm. Dabei kommt es ihr zugute, dass sie die eigens für diese schmalen Schränke begonnene Diät erfolgreich beendet hat. Anschließend kommt sie wie nach einem Toilettengang erleichtert aus dem Schrank, schiebt zufrieden die Tür zu und steckt das Tablet unters Shirt. Meist bemerkt sie erst jetzt, dass sie in der Zwischenzeit furchtbar müde geworden ist und sie dringend einen Frühstückskaffee braucht. Im Pausenraum angelangt, schiebt sich die Internette in ihre Lieblingsecke an die Stirnseite des Tisches, streift die Schuhe ab, legt die Beine hoch und lauscht gleichzeitig allen Gesprächen der Mitarbeiter. Da es sehr anstrengend ist, die Verwandten und Bekannten der Mitarbeiter auseinanderzuhalten, kann es schon mal vorkommen, dass der Internetten die Augen zufallen und sie in einen wohltuenden Sekundenschlaf hinabgleitet. Erwacht sie wieder, gibt sie die oft unvollständigen Sachverhalte in ihre beiden Smartphones ein. Nicht selten ist sie von der Brisanz ihrer neu gewonnenen Informationen so perplex, dass sie vor Schreck gleichzeitig in zwei, drei oder gar vier Brötchen beißt und den viel zu heißen Kaffee abwechselnd aus den umherstehenden Kaffeepötten runterschlüft. Ist die ihrer Meinung nach viel zu kurze Pause vorbei, zieht die Internette ihre Pantoletten an und fragt die Stationsleiterin, ob sie die Patienten in den OP fahren oder von dort abholen darf. Vorher schleicht sie in den Umkleideraum und wechselt ihre zwei schwächelnden Smartphones gegen zwei mit aufgeladenen Akkus. Die akkuschwachen Smartphones steckt sie an einer Verteilerdose an, die ihr ein Handwerker, aus der Schar der unendlichen Verehrer, in den Umkleideschrank heimlich eingebaut hat. Mit den zwei aufgeladenen Smartphones bewaffnet, schnappt sie sich ein im Gang geparktes Bett nebst Patient und beginnt ihre ausgedehnte Spazierfahrt durch alle Etagen und Winkel des Krankenhauses. Zuerst führt sie ihr Weg in die Wäscherei. Dort horcht sie was die Besungene an Zetteln, Eintrittskarten und anderen interessanten Fundstücken in den schmutzigen Wäschestücken gefunden hat und welche wichtigen Nachrichten sich daraus rekonstruieren lassen. Anschließend schiebt sie das Bett mitten in die Raucherinsel der Krankenpflegeschule, holt ihre Zigaretten heraus, steckt sich und dem halbschlummernden Patienten eine Zigarette zwischen die Lippen und gibt der qualmenden Schülerschaft Tipps, wo in den nächsten Nächten angesagte oder gar streng verbotene Tanzveranstaltungen mit anschließendem Nacktbaden stattfinden. Kommt die Internette von der kleinen Raucherpause an der Kantine vorbei, kann sie sich meist nicht beherrschen. Sie wirft ihre und des Patienten Zigarette in die Ecke, stellt das Bett mit dem magennüchternen Patienten neben den beleuchteten Lunchautomaten, zieht sich ihr saftiges Schinken-Käse-Sandwich mit Ei und Salat aus dem Automatenfach und stürmt an die Kasse zu Herrn Auskunft. Dort tauschen sie Speicherkarten mit verschiedenen Diagrammen und Grafiken aus und besprechen wichtige Kulturveranstaltungen, die im Umkreis von mindestens einhundertfünfzig Kilometern stattfinden. Und jedes Mal nimmt sich die Internette ganz fest vor beim nächsten Schwatz nicht wieder zwei, drei Stunden in der Kantine zu verweilen. Denn oft kommen die Patienten danach viel zu spät zu ihren OP-Terminen oder versterben, weil die Sauerstoffmaske zwischenzeitlich verloren gegangen oder der Infussiomat leer gelaufen ist. Sie übergibt ihre halbtoten Patienten am OP-Eingang und übernimmt die frisch operierten Patienten. Da das Handy im OP und ITS-Bereich keinen Empfang hat, hasst sie die Zeit der Übergabe und drängt das Personal zur Eile. Anschließend rast sie wie von der Tarantel gestochen mit dem Patienten in den Flur zurück und prüft mit zitternden Händen den Empfang ihrer beiden Smartphones. Mit der Fülle an Informationen beantwortet sie auf der Rückfahrt bereitwillig jedem Mitarbeiter, wann, wo, wie, welche wichtigen Veranstaltungen stattfinden, wie hoch die Eintrittsgelder sind, wie viele Karten sich überhaupt noch im Umlauf befinden und ob die Fragenden zu dieser oder jener außergewöhnlichen oder einmaligen Veranstaltung kommen müssen. Gern beendet sie ihre Tipps mit dem mahnenden Satz, dass ein Fernbleiben ein nicht wieder gut zumachender Frevel oder gar ein untrügerisches Zeichen von kultureller Einfältigkeit vor aller Welt darstelle und der Ferngebliebene sich nicht mehr bei Tage unter die Menschheit getrauen könne. Sind die Fragenden noch im Zweifel, schiebt sie den standardisierten Satz hinterher, dass auch sie todmüde sei, dass auch sie Wäsche in der Waschmaschine habe und auch ihre Fenster vor Dreck aus den Rahmen fielen, aber sie sich gar nicht mehr im Spiegel ansehen könne, wenn sie der Veranstaltung fernbliebe. So angeheizt beteuern die Informierten, dass sie in jedem Falle zur angemahnten Veranstaltung kämen. Oft trifft sie am Abend den Handwerker, der ihr fortwährend zulächelt, Teile ihres alten oder neuen Stationsteams oder gar ganze Abteilungen dort an. In diesen Momenten fühlt sie sich seltsam geborgen und glaubt sich ihrem großen Ziele näher, einmal alle Mitarbeiter des Krankenhauses als familiäres Ganzes zu erleben. Sie nimmt die Smartphones und macht Fotos, die sie als Panoramabilder in verschiedene Netzwerke stellt und mit den Namen aller Abgebildeten versieht. Die Gelungensten klebt sie später an einer der wenigen freien Plätze ihrer vier Meter hohen, weiß getünchten Wände der Drei-Zimmer-Altbauwohnung mit Außentoilette. In sehr guten Momenten gelingt ihr das Kunststück, die Anwesenden im Saale in tobende Begeisterung zu versetzen. Dann schunkelt sie so lange hin und her, bis die Anwesenden die von ihr vorgegebene Bewegung aufgreifen und in eine einzige Woge verwandeln. Nach solchen Veranstaltungen fährt sie nicht, wie sonst üblich, mit dem Taxi zum nächsten Ereignis, sondern schaltet ihre beiden Smartphones aus, nimmt ihre bunten Pantoletten in die Hand und planscht im Springbrunnen und träumt davon, endlich von einem schönen Mann entdeckt zu werden. Barfuß tanzt sie nach Hause. Sie legt sich ins Bett und schaukelt sich mit dem Rhythmus der abendlichen Woge in den wohl verdienten Schlaf und stellt sich die Frage warum sich niemand getraut, sie endlich anzusprechen. Und nur wenn sie wieder einen ihrer furchtbaren Albträume hat, schreckt sie aus ihrem Schunkelschlafe auf und starrt mit weit aufgerissenen Augen auf ihre beiden Handys, die sie stets fest umklammert in den Händen hält. Dabei überlegt sie, was sie eigentlich machen wird, wenn sie, wie im Traume geschehen, wirklich in ein Funkloch fallen sollte.

Würde man den Pförtner nach ihr fragen, würde er sagen, dass sie eine ausgesprochene Handymacke hätte und er beim besten Willen nicht sagen könne, woher sie die viele Kohle nehme, um die täglichen Taxifahrten bezahlen zu können. Außerdem würde er behaupten, dass sie endlich einen Mann in ihr unstetes Leben lassen müsse. Dann würde sich das mit der Doppel-Handymacke und dem Taxirumgekutsche schnell legen. Außerdem könne er dann wieder seinen geliebten Pflücksalat abernten und zum Frühstück essen.

Unter dir (Teil VI)

Ich lege das rote Samtbündel auf dein Kopfkissen, streichle mit meinen Fingernägeln über deine Handrücken, klopfe auf die Bettdecke und schiebe meine Zunge zwischen den Mundwinkeln hin und her. Lass uns anfangen, sage ich, lass uns endlich anfangen, sonst ist die Nacht vorbei und wir haben es immer noch nicht hinter uns gebracht. Ich sehe auf die Uhr und sage Mist, die kommt jetzt zur Jahresendrunde bevor sie sich auf die Nachbarstation verkrümelt, um literweise Kaffee und Sekt in sich reinzuschütten. Mit einem Schwung rutsche ich vorsichtig unter das Bett und wundere mich nicht, dass ich wieder an dem blöden Metallgestell anecke. Wie vorhergesagt, höre ich das Klappern ihres Schlüsselbundes im Rhythmus ihrer schnellen Schritte. Die Schwester hustet mehrmals, klopft an die Tür, fragt, ob du fertig bist und steckt den Kopf mit dem blonden Pferdeschwanz hindurch. Sie dimmt das Licht an und fragt in die Länge gezogen, ob du deinen heißen Traum schon beendet hast. Sie hustet noch einmal gekünstelt, kommt herein, schaut zum Monitor, geht zurück, haucht dir einen ihrer komischen Luftküsse entgegen und meint beim Lichtausmachen, dass sie nun erst im neuen Jahr wiederkommen wird. Ich schüttle über so viel Übermut den Kopf, sage dir, dass ich ihr Verhalten merkwürdig finde und ich sie selten so aufgekratzt erlebt habe wie heute und denke, dass sie jetzt schleunigst ihren Sekt trinken gehen sollte, ehe sie noch Schaden anrichtet.

Ich räkle mich unter deinem Bett, schlage mit den Fersen abwechselnd auf das gebohnerte Linoleum und merke, dass ich Lust auf dich bekomme. Ich greife zwischen meine Schenkel und beginne an mir rumzuspielen. Am liebsten würde ich meine Finger reinstecken, so wie du es früher immer bei mir gemacht hast und so wie ich es auch oft unter diesem Krankenhausbett extra für dich mache, um dir zu zeigen, wie wild ich immer noch auf dich bin. Da mir das Rumspielen heute nicht gelingen will, morse ich dir an dein blödes Bettgestell, wie einfach ihr Kerle es im Leben habt, dass quietschvergnügt Tag und Nacht an euch rumfummeln könnt und dass ihr euch zur Not auch auf dem Marktplatz neben einer Imbissbude an den Glocken rumspielen würdet. Ich rolle mich unter dem Bett hervor, ziehe mich am Bettgitter hoch, klatsche mir auf den Hintern und zwinkere deinen beiden Bettnachbarn zu. Ich greife dir an deinen Schwanz und flüstere dir ins Ohr, dass ihr Kerle es guthabt, und dass mich das schon früher interessierte und ich dich deswegen auf dem Schulhof gefragt hatte, ob du es dir schon mal gemacht hast. Ich ziehe an deinem Schwanz, hauche dir über die Stirn und erinnere dich, wie du bei meiner Frage früher so wunderbar rot geworden warst. Ich sehe dich an, streichle dir über die blassen Wangen und wünsche mir, dass du zur Abwechslung auch mal wieder rot werden könntest. Mir gefiel das damals so gut, dass ich dich auf unserem Hofpausenrundgang nochmal gefragt hatte, ob du dir´s in der Zwischenzeit wieder gemacht hast. Und wie beim ersten Mal, wurdest du rot, stottertest und verrietest mir ungewollt, was ich wissen wollte. Seit diesem wunderbaren Ereignis lauerte ich dir jeden Tag auf den Schulweg auf, um von dir zu erfahren, was du tags zuvor gemacht hattest, rempelte dich beim Mittagessen ausversehen an und setzte mich an deinen Tisch oder passte dich auf dem Nachhauseweg ab und verwickelte dich in Gespräche über deine und auch meine Zukunft. Ich brachte dich nach unserem dritten oder vierten zufälligem Treffen dazu, dass du mich zu mir nach Hause begleitet hast. Dabei bemerkte ich, wie simpel es war, dich zu führen und die Oberhand zu haben. Und das faszinierte mich. Ich hörte dir neugierig zu, dass du in deiner Freizeit, Orgel, Klavier und Gitarre spielst, zum Modellieren und Zeichen gehst, soeben einen Goldschmiedekurs bei deiner Tante gemacht hattest und an den Wochenenden mit deinem Cousin Bergsteigen oder Kanu fahren gehst. Von der Art, wie du mir das alles erzähltest, war ich völlig perplex. Keine Angebernummer wie bei den anderen Jungs der Schule, kein Gelaber oder blöde Kinderei über Titten und Schneckenkram. Nichts. Du erzähltest mir von deinen Schwierigkeiten beim Zeichnen und Musizieren, was du alles noch nicht beherrschst, du noch alles ändern musst und was ich denn zu alledem sage und welche wertvollen Tipps ich dir dazu geben könne. Du sahst mich mit deinen braunen Augen an, wühltest in deiner schwarzen Lockenmähne, zuppeltest an deinem Bärtchen und bohrtest fortwährend in deinem linken Ohr. Weil ich dir überhaupt nichts antworten konnte und ehrlich gesagt auch völlig neidisch neben dir stand, dachtest du, ich fände dich genauso bescheuert wie die anderen Jungs aus der Schule. Du entschuldigtest dich beim nächsten Treffen mit einem selbst geschriebenen Lied. An diesem Tag hatte ich mich in dich verknallt. Ich war verknallt in deine ungekämmte Lockenmähne und die Haare, die über deine Schultern und über deine Brust hingen. Ich war verknallt in deine braunen Augen mit den fast zusammengewachsenen Augenbrauen, in dein Lächeln mit den zwei schiefen Zähnen im Oberkiefer. Und ich war verknallt in deine langen Finger, die du immerzu in Bewegung hieltest und in die Hosentaschen stecktest, wenn du bemerktest, dass ich auf sie sah. An diesem Tag wusste ich, dass ich dich will, koste es was es wolle. Und ich wusste sofort, dass ich dich, wenn ich dich erst einmal habe, nie und nimmer an irgendeine andere hergeben werde.

Weil du immer noch nicht rot wirst, schlage ich dir links und rechts auf die Wangen und freue mich, dass endlich deine langweilige Blässe verschwindet. Ich frage dich, ob du dich noch erinnern kannst, dass ich dich, als wir zusammen waren, so lange über das Onanieren genervt hatte, bis du aufgabst und mir brav erzähltest, dass du an die wackelnden Brüste der ach so sportlichen Volleyballspielerinnen gedacht hattest, an die ach so supernette Musiklehrerin oder an die ach so durchtrainierten Kanumädels mit denen du Morsekurse übtest. Ich war sauer. Stinksauer. Um mich von dem Gedanken abzulenken, schnipse ich mit den Fingern auf deine Wangen und frage dich, ob du dich auch noch daran erinnern kannst, dass du mir damals gesagt hast, dass du ab und zu an mich gedacht hast und gemacht hattest. Ich hatte dich gefragt, wie oft du an die Volleyballspielerinnen und wie oft du an mich denken musst. Du bliebst mir die Antwort schuldig, an wen du mehr dabei denken musstest und ob du es lieber auf dem Bauch oder auf dem Rücken machst. Was ist das für eine Frage, hast du gesagt, natürlich im Stehen, natürlich vorm Fenster und natürlich in die Vollmondsilhouette. Weil ich mich über die Antwort auch heute noch ärgere, halte dir die Nase zu, schnipse nochmal mit meinen frisch lackierten Fingern kräftig auf deine roten Wangen und flüstere dir ins Ohr, dass du mir schon damals in entscheidenden Fragen ausgewichen bist und ich das in Zukunft nicht mehr dulden werde. Dabei wollte ich doch damals eigentlich nur wissen, mit welchen Mädchen du es vorher getrieben hattest. Du hast mir zwar gesagt, dass wir beide uns entjungfert hätten, aber ich glaube dir das bis heute nicht. Zu viele Mädels schwirrten um dich herum. Außerdem gab es da ein Gerücht, du hättest die hässliche Gruftiliese mit den ungewaschenen schwarzen Haaren und dem Metallzeug im Gesicht aus der Parallelklasse während der Klassenfahrt gevögelt, zumindest hatte sie dieses widerliche Gerücht in der Hofpause unter die Mädels gestreut. Ich war damals so wütend, dass ich erst dich und danach mich vergiften wollte. Und du kannst von Glück reden, dass ich in dem Moment nicht wusste, wie das geht und was man dazu alles braucht. Chemie ist nun mal nicht meine Stärke. Zur Strafe habe dich danach solange mit dem Runterholen genervt, bis du es endlich vor mir gemacht hast. Ich hatte mich mit verschränkten Armen vor dir aufgestellt, dich aufgefordert, mit den Händen geschnipst und gewartet bis es endlich kam. Dann habe ich mich etwas von dir weggestellt, dir zugerufen, ist das alles und dich ein weiteres Mal aufgefordert, dass du es nochmal machen sollst, dieses Mal aber noch weiter als vorher. Als das dann nicht genau vor mir runterkam, fragte ich dich, warum du nicht ordentlich gekommen bist. Bin ich ein Zuchtbulle, bin ich ein Elefant, hattest du geschrien. Ja, hatte ich gesagt, ja, du hast doch gesagt, dass du einen Dinoschwanz hast und immerzu an die Volleyballmädels, die Musiklehrerin und die Kanuliesen in ihren kurzen Hosen denkst. Das war Spaß, einfach nur Spaß, hattest du wütend gesagt. Ich fand das damals gar nicht witzig, überhaupt nicht. Na dann kommst du eben noch einmal, hatte ich geantwortet. Wie oft soll ich denn noch kommen, ich bin doch keine Maschine. Ich glaube, so wütend warst du sonst nur, wenn ich nach den Mitschülerinnen fragte. Da konntest du unendlich genervt sein.
Ich streichle über die Stelle der Bettdecke, unter der dein Ding ist und überlege, wie das ist, einen steifen Penis zu bekommen und wie es wäre wenn mir jetzt so ein riesiges Ding wachsen würde. Dann würde ich jetzt zum Silvesterabend mit so einem harten Teil hier durch das Zimmer wandern.

Unter dir (Teil V)

Der Schmerz am Hinterkopf lässt nach und ich versuche zu der Stelle zu schauen, in der das Samtbeutelchen steckt. Ich sehe zur Stuhllehne und zu der pinkfarbenen Jacke, die ich vorhin ausversehen achtlos darauf abgelegt habe und in deren linker Tasche sich der rote Samtbeutel befindet. Langsam sehe ich wieder alle Umrisse des Zimmers, höre die Tür aufgehen und das Schlüsselgeklapper, sehe verschwommen das Licht vom Korridor ins Zimmer blenden und den schnellen Schatten im Türrahmen, der die Deckenbeleuchtung anschaltet. Damit mich die Schwester nicht sieht, drücke ich mich an die Wand heran und versuche auf der Seite liegend, etwaige Blutflecken auf dem Fußboden, meiner Kleidung oder meiner Haut zu entdecken. Auf keinen Fall will ich den Vorfall vom letzten Mal nochmal erleben, als die Schwestern Blut auf deinem Bettzeug entdeckten, rumschrien und dich in die Notaufnahme schieben wollten. In diesem Moment hatte ich gedacht, dass es mit uns beiden aus und vorbei ist. Denn meinen Körper an das Unterteil deines Bettes zu heften, habe ich zwar schon mehrfach geübt, jedoch nur an stehenden und niemals an einem fahrenden Bett. Vielmehr befürchte ich, dass es mich an dem Untergestell deines Bettes, das allernaselang an irgendwelchen Kanten und Wänden aneckt, derart durchschüttelt, dass ich früher oder später abgeworfen und entdeckt worden wäre. Glücklicherweise waren es Schwestern, die lieber über Männergeschichten quatschten als dich in die Notaufnahme zu karren. Die eine hatte ständig neue Männerstorys auf Lager, die sie jeder Schwester anders erzählte und die von Woche zu Woche versauter wurden. Ich bin mir sicher, dass sie die untreueste Frau war, deren Stimme ich jemals hier unten mit anhören musste. Untreue kann ich auf keinen Fall leiden. Sie hätte es wirklich verdient, von einem ihrer vielen Liebhaber erschlagen und zerstückelt zu werden. Bei so etwas, kenn ich wirklich kein Pardon.

Ich reibe mir den Hinterkopf und weiß, dass ich eine mordsmäßige Beule bekommen werde, sehe auf die Schrammen an Arm und Schulter und sage, dass das Mist ist und ich ab morgen wieder bei knapp 40° eine geschlossene Bluse tragen darf und ich schon jetzt wieder die Kollegen lästern höre, dass ich zu den verstaubten Gouvernanten übergewechselt bin. Mein ehemaliger Chef hatte mich einmal besorgt gefragt, ob ich überfallen worden sei, oder ob mein Freund mich geschlagen hätte. In diesen Fällen, hatte er gemeint, könnte ich mich vertrauensvoll an ihn wenden. Dann hat er mir die Nummer eines nahe gelegenen Frauenhauses in die Hand gedrückt und gesagt: „Sehr verehrtes Fräulein Büttner, Sie können mich jederzeit, zur Not auch in der Nacht, anrufen!“ Ich hatte mit hochrotem Kopf vor Herrn Doktor Kalbe gestanden und ihm versucht zu erklären, dass ich mich nur beim Putzen unter dem Bett gestoßen hatte. Eigentlich war er ein toller Mann und trotz seiner knapp 60 Jahre noch attraktiv. Warum er sich so brennend für mich interessierte und wie er mein Geheimnis herausgefunden hatte, weiß ich nicht und werde ich wohl auch nie herausfinden. Du kannst dir denken, dass ich das auf keinen Fall gut fand. Nun bin ich auch nicht viel besser dran und habe dafür die meckernde Chefin am Hals. Wenn ich das nur vorher gewusst hätte. Ich glaube, bei ihr kann ich total zerkratzt und blutig ins Büro torkeln, das stört die nicht im Geringsten.

Die Schwester geht an dein Bett, kniet sich auf die Stuhlsitzfläche, um die Infusion abzustellen. Sie nimmt die alte Flasche und stellt sie auf den Stuhl. Dabei fällt ihr die Flasche herunter. Mit aller Kraft presse ich mich an die Wand und sehe wie sie blind nach der Flasche schnappt und zu dir sagt, dass sie heute sehr, sehr ungeschickt ist. Sie stellt die leere Flasche auf den Stuhl und schließt die neue an und sagt, dass ihr heute die Beine wehtun und sie sich in den nächsten Tagen ein paar neue Schuhe zulegen muss, da die alten völlig ausgetreten sind. Sie nimmt die leere Flasche von der Sitzfläche, schiebt den Stuhl vor, lässt sich darauf fallen und schiebt die Füße unter das Bett. Abwechselnd wippt sie mit den Füßen und sagt, dass ihr das jetzt wirklich guttut. Mit der letzten Kraft versuche ich das Unglück zu verhindern, drücke meinen Körper an die Wand und halte die Luft an. Sie wippt mit dem rechten Fuß in mein Gesicht hinein und mit dem linken gegen meiner Hand, mit der ich mich mit aller Kraft gegen die Wand presse. Sie sagt, dass du es auf keinen Fall mit deiner Traumfrau aus gesundheitlichen Gründen übertreiben darfst und sie dich ansonsten melden muss. Sie zieht die Beine zurück und steht mit einem „Na dann will ich mal wieder die anderen Patienten stören!“ auf. Sie hebt den Stuhl an und stellt ihn an den Tisch. Mit einem ungläubigen Blick greift sie die Jacke von der Lehne, sieht sich im Zimmer um, wirbelt die Jacke durch die Luft, riecht an dem pinken Stoff und lobt das kräftige Parfüm. Ich merke wie mir unter deinem Bett der Magen beginnt zu brennen. Sie gleitet mit ihren Armen in die Jackenärmel, sagt, dass sie an ihr auch sehr aussehen würde, dreht sich um die eigene Achse und greift in die Jackentaschen und tastet hinein. Sie nimmt den Samtbeutel heraus. Ich sehe ihr zu, will sie anschreien, dass sie das nicht machen soll, kann aber nicht schreien und spüre stattdessen auf einmal das gleiche Herzrasen, das ich immer verspürte, wenn ich dich wegen einer Frauensache zu Rede stellen wollte. Sie macht das Samtbeutelchen auf und ich trete mit den Fersen gegen die Wand. Sie sieht hinein, schüttelt den Kopf und schnürt es wieder zu. Um nicht in Ohnmacht zu fallen, beiße ich in meinen Daumennagel. Lachend stellt sie sich vor den Spiegel, gibt sich einen Luftkuss und dreht sich noch einmal um die eigene Achse. Sie zieht die Jacke wieder aus, wirbelt sie durch die Luft, legt sie über die Stuhllehne und streichelt über den Stoff. Sie geht zur Tür macht das Licht aus, dreht sich zu euch drei, macht einen ihrer üblichen Luftküsse und wirft vergnügt die Zimmertür zu.

Ich stoße meine angestaute Luft heraus, lege meinen Kopf auf das Linoleum und ringe nach Atem. Zum ersten Mal, seit ich hier unten liege, verspüre ich keine Kraft mehr und fühle mich völlig leer und unfähig unter dir hervor zu krabbeln. Mit dem Gesicht auf dem Linoleum bleibe ich liegen und rieche wie ekelhaft das Reinigungsmittel ist und dass ihr drei das Zeug für den Rest eures Lebens riechen müsst. Ich versuche mich auf den Rücken zu drehen, spüre aber, dass mir die dazu notwendige Kraft fehlt. Ich bleibe liegen und versuche Arme und Beine zu strecken, um wieder ein Gefühl für meinen Körper zu bekommen. Wäre ich wie meine Freundin christlich, würde ich jetzt zu Gott beten und ihn bitten, mir die Kraft zu geben von hier weg zu laufen. Außer der Ehelosigkeit und dem Kloster würde ich ihm so ziemlich alles versprechen, aus dieser Gefangenschaft zu entkommen. Zum allerersten Mal empfinde ich dein Bett als Enge, um nicht zu sagen als Gefängnis.

Wieder versuche ich unter dem Bett hervor zu kommen, merke aber, dass mir die Kraft dazu immer noch fehlt. Deswegen umgreife ich die Räder des Bettes und ziehe mich mit den Armen hervor und stoße mich mit den Beinen an der Wand ab. Auf allen Vieren sortierte ich meine Kleidung und die Tasche unter dem Bett hervor, stützte mich auf meine Knie, mache die Taschenlampe an und kontrolliere deinen Katheterbeutel. Damit sie dich in dieser Nacht nicht doch noch einem Arzt vorstellt, robbe ich zum Waschbecken, hole in einem Becher Wasser, robbe zurück und drücke dir mit der Spritze, die die Schwester auf dem Nachtisch liegen gelassen hat, Wasser über die Abflussöffnung in den Katheterbeutel. Ich ziehe mich am Bettgestell hoch, schüttle den Krampf aus den Waden und merke wie mir schwindlig wird. Mit beiden Händen halte mich am Nachttisch fest, falle aber auf das Bett deines Nachbarn und entschuldige mich bei ihm. Ich richte von ihm auf, gehe zum Stuhl und hole das Samtbeutelchen hervor. Ich knülle die Jacke zusammen, packe sie in die vorgeholte Tasche und bin froh, dass ich mir über die Zeit angewöhnt habe, dünne, knitterfeste Jacken zu kaufen, damit sie problemlos in die Tasche passen ohne viel Platz wegzunehmen. Erschöpft setzte ich mich auf den Stuhl, hole Luft und sage, dass das heute sehr, sehr knapp war, ich den verflixten Tag habe kommen sehen, ich überhaupt nicht verstehe, dass sie mich nicht erwischt hat und ich erleichtert bin, dass sie meine Jacke nicht ins Schwesternzimmer geschleppt hat, so wie im letzten Winter, wo ich bei Minus 17 Grad in einer Bluse aus der Klinik verschwinden musste und mich die Leute auf der Straße blöd angegafft haben. Ich frage dich, was wir beide gemacht hätten, wenn sie die Jacke mitgenommen hätte und bekomme von dir wieder einmal keine Antwort. Mit einem Seufzen umgreife ich das Samtbeutelchen, küsse es und merke wie ich auf den Stoff weine. Ich strecke dir den roten Beutel entgegen und sage dir, dass sich unsere gemeinsame Erlösung darin befindet und du wie ich schon lange auf diesen Moment gewartet hast. Taumelnd stehe ich vom Stuhl auf, halte das Beutelchen in die Luft und sage dir, dass wir unbedingt jetzt anfangen müssen, damit wir rechtzeitig fertig sind, bevor die Nacht zu Ende geht. Denn nach dieser Nacht kann uns keiner mehr trennen.

Unter dir (Teil III)

Im ersten Teil legt sich die Freundin (wie jede Nacht) unter sein Bett und wartet, dass die Nachtschwester ihren Rundgang durch die Zimmer unternimmt. Diese Zeit nutzt sie, um über diese und andere Krankenschwester und ihre Mühen, unter das Bett zu gelangen, nachzudenken.

Im zweiten Teil „beschäftigt“ sie sich mit ihrem Freund, der im Bett liegt und „bereitet“ ihn für das „Ereignis “ vor, wobei sie (wie auch im folgenden Teil) von der Nachtschwester gestört wird.

Ich lege mein Ohr auf deinen Körper, höre dein Herz schlagen und schließe zufrieden die Augen. Ich zähle laut deine Herzschläge und wiederhole jeden einzelnen mit meinen Fingerkuppen auf deiner Wange. Im Rhythmus deines Herzens puste ich auf deine Brustwarzen, bis ich spüre, dass sie hart werden. Weil mir das Gepuste zu anstrengend wird und weil ich auch weiß, dass es dir als Linkshänder wichtig war, schiebe ich vorsichtig meine Zungenspitze heraus und betupfe zuerst deine linke und danach deine rechte Brustwarze. Als ich keine Lust mehr darauf habe, gebe ich dir einen Schmatzer auf dein glatt rasiertes Babygesicht und sage, dass ich ganz genau weiß, dass du mich wahnsinnig liebst und ich auch heute wieder deine versteckte Morse-Botschaft aus deinem Herzschlag herausgehört habe. Ich streichle zwischen deinen Brustwarzen über den ovalen Leberfleck, sehe dich an und flüstere „Schokopudding mit Vanille“.
Plötzlich höre ich Schlüsselgeklapper auf dem Flur. Ich fluche, ob das jetzt unbedingt sein muss und bin der Schwester wieder dankbar, dass sie mit ihrem Geklapper meilenweit zu hören ist und mir somit ausreichend Zeit gibt, mich schnell unter dein Bett zu verkrümeln. Nur bei dieser Schwester kann ich mich auf die Uhrzeit verlassen und auf ihr pünktliches Schlüsselgeklapper. Meiner Meinung nach ist sie die lauteste, aber auch die zuverlässigste aller Schwestern. Ich ziehe dein Hemd zurecht, lege die Bettdecke glatt, gebe dir einen Klaps auf die Wange, rolle mich unter das Bett und überlege, ob ich ihr nicht ein Glöckchen für das Schlüsselbund wichteln sollte. Meinen Rücken schiebe ich so lange auf dem gebohnerten Boden zurecht, bis ich die passende Position unter deinem Körper gefunden habe. Denn nur so habe ich ein Gefühl dafür, ob das, was die Schwestern mit dir tun, auch wirklich gut für uns beide ist. Wenn ich hier unten liegend die leise Vermutung bekomme, dass mich die pflegerische Anordnung stört, mache ich sie, wenn die Schwester gegangen ist, sofort rückgängig. Bei ihr hatte ich jedoch noch nie Bedenken und weiß, dass sie alle ärztlichen Verordnungen gewissenhaft ausführt. Vor ein paar Wochen wollte ich sie sogar loben. Aber dann hatte ich Angst, sie könnten sie zur Stationsschwester ausbilden und dann hätte ich keine pünktlich klappernde Schwester mehr gehabt. Bei den anderen Schwestern habe ich manchmal meine Schwierigkeiten, rechtzeitig unter das verflixte Bett zu kommen. Und das geht dann meist nicht ohne blaue Flecken und Schrammen. Es gibt Nächte, die knapp an der Katastrophe vorbei gehen und am nächsten Tag sehe ich zerkratzt aus und meine Kleidung ist eingerissen oder an einem meiner hohen Schuhe fehlt der Absatz.

Ich lausche. Wie üblich erklärt sie dir alle Handgriffe bis ins Detail. Übertrieben laut erläutert sie dir, welche medizinische Verordnungen sie machen muss und warum, und fragt immerzu, ob du damit einverstanden bist. Du bist doch nicht schwerhörig. Ständig habe ich das Gefühl, dass die hier alle Selbstgespräche führen. Bei einigen Schwestern habe ich sogar Mühe, nicht lachen zu müssen. Im Allgemeinen finde ich ihre Erklärungen aber wichtig. Nur manchmal, wenn die Schwestern zu persönlich werden, wenn sie, irgendetwas von Schatz, Liebling, oder schöner Mann faseln, wenn sie beim Waschen meinen, dass sie dich nicht von der Bettkante stoßen würden, dann werde ich fuchsteufelswild und muss mir vor Wut in die Hand beißen. Am liebsten würde ich in diesen Momenten hervorkriechen und alle ordentlich verdreschen. Diese Schwester hingegen hielt sich von Anfang an mit solcherlei Sprüchen zurück. Trotzdem oder vielleicht deswegen muss ich auch bei ihr höllisch aufpassen.

Sie geht zur Tür, dreht sich zu dir um, haucht dir einen ihrer Luftküsse entgegen und löscht das Licht. Langsam schiebe ich mich unter dem Bett hervor, krame im Dunkeln die Taschenlampe aus der Tasche, knipse sie an und kontrolliere, ob sie die von ihr aufgezählten Verordnungen richtig ausgeführt hat. Einige der Schwestern sind nämlich unzuverlässig, um nicht zu sagen schlampig. Auch diese Schwester arbeitet an manchen Tagen ungenau. Damit ich die Schwestern überprüfen kann, habe ich mir Fachbücher gekauft und lese, wenn meine meckernde Chefin nicht da ist, stundenlang im Internet und arbeite alle über Nacht angestauten medizinischen Problemfälle, die dich betreffen, in Foren nach und nach ab. Mit der Zeit kenne ich die Foren und kann sehr gut mitdiskutieren. Und werden neue Heilmethoden besprochen, flechte ich sie beharrlich in die Arztgespräche, die ich einmal pro Woche führe, ein. Einer der Assistenzärzte hat doch wirklich mal gedacht, ich sei Medizinstudentin. Und nur wenn ich früher überhaupt nicht weiter wusste, ging ich zu meinem Hausarzt und gab die Beschwerden an, die mich interessierten. Den Termin beim Psychologen nahm ich aber nur einmal war. Seitdem wechsle ich die Fachärzte nach deinen jeweiligen Beschwerdegruppen. Mein Lieber, es gibt Tage, da überlege ich, ob ich meine Arbeit für dich hinschmeiße und ein Medizinstudium beginnen sollte. Spätestens seitdem mein Chef gegen eine Chefin ausgetauscht wurde, denke ich fast täglich diesen wunderschönen Gedanken. Dann könnte ich nach dem Studium ganz offiziell bei dir arbeiten und den Schwestern jede Menge Anweisungen in einem wehenden weißen Kittel erteilen. Leider habe ich aber nicht die Superabiturnoten wie du dafür. Vielleicht sollte ich dein Zeugnis fälschen und meinen Namen eintragen. Dann bekäme ich auf jeden Fall den Studienplatz, den du partout nicht wolltest. Du weißt, für dich mache ich alles.

Damit du mich gut sehen kannst, hebe ich dein Kopfende nach oben. Ich lege die Taschenlampe auf den Nachttisch, stelle mich in die Mitte des Lichtkegels, beuge mich zu dir und zu deinen beiden Mitpatienten und applaudiere. Ich strecke die Arme zur Zimmerecke, lasse sie langsam auf meinen Busen sinken und knöpfe die Bluse auf. Vorsichtig löse ich die Schnallen der Glitzerschuhe und sammle die Schuhe mit dem Mund auf. Da meine tollen Glitzerschuhe im Taschenlampenlicht blenden, kneife ich die Augen zu und versuche die schweren Dinger blind auf dein Bett zu zielen. Nachdem ich das geschafft habe, öffne ich meine Hose mit dem Ringelmuster, die ich bei unserem ersten Kennenlernen anhatte und die du von jeher so furchtbar gefunden hattest. Ich beuge mich nach vorn, ziehe sie herunter und schieße das Ringelding mit dem großen Zeh im hohen Bogen zu dir hinüber. Mit den Füßen ziehe ich abwechselnd meine Socken aus, sammele auch sie mit dem Mund auf, hänge sie mir über meine beiden Ohren und schüttle den Kopf, bis sie runterfallen. Ich hebe sie auf, knülle sie zusammen und werfe sie dir genau ins Gesicht. Weil ich dich getroffen habe, strecke ich meine Arme aus und schlage ein Rad. Ich gehe an dein Bett und ziehe endlich meine Bluse aus und lege alle Kleidungsstücke, die du noch nie an mir gemocht hattest, auf deiner Bettdecke aus, als hättest du sie allesamt an. Ich zupfe die Klamotten faltenfrei und flüstere dir ins Ohr, dass du ein tolles Mädchen in den klamotten abgeben würdest. Ich richte die Taschenlampe auf dein Bett, hole mein Handy mit dem neuen Kameratyp und der Videofunktion und mache Fotos von dir und den Klamotten. Ich schiebe die Lampe zurück, tipple auf meinen Zehenspitzen in den Lichtkegel, lächle euch drei stummen Zuschauern zu, drehe mich einmal um die eigene Achse, öffne mein hochgestecktes Haar und halte es für euch ins Licht. Wie wild schüttle ich es auseinander und sehe durch die Strähnen zu euch hindurch. Mit beiden Händen umfasse ich zwei Haarbüschel und winke dir zu. Ich verbeuge mich vor euch, schlage, weil es mir vorhin so gut gefallen hat und weil ich merke, dass ich davon endlich wach werde, noch einmal ein Rad und komme vor deinem Bettgiebel zum Stehen. Ich umwickele das glänzende Metall mit meinen langen Haaren und sage dir, dass ich die völlig durchgeknallte Rapunzel aus einem deiner unzähligen geliebten Märchenbücher bin, und dass ich dich jetzt mitnehmen will. Ich sage dir, dass ich vorher aber noch meinen Prinzen vernaschen muss. Plötzlich höre ich ein Alarmsignal aus einem deiner vielen Geräte. Ich schnappe die Bluse, die Hose, die Socken, die Schuhe von der Bettdecke, greife mir die Taschenlampe und rolle mich unter das Bett. Dabei stoße ich mich zuerst am Fuß und dann an der Schulter, dass die frisch verheilte Schürfwunde wieder aufplatzt. Die Tür geht auf und die Schwester kommt ohne zu klappern ins Zimmer gerannt. Sie macht Licht, hantiert an den Geräten, streichelt über dein Haar und fragt, was heute mit dir los ist. Sie sieht zum Katheterbeutel und sagt zu den anderen Patienten, dass dein Urin verdächtig trübe aussieht, sie einen Harnwegsinfekt vermutet und dass sie das nach dem Wochenende unbedingt dem Stationsarzt vorstellen wird. Muss der Infekt heute sein, denke ich und spüre einen stechenden Schmerz im Fuß und in der Schulter. Zu gern würde ich ihr zurufen, dass ich verblute und auch mal dringend einen Arzt bräuchte. dabei spüre ich, dass ich mit meinem Rücken am Linoleum festklebe. Sie geht zurück zur Tür, zwinkert dir den üblichen Luftkram zu, macht das Licht aus und ruft beim Rausgehen, dass du heute besonders wilde Träume mit deiner Geliebten haben wirst, sie dir viel Spaß wünscht und sie deinen Katheter wechselt, wenn du dich ordentlich ausgetobt hast. Ich schüttle den Kopf über ihre Sprüche, äffe sie nach und weiß, dass ich gleich morgen früh alle Foren zum Thema Urin, Katheter, Infekt und Komplikation durchforsten werde. Zur Not lasse ich mich am Montag krankschreiben, gehe zu meinem Urologen und sage, dass mir die Blase höllisch wehtut und der Urin verdächtig aussieht. Und vielleicht sollte ich die Krankschreibung auch nutzen, um dein Einser-Abiturzeugnis zu kopieren und mit meinem Namen zu versehen.

Unter dir (Teil 1)

Mit einem Schwung, den ich mir mühsam über die letzten Jahre antrainiert habe, rutsche ich unter das Bett. Ich schiebe meinen Hintern auf dem glänzenden Linoleum hin und her, bis ich das Gefühl habe, genau unter deinem Körper zu liegen. Ich schließe die Augen, achte auf das surrende Geräusch deiner Atemanlage und höre einen ungewohnten Ton heraus. Sofort versuche ich anhand deines Atems herauszufinden, was dir in den letzten 24 Stunden passiert sein könnte. Damit ich deine passende Frequenz schneller finde, halte ich meine Atmung an. Meist gelingt es mir so, schnell in deinen Rhythmus einzudringen. Nur manchmal bockst du. Aber gegen meine Yogaübungen, die ich nur für unseren gemeinsamen Rhythmus zu Hause übe, bist du völlig machtlos. Warum es mir diesmal nicht gelingt, kann ich nicht sagen, bringe es aber zum einen mit meiner Chefin in Zusammenhang. Zum anderen damit, dass wir beide heute unseren besonderen Tag haben und ich seit dem Morgen aufgeregt bin. Bei dem Gedanken an unsere besondere Nacht, schiebe ich meinen Körper unruhig auf dem gebohnerten Fußboden hin und her und stoße mich mit dem Knie an einer der Querstreben des Bettes. Ich fluche. Um mich von dem Schmerz abzulenken, klopfe ich mit den Fingern abwechselnd Morsezeichen an das blöde Metallgestell. Dabei fällt mir ein, dass du es warst, der mich damals auf die Idee mit dem Morsen gebracht hatte. Immer wenn ich dich fragte, mit wem du bei den Pfadfindern morst und ob auch Mädchen mitmachen, fühltest du dich genervt. Und das brachte mich auf die Idee, mich ebenfalls dort anzumelden, um dich bei deinem Schweinskram mit den anderen Mädels auf frischer Tat zu ertappen.
Ich werde müde und klopfe lauter und schneller an das Metallgestell. Manchmal fange ich unter dem Bett liegend, zu Schnarchen an. Vor deinem Unfall hattest du mir in unseren Nächten oft vorgeworfen, zu schnarchen. Alte Schnarchguste, hattest du zu mir gesagt. Du schnarchst wie meine Oma. Beleidigt gab ich dir jedes Mal einen Klaps auf deinen muskulösen Hintern und sagte, dass deine Oma tot ist und ich lebe. In manchen Nächten werde ich von der eintönigen Büroarbeit schlagartig müde und muss hier unten aufpassen, nicht doch einzuschlafen. Dann frage ich mich jedes Mal, wie das alles enden soll, wenn wir beiden irgendwann ein altes Ehepaar sind.
Ich gähne und baue dir meine heutigen Tageserlebnisse vorsichtig in den Rhythmus des Atems hinein, den ich vorgebe. Ich sage dir, dass ich glaube, dass meine Chefin ahnt, dass ich jede Nacht zu dir gehe. Glücklicherweise kann sie es aber nicht beweisen. Deswegen, glaube ich, gibt sie mir in der letzten Zeit zum Feierabend neue Aufgaben. Ich hoffe sehr, dass sie schwanger wird. Wenn es geht Zwillinge oder gleich Drillinge. Dann hat sie massig Scherereien und lässt mich in endlich Ruhe.

Das Schlüsselgeklapper beendet meine Unterhaltung an dich und schiebe mich näher an die Wand. Dabei stoße ich mich an der Schulter. Die Tür geht auf und eine Stimme erzählt überlaut, dass sie jetzt hier wäre und du dich jederzeit melden könntest, wenn du etwas benötigt. Sie sagt das Wort jederzeit in einem vertraulichen Ton, der mir einfach nicht gefällt. Trotzdem bin ich froh, dass die Schwester mit der überlauten Stimme und dem Schlüsselgeklapper heute Nachtdienst hat. Sie steht über das Bett gebeugt und scheint dich zu streicheln, zumindest kommt es mir hier unten an meiner linken Wange und auf der Stirn so vor. Es krabbelt. Mit einem lobenden Satz über den sauberen Nachttisch geht sie zur Tür zurück und dimmt das Licht. Lobende Worte spricht nur diese Schwester. Das gefällt mir an ihr. Auf einmal habe ich den Wunsch, sie näher kennen lernen zu wollen. Früher, als ich begann, mich unter das Bett zu dir zu legen, um nicht mehr in den Nächten allein zu Hause zu sein, hatte ich sie wie alle anderen Schwestern gründlich beobachtet und viele Notizen in meine Karteikarten eingetragen. Tagsüber war ich ihr müde hinterhergelaufen und wusste recht schnell wie sie heißt, wo sie wohnte, was sie alles einkaufte, mit wem sie rumlungerte und wohin sie in den Urlaub fuhr. Bei keiner anderen Schwester habe ich jemals soviel Mühe aufgewandt. Ich weiß auch, dass sie, wie ich, keine Geschwister hat und allein bei ihrer Mutter lebt und manchmal deren teures Auto fährt. Und ich weiß, dass sie immer noch keinen Freund hat. Eine Zeit lang hatte ich überlegt, ob ich ihr einen Freund suchen sollte. Ich hatte für sie Annoncen aufgegeben und ihr über Wochen hinweg die Briefe unter den Scheibenwischer geschoben, in der Manteltasche oder einem ihrer fremdsprachigen Reiseführer versteckt. Genützt hatte es aber nichts. Soweit ich weiß, hat sie nie einem der vielen Bewerber zurück geschrieben. Da hatte ich ihr dann die Liebesbriefe, die ich dir in der Schule geschrieben und in deiner Schultasche versteckt hatte, einfach abgeschrieben. Zum einen um sie endlich mit einem netten Mann zusammenzubringen, denn unbemannte Schwestern sind so ziemlich das Gefährlichste was es gibt. Und zum anderen, weil sie doch immer so lieb zu dir ist. Aber nachdem sie in der Kantine allen erzählt hatte, dass ihr eine unnachgiebige Lesbe Liebesbriefe schriebe, lies ich die Schreiberei bleiben. Ich vermute, meine Handschrift hatte mich damals verraten. Im Verstellen war ich leider noch nie gut. Von jeher mag ich keinen Fasching, kein Ostereiersuchen und auch kein `Ich-sehe-was, -was-du-nicht-siehst`.
Was macht sie da bloß? Sie hantiert immer noch am Bett. Das dauert heute länger als sonst. Ich sehe auf ihre Schuhe, sie hat immer noch ihre alten Birkenstockdinger an. Seit ich ihre Füße hier unten sehe, trägt sie diese alten ausgelatschten Dinger. Vielleicht sollte ich ihr zu Weihnachten ein paar neue Wichteln. Das gäbe eine schöne Verwirrung. So etwas kann ich gut. Verwirrungen stiften, ja das mag ich sehr. Welche Größe sie hat, habe ich in meinem Merkbuch eingetragen. Es ist ca. die 40. Beim Gedanken ans Wichteln, sehe ich, dass sie die Fußnägel knallrot lackiert hat. Ich schüttle den Kopf und bin mir sicher, dass ich ihr doch noch einen Mann besorgen muss. Dich bekommt sie jedenfalls nicht!
Endlich öffnet sie die Krankenzimmertür. Sie dreht sich nochmal um, hält dir die ausgestreckte Hand entgegen und macht einen ihren üblichen Luftküsse. Früher machten mich ihre Luftküsse rasend und ich wollte in die Verwaltung gehen und protestieren oder ihr zumindest in die Waden treten. Aber dann hatte ich mir gedacht, dass sie es sowieso abstreiten würde und ich es ja auch nicht beweisen könnte ohne mich dabei zu verraten. Schließlich hatte mich die Angst abgehalten, sie könnte dir etwas antun, oder zumindest nicht mehr so freundlich zu dir sein. Und das wollte ich dir auf keinen Fall zumuten. Manchmal empfand ich ihre Luftküsse auch als eine Art Liebenswürdigkeit und ich war mir nicht sicher, ob sie diese Luftknutscherei auch mit anderen Patienten machte, denn dann wäre sie ein Miststück, oder ob sie diese Liebelei nur mit dir machte, dann war es ihre Art von liebenswürdiger Aufmerksamkeit für dich. Durch meine jahrelange Beobachtung war ich eher der Meinung, dass es Aufmerksamkeit ist. Egal. Ich wusste vom allerersten Tag unserer Beziehung, dass ich höllisch auf dich aufpassen muss. In der Schule, wenn du halb angezogen vom Sport kamst, drängelten sich unsere Klassenkameradinnen um dich, trugen dir die Sporttasche und den Rest deiner Kleidung hinterher oder wollten mit dir ins Schwimmbad gehen. Am Schlimmsten war es, wenn du aus dem Musikunterricht kamst und verträumt vor dich hinschautest. Die Mädchen wollten dann von dir wissen, was du im Unterricht gespielt hattest, was für ein Instrument sich im Beutel befand und ob sie mit dir mal am Abend ein paar Stücke üben durften. Seit ich das mitbekam, wartete ich vor der Schule und begrüßte dich vor allen Mädchen der oberen Klassen, in dem ich dich umarmte. Anschließend ging ich mit dir Hand in Hand Eis essen oder nach Hause.

Mit einem Schwung kullere ich mich unter dem Bett hervor. Ich ziehe mich langsam am Gitter hoch und begrüße dich mit einem überlauten Kuss. Ich mag dieses schmatzende Geräusch, das die Stille in dem wenig beleuchteten Raum beendet und mich unmissverständlich bei euch drei Patienten ankündigt. Manchmal küsse ich dich so oft und so laut und verlängere dabei die Geräusche, bis ich keine Luft mehr bekomme oder Angst habe, du könntest davon aufwachen oder die Schwestern könnten ins Zimmer kommen.
Ich öffne den Nachttisch und krame den großen Silberkamm, den ich mir von dir von unserer ersten gemeinsam besuchten Haushaltauflösung erbettelt hatte und mit dem ich stundenlang alle Haare deines Körpers kämmen konnte, aus dem unteren Fach. Weil du es wahnsinnig geliebt hast, stelle ich mich vor dir auf und kämme mit dem Silberkamm in Zeitlupe durch meine Haare. Dabei drehe ich dir den Rücken zu, schaue über die Schulter und binde die durchgekämmten Haare zu einem Dutt zusammen. Ich strecke meinen Po zu einem Entenhintern heraus, wackle im Watschelschritt eine Runde um den Nachttisch herum und mache dabei das Geräusch einer Ente. Ich stelle mich wieder vor dir auf, schüttle den Kopf und wühle mit einer wischenden Handbewegung deine brave Frisur durcheinander. Ich mag sie nicht. Ich mag die langweiligen Frisuren, die sie dir hier kämmen, überhaupt nicht. Stundenlang habe ich den Schwestern erklärt, dass ich keinen Mittelscheitel, Seitenscheitel oder sonst so einen Opakram haben will; aber keine hat jemals auf mich gehört. Vor Wut frisiere ich dein schwarzes, lockiges Haar wild durcheinander, kämme dir sexy Haarsträhnen über die Augen bis zur Nase und kitzle dich mit deinen eigenen Haarspitzen. Irgendwie bekomme ich jetzt, wo du wieder die tolle, wilde Frisur aus unserer Campingzeit hast, den Wunsch, dir einen megafetten Knutschfleck zu verpassen. Ich beginne exakt an der Stelle unter deiner sichelförmigen Narbe meine Lippen aufzulegen und zu saugen, an der ich mich früher gern zu schaffen gemacht habe. Ich finde deine Haut riecht heute wieder nach Krankenhaus. Sicherlich hat dich am Morgen die ältere Schwester gewaschen. Sie nimmt ständig die Krankenhauskosmetik, obwohl ich es ihr hundertmal verboten habe. Ich rieche noch einmal über deine Krankenhaushaut und öffne mein kleines Fläschchen, das ich mir eigens für diese Momente zugelegt habe und am Hals in einer deiner vielen handgefertigten Lederhüllen unter dem T-Shirt trage. Vorsichtig schiebe ich die Bettdecke und dein Hemd um die Schläuche herum. Ich tropfe einzelne Tropfen aus dem Fläschchen zuerst auf deine Stirn, auf deine Augenlider, auf deine beiden Brustwarzen, in deinen Bauchnabel, auf die beiden Hoden, die Armbeugen, auf jeden Finger, auf deine Oberschenkel, die beiden Knie und zum Schluss auf jede deiner Zehen. Ich tropfe, bis das kleine Fläschchen völlig leer ist. Mit den Fingerspitzen verreibe ich die Flüssigkeit auf deinem immer noch schönen Körper. Ich schließe die Augen, lege mein Ohr auf deine linke Brustwarze und lausche dem Rhythmus deines Herzschlages. Zufrieden atme ich tief ein und rieche an deiner weißen und nun gut duftenden Haut. Da ich mich auch heute nicht benehmen kann, strecke ich die Zunge heraus, lecke an deiner Haut und habe Lust dir endlich den überfälligen Knutschfleck zu verpassen. Knutschflecke konnte ich schon immer schöne machen. Die wurden bei mir besonders bunt und blieben lange bestehen. Dafür war ich in der Schule berühmt. Ich glaube, mein erster Freund hatte sich deswegen geschämt und ist auch deswegen weggerannt. Ich hole noch einmal tief Luft und sauge an der Stelle, an der ich für gewöhnlich früher meine Knutschflecke hinknutschte. Ich weiß, dass du Küsse magst und dass du auch das Machen der Knutschflecke liebt. Und ich weiß, dass du früher dabei eine Erektion hattest und vorschnell kamst. Manchmal schob ich meine Hand vor dein Glied und wartete bis es bei dir losging und alles auf meiner Hand landete. Ich wusste vom ersten Tag an, dass wir uns lieben und für immer zusammengehören. Und vom allerersten Tag an, wusste ich auch, dass ich es niemals zulassen würde, dass uns irgendwer ungestraft auseinanderbringt.
Ende Teil I

Einsvierzig mal zwei Meter

Deine Fingerspitzen zucken, deine Nägel kratzen über meine Haut. Du machst eine Faust: ich bin wach. Deine Faust liegt auf meiner Brust, sie ist schwerer als deine Hand war. Ich spüre meinen Puls und höre deinen Atem. Ich drehe meinen Kopf, aber um den Wecker zu sehen, müsste ich meinen Körper drehen. Das wage ich nicht: du schläfst. Erfahrungsgemäß ist es kurz nach drei und es wird kurz vor vier sein, bevor ich wieder einschlafe. Dem Beben deines Körpers zufolge dauern deine Träume sieben bis neun Minuten. Einmal hat ein Traum vierzig Minuten gedauert; darin ging es um einen Einbrecher, der alles in deiner Wohnung fotografierte, während du dich im Schrank versteckt hieltest. Genau konntest du dich nicht erinnern; woran hättest du dich erinnern sollen, im Schrank war es dunkel. Trotzdem darf ich dich nicht mehr fotografieren, seitdem.

Ich drehe den Kopf in die andere Richtung, ich wende mich dir zu. Ich beobachte das Zucken deiner Mundwinkel und wie sich deine Kiefer gegeneinander verschieben. Ich hoffe, dass sich deine Lippen öffnen, damit ich von ihnen lesen kann. Ein einziges Mal hast du im Schlaf gesprochen; du hast „Nein. Mein.“, gesagt. Ich bin mir sicher, denn damals lag meine Hand auf deiner Brust und ich spüre noch, wie sie bei den N´s vibrierte. Ich habe dich zugedeckt, weil ich dachte, du frierst. Du bist aufgewacht, hast „Weg, weg!“ gerufen, dir die Decke über den Kopf gezogen und mir den Rücken zugewandt. Am nächsten Morgen konntest du dich nicht erinnern; ich glaube, du wolltest nicht. Sich nicht erinnern können ist deine Art, ohne eine Diskussion Nein zu sagen.

Ich studiere das Zucken deiner Wimpern. Ich verfolge deinen Blick, dessen Richtung sich unter deinen Lidern erahnen lässt. Deine Lider sind nur dünne Häutchen, aber sie trennen uns. Ich will wissen, was du siehst; ich will von dir wissen. Ein einziges Mal ist mir das bisher gelungen, da habe ich Furcht in deinem Gesicht gelesen; Furcht, vor etwas, das sich langsam nähert und dann Verzweiflung, weil du nicht wusstest, wohin. Ich wollte ein Ausweg sein und habe dir meine Hand auf die Wange gelegt; da hast du nach mir gebissen, schließlich hättest du mir angedroht, mich zu beißen, nächstes Mal. Als ich dich fragte, wann du das gesagt haben willst, hast du die Brauen zusammen geschoben, dir die Decke über den Kopf gezogen und mir den Rücken zugewandt. Am nächsten Morgen zeigte ich dir die Bissmale; du warst erschrocken, dann hast du mit den Schultern gezuckt und mich daran erinnert, dass man schlafende Hunde besser nicht weckt. Ich habe dir nicht widersprochen, denn du hast keine Ahnung von Hunden. Wenn es aber einen Hund gibt in unserer Beziehung, dann bin das ich.

Im Winter haben wir deine Mutter im Gebirge besucht. Sie sagte, sie mag keinen Besuch über Nacht, dabei hat sie drei leer stehende Schlafzimmer, die sie als Gästezimmer bezeichnet. Ich glaube, sie mag nur mich nicht über Nacht; ich glaube, sie mag mich nicht, und dass es damit zu tun hat, dass du jetzt bei mir wohnst. Manchmal schüttelte sie sich kaum merklich, bevor sie mir antwortete; als ich wissen will, wer ihr Gesellschaft leistet, antwortete sie mir gar nicht; niemals fragt sie mich zurück.

Wir schliefen also nicht in einem der Gästezimmer, sondern in einer kleinen Hütte, die dir dein Vater zum 13. Geburtstag gezimmert hatte, auf der äußersten Ecke des Grundstückes, fast schon im Wald. In jener Nacht hast du zum ersten Mal geträumt und als du aufwachtest, war die Nacht zu Ende, obwohl es lange noch nicht dämmerte. Du warst dir sicher, es sei jemand in deiner Hütte gewesen; ich war mir sicher, dass du nur geträumt hattest. Das sei unmöglich, du erinnertest dich sehr klar an jemanden und an deine Träume würdest du dich nie erinnern. Diesmal erinnerst du dich eben, hielt ich dagegen, denn ich war vor dir wach und außer uns beiden war niemand hier. Die Fußspuren im Schnee fielen dir erst auf, nachdem ich zu deiner Beruhigung eine Runde um die Hütte gedreht hatte; es waren meine Spuren, aber das entspannte dich nicht. Die kleine Pfütze auf der Türschwelle entdecktest du erst, nachdem ich meinen Mantel zurück in den Schrank gehängt hatte; es war meine Pfütze, vom Schnee, der aus meinen Sohlen geschmolzen war; aber das war keine Erleichterung für dich. Du hast dich unter unseren Decken verkrochen und ich habe auf dein Geheiß die Hütte durchsucht, auch, wenn du mir nicht verraten wolltest, nach wem. In der Schublade fand ich einen Handspiegel, der weder dir, noch mir, noch deiner Mutter gehörte. Er hatte blinde Flecken, wahrscheinlich wollte ihn deshalb niemand mehr; mein Gesicht war voller dunkler Male, als ich hineinsah. Der Spiegel war kein Indiz für mich, für dich aber war er ein Beweis, auch, wenn du nicht sagen konntest, wofür.

Seit dieser Nacht träumst du und ich schlafe nicht mehr neben dir; ich döse nur, wie ein Hund, dessen Augen nie ganz geschlossen sind, dessen Augen sich unwillkürlich öffnen, sobald sich etwas tut in seinem Revier. Mein Revier bist du, auch wenn du das bestreitest; du bist eine Katze und willst niemandes Revier sein, dabei brauchst du es warm und sicher und dabei brauchst du seit dieser Nacht jemanden, der die Wohnungstür zwei Mal abschließt vor dem Schlafengehen. Du brauchst jemanden, der neben dir wacht, wenn du träumst, auch wenn du das nicht zugeben würdest.

Du wirfst den Kopf hin und her, auf deiner Stirn hat sich ein glänzender Schweißfilm gebildet. Du ächzt, aber du sagst nichts. Ich darf dich nicht wecken, dabei wäre dich zu wecken das Einzige, was ich für dich tun könnte. Dann aber wärest du den ganzen Tag wütend auf mich. Du würdest mich darüber belehren, dass du deinen Schlaf bräuchtest und dass dein Schlaf dir gehöre und einem geheimen Rhythmus folge, den ich nicht zu stören habe. Du würdest so weit gehen, zu erklären, dass es ein Privileg für mich sei, meinen Schlaf an deiner Seite verbringen zu dürfen, dass ich die Grenzen dieses Privilegs jedoch überschritt, wenn ich deinen Schlaf mit meinem Wachen störte. Das alles hast du schon einmal gesagt, und ich glaube, du hast es gesagt, um dich zu rächen für die Sekunde deines Erwachens; die Sekunde, in der ich deine Irritation und deinen Unmut gesehen habe, in der ich dein Wesen frei von Höflichkeit gesehen habe; in der ich gesehen habe, dass dein Wesen, dem eines Tieres gleicht, dem einer Katze, die sich den Rest des Tages auf dem Schrank verkriecht, nachdem man mit Blitzlicht ein Foto von ihr aufgenommen hat.

Ich möchte geweckt werden, wenn ich schlecht träume; ich träume immer das Gleiche und das quält mich. Ich habe dich gebeten, auf mich zu achten, wenn ich schlafe – es würde mich nicht stören, wenn du mich dabei in meinem Wesen erkennen würdest – aber du hast das Kinn nach vorn geschoben. gefragt, wie du auf mich achten sollst: du schläfst. Das Kinn nach vorn schieben und eine Frage stellen, ist deine Art ohne eine Diskussion Nein zu sagen. Damit war bewiesen, dass du die Katze bist und ich der Hund, denn ich kann auf dich achten, selbst wenn ich schlafe.

Wenn ich schlecht träume, träume ich, dass mein Telefon klingelt. Ich befinde mich in wechselnden alltäglichen Situationen, plötzlich klingelt mein Telefon. Ich nehme es aus der Tasche; auf dem Bildschirm wird eine Nummer angezeigt, die ich nicht kenne. Das ist alles. Ich wache schweißgebadet auf; manchmal wache ich schreiend auf, dann bist du auch wach. Du fragst nicht, was ich geträumt habe, sondern wer dran war; du kennst meinen Traum. Du küsst mich auf die Stirn, wenn ich zugeben muss, wieder nicht rangegangen zu sein. Routiniert analysierst du, dass ich zu sehr an dir hinge, und dass das nicht gut für mich wäre. Noch nie war etwas so gut für mich wie du, an was soll ich mich sonst hängen? Du willst mich lieben, weil du mich lieben willst, und nicht, weil dich zu verlieren die größte Katastrophe wäre, die mir zustoßen könnte. Ich nicke, du wendest mir den Rücken zu. Während du schon wieder eingeschlafen bist, liege ich noch wach und grüble, wie ich die Katastrophe verhindern kann: Eines Tages wird dir etwas zustoßen und dann wird man mich anrufen, um mir zu sagen, was. Sobald ich meine Augen schließe, sehe ich den Handybildschirm vor mir. Aus der Erinnerung versuche ich, die Nummer zu rekonstruieren; ich möchte die Nummer anrufen und fragen, was passieren wird, damit ich es verhindern kann. So kann ich nur vermuten: ich habe dich gebeten, nicht mehr mit dem Rad ins Büro zu fahren, sondern mit dem Bus, das ist sicherer. Du hast mir übers Haar gestrichen und gelacht. Mir übers Haar streichen und lachen, ist deine Art, ohne eine Diskussion Nein zu sagen.

Deine Lippen öffnen sich trocken und langsam, jetzt atmest du durch den Mund. Wenn deine Lippen so klebrig aufspringen, dauert es meistens nicht mehr lange, bis du ruckartig einatmest und dann nicht mehr. Ich bin mir nicht sicher, ob das der Höhepunkt deines Albtraumes ist. Ich weiß nicht, ob du gleich anfangen würdest zu schreien, ob du in einer Minute selbst wachwerden würdest oder in zwei Minuten zurück in einen tiefen Schlaf fielest. Ich weiß es nicht, weil ich es weiter noch nie geschafft habe. Wenn du so ruckartig einatmest, dass deine Stimmbänder schwingen und wenn du danach ganz und gar verstummst, muss ich dich wecken, weil ich überzeugt bin, dass du in Gefahr bist; im Traum vielleicht, bestimmt aber in Wirklichkeit: Du musst atmen, ich will es so.

Ich hoffe, dass du vorher aufwachst, dass du von selbst aufwachst, aufschreckst, dich aufsetzt, vielleicht aufschreist. Ich will dann da sein. Ich stelle mir vor, dass du brüllst und um dich schlägst, damit ich einen Grund habe, dich an den Handgelenken zu packen und sanft zurück in die Kissen zu drücken. Ich stelle mir vor, wie ich dir in die Augen sehe, fest und ruhig, und „Alles ist gut.“ sage. Tonlos forme ich die Worte, sie fühlen sich gut an auf meinen Lippen, ich will sie zu dir sagen dürfen; ich will sie sagen dürfen, in einer Situation wie dieser, in der „Alles ist gut“ so sehr stimmt, wie niemals sonst. Ich will, dass du keinen Grund hast, mir zu widersprechen.

Und dann will ich mit meinen Händen fühlen, wie die Spannung aus deinen Händen weicht und ich will mit meinen Augen sehen, wie die Furcht aus deinen Augen verschwindet. Ich werde nicht blinzeln, ich werde nicht riskieren, die Sekunde zu verpassen, in der du mich erkennst; du erkennst mich manchmal und das sind die schönsten Sekunden. Ich werde meinen Griff lockern, damit du deine Arme um mein Genick legen und deinen Körper an meinen ziehen kannst. Und wenn meine Lippen deinem Ohr am nächsten sind, werde ich dich fragen, wer in der Hütte war und was passiert ist und „Ach, du!“ werde ich nicht als Antwort akzeptieren. Ich glaube dir nicht, dass du dich nie an deine Träume erinnern kannst; aber so kurz nachdem du aus einem Albtraum aufgewacht bist, könnte ich es dir so wenig glauben, dass ich mit dir streiten müsste.

Deine Lippen schließen sich wieder und du machst „Mm“. Dein Kopf fällt zur Seite und deine Lippen schürzen sich kurz. Ich atme ruckartig ein und halte die Luft an. Das ist der Moment, an dem ich in deinem Traum vorkomme. Mein Name beginnt mit M und du hast deine Lippen geschürzt. Ich stelle mir vor, wie ich dich im Traum küsse und dann küsse ich dich. Ich muss es ganz sanft machen, um dich nicht zu wecken, diesmal.

Du streckst dich und lässt alle Luft aus deinen Lungen entweichen. Dann öffnest du kurz deine Augen und steckst deinen Kopf unter mein Kinn.
Wir schlafen.

Die Sprachspielerin

Noch in der Hängematte sitzend, überlegt die Sprachspielerin, welche ferne Kultur sie sich für den Sonntag ausdenken möchte. Wahllos plappert sie Lautgebilde in verschiedenen Tonlagen ineinander und übt die dazugehörige Gestik und Mimik. Ist sie damit fertig, klettert die Sprachspielerin aus der selbst geflochtenen Schlafschaukel zwischen den deckenhohen Papppalmen herab und denkt sich die dazu gehörige Speise aus. In ihren großen Töpfen rührt sie die Zutaten zusammen und übt nebenbei ihre frisch erfundene Wochenendsprache.

Wird es Abend, holt sie die passende Verkleidung aus dem Schrank, schminkt sich ausgiebig, zieht eine ihrer unzähligen Perücken über den Kopf und steckt farbige Ringe und Armbänder an. Als fremdländische Besucherin stolziert sie für alle geschwätzigen Nachbarn gut sichtbar langsam auf der Treppenanlage des ererbten Elternhauses auf und ab. Wie in ihren Kindertagen stolpert sie scheinbar hilflos die dunkel werdenden Straßen entlang. Kommt sie außer Puste an die Haltestelle, greift sie sich ans gepuderte Doppelkinn oder kratzt ihr grau meliertes kurzes Haar unter der Perücke. Geräuschvoll reibt sie mit den vielberingten Fingern an der Glasfläche des Fahrplanes. Spricht sie einer der Wartenden an, verneigt sie sich verlegen und beginnt im gekünstelten Tone hastig zu stottern. Im grammatikalisch falschem Deutsch fragt sie nach dem Weg zum Krankenhaus in dem sie arbeitet, erkundigt sich nach der Stadt in der sie seit ihrer Geburt wohnt oder nach dem Flugplatz, den sie noch nie benutzt hat und auch niemals zu betreten beabsichtigt. Generös öffnet sie ihre große Handtasche und holt selbst gestaltete Geldscheine heraus, die stets bei sich trägt. Für jede Antwort verschenkt sie einen bunten Schein. Wortlos steigt sie in die Bahn, winkt den Wartenden mit einem Lächeln zu und fährt davon.

Gelangt die Sprachspielerin am Sonntagabend zur Tatortzeit ins Krankenhausgelände, klopft sie ans Fensterchen des Pförtners und begrüßt ihn mit ihrer eigens entwickelten Wochenendsprache. Sie übergibt ihm Zettel mit Vokabeln oder Grammatikübungen und erklärt ihm geduldig die von ihr neu entwickelten orthografischen Finessen. Es gibt Mitarbeiter die immer wieder behaupten, dass die fremdländische Besucherin nur dann nachts in Erscheinung treten soll, wenn der Pförtner einen seiner seltenen Wochenenddienste leistet. Hat die Sprachspielerin dem Pförtner ihr frisch erfundenes Land und ihre Verkleidung für den Abend ausführlich erklärt, wartet sie bei einem Pott schwarzem Tee und liebevoll verziertem Gebäck der Pförtnersfrau bis es im Turm des Mutterhauses endlich Zehn schlägt. Verlässt der Spätdienst die Stationen und klettert der Belieber am herabgelassenen Betttuch einer ungeduldig wartenden Schülerin ins Schwesternwohnheim hinauf, nimmt die Sprachspielerin den Schlüssel von der Wand und schließt die nach Reinigungsmittel riechende Wäscherei auf. Unbemerkt schleicht sie an der Besungenen vorbei, die Liebeslieder vor sich hinträllert und unentwegt in den meterhohen Haufen der verschmutzten Patientenwäsche nach Nachrichten wühlt, die an sie gerichtet sein könnten. Mitleidig schüttelt die Sprachspielerin den Kopf, stellt sich in den Fahrstuhl und fährt ins Dachgeschoss. Dort beginnt sie ihre Route, die sie immer nur zur Sonntagnacht absolviert. Sie schlüpft in dunkle Zimmer und unterhält sich mit Patienten über ihr fernes Land. Meist reicht sie ihnen eine angeblich landestypische Speise oder Wunder wirkende Essenzen seltener Kräuter in alkoholischen Auszügen. Dabei führt sie ihnen die mitunter sehr merkwürdigen Sitten und Gebräuche ihrer unbekannten Kultur vor oder massiert sie nach jahrtausendealten und absolut bewährten Heilmethoden. Immer wieder wird auch von unglaublichen Begebenheiten in den dunklen Patientenzimmern berichtet. Regelmäßig kommt es am darauf folgenden Morgen vor, dass sich Patienten für die schmackhafte Speise wortreich beim ungläubigen Koch bedanken. Einige der Patienten humpeln noch vor dem Frühstück in die Krankenhausbibliothek um in dicken Bildbänden nach dem unbekannten Land zu blättern. Und berichten Patienten zur Visite voller Freude von wilden Nächten und betteln sie im Anschluss nur noch von der unbekannten Nachtschwester gepflegt zu werden, verordnet der Stationsarzt umgehend Psychopharmaka und weist sie in die geschlossene Abteilung ein.

Seilt sich bei Sonnenaufgang der Belieber am Betttuch einer frisch abgeliebten Schülerin hinab und zieht die von ihm Beliebte seufzend das zerknitterte Laken wieder herein, beendet die Sprachspielerin abrupt ihren Rundgang. Sie schleicht durch den dunklen Keller zurück zur Wäscherei an der nun eingeschlafenen Besungen vorbei. Wieder erinnert sie sich, dass sie eine eigens verfasste Nachricht für die Besungene mitbringen und in den schmutzigen Wäschehaufen verstecken wollte. Mit dem ehrlichen Wunsche, diesen Vorsatz am kommenden Sonntag auf keinen Fall zu vergessen, schließt sie leise die Tür ab und eilt zum Pförtner. Sie hängt den Schlüssel an das Wandbrett und gibt ihm einen dicken Kuss für seine treue Verschwiegenheit. Sie nimmt die von ihm frisch ausgefüllten Übungsblätter entgegen und rennt zur Straßenbahnhaltestelle. Findet sie auf der Heimfahrt einen der Fahrgäste unsympathisch oder will sie dessen Platz in der überfüllen Bahn ergattern, rempelt sie ihn an und beschwert sich in ihrer Wochenendsprache laut über ihn. Aufgeregt verlangt sie den Ausländerbeauftragten oder gar die Polizei. Und nur wenn der Betreffende sich entschuldigt, setzt sie sich an dessen nun leeren Platz und knabbert geräuschvoll die von der Pförtnersfrau aufwendig verzierten Plätzchen. Danach schläft sie erschöpft ein. Kommt der schüchterne Kontrolleur vorbei und fleht er sie an, ihm doch endlich einen gültigen Fahrschein vorzuzeigen, plappert sie wieder so lange auf ihn ein, bis er auch an diesem Morgen heulend von ihr Abstand nimmt und beschämt die Bahn verlässt. Gähnend schaut sie dem Flüchtenden aus dem werbebeklebten Fenster hinterher.

Kommt sie zuhause an, setzt sie sich an den Frühstückstisch und isst die Reste der zubereiteten Patientenspeise. Mit fettigen Fingern blättert sie neugierig in den dicken Reisekatalogen, ohne jedoch den Wunsch zu verspüren jemals selbst eine der dort angebotenen Reisen antreten zu wollen.
Pünktlich zum Montagmittag fährt sie mit ihrem kaputten Fahrrad und in studentisch wirkender Verkleidung in die nahe gelegene Universität. Mit einem gut gefälschten Semesterausweis geht sie zu verschiedenen Vorlesungen. In der Mensa erklärt sie ausschweifend und unter Tränen dumm fragenden Studenten ihre frisch erfundene Heimat, die leider vom Rest der Welt immer noch nicht diplomatisch anerkannt wurde. Bei Seminaren, in denen sie eifrig mitdiskutiert, ist es mehr als einmal vorgekommen, dass Professoren resigniert die Kreide nach ihr warfen. Das hält sie aber überhaupt nicht davon ab, weiterhin zu ihren Sprachspielen ausführliche Hausarbeiten zu verfassen und namenlos in die überfüllten Postfächer der Professoren zu legen. Und sie ist mehr als zufrieden, wenn es eine ihrer unzähligen Arbeiten schafft, Gegenstand von Diskussionsrunden zu werden.

Kommt die Sprachspielerin am Abend ins leere Elternhaus zurück, holt sie eine Flasche Wein aus dem gut sortierten Weinkeller. Sie bürstet die unscheinbare Robe für den langweiligen Rezeptionsdienst aus, den sie seit Jahren in der Aufnahme des Krankenhauses unauffällig absolviert. Lustlos bügelt sie über das weiße Hemd, putzt die schwarzen Schuhe und steckt das messingfarbene Namensschild verkehrt herum an das Revers.
Angetrunken erklimmt sie mühsam die Papppalme und lässt ihren kräftigen Körper mit einem Tarzanschrei in die Hängematte fallen. Sie rollt sich zusammen und denkt an die schönen Stunden die sie mit dem Belieber in ihrem selbst gebauten Urwald erlebt hat. Sie schließt die Augen und bastelt weiter an der betörenden Liebessprache, die es dem Angesprochenen unmöglich machen soll, der Erzählenden zu widersprechen. Und sie weiß sehr genau, wem sie mit diese Sprache zuerst wehrlos machen wird. Damit es auch weiterhin ihr Geheimnis bleibt, tastet die Sprachspielerin in einen der vielen Beutel, holt ein breites Pflaster heraus und drückt es auf die plappernden Lippen.

Würde man den Pförtner nach ihr befragen, würde er die Hände ineinanderschlagen und antworten, dass es ihm bei aller Mühe immer noch nicht gelungen sei, herauszufinden, warum sie zu DDR-Zeiten keine Abiturprüfungen ablegen durfte. Nachdenklich würde er sich am Hals kratzen und flüstern, dass ihr Spiel spätestens nach seiner Pensionierung auffliegen wird.

Letzte Nacht

„Willst du auch einen?“ Simon kramt in der Nachttischschublade.
„Was?“ Mitri deckt sich zu.
„Kaugummi. Wir können noch einen zusammen kauen, bevor wir auseinandergehen.“
„Keine Zigaretten, wie im Film?“
„Ich rauche nicht mehr.“
„Steht aber noch in deinem Profil.“
„Echt? Ich habe hier noch irgendwo Zigaretten, wenn du magst.“
Simon will aufstehen. Mitri erwischt seine Schulter in der Dunkelheit und hält ihn zurück.
„Ich rauche nicht.“
„Steht aber in deinem Profil.“
„Ich weiß.“
„Und da steht auch, du würdest 90 Kilo wiegen.“
„Du magst kräftige Männer.“
„Aber du bist spindeldürr!“
„Liegen wir deshalb im Stockdunklen? Bin ich hässlich?“
„Nein! Aber warum machst du dich dicker als du bist?“
„If it makes you happy, it can’t be that bad.”
Simon schmatzt. Es riecht nach Pfefferminz.

„Auch das steht anders in deinem Profil, aber:“, Simons Stimme brummt etwas in Mitris Ohren, „Du machst das nicht so oft, oder?“ Simon tastet nach Mitris Kopf und legt ihn auf seine Schulter. „Du warst total aufgeregt. Deine Finger waren eiskalt, dein Mund ganz fest und deine Hüften völlig verkrampft.“
„War ich schlecht?“
„Du warst süß.“ Simon streichelt Mitris Schulter. „Später hat es dir gefallen, oder?“
„Ich war unkonzentriert, anfangs.“
Simon kichert. Mitri legt seine Hand auf Simons Bauch.

„Ich musste an die Meteoriten denken.“
„An was?“
„Heute Nacht wird ein unikaler Meteoritenschauer über Deutschland niedergehen.“
„Unikal? Und das macht dich an?“
Simon legt ein Bein zwischen Mitris Schenkel.

„In Tschebarkul sind im Februar drei Menschen bei Meteoriteneinschlägen drauf gegangen.“
„Drei.“
„Eintausendundvier wurden verletzt.“
„Beulen am Kopf? Blaue Flecken?“
„Den Meisten wurden durch herumschießende Glasscherben die Körper zerschnitten.“

„Und du wolltest es noch einmal krachen lassen, bevor du zerfetzt wirst?“
„Ich wollte meinen Körper benutzen.“
„Fremdbild als Gummipuppe. Wie schmeichelhaft.“
Simon zieht sein Bein zurück und legt seine Hände auf die Decke. Mitri hebt seinen Kopf und schaut dorthin, wo er Simons Gesicht vermutet.

„Ich habe das noch nie gemacht.“
„Noch nie? Wieso jetzt?“
„Ein einziger Meteorit reicht, um diese Stadt dem Erdboden gleich zu machen.“
„Wie in diesen amerikanischen Katastrophenfilmen? Hoffentlich ist mein Kameraakku geladen.“
„Das ist nicht witzig.“

Simon stützt sich auf seine Ellenbogen und wendet Mitri den Kopf zu.
„Die Meteoriten verglühen doch in der Atmosphäre!“ Er singt. „Voila: Sternschnuppen!“
„Eben nicht. Sternschnuppen sind Meteore. Meteore verglühen. Meteoriten sind viel größer. Sie schaffen den Weg durch die Atmosphäre. Heute Nacht kommen Meteoriten. Riesige.“
„Und schlagen ausgerechnet hier ein?“
Mitri zuckt mit den Schultern. „Ich weiß nicht.“
„Du tust aber so, als wüsstest du es.“
„Je nach Temperatur und Dichte verändert sich beim Eintritt in die Atmosphäre der Winkel ihrer Flugbahn. Niemand kann berechnen, wo sie einschlagen.“
„Haben Sie dich in der Schule oft gehänselt?“
„Wieso?“
Simon lässt sich wieder auf den Rücken fallen. Mitri räuspert sich.

„Die hätten doch Bescheid gesagt, wenn die gefährlich wären.“
„Damit sich die Leute im Keller einschließen?“
„Ja. Zum Beispiel.“
„Das sind keine Hagelkörner. Das sind Meteoriten. Die reißen Krater von mehreren Kilometern. Druckwelle, Staubwolke, tagelange Dunkelheit. Sowas.“
„Aber dann hätten die uns evakuieren müssen!“
„Wohin denn?“
Simon macht eine Kaugummiblase, die ihm klatschend aufs Kinn fällt.

„Die hätten uns trotzdem gewarnt.“ Er kaut wieder.
„Die haben uns gewarnt.“
„Wer?“
„Die ESA. Du liest keine Nachrichten, oder?“
Simon schlägt die Decke zurück und stolpert in die Dunkelheit. Einige Sekunden später erscheint sein Gesicht auf dem Sofa in einem bläulichen Licht.

„Krass.“
„Du vertraust mir nicht.“
„Noch drei Stunden Zeit.“
Ein Metallarmband klappert. „Drei Stunden und sieben Minuten.“
„Deswegen hast du deine Uhr nicht abgelegt.“
„Hat sie dich gestört?“
„Uhren stören immer.“
Simon klappt den Rechner zu. Einige Schritte später zeichnen sich am Fenster über der Stadt die tiefschwarzen Umrisse seines Körpers vor der fastschwarzen Nacht ab.

„Müsste man die nicht schon sehen?“
„Wenn sie in drei Stunden hier sind und mit vierzig Kilometer pro Sekunde auf uns zu rasen, dann sind sie –“, Mitri zählt seine Finger, „Dann sind sie noch circa vierhunderttausend Kilometer entfernt. Soweit reicht dein Auge nicht.“
Simon lacht. „Hast du das jetzt ausgerechnet?“
Mitri setzt sich auf. „Ja. Stimmt es nicht?“
„Keine Ahnung.“

Mitri faltet die Beine zum Schneidersitz und lehnt seinen Kopf an die Wand.
Simon dreht sich um und starrt ins dunkle Zimmer.
„Was machen wir jetzt?“
Mitri zögert. „Noch einmal miteinander schlafen?“
„Spinnst du?“
„Hat es dir nicht gefallen?“
„Nein! Doch!“ Simon zögert. „Ich will nicht, dass du deinen Körper an meinem benutzt.“
„Das war schlecht formuliert, entschuldige.“
„Ich habe auch schlecht formuliert: Ich möchte nicht mit einem Fremden Sex haben, wenn die Apokalypse hereinbricht.“
Simon setzt sich aufs Fensterbrett und zieht die Beine an.

Mitri spricht vom Bett her leise. „Ich bin kein Fremder.“
„Wir sehen uns zum ersten Mal.“
„Aber wir chatten seit mehr als zwei Wochen.“
„Trotzdem.“
„Ich habe deine Handynummer seit neun Tagen!“
„Trotzdem.“
„Du hast mir von deiner Trennung erzählt.“
„Na und?“
„Und dass du viel getrunken hast, danach.“
„Ja, es ging mir schlecht! Ich trinke nicht mehr!“
„Dafür chattest du.“
„Was hat das damit zu tun?“
„Du hast mir Fotos geschickt, von früher. Mit Ex-Mann und Ex-Hund.“
„Ja! Und du hast mir viel von dir erzählt! Deine Jugend in Tscheljabinsk oder –blinsk oder wie auch immer, die Reise hierher, der Typ, der dich dann doch hat Sitzenlassen. Man erzählt sich voneinander, wenn man chattet.“ Simon springt vom Fensterbrett. „Aber das macht uns noch lange nicht zu“, eine Gürtelschnalle klimpert, „Das macht uns noch lange nicht zu Gefährten.“

Simon stürzt im Zimmer umher.
„Was tust du?“
„Ich ziehe mich an.“
„Warum?“
„Ich werde nicht hier sein, wenn ein riesiger Felsbrocken ins Haus kracht. Du übrigens auch nicht.“
„Wo gehst du hin?“
„Ich werde nicht allein auf die Katastrophe warten.“
„Ich bin doch da.“
„Du gehst jetzt.“
Statt aufzustehen greift Mitri nach der Decke und legt sie sich um.

„Wo willst du denn hin?“
„Keine Ahnung.“
„Du musst doch wissen, wo du hin willst!“
„Ich weiß es aber nicht! Raus.“
„Zu deinen Eltern ins Kinderzimmer? Zu deinen Pärchenfreunden in die Besucherritze?“
„Nein.“
„Zu deinen traurigen Singlefreunden auf die Couch? Zur perfekten Familie deiner Schwester?“
„Mann, nein!“
„In die Arme deines Ex‘? Zwischen ihn und den Neuen? In eine Bar?“
Simon schreit: „Ist ja gut!“

Simon tritt dicht ans Bett. Mitri spürt die Wärme seines Bauchs auf den Wangen.
„Und du? Wo willst du sein?“
Mitri flüstert. „Hier.“
„Warum ausgerechnet hier?“
„Ich will nicht alleine sein.“
„Warum ausgerechnet bei mir?“
„Zufall.“
„Lüg mich nicht an.“
„Du warst der einzige, der Zeit hatte.“
„Lüg mich nicht an!“
„Du erinnerst mich an Kostya.“
„Wer ist Kostya?“
„Kostya.“ Mitri schnieft. „Kostya war gut zu mir.“
„Ich bin nicht Kostya!“
„Ich liebe dich.“
Simon stürzt zur Tür und machte Licht. Beide sind geblendet.

„Du kennst mich überhaupt nicht!“
„Das ist egal.“
„Das ist nicht egal. Ich will jetzt bei meinen Leuten sein.“
„Wer sind deine Leute?“
„Menschen, die ich liebe. Menschen, die mich lieben.“
„Ich bin hier.“
Simon setzt sich auch aufs Bett, Mitri gegenüber.
„Aber uns verbindet keine Liebe, kapierst du das?“
„Wo sind deine Leute? Deine Leute sind sonstwo. Ich bin hier.“
„Du bist so schräg!“

„Es ist ganz einfach: Du hast dich gezeigt, ich habe mich gezeigt. Wir haben uns verbunden. Wir sind jetzt, hier, beieinander. Wir wissen nicht, wie viel Zeit bleibt. Wir wissen nicht, was passiert, wenn wir raus gehen. Oder was morgen ist. Aber wir wissen, dass es gut ist, wenn du dich zu mir legst und ich mich an dich schmiege. Bis es wieder hell wird. Falls es wieder hell wird.“
Simon springt wieder auf.

„Ich weiß nicht, was das für dich ist, Stardust – verdammt, ich kenne nicht einmal deinen Namen!“
„Mitri.“
„Dimitri?“
„Mitri.“
„Wie?“
„Egal.“
„Ja es ist egal. Für mich war das ein Sexdate. Kein Wir-werden-eng-umschlungen-von-der-Sonne wachgeküsst, kein Wir-geben-uns-knutschend-dem-Tod-hin, nicht der Anfang einer mehrjährigen Beziehung.“ Simon läuft unruhig im Zimmer auf und ab. Mitri schließt die Augen.
„Trotzdem Liebe.“
Simon schreit. „Du kennst mich nicht. Du liebst mich nicht!“
Mitris Augen bleiben geschlossen. „Wie soll ich dich kennen? Dein Profil ist voller Lügen.“
Simon tritt zum Bett. „Ja! Eben! Und?“
„Deine Nachrichten waren es auch. Von wegen, du schwärmst für Sheryl Crow, wie ich.“
„Tu ich.“
„Du hast vorhin nicht einmal die Top-Zeile aus ihrem Top-Hit erkannt.“
„Wann?“
„Sogar deine Wohnung ist drappiert.“
„Meine Wohnung?“
„In deinem Bücherregal im Flur sind Lücken, in denen kein Staub liegt. Und die Bücher, die du hast stehen lassen, hast du nicht gelesen.“
„Natürlich habe ich das.“
„Niemand hat Ulysses gelesen. Du trägst eine Maske. Und darunter noch eine. Und noch eine.“
Simon packt Mitri an den Schultern „Wie du!“
Mitris Decke rutscht herunter. „Natürlich.“
Simon tritt zurück und kratzt sich am Kopf. „Also?“
„Du bist wie ich.“ Mitri öffnet die Augen. „Darunter.“
„Du bist verrückt!“
„Und du?“
„Ich?“

Mitri legt sich hin und atmet aus.
„Du bist verloren, ich bin verloren.“
Simon steht und schweigt.
„Mach das Licht aus und leg dich zu mir.“
Es donnert in der Ferne.
„Muss ja nicht für immer sein.“